Schönheit und Konflikt

Sexualität und Kunst als Erlösung. 53. Augenblick und Dauer im ästhetischen Prozess. 58. Die Schönheit der sexuellen Begegnung. 60. Der Schrecken als ...
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Schönheit und Konflikt

Ritualtheorie wird gezeigt, auf welchem Weg Kunst den Bewusstseinszustand des Rezipienten transformiert und die für die Kunstbegegnung charakteristische veränderungsoffene Berauschung erzeugt. Ausgehend von spezifischen Analysen im Bereich von Musik, Malerei und Poesie werden die Mechanismen des Ästhetischen aufgedeckt, die sich auch auf die Massenkultur des Films oder des Produktdesigns übertragen lassen.

Sebastian Leikert

»Über die Schönheit«, schreibt Freud, wisse die Psychoanalyse »am wenigsten zu sagen«; auch Adorno bemängelt das Fehlen einer Vorstellung darüber, wie Kunst psychoanalytisch aufzufassen sei. Auf der Grundlage des innovativen Konzepts der kinästhetischen Semantik legt der Autor eine psychoanalytische Ästhetik vor, die die Künste durch eine verbindende Theorie interpretiert. In Auseinandersetzung mit Philosophie und

Sebastian Leikert

Schönheit und Konflikt Umrisse einer allgemeinen psychoanalytischen Ästhetik

Sebastian Leikert, Dr., Dipl.-Psych., ist Psycho-

analytiker in Karlsruhe und Dozent am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Heidelberg-Mannheim sowie Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse und Musik. Er publiziert zu ästhetischen und klinischen Fragestellungen. w ww.sebastian-leikert.de

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Sebastian Leikert Schönheit und Konflikt

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Sebastian Leikert

Schönheit und Konflikt Umrisse einer allgemeinen psychoanalytischen Ästhetik

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. E-Book-Ausgabe 2012 © der Originalausgabe 2012 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78 - 19 E-Mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Antoine Wiertz: »Die schöne Rosine«, 1947 Umschlaggestaltung & Satz: Hanspeter Ludwig, Wetzlar www.imaginary-art.net ISBN Print-Ausgabe 978-3-8379-2182-3 ISBN E-Book-PDF 978-3-8379-6526-1

Inhalt

Danksagung Einleitung

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Kapitel 1

Urformen der Kunst – Die altsteinzeitliche Bildhöhle Die altsteinzeitliche Bildhöhle Schamanistisches Ritual und ästhetischer Prozess Erste Ableitungen Die Schönheit des ästhetischen Objekts, die Schönheit des ästhetischen Prozesses und die Angst

21 23 28 34 36

Kapitel 2

Positionen der philosophischen Ästhetik – Vom Leiden des Schönen im Reich der Rationalität Zum Dialog mit Nachbardisziplinen Platon und der unbetrauerte Verlust des Sinnlichen Baumgarten und der Keil der Schönheit im Leib der Philosophie Die Welt als Hades des Willens – Sexualität und Kunst als Erlösung Augenblick und Dauer im ästhetischen Prozess Die Schönheit der sexuellen Begegnung Der Schrecken als Kategorie des Ästhetischen Ritualisierung und die innere Ordnung des ästhetischen Prozesses

41 41 43 48 53 58 60 65 68 5

Inhalt

Kapitel 3

Die kinästhetische Semantik – Strukturen sinnlicher Erkenntnis Die kinästhetische Semantik – Ein Überblick Freuds Fragmente einer Theorie der Wahrnehmung Umrisse einer Theorie der Schönheit bei Freud – Die komplementäre Beziehung von Sublimation und Vorlust Der Rhythmus als Organisator des ästhetischen Prozesses Schönheit und Sexualität Religiosität zwischen Spiritualität und Orthodoxie

73 74 83 86 91 94 97

Kapitel 4

Von Ferenczi bis Ogden – Körperselbst und Wahrnehmungsbeziehung Wahrnehmungsbeziehung und Diskoordination – Die Grenzen des Konzepts von Merleau-Ponty Der kinästhetische Modus und das Körperselbst Der Sprechakt Sprache und Zeitraster Klinische Konzepte zur kinästhetischen Beziehung Wahrnehmungsbeziehung und Normalität Sexualität als Wahrnehmungsbeziehung Konfliktstrukturen

