Rechtsgutachten zum Wahlrecht in Sachsen-Anhalt (PDF) - Grüne ...

29.03.2014 - Jahren mit Jugendlichen politische Erziehung zu betreiben. Die frühzeitige personelle und auch inhaltliche Rekrutierung des Nachwuchses ist ...
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Ausweitung des Wahlrechts auf Migrantinnen und Migranten

Neuregelung des Wahlrechts bei Landtags- und Kommunalwahlen

Herabsetzung des Wahlalters auf 14

Rechtsgutachten zur grundgesetzlichen und landesverfassungsgesetzlichen Vereinbarkeit der Erweiterung des Elektorats um im Lande ansässige Nichtdeutsche und der Absenkung des Wahlalters auf 14 Jahre bei den Landtags- und Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt

der Landtagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erstattet

durch Professor Dr. Dr. h. c. Hans Meyer Humboldt-Universität zu Berlin

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Gliederung

A B C I.

II. D

I. II. III. IV. V. VI.

E I. II.

F I. II. III.

Gutachtenauftrag Die Wahlberechtigung in Sachsen-Anhalt nach geltendem Recht Die Wahlberechtigung nach Grundgesetz und Bundeswahlgesetz Die Wahlberechtigung nach dem Grundgesetz 1. Die Wahlberechtigung nach Art. 38 GG 2. Die vorgeschriebene Volkswahl auf allen drei Ebenen 3. Die Ausnahmevorschrift des Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG Die Wahlberechtigung nach dem Bundeswahlgesetz Die Erweiterung des Elektorats bei der Landtagswahl auf die nichtdeutsche Bevölkerung in Sachsen-Anhalt im Lichte des Grundgesetzes und der Landesverfassung Die für die Länder unmittelbar geltenden Wahlrechtsregeln des Grundgesetzes Die Ausdeutung der Bestimmungen durch das Bundesverfassungsgericht Verbietet das Urteil wegen seiner Bindungswirkung die von der Fraktion gewünschte Landesregelung? Die Haltung der wissenschaftlichen Literatur zum Problem Gründe für ein Abweichungsrecht: Änderung der Ordnungsvorstellungen Ist das „Volk“ des Art. 20 Abs. 2 GG und Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG notwendig nur das deutsche „Staatsvolk“? 1. Die Funktion von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG 2. Die Konsequenz für Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG und für Art. 42 Abs. 2 S. 2 LV 3. Zum Urteil des Staatsgerichtshofs der Freien und Hansestadt Bremen Die Erweiterung des Elektorats bei der Kommunalwahl auf die nichtdeutsche Bevölkerung Die geltenden Regelungen der Wahlberechtigung bei der KommunalWahl Die Ausweitung des Kommunalwahlrechts auf alle ansässigen Nichtdeutschen 1. Die Bedeutung von Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG 2. Hat Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG einen exkludierenden Charakter? 3. Der verbleibende Spielraum des Gesetzgebers Die Absenkung des Wahlalters bis zu 14 Jahren Die Funktion des Wahlgrundsatzes der allgemeinen Wahl und die Festlegung des Wahlalters Die rechtliche Bedeutung des Wahlgrundsatzes der allgemeinen Wahl und die Festlegung des Wahlalters Die Bewertung einiger offensichtlich invalider Ablehnungsgründe 1. Der Verweis auf die Tradition 2. Der Verweis auf die politischen Folgen 3. Der Verweis auf das mangelnde Interesse der in Frage kommenden 2

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6-16 6-7 7 7-9 9-10 10-11 12-16 12-15 15 15-16 16-19 16 17-19 17-18 18 19 20-34 20-21 21-22 22-26 22 22-24

IV.

V.

G I. II. III. IV. H I. II.

Jahrgänge 4. Der Verweis auf die mangelnde Eignung des Themas „Wahlalter“ für Experimente 5. Der Verweis auf das mangelnde Interesse der in Frage kommenden Jahrgangskohorten 6. Der Verweis, dass die Wahl nicht als Einübung in politisches Verhalten missbraucht werden dürfe 7. Die notwendige Lebenserfahrung fehle 8. Eine Shell-Studie zeige die überwiegende Ablehnung eines Wahlers von 16 Jahren Diskussionswürdige Ablehnungsgründe 1. Junktim mit zivilrechtlicher Volljährigkeit? 2. Das Wahlrecht überfordere den Minderjährigen, weil er verantwortbare Entscheidung zu treffen nicht in der Lage sei 3. Das Wahlrecht überfordere den Minderjährigen weil er zu einer rationalen Entscheidung nicht in der Lage sei 4. Das nötige Urteilsvermögen fehle 5. Die Shell-Studie 2010 als Argument Verfassungspolitische Argumente für eine Absenkung des Wahlalters 1. Die Konzentration des Blicks auf die potentiellen Neu-Wähler und die Ausblendung der Sicherungen des Systems 2. Die Veränderung der Kommunikationsmöglichkeiten und der Kommunikationspraxis 3. Der Einfluss auf das Kommunikationsangebot 4. Die politischen Parteien und die nichtwahlmündigen Schüler und Jugendlichen 5. Bildung und Ausbildung 6. Bestrebungen zur Einführung eines „Kinderwahlrechts“ 7. Die Immunisierung des Systems vor den Gefahren einer Absenkung des Wahlalters Die Verfassungslage Grundlage Das Wahlalter bei der Kommunalwahl Das Verfassungsgebot der Allgemeinheit der Wahl bei der Kommunalwahl Das Wahlalter bei der Landtagswahl Vorschlag zur Umsetzung des Gutachtenergebnisses Verfassungsänderungen Änderungen einfachgesetzlicher Wahlrechtregeln

