Sigrid Lenz
SPUREN
Band 1
Roman © 2010 AAVAA e‐Book Verlag UG (haftungsbeschränkt) Quickborner Str. 78 – 80,13439 Berlin Telefon.: +49 (0)30 565 849 410 Email:
[email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2010 Lektorat: Sabine Lebek, Berlin Covergestaltung Tatjana Meletzky Printed in Germany ISBN 978‐3‐86254‐168‐3
Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Meinen Dank an Finnigan Geist für die Erlaub‐ nis, ihre fantastische Geschichte „Sawdust and Ashes“ als Vorlage und Inspiration zu verwen‐ den. 5
Jemand hätte ihn retten müssen. Jemand hätte ahnen sollen, was geschah. Unmöglich, dass niemand Bescheid wusste, dass niemand ihm half. Und doch geschah es genau so. Und das nicht zum ersten Mal. All das war bereits ge‐ schehen. Warum wunderte er sich nun, dass es wieder passierte? Am Anfang stand noch die Zeit, in der Leon versucht war, eine andere, bessere Richtung ein‐ zuschlagen. Eine Richtung, die ihn vielleicht ei‐ nes Tages endgültig von der Last befreite, die loszuwerden, über die Jahre zu seiner Aufgabe geworden war. Vergeblich natürlich. So wie auch seine anderen Bemühungen sich in sinnlo‐ sen Anstrengungen auflösten. Und doch gelang es ihm tatsächlich von Zeit zu Zeit, sich das eine Ziel, das Wichtigste zu erkämpfen. Das Verges‐ sen. Doch so sehr er sich auch quälte, aus seinem Gedächtnis zu bannen, was von dem Schrecken noch übrig geblieben war, der wie klebriges, schwarzes Pech in den versteckten Gehirnwin‐ dungen haftete; sie erwiesen sich immer wieder als zu filigran, zu unerreichbar in ihren feinen 6
Spitzen, als dass er sie von dem Schmutz säu‐ bern konnte, der in ihnen festsaß. Der Himmel wusste, dass er versuchte, seine Erinnerungen abzutöten, die feinen Leitungen zu kappen, doch jedes Mal, wenn er glaubte, es sei ihm gelungen, dann warf ihn die Erkenntnis der Wahrheit in seinem Bestreben zurück. Dann er‐ kannte er eines Tages, dass der Albtraum nicht verschwunden, sondern nur verschüttet stets darauf lauerte, ihn erneut anzugreifen. Ihn in seinem schwächsten Moment zu packen und durchzuschütteln. Seine innersten Mauern zum Einsturz zu bringen und ihn dann als das Häuf‐ lein Elend zurückzulassen, das er sich nicht er‐ innern wollte, jemals gewesen zu sein. Doch an diesem Tag fühlte er die Erinnerung in sich aufsteigen, wie Übelkeit, die seine Speise‐ röhre hinaufkroch, und die er vergeblich ver‐ suchte zurückzuhalten. Und das alles nur auf‐ grund einer dummen, nichtigen Sinnestäu‐ schung, eines Irrtumes, den zu begehen, er sich nie verziehe, besäße er denn die Macht oder den Einfluss dazu, ihn nach Belieben hervorzurufen 7
oder zu vernichten. Um eine Erscheinung drehte sich alles, denn um etwas anderes konnte es sich handeln, durfte es sich nicht handeln. Nicht nach allen Regeln der Vernunft, der Logik oder des gesunden Menschenverstandes. Leon versuchte abfällig zu schnauben, und doch entkam kein Laut seiner trockenen Kehle. Er hatte Emil nicht mehr gesehen, seit damals. Emil war verschwunden. Endgültig verschwun‐ den, so hatte man es ihm gesagt. Endgültig ge‐ nug, dass er sich darauf verlassen hatte, ihm nie wieder begegnen zu müssen. Ein Versprechen, das war es gewesen. So hatte Leon es verstanden und so war es gemeint gewesen. Es ergab keinen Sinn, dass er Emil dort sah, auf den Straßen der Stadt, in der er lebte, einer ruhigen Stadt, einer friedlichen Stadt. Einer Stadt, in der nichts ge‐ schah, in der nichts passierte, in der sich nie‐ mand vorstellen konnte, dass etwas vor sich ging, das so geheim, so unaussprechlich und so undenkbar war, dass Leon selbst eher gestorben war, als auch nur ein Wort darüber zu verlieren.
