Skandalisierung und Boulevardisierung des Journalismus – der Preis ...

Und noch einmal Zeit Online: »Donald Trump war lange nur ..... der Mangel an Finanzierung (der auch zur Reduktion des Personals führt) und der Kampf um ...
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Skandalisierung und Boulevardisierung des Journalismus – der Preis für den Kampf um Aufmerksamkeit Von Veronika Prokhorova Bei aller Kritik an der Auswahl, die Medien treffen, oder an vermuteter Einseitigkeit geht eine Frage leicht unter: Skandalisieren seriöse Medien und berichten auch boulevardesk? Ja, in den gesamten »seriösen« Medien sind immer wieder gut durchdachte Kabinettstückchen zu beobachten, die unter dem Begriff Boulevard segeln. Qualitätsmedien berichten immer wieder frech, aufrührerisch, zynisch und hysterisch – statt ruhig, sachlich und politisch korrekt. Sie verwirren uns mit zornigen oder ins Blut gehenden Passagen, die uns aufwühlen. Wir müssen nicht lange nach Beispielen suchen. So wurde der zukünftige Präsident Trump auf nahezu allen Kanälen verhöhnt und gefürchtet.1 Und doch ist er im Januar 2017 zum 45. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt worden. Und die deutschen Medien geben nicht auf. Sie versuchen nicht, kosmopolitisch zu sein und die Meinung der anderen US-Amerikaner, die nicht für Hillary Clinton gestimmt haben, zu erklären und objektiv über den neuen Präsident zu berichten. Sondern sie suchen die Schuldigen, da diese Entscheidung den Amerikanern so einfach nicht zuzutrauen sei. Sie nehmen Facebook-Gründer Mark Zuckerberg unter Beschuss, weil sein Netzwerk im US-Wahlkampf Lügen verbreitet und so indirekt wohl Trump geholfen hat. Sie schreiben, dass nicht das amerikanische Volk die Wahlen entschieden hat, sondern Russland.2 Und es geht noch abstruser: Sie warnen ihre Leser schon vor der russischen Einmischung in die Bundestagswahlen im September 2017.3

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Die Schlagzeilen der »seriösen« Medien schreiben verzweifelt über Donald Trump: »Ist es der Sieg der schreibenden Opas?« (FAZ), »Der Feind in meinem Haus«, »Horrorszenario«, »Das Ende« (Handelsblatt), »Wer kann Trump noch stoppen?« (Zeit Online), »Böser neuer Nachbar«, »Wir hatten nie so viel Angst« (Spiegel Online). Und noch einmal Zeit Online: »Donald Trump war lange nur ein schlechter Scherz. Jetzt wird er Präsident. Die Welt muss sich fürchten vor dem, was diesem unberechenbaren Mann als Nächstes einfällt.«4 Vor dem Wahlergebnis war die Berichterstattung deutscher Medien über Trump nicht neutraler. Als im September 2015 zum ersten Mal über einen Skandal um sexuelle Belästigung berichtet wurden, in den er verwickelt war, schrieb Spiegel Online bereits einen Abgesang auf Trump. Der Republikaner wurde darin als »Möchtegernkandidat« tituliert. Fazit des Autors: »So könnte Trumps ungehobelter Umgang mit Frauen zum entscheidenden Schwachpunkt seiner Kampagne werden. Denn auch den wütendsten, robustesten Konservativen dürfte die Unwählbarkeit klar sein. Dieses Muster wiederholten andere Medien bei verschiedenen Gelegenheiten. Es geht hier keineswegs darum, Trump zu verteidigen – sondern den objektiven Journalismus. Denn der hat oft verloren im Zuge der US-Wahlen. So wurde nach den TV-Debatten der Kandidaten in den meisten Medien nicht über die politischen Aussagen diskutiert, sondern vor allem gefragt: »Wer hat gewonnen? Wer ist vorne?« Je mehr rhetorische Mittel Artikel enthalten, desto stärker vermitteln sie den Eindruck, dass es sich bei dem geschilderten Vorgang um einen Skandal handelt. Und die meisten Berichte über Trump und Clinton enthalten signifikant mehr rhetorische Sprachfiguren, als eine nüchterne Präsentation der Fakten enthalten sollte. Einige rhetorische Figuren sind besonders häufig aufgetreten. Dazu gehören Metaphern (»Trumps Wahlkampf der verbrannten Ende«, »Tal der Tränen«), Antonomasien (»Lügner«, »Hetzer«, »Verliererin«), Neologismen und rhetorische Fragen (»Ist das Ende nah?«).5 Mithilfe der rhetorischen Figuren lassen einige Medien das Geschehen als besonders verwerflich erscheinen, obwohl sie keine wesentlich anderen Sachinformationen liefern als andere.