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24 24 23 25 25 26 26-31 26-28 28-29 29-30 30 30-31 31-34 31 32 32-33 33 33 33-34 34 34-38 34-35 35 36 36-38 38-40 38-39 39-40

A Gutachtenauftrag Der Landtag von Sachsen-Anhalt hat eine Unterkommission des Ältestenrates eingesetzt, die sich insbesondere mit dem Wahlrecht befassen soll. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN strebt eine Erweiterung des Elektorats an und möchte zur Vorbereitung der Beratungen durch ein verfassungsrechtliches Gutachten geklärt wissen, ob im Landtagswahlrecht sowie im Kommunalwahlrecht die Wahlberechtigung auf die nichtdeutsche Landesbevölkerung ausgedehnt und zugleich das Wahlalter auf 14 Jahre gesenkt werden kann. Maßstab sollen sowohl das Grundgesetz als auch die sachsen-anhaltische Landesverfassung sein. Die Ziele sollen in einem Gesetzentwurf formuliert werden.

B Die Wahlberechtigung in Sachsen-Anhalt nach geltendem Recht Zu den Landtagswahlen sind nach Art. 42 Abs. 2 Satz 1 der Verfassung des Landes SachsenAnhalt (LV) alle über 18jährigen Deutschen mit Wohnsitz in Sachsen-Anhalt wahlberechtigt und wählbar. Ausdrücklich erklärt Art. 42 Abs. 2 Satz 2 LV, dass „Staatenlosen und Ausländern … diese Rechte nach Maßgabe des Grundgesetzes gewährt werden“ können. § 2 des Landeswahlgesetzes verlangt neben der Vollendung des 18. Lebensjahres die Eigenschaft als „Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG“ und eine mindestens dreimonatige Sesshaftigkeit in Sachsen-Anhalt als Voraussetzung für die Wahlberechtigung. Für die Kommunalwahlen sehen § 21 in Verbindung mit § 20 Abs. 2 der Gemeindeordnung von Sachsen-Anhalt (GO) und die §§ 14, 15 der Kreisordnung (KO) vor, dass alle „Bürger“ wahlberechtigt sind, wenn sie mindestens seit drei Monaten in der Gemeinde wohnen. Bürger sind Deutsche gemäß Art. 116 Abs. 1 GG, aber auch Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union. Anders als bei der Landtagswahl sind die „Bürger“ schon ab Vollendung des 16. Lebensjahres wahlberechtigt.

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C Die Wahlberechtigung nach dem Grundgesetz und dem Bundeswahlgesetz I. Die Wahlberechtigung nach dem Grundgesetz 1. Die Wahlberechtigung nach Art. 38 GG Das Grundgesetz legt in Art. 38 GG nur die Altersgrenze für die Wahlberechtigung fest, beschränkt aber seine Geltung auf die Wahl zum Deutschen Bundestag (Art. 38 Abs. 2 GG). Die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht ist seit 1970 bei 18. Jahren gezogen. Ursprünglich sah die Norm das aktive Wahlrecht bei 21 Jahren, das passive bei 25 Jahren vor. Weil bei der Absenkung des aktiven Wahlrechts von 21 auf 18 Jahren nicht auch die Volljährigkeit mit diesem Alter eintrat, verfügt Art. 38 Abs. 2 zweiter Halbsatz ausdrücklich, dass sich das passive Wahlrecht nach der Volljährigkeit richtet; diese wurde erst 1975 auf 18 Jahre gesenkt. Eine Geltung der Regeln des Art. 38 Abs. 2 GG für Landtagswahlen ist nicht verfügt.

2. Die vorgeschriebene Volkswahl auf allen drei Ebenen Die sogenannten Homogenitätsvorschriften des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG sehen zwar für die Länder vor, dass ihre verfassungsmäßige Ordnung den „Grundsätzen“ unter anderem des „demokratischen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen“ muss. Detailfragen der Ausgestaltung des Wahlrechts gehören nicht zu den Grundsätzen. Wie Satz 2 der Vorschrift zeigt, gehört jedoch zu diesen Grundsätzen, dass das Volk in den Ländern ebenso wie in den Kreisen und Gemeinden eine Vertretung haben muss. Für den Landes- wie den Kommunalbereich ist also die Volkswahl als solche, und zwar die Wahl zu einer Volksvertretung unter Einhaltung der fünf klassischen Wahlgrundsätze, nicht aber die Ausgestaltung dieser Wahl im Einzelnen durch das Grundgesetz vorprogrammiert.

3. Die Ausnahmevorschrift des Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG Eine Ausnahme im Sinne einer Detailregelung macht Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG für die Kommunen. Sie öffnet die Wahlberechtigung für Unionsbürger bei entsprechendem Europäischen Rechtsakt. Die erst 1992 eingefügte Norm ist nur verständlich aufgrund einerseits des damaligen politischen Drucks aus Europa und andererseits einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die die demokratische Wahl durch eine sehr restriktive Auslegung von Art. 20 Abs. 2 GG grundsätzlich auf deutsche Staatsangehörige beschränkt, zugleich aber in einem obiter dictum die Möglichkeit eröffnet hat, sie bei 5

Kommunalwahlen aufgrund einer entsprechenden Verfassungsänderung für Bürger Europas zu öffnen. Auf diese Verfassungsgerichtsentscheidung und die Bedeutung von Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG ist noch im Einzelnen zurückzukommen. Hier ist nur von Interesse, dass die Norm unmittelbar nur für den Kommunalbereich und nicht für den Landesbereich gilt.