Kapitel 5

Das Rituelle und die ästhetische Form in der Musik Ritualisierung, Totalisierung und Seduktion – Auf dem Weg in die Präsenzerfahrung Der Klang und andere Mechanismen der Verführung Musik und Ritualforschung Zur Psychoanalyse des Rituellen Zur Struktur des Rituellen Traumfabrik Kino – Zur Psychologie der Totalisierung Schönheit und Konflikt

105 106 110 112 114 116 122 123 126 131 134 141 145 149 155 163 165

Kapitel 6

Die Rolle der kinästhetischen Semantik in den bildenden Künsten Malerei und Transzendenz Architektur – Zur Formensprache des rituellen Gebäudes

6

171 171 175

Inhalt

Skulptur – Transzendenz und Inkarnation Projektionsraum Natur – Begütigungen des Naturschönen Malerei – Das Stillleben als Vorbote einer Ästhetik des Todes Innerweltliche Transzendenz und Endlichkeit – Die Erfahrung von Tod und Leben im Stillleben

182 185 187 193

Kapitel 7 Narration und Aisthesis – Ästhetische Gesetze der lexikalischen Semantik Sprache und Entfremdung – Utopie und Atopie Ästhetische Mechanismen der Sprache – Metonymie und Metapher Metonymie und Narration Die Metapher und die Erzeugung von Sinn Sprachkunst als Doppelstruktur Die Wahrnehmung der Sprache im Gedicht Metonymie und Ritualisierung Klang, Rhythmus, Stimme – Die poetische Sprache Der Kriminalroman als Ritus der Moderne Der Kreuzweg des postreligiösen Subjekts Schrebers »Nervensprache« und die Torsion des Symbolischen

199 200 204 206 207 209 211 215 219 221 226 233

Kapitel 8 Die Rolle des Ästhetischen in der spontanen Ritualisierung postreligiöser Gesellschaften Von den Megariten kohärenter Gesellschaften zu einem heteronomen Teppich weicher Ritualisierungen Der iKult als postreligiöses Totem – Produktdesign und psychoanalytische Ritualtheorie Kultort Kino – Struktur und Funktionalität der modernen Bildhöhle Mischwesen im Sportstudio – Die Rolle des Körperkultes in der ästhetisierten Gesellschaft Das Zerbrechen der Vase – Zur Frage des ästhetischen Raums bei Ai Weiwei

241 241 249 255 263 268 7

Inhalt

Kapitel 9

»Der Arbeit einer Psychoanalyse vergleichbar« – Die Katharsis und das Ethos des Ästhetischen Ethische Implikationen der kinästhetischen Semantik Melodie und Mythos – Die Katharsis bei Aristoteles Abreaktion oder Übertragung? – Die Katharsis bei Freud Lacan und die Ethik der Psychoanalyse Élever un objet à la dignité de la Chose Begehren und Katharsis Die Rolle der kinästhetischen Semantik in der Katharsis Was bedeutet die Abstraktion anderes als einen Verlust? Moral versus Ethik Zur Psychologie der Kreativität Das Ethos des Kinästhetischen

275 275 279 281 284 285 287 289 291 295 299 303

Literatur

309

Register

319

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Danksagung

Der Schreibprozess dieses Buches nimmt Anregungen aus verschiedensten Begegnungen auf. Die Beschäftigung mit der Ritualforschung geht etwa auf eine Vortragseinladung an die Züricher Hochschule der Künste zurück, bei der im Diskussionsvorfeld Musik als Ritual der Stimme aufgefasst wurde. Konstante und wertvolle Wegbegleiter sind Bernd Oberhoff, Anja Guck-Nigrelli, Antje Niebuhr und Karin Nohr, mit denen gemeinsam die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse und Musik gegründet wurde, die immer wieder eine Gelegenheit bot, meine Überlegungen zur Diskussion zu stellen. Mit Jörg Scharff verbindet mich eine lebhafte und fortgesetzte Diskussion über die leibliche Dimension in Musik und Psychoanalyse. Danken möchte ich insbesondere Anja Guck-Nigrelli, die das Manuskript intensiv durchgesehen und lebhaft mit mir durchgesprochen hat. Isolde Böhme hat das Manuskript ebenfalls gelesen, ich verdanke ihr wertvolle Anregungen. Meine Partnerin Gundula Steinke war an der Überarbeitung des Textes ebenfalls profund beteiligt, vor allem aber wurde sie nicht müde, mich durch die emotionalen Amplituden des Schreibprozesses unterstützend und ermutigend zu begleiten.