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Die Neutralität wurde verletzt: Trump wurde in eine Reihe nicht nur mit AfD und Pegida, sondern sogar mit Hitler gestellt.6 Ja, Trump steht gegen nahezu alles, wofür die linksliberalen Medien selber einstehen – aber kein Journalist sollte das Weltbild anderer prägen. Die deutschen Medien wählen den US-Präsidenten nicht. Sie haben selbstredend kein Stimmrecht – das scheinen sie aber vergessen zu haben und bilden eigene Urteilsnormen, die wiederum die Wahrnehmung der Medienfigur Trump steuern. Die deutschen Journalisten haben natürlich das Recht, die Entwicklung in den USA zu kommentieren. Aber was ist mit dem nötigen Respekt vor Andersdenkenden? Trump als milliardenschwerer Quereinsteiger, als Mensch mit seiner Mischung aus Freigeist, finanzieller Unabhängigkeit und widersprüchlichen politischen Ansichten, ist ein interessanter Protagonist für die Klatschpresse, die Horroretiketten an ihn heftet und alles, was er sagt, mit extremen Begriffen bezeichnet (»Katastrophe«, »Sterben«, »Ernstfall«, »Untergang«, »Hölle«).7 Die Medien assoziieren seine Normverletzungen als schweren Verstoß gegen allgemeine, hohe Werte; im Falle des Videos von 2005, in dem Donald Trump in drastischer Sprache über Frauen spricht, nutzten Journalisten wütend die Wörter »Gewalt« und »Belästigung« in den Schlagzeilen. Sie suggerieren Katastrophen und maximale Schäden als wahrscheinlich.8 So berichten sie, dass Trump eine Gefahr für den deutschen Wohlstand sei und den Exporten Ungemach drohe, sodass die deutschen Unternehmen »zittern vor Angst«9. Sie übertreiben auch optisch und untermauern ihre Hysterien mit Fotos und Videos, die Normverletzungen, Missstände und Schäden, die die Welt von Trump zu erwarten hat, als besonders schwerwiegend, gefährlich und beängstigend erscheinen lassen. Was ist Ursache solcher Übertreibungen? Liegt es etwa an einer allgemeinen Vorliebe von Journalisten für Übertreibungen und Skandale? Eine Studie hat gezeigt, dass die Skandalisierung von Ereignissen nach Meinung vieler Journalisten einen Wert für die Gesellschaft darstellen kann. Die Medien decken Missstände auf, die sie als Skandal markieren und somit zeigen, dass auch Mächtige allgemein anerkannte Regeln nicht ungestraft verletzen können. Dies