II. Die Wahlberechtigung nach dem Bundeswahlgesetz

Das Bundeswahlgesetz nimmt in § 12 für die Wahlberechtigung Bezug einmal auf die deutschen Staatsangehörigen und zum anderen auf eine davon unterschiedene Gruppe von „Deutschen“ ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die Art. 116 Abs. 1 GG definiert. Es handelt sich zum einen um Flüchtlinge oder Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit, aber ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Zusätzlich werden deren Ehegatten und Abkömmlinge in diesen Deutschen-Begriff einbezogen, wenn und obwohl bei Ihnen keine deutsche Volkszugehörigkeit vorliegt.

D Die Erweiterung des Elektorats bei der Landtagswahl auf die nichtdeutsche Bevölkerung in Sachsen-Anhalt im Lichte des Grundgesetzes und der Landesverfassung

I. Die für die Länder unmittelbar geltenden Wahlrechtsregeln des Grundgesetzes

Wie gezeigt, richten sich die Wahlrechtsregeln des Grundgesetzes in Art. 38 GG unmittelbar nur an den Wahlgesetzgeber des Bundes. Die Regeln stehen in dem Abschnitt III des Grundgesetzes „Der Bundestag“ und nicht im Abschnitt II „Der Bund und die Länder“, der seinerseits auch unmittelbar geltende Regeln für die Länder enthält. Dieser II. Abschnitt des Grundgesetzes befasst sich auch mit dem Wahlrecht in den Ländern. Es verlangt in Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG zunächst, dass „die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern“ unter anderen und hier nicht interessierenden Anforderungen “den Grundsätzen eines … demokratischen … Rechtsstaates“ entsprechen muss. Für die Wahl spezifiziert Satz 2 6

derselben Vorschrift das demokratische Erfordernis. Er verlangt nämlich, dass „in den Ländern, Kreisen und Gemeinden das Volk eine Vertretung haben“ muss, die ihrerseits aus Wahlen hervorgehen muss, von denen das Grundgesetz zugleich fordert, dass sie allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sind.

II. Die Ausdeutung dieser Bestimmungen durch das Bundesverfassungsgericht

Im Hinblick auf die Wahlberechtigung haben diese Bestimmungen im Jahre 1990 eine scharf restriktive Auslegung durch den Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts gefunden. 1 Anlass war das Vorhaben verschiedener Länder, auf die relevante Zuwanderung mit der Verleihung des kommunalen Wahlrechts jedenfalls für hier sesshaft gewordene Bürger solcher Staaten zu reagieren, die das ihrerseits zugunsten deutscher Bürger tun. 2 Eine entsprechende Regelung des Landes Schleswig-Holstein wurde auf Normenkontrollklagen von Bundestagsabgeordneten der Unionsfraktion und der Bayerischen Staatsregierung für nichtig erklärt. „Volk“ im Sinne des Art. 20 Abs. 2 wie des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG sei ausschließlich das „Staatsvolk“. 3 Da das Gericht ausdrücklich eine Sonderstellung der Kommunen, die auf ihrem mangelnden Staatscharakter beruhen könnte, verwirft,4 ist die Entscheidung erst recht für Wahlen zu den Landtagen relevant; der Staatscharakter der Länder ist nicht strittig. Nähme man die Grundlagen dieses Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Maßstab, wäre eine Ausweitung des Elektorats auf die nichtdeutsche Bevölkerung Sachsen-Anhalts sowohl für die Landtags- wie für die Kommunalwahlen unzulässig.

III. Verbietet das Urteil wegen seiner Bindungswirkung die von der Fraktion gewünschte Landesregelung?

Das wirft die Frage auf, ob ein entsprechender Versuch dem Landtag von Sachsen-Anhalt wegen § 31 Abs. 1 BVerfGG untersagt wäre. Diese Vorschrift verfügt für „Entscheidun1

BVerfGE 83, 37 – 59. In BVerfGE 83, 60 – 81 ist diese Rechtsprechung für die Wahlen zu den Bezirksversammlungen in Hamburg übernommen worden. 2 Neben den EU-Staaten Dänemark, Irland, Niederlande und Schweden waren es mit Norwegen und der Schweiz auch zwei Staaten außerhalb der Union. 3 BVerfGE 83, 37, 50 ff.; 83, 60, 76 ff. 4 BVerfGE 83, 37, 53 ff.