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Und dann traf ihn die Erscheinung unvorberei‐ tet. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel, so fuhr der Anblick in sein Leben. Ebenso kurz flammte der Schrecken hoch. Doch kurz genug, dass Leon sich umgehend selbst davon überzeugte, dass er einer Illusion aufsaß, einem Trugschluss unter‐ lag, dem Gespinst seines Unterbewusstseins, das in reiner Bosheit nur darauf gewartet hatte, dass er sich für einen Moment sicher, für einen Mo‐ ment ruhig fühlte, um dann nur effektiver zuzu‐ schlagen und ihn zu Boden zu werfen. Nur, dass Leon sich nicht zu Boden werfen lie‐ ße. Es fiel ihm gar nicht ein, ausgerechnet jetzt nachzugeben. Schlimmeres war ihm widerfah‐ ren. Schlimmeres hatte er überstanden, als das. Leon stand an der Ecke vor dem Supermarkt und fror. Es war verdammt kalt und seine Jacke zu dünn, als dass sie ihn wirklich warmhielt. Er überlegte, ob er seine letzten Zigaretten rauchen sollte, fühlte, wie es ihn in den Fingern juckte, nach den Glimmstängeln zu greifen. Vielleicht halfen sie ihm. Vielleicht schaffte er es mit ihrer Unterstützung, dem Dämon zu entkommen, der 9
so unvorbereitet aus dem Nichts aufgetaucht war, und ihn die letzten Stunden durch die grauen Straßen gejagt hatte, auf der Suche nach einem Geist aus der Vergangenheit, den es längst nicht mehr geben durfte. Bei dem Gedanken fühlte Leon erneut den Würge‐Reiz in ihm aufsteigen. Hastig fummelte er das Päckchen aus seiner Jeans‐Jacke und noch hastiger suchte er sich eine der bereits reichlich zerdrückten Zigaretten heraus, zündete diese mit gewandten Bewegungen an, schloss die Au‐ gen, lehnte den Kopf zurück gegen die Mauer und blies genüsslich den Rauch in die Atmo‐ sphäre. Wenn die Dinger nur nicht so teuer wä‐ ren. Beinahe schien es Leon angenehm, sich über etwas derart Profanes wie seinen vertrauten Mangel an Geld Gedanken zu machen. Auf jeden Fall schlug eine solche Überlegung die Alterna‐ tive um Längen. Dennoch konnte er ihn nicht aus seinem Kopf bekommen. Nicht Emil. Nicht, nachdem er einen Mann gesehen hatte, der Emil so verdammt ähnlich sah.