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It’s a sad and beautiful world Jim Jarmusch What shall we do, what shall we do, with all that useless beauty? Elvis Costello Artists are not beauticians. Ai Weiwei Kunst ist Menschwerdung – sonst nichts. Jörg Immendorff Die Psychopathologie, die wir erforschen und zu behandeln behaupten, gründet allererst in der Flucht vor dem Schmerz, den der ästhetische Konflikt bereitet. Donald Meltzer Wenn man lebt, sieht man in den Himmel und ist begeistert. Ein phantastisches Universum, das uns erniedrigt, weil wir nichts davon genießen können. Oscar Niemeyer

Einleitung

Das vorliegende Buch fragt nach dem ästhetischen Phänomen in einem allgemeinen Sinne. Das Projekt einer allgemeinen psychoanalytischen Ästhetik ist allgemein, insofern es die ästhetischen Prozesse in den verschiedenen Bezirken der Kunst aus einem einheitlichen Gesichtspunkt ableitet, nämlich dem der Wahrnehmung (Aisthesis) und ihrer Eigengesetzlichkeit, die sich von der Ordnung der Sprache substanziell und effektiv unterscheidet und die ich unter dem Begriff der kinästhetischen Semantik beschreibe. Ja, mehr noch: Die Stichworte einer Ästhetisierung des Politischen, der inflationären Fetischisierung körperlicher Schönheit im sozialen Kontext und die Bedeutung des Warendesigns für die Selbstorganisation postreligiöser Gemeinschaften machen deutlich, dass sich das Phänomen des Ästhetischen nicht auf das Feld der Kunst beschränkt. Das Nachdenken über Ästhetik sieht sich also vor der Frage nach dem Wesen des Ästhetischen und seiner entfremdenden Instrumentalisierung durch andere, nicht ästhetische Kontexte. Oder, anders formuliert, vor der Frage nach der Funktion, die das Ästhetische auch in nicht künstlerischen Kontexten für psychische und soziale Strukturen erfüllt. Letztlich legitimiert sich mein Fragen aus der Annahme, dass Sprache und Wahrnehmung unterscheidbare Grundfähigkeiten des Psychischen sind und die Psychoanalyse sich bisher vornehmlich auf die Erforschung sprachlicher Strukturen ausgerichtet hat. Genau betrachtet stellt sich die Frage nach dem Unterschied von Sprach- und Wahrnehmungsstrukturen aber auch innerhalb des Bereichs, 11