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gen“ des Bundesverfassungsgerichts eine Bindungswirkung, und zwar auch für die Verfassungsorgane der Länder. Relevant wäre für die Gutachtenfrage allerdings nicht die Bindung an die Entscheidungen als solche, sondern nur eine Bindung an „tragende Gründe“ der zitierten Entscheidungen. Die Entscheidungen selbst befassen sich nämlich nur mit schleswig-holsteinischem bzw. hamburgischem Recht und außerdem nur mit dem Kommunalwahlrecht in diesen Ländern. Eine Bindung an „die tragenden Gründe“ einer Entscheidung aufgrund des § 31 Abs. 1 BVerfGG ist nicht nur in der Literatur mehr als strittig. Es scheint sich zunehmend der Eindruck zu verfestigen, dass man selbst im Gericht mittlerweile auf Distanz zu einer zu starken Betonung einer auf die Gründe ausgeweiteten Bindungswirkung geht. Es gibt zwei Entscheidungen in politisch brisanten Fällen, in denen das Gericht auf die Bindungswirkung der tragenden Gründe ausdrücklich hingewiesen hat. Die eine ist die Entscheidung zum umstrittenen Grundlagenvertrag mit der DDR aus dem Jahre 1973, in der das Gericht soweit ging, praktisch alle Gründe des Urteils zu tragenden zu erklären (BVerfGE 36, 1, 36), in offensichtlicher Erwartung einer umfänglichen Bindung und der Gewissheit einer unwilligen Regierung. Das wurde damals als richterliche Usurpation des verfassungsrechtlichen Diskurses gewertet. In der Sache hat die Entscheidung keine sonderliche Wirkung gehabt. Soweit ersichtlich hat das Gericht, ebenfalls der Zweite Senat, erst wieder im Jahre 1995, als er den „Halbteilungsgrundsatz“ als Begrenzung der Besteuerungsmöglichkeit des Staates kreierte, zugleich die damit definierte „verfassungsrechtliche Schranke der Besteuerung“ unter maßgeblicher Beteiligung des Berichterstatters Kirchhof „als tragende Gründe“ bezeichnet (BVerfGE 93, 121, 136). Nach dem Ausscheiden des Richters Kirchhof hat das Gericht das ausdrücklich widerrufen: zu den tragenden Gründen „gehören die Ausführungen zum ‚Halbteilungsgrundsatz´ nicht“, so BVerfGE 115, 97, 110. In der Entscheidung BVerfGE 77, 84. 103 f. hat sich der Erste Senat sehr konzise mit der Bindungswirkung einer früheren Entscheidung auseinandergesetzt und ausdrücklich erklärt, dass der Gesetzgeber auch zur Wiederholung einer für nichtig erklärten Norm berechtigt sei, weil die einfachgesetzliche Norm des § 31 BVerfGG den späteren Gesetzgeber nicht binden könne. Die Literatur folgt diesem Argument. Damit könnte man es für das Gutachten belassen, wenn nicht das selbst in der Literatur, soweit ich sehe, 5 nicht thematisierte Problem bestünde, dass das Argument nur für den Bundesgesetzgeber selbst zutreffen kann. Dieser kann kraft seiner Gesetzgebungsgewalt früheres Bundesrecht ausdrücklich abändern oder auch von einer Anwendung im Einzelfall absehen. Das spätere Gesetz, die lex posterior, geht dem früheren vor. Dies gilt jedoch nur dann, wenn es sich um dieselbe Gesetzesebene handelt. Daher kann sich ein Landesgesetzgeber gegenüber dem Bundesrecht des § 31 Abs. 1 BVerfGG nicht auf die lex-posterior-Regel berufen; er bleibt an das darin normierte Bundesrecht gebunden. 5

Siehe nur zum Beispiel die eingehende Kommentierung bei Herbert Bethke in Maunz u. a., Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 31 Rn. 69 ff., 71 oder Stefan Korioth in Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Auflage 2012, Rn. 482 ff.

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Gleichwohl sind die inhaltlichen Gründe, die die Entscheidung in BVerfGE 77, 84 ff. zusätzlich anführt, von hohem Interesse, auch wenn der Landesgesetzgeber sich nicht auf die Kraft der lex posterior berufen kann. Neben dem Verweis auf die Entstehungsgeschichte (JöR Bd. 1 S. 868/9), in der vor einer Erstarrung des Rechts gewarnt wird, verweist das Gericht (S. 104) auf die „besondere Verantwortung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers für die Anpassung der Rechtsordnung an wechselnde soziale Anforderungen und veränderte Ordnungsvorstellungen“ und darauf, dass „das Bundesverfassungsgericht Akte der gesetzgebenden Gewalt an der Verfassung selbst und nicht an verfassungsgerichtlichen Präjudizien zu messen hat und seine Rechtsprechung nicht aus eigener Initiative korrigieren kann.“ Bei Zugrundelegung dieser Verfassungsrechtsprechung bleibt es also bei der Verbindlichkeit der Entscheidung BVerfGE 83, 37-59 als solcher, ohne dass aus § 31 Abs. 1 BVerfGG ein absolutes Verbot für eine nur von den alten tragenden Gründen abweichende Gesetzgebung anderer Gesetzgeber abgeleitet werden könnte.

IV. Die Haltung der wissenschaftlichen Literatur zum Problem

Angesichts der Tatsache, dass es in der Sache kaum Anlass für einen Streit gegeben hat, da die Gesetzgeber im Bund wie in den Ländern sich gegenüber Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich respektvoll verhalten haben, ist die Breite, aber auch der Ton der gegensätzlichen Positionen erstaunlich. Dahinter steht das Schlagwort vom „Übergang des parlamentarischen Gesetzgebungs- zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“ 6 und die damit verbundenen Befürchtungen oder eben Hoffnungen. Im Ergebnis aber ist man insgesamt der vorsichtigen Line des Bundesverfassungsgerichts nicht fern. Ein Normwiederholungsverbot wird allgemein abgelehnt, wobei das oben erwähnte Problem unterschiedlicher Gesetzesebenen im Bundesstaat nicht thematisiert wird. Die jüngere Generation der Verfassungsrechtler ist eher für eine restriktive Auffassung der Bindung an „tragende Gründe“; der derzeitige Präsident des Bundesverfassungsgerichts lehnt als Kommentator mit beachtlichen Gründen eine solche Bindung ab. 7 Entscheidend gegen eine strikte Bindung an die tragenden Gründe spricht zum einen, dass die Gründe damit entgegen Art. 79 GG, der Verfassungsänderungen nur im erheblich erschwerten Gesetzgebungsverfahren und nur durch Textänderung erlaubt, zu klandestinem Verfassungsrecht erwachsen und sie nur – bei hohen Mehrheiten – durch Verfassungsänderung geändert oder beseitigt werden könnten. Gerade der hier zu behan6

So Christian Hillgruber in Hillgruber/Joos, Verfassungsprozessrecht 3. Aufl. 2010 Rn. 18 unter Verweis auf Böckenförde. 7 Andreas Vosskuhle in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Auflage 2010, Art. 94 Abs. 2 Rn. 33.