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Sicher, beschwören würde er es nicht. Er hatte ihn nur kurz gesehen, zu kurz für eine genaue Angabe. Und dann war er Emil seit vielen Jahren nicht mehr begegnet. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass der Mann tot war. Er musste tot sein. Leon war sich nicht sicher, warum er das immer angenommen hatte, aber letztendlich glaubte er wirklich, dass seine Mutter zu gege‐ bener Zeit ein paar Worte fallen gelassen habe. Wie anders auch hätte er die letzten Jahre in Frieden überstehen können. Wie anders ohne Angst leben? Leon schüttelte heftig den Kopf. So war es nicht gewesen. Er hatte nicht ohne Angst gelebt. Ganz im Gegenteil. Er war es nur allzu sehr gewohnt in Angst zu leben. In ständi‐ ger Angst. Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass er die Tatsache schon gar nicht mehr be‐ merkte. Eigentlich war es wohl nur eine Frage der Zeit gewesen, bis jemand auftauchte, der ihm seine Illusion wieder zerstörte. Leon seufzte und inhalierte. Dennoch, wie er es auch betrachtete, drehte und wendete, es konnte 11
sich einfach nicht um Emil handeln. Allenfalls um Leons eigene ausufernde Fantasie, die ihm derartig dumme und unnötige Streiche spielte. Leon beschloss, sich ihr nicht mehr zu unterwer‐ fen. Er beschloss, dem ein Ende zu bereiten. Schließlich war er fast erwachsen, ein Mann, und beileibe nicht jeder dummen Laune ausgeliefert, die ihn Hals über Kopf überfiel. Leon räusperte sich hörbar in die herabsinkende Dunkelheit, als wollte er seinen Entschluss bekräftigen. Er selbst war der Herr seiner Gedanken, seines Willens und seiner Ängste. Und das hatte er nicht erst gestern gelernt. Leon stieß sich von der Mauer ab und begann eine weitere Runde. Er hatte nicht mitgezählt, wie oft er bereits den winzigen Ortskern umrun‐ det und die sternförmig abgehenden und schließlich ins Nichts verlaufenden Straßen ab‐ gegangen war. Immer wieder mit der unter‐ drückten Sorge, etwas oder jemanden zu entde‐ cken, der nicht hier sein durfte. Und trotzdem unfähig, die Suche einzustellen.
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Die Zigaretten halfen nicht dabei, seinen wild pochenden Herzschlag zu verlangsamen. Sie hal‐ fen ihm auch nicht bei dem Versuch, die sich aufbäumenden Bilder wieder in das dunkle Loch zu schieben, in dem sie über Jahre hinweg ge‐ schlummert hatten. Die Bilder sahen aus wie er, wie Emil, wie der fünfte oder sechste Freund seiner Mutter, den Leon bewusst mitbekommen hatte. Die nach E‐ mil kamen, hatte er nicht mehr gezählt, so wie er nach Emil lange nichts mehr getan hatte. Mit ihm war es anders gewesen. Er hatte seine Mutter nicht verlassen, so wie sie es jedermann glauben machen wollte. So wie all die anderen Männer in ihrem Leben sie früher oder später im Stich ließen, angefangen mit Leons Vater, von dem nicht einmal mehr ein Foto existierte, eine Erinnerung oder ein gutes Wort. Als seine Mut‐ ter davon erzählte, verwunderte es niemanden wirklich, dass auch diese Beziehung in die Brü‐ che gegangen war. Letztlich blieb das die wahr‐ scheinlichste Erklärung, wahrscheinlicher als al‐ les andere, ausgenommen dessen, was wirklich 13
geschehen war. Angela fiel es nicht weiter schwer, ihr Gesicht abzuwenden und leise zu murmeln, dass es wohl ihr übliches Pech sein musste, was die Männer von ihr trieb. Dabei trug sie ihren eigenen Teil der Last. An‐ gela warf sich lange Zeit vor, schuld zu sein. Trotzdem erkannte sie auch nicht, wie um alles in der Welt sie ausgerechnet das hätte kommen sehen sollen. Emil war nur einer aus der langen Reihe von Männern gewesen, die in ihr Leben traten und es ebenso schnell wieder verließen. Und doch hatte sie ihn, vom ersten Augenblick an, als einen der Besseren betrachtet. Er war nicht auffällig, schon gar nicht grob oder ein wenig brutal und unbe‐ dacht wie die meisten der Exemplare von denen sie sich spontan angezogen fühlte. Eher gehörte er zu der stilleren Sorte, auf die man sich letzt‐ endlich verlassen konnte. Und Angela war des Umherwanderns und der Unsicherheit müde. Die Aussicht auf etwas Ruhe, auf einen Fixpunkt in ihrem Leben, erschien ihr mit einem Mal ver‐ lockend. Und so erstaunt sie über diese Tatsache 14
