Relationale Realität - oder wie Wirklichkeit gemeinsam ... - Buch.de

Haltungsänderungen: Endlich tun, wozu Mensch Lust hat ............. 237. Systemisches Coaching und Gruppenberatung ............................. 238. Organisations- und ...
352KB Größe 3 Downloads 310 Ansichten
Gustav Bergmann, Jürgen Daub

Das

menschliche Maß

Entwurf einer Mitweltökonomie

Dieses Buch wurde klimaneutral hergestellt. CO2-Emissionen vermeiden, reduzieren, kompensieren – nach diesem Grundsatz handelt der oekom verlag. Unvermeidbare Emissionen kompensiert der Verlag durch Investitionen in ein Gold-Standard-Projekt. Mehr Informationen finden Sie unter www.oekom.de. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 oekom, München oekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH, Waltherstraße 29, 80337 München Satz + Layout: Stefanie Bingener Umschlaggestaltung: Sarah Schneider, oekom verlag Umschlagabbildung: Mitwelt © Gustav Bergmann Druck: Digital Print Group, Nürnberg Dieses Buch wurde auf 100%igem Recyclingpapier gedruckt. Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-86581-305-3 e-ISBN 978-3-86581-495-1

hier bitte FSC-Logo einbauen

Gustav Bergmann, Jürgen Daub

Das

menschliche Maß Entwurf einer Mitweltökonomie

www.mitweltökonomie.de

Inhalt Vorwort ............................................................................................................ 11 1 Wie geht es weiter, wenn es weiter geht? Wege zum anderen Wohlstand .................................................................................................. 15 Wir messen und bewerten falsch ........................................................... 17 Lösungen gibt es längst ......................................................................... 19 Gestaltungsfreiheit oder Zwang der Verhältnisse? ................................ 20 Markt oder Kapitalherrschaft? ................................................................ 22 Von der Sustainability zur Thrivability .................................................... 24 2 Vom Kopf auf die Beine oder die Wiederaneignung der Wirtschaft durch die Menschen .................................................................................. 29 Was ist die kapitalistische Marktwirtschaft? ........................................... 36 Die Grundtatsachen der global einflussreichsten Gesellschaftsform..... 39 Die Arbeit – Segen oder Fluch? ............................................................. 45 Lebendigkeit wird zu einem dinghaften Verhältnis ................................. 46 Vom Kopf auf die Beine – die Wiederaneignung der Dinge?................. 48 Wege aus der Warenwelt ....................................................................... 50 3 Die Krise der Wirtschaft ist eine Krise der Menschen ........................... 53 Die Angstmacher bestimmen, wohin es geht ......................................... 55 Hinter den Fassaden der »Marktwirtschaft« arbeiten die Lobbyisten .... 57 Die Logik des freien Marktes: »Ruinieren sie ihren Nächsten« ............. 59 Die Logik des Systems ist schädlich für die Menschen ......................... 62 Die Lebensform des Unglücks und der Angst ........................................ 66 Der Wahnsinn hat Methode: die Arbeitsreligion ..................................... 68 Vom Sozialstaat zur Arbeitspflicht .......................................................... 70 4 Erfinderische und zukunftsfähige Ökonomie – kann das gelingen? ... 77 Erfindung und Kreativität ........................................................................ 80 Schöpferische Zerstörung oder zerstörte Schöpfung? .......................... 83 Merkmale der erfinderischen und zukunftsfähigen Sphären .................. 84