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delnde Fall gibt ein gutes Beispiel für die Probleme, die man sich einhandeln würde: Nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG geht die Staatsgewalt „vom Volke“ aus. Nach BVerfGE 83, 83, 37, 50 geht dagegen die Staatsgewalt (nur) vom „deutschen Staatsvolk“ aus. Sollte nun eine korrigierende Verfassungsänderung die Worte „deutschen“ und „Staats“ streichen, obwohl sie gar nicht im Grundgesetz stehen? Der zweite Grund gegen eine Bindung an die tragenden Gründe liegt in der Unterstellung, die Gründe würden immer und vollständig offenbart.8 Davon kann in einem Gremium von acht Mitgliedern nicht ausgegangen werden. Die Möglichkeit des Sondervotums wird selten genutzt. Interne Kompromisse sind daher den Senaten nicht fremd. Sie können auch zur Verschleierung von wichtigen Gründen führen. Außerdem könnte es hinter den vom Gericht für tragend gehaltenen, aber fehlerhaften Gründen, zutreffende, aber nicht genannte Gründe geben. Welchen Status sollen dann diese haben? Die eigentliche Wirkung von Gründen liegt in ihrer Überzeugungskraft. Die doch weitgehende Akzeptanz der Rechtsprechung beruht auf ihr, nicht auf einer Bindungswirkung. Protestierende Gesetzgebung findet sich nur selten und meist nur nach längerer Karenzzeit und regelmäßig nur dann, wenn es einen breiteren Meinungswandel zur Sache gegeben hat. 9

V. Gründe für ein Abweichungsrecht: Änderung der Ordnungsvorstellungen

Die hier einschlägige Entscheidung BVerfGE 83, 37 ff. ist im Umfeld einer intensiven politischen Debatte über eine Beschränkung der Zuwanderung von Ausländern nach Deutschland gefällt worden. Ob man Deutschland ein „Ein – oder Zuwanderungsland“ nennen dürfe oder nicht, wurde damals ohne Rücksicht auf die faktische Lage in der politischen Debatte zum Ausweis der rechten oder eben auch der mangelnden vaterländischen Gesinnung. Im Sinne der Rechtsprechung zur Bindungswirkung von Verfassungsgerichtsurteilen und ihren Gründen hat sich die entsprechende „Ordnungsvorstellung“ (BVerfGE 77, 84, 104) mittlerweile aber erheblich geändert. Der Streit beschränkt sich heute auf die sogenann8

Hillgruber (s. Anm. 6), Rn 13a formuliert: “Die tragenden Entscheidungsgründe gehören daher zu den arcana imperii¸ ihre alleinige Kenntnis bildet das Herrschaftswissen des BVerfG, mittels dessen er seine Verfahrensherrschaft ausübt.“ 9 Bei dem Versuch des Bundestages, nach dem Verdikt über die 5%ige Sperrklausel im Wahlgesetz zum Europäischen Parlament durch Urteil vom 27. Oktober 2011 (BVerfGE 129, 300-355) das Votum schon zwei Jahre später durch eine 3%ige Sperre zu unterlaufen, fehlten beide Voraussetzungen, so dass ein Scheitern vorprogrammiert war (Urteil des BVerfG vom 26. 2. 2014, 2 BvE 2/13 u. a.). Dem Bundestag musste das Risiko bekannt sein, da selbst die dem Vorhaben positiv gegenüber stehenden und deswegen auch ausgesuchten Sachverständigen bei der Anhörung im Ausschuss die Gefahr des Scheiterns nicht verschwiegen haben.

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te Armutseinwanderung. Sie ist zu einer sozialpolitischen, nicht aber staatspolitischen Frage geworden. Dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist, wird nicht mehr mit einem Tabu belegt. Im Gegenteil dominiert die auch von den Wirtschaftsverbänden unterstützte Überlegung, dass ohne Einwanderung die wirtschaftliche Leistungskraft der Republik angesichts der demographischen Entwicklung der eigenen Bevölkerung, also des „Staatsvolks“ im Sinne des Urteils, nicht aufrecht zu erhalten sei. Es geht heute um Steuerung, nicht mehr um Verhinderung von Einwanderung. Das hat aber unmittelbar mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu tun, von dem abgewichen werden soll. In ihm wird nämlich dem Gedanken durchaus Rechnung getragen, dass es „demokratischer Idee, insbesondere dem in ihm enthaltenen Freiheitsgedanken (entspreche), eine Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft Unterworfenen herzustellen“ (BVerfGE 83, 37, 52). Je mehr „Nichtdeutsche“ sich aber in einem Bundesland niedergelassen haben und dort sozial verwurzelt sind und je weniger die vom Gericht selbst als Korrektur vorgeschlagene Erleichterung der Einbürgerung wirkt, umso stärker wird die vom Gericht durchaus als Problem gesehene demokratische Diskrepanz. Ihr will die Gesetzgebungsidee der auftraggebenden Fraktion gegensteuern. Ordnungsvorstellungen haben sich auch im Hinblick auf den Kern der „tragenden“ Gründe der damaligen Entscheidung gewandelt. Wenn sie für das Wahlrecht in Bund, Ländern und Kommunen entscheidend, nämlich im Kern auf das Staatsvolk abstellt, so gerät das in einen offensichtlichen Widerspruch zur der derzeitigen Entwicklung, in der sogar eine große Koalition eine automatische Zweistaatlichkeit in Deutschland geborener und dort aufgewachsener Ausländer vorsieht: „“Für die in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft der Optionszwang und die Mehrstaatigkeit wird akzeptiert“ (Koalitionsvertrag S. 74). Ein „Staatsvolk“, das zum Teil auch „Staatsvolk“ eines anderen Staates ist, kann schwerlich noch ein Argument für ein zwingend exklusives Wahlrecht sein. Was immer man von einer strikten Bindung der Parlamente an tragenden Gründe einer Verfassungsgerichtentscheidung hält, die Gründe abzuweichen sind auch nach der großzügigsten Vorstellung einer Bindung gegeben. Das heißt selbstverständlich noch nicht, dass eine solche Abweichung automatisch Gnade vor der Verfassung oder gar vor dem Verfassungsgericht fände. Das hängt zum einen von der Qualität der zitierten Bundesverfassungsgerichtsentscheidung im 83. Bande ab und zum anderen davon, ob und wieweit die sozialen Veränderungen seitdem eine andere Entscheidung nahelegen.