war, so erstaunt war sie auch über die Abstriche, die zu machen sie bereit war, um dieses Ziel zu erreichen. Gut, er war nicht aufregend. Er sah nicht unbedingt schlecht aus. Seine Größe beein‐ druckte sie, und er verströmte Kraft. Doch gleichzeitig schien es ihr offensichtlich, dass er gewohnt war, diese Kraft in Zaum zu halten. Dass er sich kontrollierte, sich willentlich zu‐ rücknahm, und stets bereit war, für sie Kom‐ promisse einzugehen, schmeichelte ihr, und weckte eine Art von Vertrauen, die ihr zu lange fremd geblieben war. Und nicht zuletzt entwi‐ ckelte Emil einen Draht zu Leon, was alleine schon als Seltenheit gewertet werden konnte. Kam Leon doch in ein Alter, in dem er den Män‐ nerbekanntschaften seiner Mutter zunehmend skeptisch gegenüberstand. Und das Kunststück fertigzubringen, mit ihrem oftmals patzigen und reservierten Sohn in eine Interaktion zu treten, gehörte zu einem der Punkte, die es ihr leicht machten, über die kleinen Unstimmigkeiten, die trotz der besten Absichten existierten, hinweg‐ zusehen. Emil konnte ihr Geborgenheit und 15
Schutz geben. Auf ihn würde sie sich verlassen, und manchmal glaubte Angela tatsächlich, dass es ihr gelingen könne, mit diesem Mann bis an ihr Lebensende oder wenigstens die kommenden Jahre zusammenzubleiben. Alles stimmte. Er nahm sie bei sich auf, seine Wohnung war groß genug, und er großzügig mit seinem Hab und Gut, bis Angela glaubte, sie könne es wahrhaftig nicht besser treffen. Trotz seiner Glubschaugen, trotz seiner mannigfaltigen Anzeichen von Un‐ beholfenheit und seiner Neigung, sich ständig und wortreich zu entschuldigen, erkor sie Emil für eine Weile zu dem Mann, der Inhalt ihres Le‐ bens sein sollte. Als dann alles zusammenbrach und Leon be‐ reits verschwunden war, zurückgewichen in ein Dunkel, in das sie nicht wagte, ihm zu folgen, da konnte Angela nicht mehr verstehen, wie es Emil gelungen war, sie so lange hinters Licht zu füh‐ ren. Sie war blind gewesen, blind für die Gefahr, ebenso wie Leon blind gewesen war. Und jetzt konnte sie niemanden von dem Verbrechen be‐ richten, das sie gegenüber ihrem Sohn begangen 16
hatte. Ein Verbrechen, das nur oberflächlich dar‐ in bestand, dass sie das Böse in Gestalt ihres Mannes in ihrer beider Leben brachte. Angela war weder trocken noch clean. Sie verdiente zu wenig, um sich und Leon alleine durchzubrin‐ gen, und am meisten fürchtete sie die Besuche von Jugendämtern, Sozialdiensten oder gar Poli‐ zisten, die sie befragten, oder die ‐ noch viel schlimmer – sich mit Leon unterhielten. Also griff Angela zu Kontakten, die ihr stets in Reichweite geblieben waren, zu den Freunden, die ihr aushalfen, wenn Not am Mann war, und die nicht viel von ihr verlangten, und auf alle Fälle nichts, das sie nicht bereit war, als Gegen‐ leistung für erwiesene Gefallen zu bezahlen. Und so gelang es ihr leichter, als sie selbst es ge‐ glaubt hatte, Emil aus ihrem Leben zu entfernen. Und aus dem ihres Sohnes. Genaueres wollte sie nie wissen, über Details holte sie keine Erkundi‐ gungen ein. Es reichte ihr, dass Rudolf ver‐ sprach, sich um das Problem zu kümmern. Und es reichte ihr, dass Rudolf des Weiteren alles tat,
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