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kam bei einer Befragung von Redakteuren heraus, die Hans Mathias Kepplinger, Kommunikationswissenschaftler am Institut für Publizistik in Mainz, im Jahr 2011 durchführte. Grundlage der Befragung war eine Zufallsauswahl von 360 Tageszeitungsredakteuren, von denen sich 158 an der Befragung beteiligten. Es wurde unter anderem die Frage gestellt: »Journalisten stellen Probleme gelegentlich überspitzter dar, als sie, nüchtern betrachtet, sind. Halten sie eine solche Darstellung für vertretbar oder nicht?« Ein Viertel der Redakteure fand eine überspitzte Darstellung generell akzeptabel, für gut die Hälfte (88 Befragte) war überspitzte Darstellung nur »in Ausnahmefällen … vertretbar«. Diese 88 Journalisten, die Übertreibung in Ausnahmefällen rechtfertigten, wurden dann gefragt, in welchen Fällen sie das für vertretbar halten. »Die Zwänge des Wettbewerbs um Leser« sind es nach Auskunft der Zeitungsredakteure nicht – weniger als ein Fünftel akzeptieren diesen Grund. Auch den »Reiz einer starken Geschichte«, den man durch eine Zuspitzung von Problemen erreichen kann, ließen nur 26 Prozent der befragten Redakteure als berechtigt gelten. Noch weniger waren der Meinung (5 Prozent), dass »Diskussionsanregung« den Verzicht auf neutrale Nachrichtengebung rechtfertigt. Die überspitzte Darstellung »als Stilmittel, zum Beispiel in Glossen« wollte kaum ein Redakteur (2 Prozent) akzeptieren. Ganz anders sieht es bei der »Beseitigung eines Missstandes« aus, worum es bei einem Skandal ja geht. Fast alle Journalisten (88 Prozent) akzeptieren die übertriebene Darstellung in Ausnahmefällen, wenn es der Gesellschaft ihrer Meinung nach dient. Es hält also nicht nur gut ein Viertel der Redakteure Übertreibungen für vertretbar, was vielleicht noch hinnehmbar wäre. Hinzu kommen jene, die Übertreibungen normalerweise ablehnen, im Ausnahmefall aber akzeptabel finden, wenn sie der Beseitigung von Missständen dienen. Bei der Skandalisierung von Missständen halten folglich nach Kepplinger bis zu 72 Prozent der befragten Redakteure von Tageszeitungen Übertreibungen für vertretbar.10 Es ist gut zu wissen, dass Journalisten die Skandalisierung nutzen, um Missstände aufzudecken und damit das hehre Ziel ihrer Beseitigung verfolgen. Die Skandale werden als Selbstreinigungskräfte der

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Gesellschaft verstanden, die die Geltungskraft der sozialen Normen stärken. Die Skandalisierung erfüllt somit eine wichtige soziale Funktion, selbst wenn die Vorwürfe im Einzelfall übertrieben sind. Indem die Medien Missstände anprangern, kompensieren sie Defizite anderer Institutionen, die bei der Aufdeckung von Normverletzungen aller Art versagen – Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften, Parlamente und Parteien, Zulassungs- und Kontrollbehörden. Die Skandalisierung von Missständen unterstützt sozusagen die Tätigkeit dieser Institutionen, und sie ist umso notwendiger, je häufiger die dafür vorgesehenen Kontrollorgane versagen. Das klingt edel. Aber so einfach ist es nicht. Einerseits gelingt es zwar einigen Journalisten, etwas zu bewegen, reale Macht auszuüben, die Welt zu verändern. Andererseits wird unter diesem edlen Motto aber auch unnötig Porzellan zerschlagen. Viele Journalisten decken keine Skandale auf – sie denken nur, dass sie das tun. Sie prangern an. Journalisten müssen, statt Missstände zu skandalisieren, in der Berichterstattung sachlicher sein. »Die meisten glauben, dass man mit Skandalisieren Missstände in der Gesellschaft verringern könnte, aber das ist Unsinn«, ist Hans Mathias Kepplinger überzeugt.11 Zumal häufig überzogen wird oder es einfach nicht stimmt, was die Medien schreiben. Nehmen wir die Schlagzeilen in der SZ, auf Zeit Online oder im Handelsblatt darüber, dass der kommende US-Präsident angeblich angekündigt hat, bis zu drei Millionen Migranten auszuweisen.12 Das stimmt zwar, aber nicht ganz, denn Trump sprach von illegalen Migranten: Drogendealern, Verbrechern, Bandenmitgliedern. Außerdem sind die übertriebenen Darstellungen kein gutes Mittel im Kampf um Leser. Die Medien wecken vielmehr selbst dann falsche Vorstellungen etwa von der Häufigkeit von tödlichen Unfällen, wenn die Artikel richtige statistische Angaben darüber enthalten. Die Leser überschätzen die Häufigkeit tödlicher Unfälle umso mehr, je extremer die geschilderten Einzelfälle in den Medien sind, und halten sie häufig gar für ein nationales Problem.13 Also: Trump ist zum Präsidenten geworden, aber zunächst für vier Jahre. Das ist kein Weltuntergang, keine Katastrophe und auch nicht die Hölle. Das Leben geht weiter.