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VI. Ist das „Volk“ des Art. 20 Abs. 2 und Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG notwendig nur das deutsche „Staatsvolk“?

1. Die Funktion von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG Das Urteil vom 31. 10. 1990, also vor fast einem Vierteljahrhundert, bedenkt den offensichtlichen Hauptsinn der Norm „Alle Gewalt geht vom Volke aus“ mit einer Einschränkung: Der Verfassungssatz enthalte „nicht allein den Grundsatz der Volkssouveränität“ (BVerfGE 83, 37, 50; im Folgenden nur mit der Seitenzahl zitiert). Dass er den Grundsatz der Volkssouveränität enthält, hätte wohl eine eingehendere Analyse erwarten lassen. „Volkssouveränität“ ist nicht nur das entscheidende Schlüsselwort der Demokratie. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG konkretisiert die Verheißung von Art. 20 Abs. 1 GG, dass die Bundesrepublik ein „demokratischer“ Bundesstaat ist. Auch die Tatsache hätte in diesem Kongtext Erwähnung finden müssen, dass nach Art. 79 Abs. 3 GG die in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze selbst für den Verfassungsänderungsgesetzgeber unverfügbar sind. Nicht einmal eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundesstag und Bundesrat könnte sie ändern. Offensichtlich ist aber das demokratische Prinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), das in Art. 20 Abs. 2 GG durch die Klausel „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ definiert ist, ein solcher Grundsatz. Es ist also größte Vorsicht bei der notwendigen Definition des Inhaltes geboten, was notwendig und was darüber hinaus möglicherweise zulässig unter „Volk“ im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG zu verstehen ist oder verstanden werden kann. Das Urteil macht es sich zu einfach, wenn es umstandslos aus dem Hauptsatz der Demokratie, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, nicht nur zugleich, sondern vorrangig den Hauptsatz des Nationalstaates macht – mit nicht bedachten Konsequenzen für Art. 79 Abs. 3 GG und notwendig widersprüchlichen Argumentationen. Die Ableitung ist freihändig: ein demokratischer Staat – es gehe schließlich um „Staats“gewalt – könne nicht ohne den Träger gedacht werden und dieser sei das „Staatsvolk“. Nur dieses könne Subjekt der Staatsgewalt sein (S. 50/51). Dass in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG gerade nicht steht „Alle Staatsgewalt geht vom Staatsvolke aus“ oder auch nur „… vom deutschen Volke aus“, kümmert den Senat nicht, diese Ergänzung sei durch Interpretation zu leisten. Nun dürfte niemand bezweifeln, dass das „Staatsvolk“ bei der notwendigen Definition, wer zum „Volke“ gehöre, in erster Linie, ja zwingend dazugehört. Wobei freilich gerade in der Bundesrepublik die Frage, wer zum Staatsvolk gehört, keineswegs eindeutig ist. Das Urteil übersieht in seinem Eifer die Schwierigkeiten, die sich durch Art. 116 Abs. 1 GG er12