5 Von der rationalen zur relationalen Weltsicht: Der Mensch als soziales Wesen............................................................... 91 Das Problem heißt Komplexität .............................................................. 93 Die Wirklichkeit enthält keine Informationen .......................................... 99 Persönlichkeit wirkt relational ............................................................... 101 Das relationale Modell: Denken und Handeln in Systemen ................. 103 Verständigung ist unwahrscheinlich: Bewusstsein, Körper und Kommunikation............................................ 104 Wissen schützt vor Dummheit nicht ..................................................... 106 Menschen sind zu allem fähig – besonders zur Kooperation............... 107 Die Macht der Umstände ...................................................................... 109 Verhaltensmuster: Imitation – Kooperation – Reputation..................... 111 Die Weisheit und Dummheit der Schwärme ........................................ 114 6 Freiheit und Verantwortung .................................................................... 117 »Wirtschaft der Freiheit« – von Adam Smith zu Milton Friedmann ...... 118 Freiheit als politische Vokabel verstanden ........................................... 122 Freiheit und Ichorientierung – der neue Charaktertypus ...................... 125 Das menschliche Maß für Freiheit ist psychische Reife ....................... 129 Das Ziel ist: nicht mitmachen wollen .................................................... 131 Was tun? Freiheit bedeutet frei sein von Zwängen des Arbeitens ....... 132 7 Keiner hat nichts gewusst oder ein Versuch über die Ethik der Verantwortung ......................................................................................... 137 Der Mensch ist (meistens) gut .............................................................. 138 Wann sind Menschen verantwortlich? .................................................. 139 Es gibt nichts Gutes, außer wir entwickeln es gemeinsam .................. 141 Multiperspektivität ................................................................................. 144 Ethik mal spielerisch und theatralisch .................................................. 144 Dialog der Stakeholder: Verfahrensethik.............................................. 146 Die faire und syntropische Gesellschaft ............................................... 147 8 Maßvolles Gestalten – gesellschaftlich, systemisch und individuell 149 Die Handlungsebenen .......................................................................... 151 Handlungsebene I: Staat, Märkte und Mitwelten ................................. 151 Wie kann Gemeinsames entstehen? ................................................... 157 Die solidarische und zukunftsfähige Gesellschaft ................................ 159 Wirkliche Märkte schaffen .................................................................... 164

Asymmetrische Kommunikation ........................................................... 166 Erfinderische und zukunftsfähige Regionen ......................................... 167 Fallbeispiel: Stadtentwicklung .............................................................. 170 Handlungsebene II: Organisationen und Unternehmen ....................... 171 Konzerne oder Größe als Problem ...................................................... 171 Korruption ............................................................................................. 174 Neofeudalismus .................................................................................... 174 Die problematischen Ziele: Produktivität für wen und für was? ........... 175 Was ist Produktivität? ........................................................................... 176 Rationalität und Rationalisierung ......................................................... 178 Automation und Entlastung von Stupidität ........................................... 179 Die erfinderische Sphäre auf der Unternehmensebene ....................... 182 Warenproduktion mit menschlichem Maß? .......................................... 187 Ökologische, mitweltgerechte Produkte und Dienste? ........................ 190 Spielregeln für erfinderische und zukunftsfähige Organisationen........ 194 Fallstudie: FELT – ein kleines Unternehmen fährt aus der Krise ......... 196 Mit Liebe, Lust und Leidenschaft ......................................................... 197 Handlungsebene III: Der Mensch, das Ich und die Anderen ............... 198 Freigeist und Künstler .......................................................................... 199 Handhabung und Handwerk................................................................. 204 9 Entwicklung heißt Zuwachs an Möglichkeiten ..................................... 207 Die Entwicklung von Menschen und Systemen ................................... 207 Die Diagnose: Entwicklungshemmnisse .............................................. 210 Deutungsmacht und Veränderung ....................................................... 213 Geschichten aufdecken, die Entwicklung hemmen ............................. 213 Die Gestaltung von Entwicklung .......................................................... 214 Selbstorganisation ermöglichen: mehr Wirkung mit weniger Aufwand 217 Entwicklung wird möglich ..................................................................... 218 Individuelle Entwicklung ....................................................................... 221 Negative und positive Spektren der Persönlichkeit (Brain Maps) ........ 223 Entwicklung in sozialen Systemen ....................................................... 225 Methoden der Diagnose und der systemischen Veränderung ............. 228 Der systemische Prozess: Diagnose – Therapie − Reflexion .............. 229 Gelingende Beziehungen entwickeln und Vertrauen bilden ................ 231 Diagnose: Die fehlenden Elemente finden ........................................... 232 Kontexte beobachten, Systeme beschreiben: finden, was fehlt .......... 233 Sprachanalyse, Narrative ................................................................ 234 Meditation und die Reise nach innen .............................................. 235