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Die Missstände selbst, über die berichtet wird, sind oft nicht neu, sie sind überprüfbar und fast immer unstrittig. Neu ist die Perspektive, aus der sie anders interpretiert und dadurch zum Skandal werden. Insider und Experten kennen die Informationen in der Regel schon lange. Beispielsweise gab es im April 2016 eine Reihe von Publikationen über das Abzocken der Sozialkassen durch sogenannte »russische« Pflegedienste, die systematisch mit gefälschten Pflegeprotokollen nicht erbrachte Leistungen abrechneten. Das Phänomen selbst, also der Abrechnungsbetrug von Staatsangehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion, war dem BKA schon lange bekannt – zum Skandal wurde dieser Missstand erst durch die zahlreichen Publikationen in den Medien. Es geht aber nicht darum, dass Insider und Spezialisten die relevanten Informationen kennen. Es kommt auch nicht darauf, dass einzelne Journalisten skandalrelevante Informationen bereits unbemerkt nebenbei erwähnt haben. Entscheidend ist, dass die Öffentlichkeit insgesamt auf Missstände aufmerksam gemacht wird, und genau das geschieht in einem Skandal durch die massenhafte Berichterstattung aller oder fast aller Medien.14 Aber warum Pauschalisieren und somit auch die integer arbeitenden Pflegedienste diskreditieren? Kehren wir zu der Umfrage zurück. Von den Journalisten, die eine überspitzte Darstellung in Ausnahmefällen rechtfertigen, akzeptieren nur 18 Prozent den Grund »die Zwänge des Wettbewerbs um Leser«. Daraus folgt aber nicht notwendigerweise, dass Journalisten aus Wettbewerbsgründen Missstände nicht doch übertreiben. »Allerdings kann man vermuten, dass sie solche Übertreibungen nur widerwillig und mit schlechtem Gewissen in Kauf nehmen«, sagt Hans Mathias Kepplinger.15 Die beste Währung der Medien war und bleibt immer noch die Aufmerksamkeit. Und im Wettbewerb um Aufmerksamkeit bedarf es möglichst exklusiver Informationen, sodass auch Journalisten der Qualitätsmedien, bei denen die gründliche Recherche im Vordergrund stehen sollte, in der schnelllebigen Onlinewelt ständig unter Aktualitäts- und Produktionsdruck stehen. Das Bewusstsein, dass die Information schnell »verderblich« ist und daher rasch konsumiert werden muss, kann dazu führen, sie besonders auffällig zu präsentieren und übertrieben darzustellen,

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um Aufmerksamkeit zu wecken. Das geht gelegentlich zu Lasten der Richtigkeit.16 Wie man Aufmerksamkeit produzieren kann, ist kein Geheimnis, sondern Handwerk. Es orientiert sich an den Reizwerten unserer Gesellschaft: an Macht und Ohnmacht, an Kriminalität, an Krankheit und Gesundheit, an Sexualität, Erfolg und Niederlage, Reichtum und Armut. Aufmerksamkeitsproduktion benutzt bestimmte eigene Attraktionsmethoden. Die wichtigsten sind Skandalisierung, Boulevardisierung, Dramatisierung und Personalisierung – was wir heute in der aktuellen Berichterstattung beispielsweise über die USWahl, den Krieg in Syrien, die Flüchtlingsdebatte oder Pegida und AfD beobachten können. Die Aufmerksamkeitsproduktion hat zwei Basiswerte. Wenn ich Ihre Aufmerksamkeit auf etwas hinlenken will, muss ich Ihnen erstens etwas mitteilen, was anschlussfähig ist, was Sie kennen und was Ihnen bekannt vorkommt, zum Beispiel Prominenz. Wenn ich aber über Bekanntes spreche, müssen meine Mitteilungen zweitens etwas Neues, etwas Überraschendes beinhalten, zum Beispiel eine Sensation. Meine Chancen, Ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, steigen, wenn ich etwas negativ oder kritisch bewerte. Was ist die negative Form von der Sensation? Der Skandal. Skandalisierung der Prominenz – das ist das Optimum der Boulevardisierung. Boulevardisierung, die es auf skandalisierende Berichterstattung anlegt, ist die Zurichtung des Journalismus auf Desinformation oder gar auf die Umfunktionierung für kapitalistische Zwecke; Boulevardisierung ist die logische Ehe von Aufmerksamkeit und Geld auf Kosten des Journalismus. Eines Journalismus also, der unabhängige, aktuelle, möglichst richtige öffentliche Mitteilung über Wichtiges macht, indem er auf Basis recherchierter und selektiver Informationen berichtet. Der Anteil der Anzeigeneinnahmen für die Medien sinkt – und auch das blieb und bleibt nicht ohne Folgen für die aktuelle Berichterstattung. Die Redakteure sehen die wirtschaftliche Lage der Branche und den Zeitmangel bei der Recherche als ihre größten Probleme.17 Das Internet hat außerdem zu einer Beschleunigung der Berichterstattung geführt. Die Medien sind vom Einzelverkauf