geben. So behauptet es, Art. 116 Abs. 1 GG stelle die „Deutschen“, die keine deutschen Staatsangehörigen sind, den deutschen Staatsangehörigen gleich (S. 51). Schon ein kurzer Blick in den Text lehrt, dass das nicht zutrifft. Es fällt schwer, nur einen Flüchtigkeitsfehler anzunehmen. Man hat bei dem doch simplen Verfassungstext eher den Eindruck, dass eine vorgefasste Meinung in jedem Fall durchgesetzt werden sollte. In Wirklichkeit stellt nämlich die Norm die deutschen Staatsangehörigen und die dort definierten Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit lediglich unter dem Oberbegriff „Deutsche“ gleich, mit Konsequenzen z. B. für die Deutschen-Grundrechte. Schaut man genauer hin, werden im Übrigen durch die Norm nicht nur Menschen deutscher Volkszugehörigkeit (aber ohne deutsche Staatsangehörigkeit) dazu gezählt, sondern auch Menschen ohne deutsche Volkszugehörigkeit, ja von ihnen selbst solche, welche die Staatsangehörigkeit ausgeschlagen haben. 10 Mit Fleiß wird auch das Problem übersehen, dass nach Artikel 116 Abs. 1 Satz 1 die Deutschen-Definition unter dem Vorbehalt „anderweitiger gesetzlicher Regelung“ steht. Die Verfassung erlaubt also ausdrücklich dem einfachen Gesetzgeber, und zwar für Fragen der „Staatsangehörigkeit im Bunde“ wegen Art. 73 Abs. 1 Satz 2 GG ausschließlich dem Bundesgesetzgeber, im Übrigen aber für ihren Bereich auch den Landesgesetzgebern eine abweichende Definition des „Deutschen“ und sogar einer Staatsangehörigkeit des jeweiligen Landes. 11 Wenn man also die bloße Eigenschaft als „Deutscher“ im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG für die Wahlberechtigung als hinreichend betrachtet, wäre es dem Landesgesetzgeber erlaubt, auch den im Lande sesshaften Ausländer unter Demokratiegesichtspunkten die bloße „Deutschen-Eigenschaft“ und damit das Wahlrecht zu verleihen. Erstaunlicher ist noch, dass Art. 116 Abs. 1 GG keinerlei Regeln über das Wahlrecht enthält. Er schweigt für alle dort genannten Kategorien von Menschen zum Wahlrecht. Eine Legitimation für das Wahlrecht von nichtstaatsangehörigen „Deutschen“ kann also dieser Norm gar nicht entnommen werden. Das Wahlrecht der „Deutschen“ ohne Staatsangehörigkeit, die Art. 116 Abs. 1 GG definiert, ist ausschließlich in den Wahlgesetzen des Bundes und der Länder geregelt. Wenn aber das Nationalstaatsprinzip über Art. 20 Abs. 2 GG ein nach Art. 79 Abs. 3 GG selbst dem Verfassungsänderungsgesetzgeber nicht verfügbarer Grundsatz ist, dann könnten Nichtstaatsangehörige, mögen sie auch „Deutsche“ genannt werden oder nicht, 10

Der Parlamentarische Rat, der auch das erste Wahlgesetz zum Deutschen Bundestag entworfen hat, schloss z. B. die in Art. 116 Abs. 1 GG aufgeführten Ehegatten und Abkömmlinge deutscher Volkszugehöriger, die nicht selbst volkszugehörig waren, vom Wahlrecht aus, differenzierte also innerhalb der „Deutschen“ des Art. 116 Abs. 1 GG (s. Hans Meyer, Wahlgrundsätze, Wahlverfahren, Wahlprüfung, HStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 46 Rn. 8). 11 Dass die Länder von der Einführung und Regelung einer Landesstaatsangehörigkeit abgesehen haben, obwohl eine solche z. B. in Art. 6 der Bayerischen Verfassung vorgesehen ist, steht auf einem anderen Blatt. Es erstaunt aber, wie stark z. B. der Bremer Staatsgerichtshof in dem noch zu behandelnden Urteil St 1/13 v. 31. Januar 2014 wie selbstverständlich auf die Bundesstaatsangehörigkeit abstellt und damit jede Sicht auf die Eigenständigkeit des Landesverfassungsrechts abschneidet.

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und erst recht die nicht einmal Volkszugehörigen nicht wirksam zur Wahl zugelassen werden, selbst nicht durch eine Verfassungsänderung. Der Hinweis in dem Urteil an die Ausländer auf eine mögliche Einbürgerung als Ausweg (S. 52) träfe sie in gleicher Weise. Wenn das Urteil gleichwohl deren Zulassung zur Wahl für erlaubt hält und dies mit der Reaktion auf „Besonderheiten der Nachkriegszeit“ entschuldigt (S. 51 am Ende), dann ist das nur stimmig, wenn man zwar die Staatsangehörigen zum Kern des demokratischen Volkes in Art. 20 Abs. 2 GG zählt, denen also von Verfassungs wegen das Wahlrecht einzuräumen ist, zugleich aber der Erkenntnis Bahn bricht, dass Art. 20 Abs. 2 GG, wie schon der Wortlaut mehr als nahelegt, das Demokratieprinzip expliziert, nicht aber das Nationalstaatsprinzip. Wie weit der Senat bei seiner Konstruktion in die Irre geht, zeigt die offensichtlich unzutreffende Behauptung des abschließenden Satzes: „Der Verfassungsgeber hat dort, wo er im Blick auf Besonderheiten der Nachkriegszeit bestimmte Modifikationen dieses Grundsatzes (das meint die behauptete Beschränkung des Wahlrechts auf Staatsangehörige) zugelassen hat, dies ausdrücklich geregelt“ (S. 51 sub 2 Schlusssatz). Art. 116 Abs. 1 GG, auf den der Senat dabei verweist, sagt aber, wie gezeit, gar nichts zur Wahlberechtigung. Im Bund hat zum Beispiel erst das Bundeswahlgesetz die „Deutschen“ des Art. 116 Abs. 1 GG wahlberechtigt gemacht. Ein Verfassungsvorbehalt für die Bestimmung der Wahlberechtigung besteht also nicht. Darum kann der einfache Wahlgesetzgeber unter Demokratiegesichtspunkten durchaus ohne Verfassungsverstoß dazu beitragen, dass erreicht wird, was das Urteil als „im Ausgangspunkt zutreffend“ wertet, nämlich eine weitgehende „Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft Unterworfenen herzustellen“ (S. 52). Auf die dem Urteil ohne ein einziges Wort der Begründung angehängte und überraschende „Klarstellung“, dass gleichwohl Art. 79 Abs. 3 GG der Einführung einer auf die europäischen Bürger ausgedehnten und zugleich beschränkten Einführung eines Kommunalwahlrechts nicht im Wege stünde (S. 59 sub IV), ist unter E II näher einzugehen. Dort wird belegt, dass es sich nicht um eine Klarstellung, sondern um einen fundamentalen Widerspruch innerhalb des Urteils handelt. Wenn man also das Leiturteil vom 1. Oktober 1990 von seinen Widersprüchlichkeiten befreit, welche die tragenden Gründe des Urteils in Frage stellen, erhält man eine einfache Lösung der Probleme: zum demokratischen Volk des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG gehört, auch für eine Verfassungsänderung wegen Art. 79 Abs. 3 GG nicht verfügbar, das durch Staatsangehörigkeit ausgezeichnete Staatsvolk. Anderen kann unter dem Gesichtspunkt der dauerhaften Unterworfenheit unter die Staatsgewalt das Wahlrecht zugesprochen werden. Das kann, muss aber nicht durch die Verfassung geschehen – wie es bei den bloßen „Deutschen“ des Art. 116 Abs. 1 GG auch nicht der Fall ist, da die Vorschrift sich nicht zum Wahlrecht verhält und zudem selbst einen bloßen Gesetzesvorbehalt enthält, 14