In die tiefe Leere gehen: Theorie U ................................................. 236 Haltungsänderungen: Endlich tun, wozu Mensch Lust hat ............. 237 Systemisches Coaching und Gruppenberatung ............................. 238 Organisations- und Familienaufstellungen ...................................... 238 Talente- und Kompetenzentwicklung .............................................. 239 Open Space und Selbstorganisation .................................................... 241 Therapie: das System informieren durch systemische Interventionen 243 Zeitgestaltung: Chronos und Kairos ................................................ 244 Sprache und Bilder.......................................................................... 245 Physische Architektur: die Atmosphäre als Gestaltungsmittel ........ 245 Organisation: soziale Architektur .................................................... 246 Flow: zwischen Herausforderung und Langeweile ............................... 246 Lernen, Reflexion, Muster sammeln..................................................... 248 10 Forschung und Wissenschaft für Mensch und Gesellschaft – systemische Aktionsforschung ............................................................. 251 Aktionsforschung – Forschung in der Wirklichkeit der Akteure ............ 254 Beziehung statt Erziehung: Scola und Muße ....................................... 256 Fallbeispiel: Ein kleines Unternehmen gewinnt an Selbstbewusstsein 258 Fintronic – Perfektionisten öffnen sich der Vielfalt ............................... 259 Die Regionalbank öffnet sich ................................................................ 261 11 Verzicht und Entwicklung ....................................................................... 265 Wohin geht die Reise? Hinaus? Hinein? Woanders hin? .................... 270 Verzicht und Interesse .......................................................................... 272 12 Konsum und Genuss – von der Quantität zur Qualität........................ 277 Konsum und Kontrolle – die »McDonaldisierung« der Gesellschaft .... 280 Man hat keinen Geschmack, man lernt Geschmack ............................ 282 Der Geschmack der sozialen Klassen ................................................. 283 Die Veränderungsmöglichkeiten – von Quantität und Qualität ............ 288 Was man isst, ist man – das Beispiel Qualität und Lebensmittel ......... 293 Wie können wir Geschmack und Genuss lernen? ............................... 296 Achtsamkeit als Schlüssel für Genuss und bewussten Konsum ......... 298 13 Epilog: Gutes bewirken ........................................................................... 301

Vorwort »Aus Angst wird Glück«, »Die Wiederaneignung der Wirtschaft durch den Menschen« oder »Mitweltökonomie« lauteten unsere ersten Ideen zum Titel dieses Buches. Alle diese Themen kommen auch in unserem Buch vor. Wir beschreiben die übertriebene Angsterzeugung als Machtinstrument und zitieren die Wege zu mehr Glück und Zufriedenheit. Wir sehen die Menschen den Dingen enteignet und wollen sie wieder mitwirken lassen. Unsere Ideen beziehen sich auf die natürliche und die soziale Mitwelt. Ökologie und soziale Gerechtigkeit gehören zusammen. Letztlich haben wir uns für »das menschliche Maß« entschieden, weil uns aufgefallen ist, dass die Ökonomie sich zwar in alle Lebensbereiche hineingezwängt hat, teilweise unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmt, aber fast immer auf Expansion aus ist − ganz ohne Maß − ja, geradezu maßlos: Wachstum, Inflation, Protzen und Prahlen, Rennen, Schwirren und Weglaufen. Immer mehr, immer neu, damit sich nichts ändern muss. Jeden Tag die Hälfte der Lebensmittel dem Müll übereignen. Rasend stillstehen, erschöpfen und ausbrennen. Vergeuden, prusten, lärmen, fressen und prassen. Masse statt Maß, Schüttgut statt Qualität. Werteverzehr, Verschmutzung, Übernutzung, Schuldenrekorde. Sehr wenige Akteure Geld schöpfen und endlos vermehren lassen. Maßlose Renditen einfordern und Effizienz predigen. Expansion bis zum Platzen. Legales Plündern und Rauben. Rekordgewinne auf Basis der Naturzerstörung, Versklavung und Demütigung. Hybris und Anmaßung, Beherrschungswahn und Leistungslügen. Freiheit als Lebenslüge. Das ist wohl organisierter Wahnsinn. Der »normale« Mensch wird passend gedacht, er soll unentwegt nach Vorteilen und Nutzen streben, seine unbegrenzten Bedürfnisse durch Konsum stillen. An den Arbeitsplätzen, die ihnen gnädigerweise gegeben werden, sollen sich die Menschen aber rein der Arbeit widmen und möglichst so zur Verfügung stehen, wie angewiesen. Wer keine Arbeit hat, muss sich leihweise zur Verfügung stellen, unsichere und manchmal mehrere Jobs annehmen oder am Rande der Gesellschaft überleben. Hinter dem Neusprech wie »unternehmerisches Selbst«, »Eigenverantwortung« und »Leistungsgesellschaft« verbergen sich Mobilitätsanforderungen, unsichere Arbeitsverhältnisse und sonstige Zumutungen, denen die »flexiblen Menschen« (Sennett) oft nicht standhalten. Wer trotz schlechter Entlohnung seine Arbeitskraft anbietet, aber aus einem nicht berechtigten Land stammt, darf nicht mitspielen. Er gilt als Wirtschaftsflüchtling. Wer in diesen Ländern überleben muss, in denen die westlichen Konsumprodukte hergestellt werden, muss sich oft in Ausbeutungsverhältnisse begeben, sich für kaum mehr als Wasser und Brot verdingen und mit letzten Habseligkeiten begnügen. Die Natur gilt in der Ökonomie als ein Ressourcen speiender Produktionsfaktor namens Boden, der die immer weiter expandierende Wirtschaft mit günstiger Energie und Material versorgen soll. Nur das Kapital darf hin, wo es will, mit ihm darf der