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(Print) und von Klicks (Online) abhängiger geworden, deswegen brauchen sie ihre Leser wie nie zuvor. Dieser Kampf um Aufmerksamkeit der Leser begünstigt »heischende Übertreibungen vor allem von negativen Ereignissen und Themen – Krisen, Konflikten und Missständen – sowie ihre Skandalisierungen«18. Was publiziert wird und wie es publiziert wird, orientiert sich oft an drei Kriterien: niedrige Kosten, hohe Reichweite und Exklusivitätswettbewerb. Daraufhin entscheidet ein Verlag oder Sender, was er macht: Journalismus oder Kampagne, wie etwa im Fall der meist einseitigen Berichterstattung über US-Wahl oder Brexit. Wahrscheinlich sind diese Kampagnen den deutschen Medien deswegen nicht »gelungen«, da so ein Bumerang-Effekt produzierte wurde: Die Medien haben Trump eine große Plattform angeboten und so ermöglicht, dass er von jedem gehört wurde. Der Alltag eines Russland-Korrespondenten, der für die diverse deutsche Qualitätsmedien berichtet: »Hallo Herr Kollege, einverstanden. Bitte Herrn Putin erwähnen, vielleicht kann man die GazpromStory sogar auf Putin zuspitzen?« Jede Geschichte, sagt mein Kollege, lässt sich auf Putin zuspitzen, auch wenn sie gar nichts mit Putin zu tun hat. Wozu führt das? Zu mehr Aufmerksamkeit, weil Putin erwähnt wird. Und dazu, dass ich oft bedauert werde, wenn ich sage, dass ich Journalistin aus Russland bin. Bedauern wofür? »Dass wir Russland blamieren und unsere Medien nicht versuchen, Russlands Politik objektiv zu erklären. Und dass bei uns Putin an allem Schuld ist. Und wer anderer Meinung ist, wird als Putinversteher gebrandmarkt. Übrigens mag ich dein Land.« Wenn ich mein Newsfeed in Facebook lese, dann sehe ich fast nur die Hysterie, dass Trump zum Präsidenten geworden ist. Wenn ich in einer Kneipe sitze, höre ich häufig, er sei eigentlich eine gute Wahl. Weil das jedoch in den wenigsten etablierten Medien vorkommt, haben Medien wie das Compact Magazin, die für Putin, gegen Flüchtlinge und für die AfD berichten, Zulauf. Und sagen sogar, sie machten »unabhängigen Journalismus«. Andersdenkende entgrenzen sich und versuchen Mainstreamansichten zu widerstehen, das führt zur weiteren Polarisierung der Meinungen (»Russenhasser« gegen »Russlandversteher«, »Erdogan-Anhänger« gegen »Erdogan-Kritiker«, »Wir schaffen das« gegen »Go home«).