Einleitung

der üblicherweise als Kunst apostrophiert wird, zumal dessen Grenzen, spätestens seit Duchamp, ohnehin nicht ohne Willkür gezogen werden können. Andere Kontexte, wie das Religiöse oder das Politische, schreiben sich in das Kunstwerk ein, funktionalisieren es für ihre Zwecke und schränken es in seiner freien explorativen Leistung ein. Auch innerhalb der Kunst stellt sich also die Frage nach dem Platz und der Funktion des Ästhetischen. Von Beginn an stoßen wir mit der Frage nach dem Ästhetischen auf eine Doppelstruktur: Sowohl bei den Gegenständen der Kunst als auch bei denen des Alltags lassen sich – zunächst intuitiv – verschiedenartige Ordnungen erkennen, die sich durchdringen und sich wechselseitig funktionalisieren, hemmen oder steigern. Eine allgemeine psychoanalytische Ästhetik muss somit unterscheiden können, was an einem Kunstwerk oder an einem Gegenstand der profanen Alltagswelt als die ästhetische Komponente und was als der hinzutretende Teil aufgefasst werden kann. Zudem sollte beantwortet werden können, welches Funktion und Wirkung der jeweiligen Komponente sind. Allgemein ist der vorgelegte Entwurf weiterhin nicht nur, weil er verschiedene Bereiche der Kunst – Musik, Literatur, Malerei – betrifft und auch zu ästhetischen Erfahrungen außerhalb der Kunst eine Erklärungsmöglichkeit bereitstellt. Allgemein ist der Entwurf auch deshalb, weil er sich auf das Allgemeine der ästhetischen Erfahrung bezieht: also nicht nur auf die Erfahrung des Schönen in der Kunst, sondern auf die gesamte Bandbreite der Qualitäten der ästhetischen Erfahrung, die ja auch die Erfahrung von Konflikt, Verletzung und Gram mit einschließt, welche die ästhetische Erfahrung regelmäßig ansteuert und bearbeitet. Es wird also nicht nur eine psychoanalytische Theorie des Schönen angeboten, sondern auch eine Analyse der Funktion des Ästhetischen, in der das Schöne im engeren Sinne lediglich eine auxiliare Funktion – wenn auch eine besonders schöne – hat. Nach dem Ästhetischen und seiner allgemeinen pathischen Funktion zu fragen, schließt aber auch die Frage danach ein, welchen Ort das Ästhetische in der psychoanalytischen Praxis selbst hat. Die psychoanalytische Frage nach dem Ästhetischen kann sich dabei nicht durch externe Vorgaben darüber, was Kunst oder was das Ästhetische sei, leiten lassen, sondern muss von einer Definition des Ästhetischen ausgehen, die sich auf psychische Grundprozesse bezieht. Sie ist, 12

Einleitung

der Forderung Adornos folgend, »aus einer Theorie des Seelenlebens herauszuspinnen« (Adorno 1973, S. 19). Mit diesem Gedanken sind wir bei der Frage angelangt, was eine psychoanalytische Ästhetik ausmacht. Diese Fragesituation ist jedoch nicht einfach, sondern muss aus einem Dialog der Psychoanalyse mit ihren Nachbardisziplinen entwickelt werden. Nach meiner Auffassung ist es nicht so, dass man bezüglich ästhetischer Fragestellungen auf ein verfügbares psychoanalytisches Wissen zurückgreifen könnte, das man bloß hernehmen und auf ästhetische Fragestellungen anwenden muss. Vielmehr muss die Frage nach der Ästhetik zunächst allgemein, d.h. außerhalb der psychoanalytischen Theorie und in Austausch mit Nachbardisziplinen wie Philosophie, Soziologie und Ritualforschung formuliert werden und kann erst dann an das Korpus des psychoanalytischen Wissens herangetragen werden. Das hört sich möglicherweise komplizierter an, als es ist: Es geht ja nicht darum, die gesamte philosophische Literatur zur Ästhetik zu berücksichtigen. Es reicht aus, einige wichtige Positionen zu referieren, um deutlich zu machen, dass die Frage nach der Eigenständigkeit und der spezifischen Struktur der ästhetischen, also sinnlich-wahrnehmenden Erkenntnis, sich erst im Verlauf der Philosophiegeschichte gegen eine logozentrische und die Abstraktion idealisierende Sichtweise durchsetzen konnte. Es scheint, dass dieser Schritt dem psychoanalytischen Denken noch bevorsteht. Ein Blick auf die Geschichte der philosophischen Ästhetik erlaubt es also, ein Gerüst von Fragen herauszuarbeiten, auf das auch eine psychoanalytische Betrachtung Antworten suchen muss. Daneben wird dem eigentlich psychoanalytischen Fragen noch ein weiterer Umweg vorgeschaltet: Am Beispiel altsteinzeitlicher schamanistischer Rituale wird gezeigt, welche Komponenten berücksichtigt werden müssen, um den ästhetischen Prozess in seiner performativen Gestalt darzustellen. Es ist faszinierend, sich mit Kulturzeugnissen der ersten Menschen zu befassen. Es ist faszinierend, von der Paläoanthropologie zu lernen, wie viel man über diese Zeit, die 34.000 Jahre zurückliegt, wissen kann. Es ist faszinierend, am Beispiel dieses Urmeters des Ästhetischen, bei dem Kunst, Kultus und sozialer Prozess noch ungetrennt ineinanderliegen, zu lernen, welche Komponenten eine allgemeine Ästhetik erfassen muss, um dem Vorgang der ästhetischen Performanz begrifflich gerecht zu werden. 13