12

Vorwort

Kapitalist auch machen, was er will. Eigens dafür sind die Finanzmärkte auch vollends dereguliert worden und bilden eine maßlose Zerstörungsmaschine. Wir möchten deshalb über Maße sprechen, die Menschen, also die Gesellschaft, wieder zum Maß der Dinge erheben und dabei die ganze Mitwelt, also Natur, Zukunft, arme Länder mit einbeziehen. Die maßlose Ausrichtung auf Konkurrenz macht ein Miteinander, eine solidarische Gesellschaft fast unmöglich. Überall gilt es mehr Leistung, Produktivität und Beschleunigung zu realisieren, ohne dass irgendwie ersichtlich erscheint, wozu das dienen soll. Wahrscheinlich dient es nur sehr Wenigen, die erfolgreich eine marktradikale und finanzkapitalistische Gesellschaft durchgesetzt haben. Selbst konservative Publizisten und Forscher kritisieren diese legale Plünderung und erkennen zunehmend die Tragik dieser Entwicklung. 1 In der Ökonomie misst man gerne sehr viel, ohne vorher den Inhalt der Messung und die Maßstäbe zu diskutieren. Wir wollen darstellen, wie die Maße nebst Messmethoden renoviert werden müssen. Als Beispiele seien die Wohlstandsmessung, die Messung von Leistungen, die Bemessung von Entgelten und Preisen genannt. Wir üben nicht nur Kritik, sondern wollen unsere Erfahrungen aus Veränderungsund Entwicklungsprojekten einbringen und Modelle und Methoden vorstellen, wie man die Gesellschaft, Unternehmen und Institutionen sowie das private Leben erfinderisch und zukunftsfähig gestalten kann. Dabei haben uns die zahlreichen Diskussionen und Dialoge geholfen, die wir nicht nur mit anderen, sondern gerade auch zwischen uns Autoren geführt haben. Wir sind uns bei vielen Ideen und Lösungsansätzen auch nicht sicher, ob sie »richtig gut« sind. Sie können aber sicher den Diskurs beleben und zum Weiterdenken anregen. Das Buch kann man kreuzweise lesen. Orientieren Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, an Ihrem thematischen Interesse. Durch Wiederholungen und Pointierungen haben wir versucht, besonders verständlich zu formulieren. Angesichts der mannigfachen und verknüpften Aspekte erschien uns eine große strukturierte Erzählung nicht konstruierbar. Wir bitten schon hier um Verzeihung, wenn es uns nicht immer gelungen ist, klar und nachvollziehbar zu formulieren. Wir haben uns jedoch bemüht, auf komplizierende Worte und Darstellungen zu verzichten. Danken möchten wir allen, die uns bei diesem Buch unterstützt haben. Zu nennen sind hier unsere Partnerinnen Silvie (JD) und Jutta (GB) sowie unser kritischer Nachwuchs Elisa und Robert. In der Wissenschaft gibt es weniger Verbündete, da sich die Ökonomen in ihrem Mainstream als Vertreter der Maßlosigkeit gezeigt haben. Dennoch existieren in Nischen einige geistreiche Erneuerer. Wichtige Autoren haben wir zitiert und dadurch 1

So z. B. Frank Schirrmacher in der FAS vom 13.08.2011: »Das System dient den Mächtigen.« Oder Paul Kirchof in der FAS vom 22.08.2011: »Wir verteilen von Arm zu Reich«. Beide Artikel www.faz.net.