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Die etablierten Medien nutzen diese wachsenden Ängste, Befürchtungen und Ressentiments aus, um Aufmerksamkeit zu gewinnen, aber sie waren noch nie so machtlos wie heute. Erstens befinden sie sich in Zeiten sinkender Auflagen, Klicks und Quoten und suchen nach stabilisierenden Maßnahmen. Im Kampf um die Leser und User zeigen sich skandalisierende, emotionalisierende und personalisierte Inhalte immer noch als verhältnismäßig verkaufsstark. Sie scheinen Garanten finanzieller Stabilität zu sein. Man darf nicht vergessen, dass Journalisten sich intensiv und schnell aneinander orientieren: Sie sind Gegner im beruflichen Wettbewerb, gleichzeitig dienen sie füreinander aber auch als Quelle der Anregung für eigene Artikel und als Richtmaß zur Beurteilung der eigenen Beiträge. Orientierung bieten auch die Leitmedien: nicht nur SZ, FAZ, taz, Handelsblatt, Zeit, Spiegel und andere, sondern auch die BILD-Zeitung. Obwohl die Auflage von BILD in nur sieben Jahren von vier Millionen auf zwei Millionen gefallen ist,19 bleibt sie die auflagenstärkste Zeitung und wird oft zitiert, wodurch ihre Stimme auch jene erreicht, die die Leitmedien nicht lesen. Um selbst möglichst viele Nutzer anzusprechen versuchen vielen Medien daher, einzelne Elemente des Boulevards zu übernehmen. In der Vermutung, die thematische Ausweitung der Berichterstattung, die Dramatisierung des Geschehens und die Simulation von Emotionen wären ein sicherer Ausgang aus der finanziellen Krise. Zweitens bietet die wachsende Bedeutung des Internets als Plattform für Informationen jedem Chancen, »Journalist« zu werden. Die Blogger (wie »netzpolitik.org«), Internetaktivisten (wie »Anonymous«) und Alternativmedien (wie »NEOPresse«) machen eigene Recherchen, veröffentlichen auf eigenen Webseiten und distribuieren viral via Social-Media-Plattformen. Journalisten befinden sich also in neuer Konkurrenzsituation und ständig auf der Suche nach Quellen und geleaktem Material, zum Beispiel von Wikileaks. Sie müssen schnell sein, die Richtigkeit – ein Qualitätskriterium des seriösen Journalismus – manchmal ignorieren und kämpfen dabei um Aufmerksamkeit, Exklusivwissen und Hintergrundinformationen nicht nur mit den eigenen Kollegen, sondern auch mit der genannten neuen Konkurrenz. Manchmal gewinnen die Internetaktivisten

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viele Page Views und Reposts auf Facebook, selbst wenn sie ein Gerücht verbreiten. Und es kann den Medien das Schlimmste passieren: dass sich Gerüchte auch auf ihren Plattformen verbreiten, was einen erheblichen Schaden anrichten kann. Denn meist steckt hinter den im Internet verbreiteten Informationen keine Redaktion dahinter, die Informationen ernsthaft und professionell prüft und für die Richtigkeit einsteht. Dies leisten die Journalisten und die Medien, für die sie arbeiten – beziehungsweise sollten sie das leisten, aber immer öfter passiert das eben nicht. Drittens führt der Druck des Internets immer häufiger dazu, dass die Qualitätskriterien des Journalismus ignoriert und das Tempo der ganzen Branche vorgegeben werden. Für professionell recherchierte und aufbereitete Inhalte gibt es zu wenig Zeit und zu wenig Geld. Das Internet ist voll mit zweifelhaften, kostenfreien Informationen und befördert eine Umsonst-Mentalität. Die meisten Menschen sind nicht bereit, für Online-Medieninhalte zu bezahlen, und folglich können diese Inhalte auch schwerlich besser werden. Es bleiben fast nur Verflachung und Boulevardisierung. Diese permanente Beschleunigung des Nachrichtengeschäftes, der Mangel an Finanzierung (der auch zur Reduktion des Personals führt) und der Kampf um Aufmerksamkeit haben einen Preis: Im Journalismus kommt es zunehmend auf Reichweite, Auflage und Klicks an. Fast egal, ob die Informationen vollständig stimmen. Trends wie Boulevardisierung und Skandalisierung können bestenfalls eine Präventivwirkung gegen Missstände besitzen, sie können ein Sprungbrett für den Mobilisierungseffekt der Gesellschaft sein. Aber sie bergen eben auch die genannten Gefahren und können nicht die Lösung sein. Die Leser und Zuschauer der Qualitätsmedien bezahlen nicht für Texte und Stücke mit unklaren Botschaften und starken emotionalen Appellen. Sie bezahlen nicht für Romane in Form von Reportagen. Sie bezahlen für gut recherchierte und erklärte Informationen zu Themen, die die Gesellschaft bewegen. Sie bezahlen für die Richtigkeit, nicht nur für die Schnelligkeit. Deswegen haben die Qualitätsmedien, wenn sie in diesen Zug der Boulevardisierung einsteigen, keine Zukunft. Viele Leser und Zuschauer der Qualitätsmedien (ich persönlich auch) werden durch

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diese aufgeblasene und skandalisierte Berichterstattung nur verärgert. Wir sagen irgendwann: »Dann lasse ich das eben und bezahle dafür keinen Cent mehr.« Was für den Boulevard guter Journalismus ist, ist noch lange nicht guter Journalismus für die Qualitätsmedien. Skandalnachrichten haben Nebenwirkungen. Wozu führen die von den deutschen Medien nach der US-Wahl gemalten Panikreaktionen und Weltuntergangszenarien? Welche Folgen kann solch eine medial ausgelöste Hysterie haben? Wird ein Ansehensverlust der Politiker auch das politische Engagement der Bürger verringern? Die Medien brandmarken Hillary Clinton als »Verliererin« – wird dadurch das politische Engagement von Frauen zurückgehen? Die Medien nennen Trump eine »Apokalypse« (Welt kompakt), »Horror« (Hamburger Morgenpost) und »Desaster« (Welt kompakt) – spaltet dieser Hass die Gesellschaft? Eigentlich verdient jeder eine Chance. Trump auch. Und irgendwann werden die vier Jahre vorbei sein. Jede Demokratie lebt letztlich vom Engagement und Vertrauen ihrer Bürger. Wenn dieses Vertrauen in die politischen Institutionen und Eliten durch ständige Skandalisierungen untergraben wird, fördert das Misstrauen. Die Menschen verallgemeinern Einzelfälle – und denken dann nicht, dass nur Hillary Clinton eine »E-Mail-Affäre« hatte, sondern alle Politiker. Das ruft eher Apathie als kritisches Engagement hervor. Können wir es wollen, dass die Bevölkerung nur noch Zweifel an Politik und Wirtschaft hat, Zweifel an existierenden sozialen Normen? Lohnt es sich? Heinrich Popitz, der deutsche Soziologe, der Phänomene der Macht erforschte, hat treffend bemerkt, dass »die positiven Folgen des Prangers nur wahrscheinlich sind, wenn er selten ist«.20 Er stellte das für den Strafprozess fest, aber dieses Postulat passt genauso gut für den Skandal. Das heißt: Je häufiger skandalisierend berichtet wird, desto geringer wird wohl die Präventivwirkung bei wirklichen Skandalen. Die Boulevardisierung und Skandalisierung zugunsten der Aufmerksamkeitsökonomie ist ein realer und gefährlicher Trend. Er trägt zur Politikverdrossenheit bei und schadet der Demokratie. Er bedroht den Beruf des Journalisten und verschlechtert unsere Ar-

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beitsbedingungen. Aber dieser Prozess ist nicht unumstößlich, er kann auch der Beginn sein für einen konstruktiven und objektiven Journalismus, der informiert, aufklärt und reflektiert. Statt Spekulationen über Terroranschläge in Europa, über den Islam oder Rechtsextremismus ist der professionelle Zugang zu Daten und Akteuren gefragt; statt schrillen und kurzen Schlagzeilen die gründliche Recherche. Wir dürfen nicht weiter auf den Trend zur Einseitigkeit und Beschleunigung aufspringen und alles hysterisch melden und posten. Laut der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) macht unsere Profession den Feuerwehrleuten und Busfahrern keine Konkurrenz – Journalisten sind in Berufsrankings seit jeher auf hinteren Plätzen zu finden, in direkter Nachbarschaft zu Politikern und Versicherungsvertretern. Einziger Trost: Mittlerweile realisieren die Medien immer häufiger ihr Fehlverhalten, diskutieren kritisch und denken grundsätzlich um. Die Selbstkritik wacht auf. Wir stehen unter Druck, Qualität brauchen wir jetzt mehr als je zuvor. Hintergründe, Quellen, Expertenwahl – alles muss man erklären und transparent machen, mehr Ressourcen für Rechercheteams einsetzen, journalistische Ausbildung bewusster machen. Schauen wir uns um nach positiven Entwicklungen, dann gewinnen Ansätze Vertrauen wie neue Online-Medien wie »Сorrectiv«, »Respective Daily«, auch der Rechercheverbund von SZ, WDR und NDR sowie die internationalen Recherchenetzwerke, die Steueroasen aufgedeckt haben und die für professionell recherchierte und entsprechend aufbereitete Inhalte, für mehr Hintergrundinformationen und aufklärenden Journalismus plädieren. Die Respekt vor Menschen haben und die Nachrichten, Geschichten und Skandale so verkaufen, wie sie sind. Und nicht anders. Das ist der Preis – aber schließlich ist es ja auch nicht Geld, das unseren Beruf heiligt.

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