Vorwort

13

gewürdigt. Für kritische und förderliche Dialoge möchten wir uns bedanken bei allen Freunden und Partnern. Danke sagen wollen wir besonders folgenden Menschen, die uns Anregungen, Kritik und Ideen beisteuerten. Ohne Aussicht auf Vollständigkeit und in loser Reihenfolge sind das: Feriha Özdemir, Doro Ruhfus, Volker Wulf, Lusa Ilunga, Martin Tingvall, Anika Schlossmacher, Wolfgang Schürmann, Doris Hecker, Stefanie Bingener, Robert Kebbekus, Michael Arns, Paul Harris, Dietrich Utsch, Robert Landa, Rainer Briel, Eckehard Krah, Inga Haase, Dominik Eichbaum, Sarah Nawroth, Admasu Tsygie, Lesley Feist, Ralph Möske, Dogan Kesdogan und viele mehr. Besonderen Dank sagen wir Feriha Özdemir und Stefanie Bingener für die Korrektur und inhaltliche sowie stilistische Hinweise. Dem Verlag sei Dank für die Unterstützung dieses Projektes.

1

Wie geht es weiter, wenn es weiter geht? Wege zum anderen Wohlstand

Mit diesem Buch wollen wir einen Beitrag leisten, unseren Planeten zu retten und mehr Miteinander als Gegeneinander zu erzeugen. Wir sind Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler und beobachten, dass es auch anders ginge. Wir sind besorgt über die Ausbreitung von Gier und Ausbeutung, von Hunger und Zerstörung. Dennoch sind wir zuversichtlich, dass eine andere Art von Wohlstand für alle möglich ist. Wir wollen deshalb nicht nur Kritik am gegenwärtigen System äußern, sondern uns besonders auf Lösungen und andere Perspektiven konzentrieren. Allem Sein geht ein Werden voraus. Zukunft kann man kaum prognostizieren, es sei denn, man gestaltet sie aktiv mit. Wir brauchen wieder eine Lebens- und Wirtschaftsweise, die ein menschliches Maß respektiert. Dieses Maß ist dann gegeben, wenn sich unsere Handlungen nicht negativ auf uns, andere und zukünftige Menschen auswirken und wenn Menschen auf ihre soziale und natürliche Mitwelt gestalterisch einwirken können und mit dieser im Einklang leben. Wir können unsere Mängel und Defizite erkennen und ein Maß finden, wie wir uns gegenseitig Gutes tun können, uns entwickeln und kultivieren, statt immer mehr zu verbrauchen und zu zerstören. »Etwas ist grundfalsch an der Art und Weise, wie wir heute leben. Seit dreißig Jahren verherrlichen wir eigennütziges Gewinnstreben. Wenn unsere Gesellschaft überhaupt ein Ziel hat, dann ist es die Jagd nach dem Profit. Wir wissen, was die Dinge kosten, aber wir wissen nicht, was sie wert sind.«2 Durch unsere Lebens- und Handlungsweise haben wir Wohlstandsmenschen uns neben der Umweltkrise eine fundamentale Finanz- und Wirtschaftskrise bereitet, die sich beide zu sozialen Verwerfungen mit Gewalt und Konflikten nie gekannten Ausmaßes auswachsen können. Die Problemgeneratoren bereichern sich und sitzen kurz nach dem Unfall wieder am Steuer. Das System verliert an Legitimation, doch wirkliche Veränderung wird verhindert. Die Analysen und Erklärungen sind mannigfaltig und teilweise widersprüchlich. Auch kann die Erklärung den Betroffenen kaum helfen. Die Beschreibungen der Folgen und Auswirkungen machen betroffen − oft folgenlos betroffen. Interessierte Menschen können die Probleme erkennen, denn »keiner hat nichts gewusst. Immer« (Kapitel 7). »Hunger ist Mord«, weil er längst zu verhindern wäre, sagt Jean Ziegler. Die Naturkatastrophen, die Verelendung, die Verwahrlosung des öffentlichen Raumes, die Arbeitslosigkeit, die Ausbeutung von Mensch und Natur sind 2

So Tony Judt, der leider viel zu früh 2010 verstorbene britische Historiker, in seinem Manifest »Krankheit der Märkte«, zitiert aus: le-bohemien.net/2011/01/31/die-krankheit-der-markte/ Auch als Buch erschienen: T. Judt: Dem Land geht es schlecht, München 2011.