vielmehr ist ohne eine besondere Verfassungsvorgabe der Gesetzgeber zuständig, wie bei vielen anderen wichtigen Entscheidungen im Wahlrecht.

2. Die Konsequenzen für Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG und für Art. 42 Abs. 2 Satz 2 LV Da Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG der Sache nach den Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG aufnimmt, wie das Urteil zu Recht feststellt (S. 53 sub III.), gilt das obige Auslegungsergebnis auch für den Wahlgesetzgeber der Länder, 12 und zwar sowohl für die Landtagswie für die Kommunalwahl. Man könnte nur erwägen, eine Grenze dann zu ziehen, wenn die Zulassung Nichtdeutscher zur Landtagswahl einen zahlenmäßig so bedeutenden Anteil der Wahlberechtigten stellen würde, dass man eine Majorisierung der verfassungsrechtlich geschützten Kern-Wahlbevölkerung befürchten müsste. Von dieser Grenze dürfte aber nicht nur Sachsen- Anhalt ein unüberwindbar weites Stück entfernt sein. Art. 42 Abs. 2 Satz 2 der sachsen-anhaltischen Verfassung, wonach „Staatenlosen und Ausländern … diese Rechte – nämlich Wahlrecht und Wählbarkeit – gewährt werden (können)“, ist also kein totes Versprechen sondern lebendes Verfassungsrecht, weil die Bedingungen, die Erlaubnis durch das Grundgesetz, nach dem vorstehenden Ergebnis erfüllt sind. Ob der Gesetzgeber das dreimonatige Wohnsitzerfordernis, das für die deutschen Bürger gilt, auch für Nichtdeutsche beibehält oder es wegen möglicherweise größerer Schwierigkeit oder Unsicherheit bei der Integration verlängert, ist seine Entscheidung. Wegen des Verfassungsgebotes der Gleichheit der Wahl bedürfte es für solche oder andere Differenzierungen in jedem Fall eines zwingenden Grundes. Die Differenz zwischen dem Vorliegen oder dem Mangel der Deutscheneigenschaft als solche reicht dafür nicht aus, wenn sich der Gesetzgeber für die Verleihung des Wahlrechts an Nichtdeutsche entscheidet.

3. Zum Urteil des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen (St 1/13) Das am 31. Januar 2014 im Rahmen einer vorbeugenden Normenkontrolle gefällte, aber erst am 24. März 2014 verkündete Urteil des Bremer Staatsgerichtshofes (St 1/13) über die Unzulässigkeit einer Ausweitung der Wahlberechtigung auf alle Europabürger vor allem zur Wahl der Bürgerschaft kann kurz vor Abschluss dieses Gutachtens nicht mehr eingehend behandelt werden. Es ist auch nicht nötig, weil es sich in der Hauptsache auf das fast ein Vierteljahrhundert alte Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 83, 37 – 59) stützt, zu dem oben das Nötige gesagt ist. Wie dort wird das Demokratieprinzip in Art. 20 Abs. 2 und Art. 28 Abs. 1 GG umstandslos mit dem Nationalstaatsprinzip identifiziert und ihm einen exkludierenden Charakter zu12

Da Art. 2 Abs. 2 LV dem Art. 20 Abs. 2 GG nachgebildet ist, gilt das vorstehend dazu Gesagte.

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gesprochen. Wie dort 13 wird übersehen, dass dieses so verengte Prinzip damit ein Grundsatz im Sinne des Art. 79 Abs. 3 GG wird und dass daher die von beiden Spruchkörpern akzeptierte Ausnahme für die sogenannten Statusdeutschen gegen diese Verfassungsnorm verstieße, weil sie eben keine Staatsangehörigen sind, noch nicht einmal Volksdeutsche sein müssen und sogar die deutsche Staatsangehörigkeit ausgeschlagen haben können, zumal schließlich ihr Wahlrecht ausschließlich auf einfachem Gesetz beruht und nicht, wie das Bundesverfassungsgericht unterstellt, auf Art. 116 Abs. 1 GG, der zum Wahlrecht schweigt. Dass schließlich ein Landesverfassungsgericht den politischen Gestaltungsspielraum seines Landes ohne Not höchst restriktiv interpretiert, ist jedenfalls einer Feststellung wert. Das Sondervotum der Richterin Sacksofsky (St 1/13 S. 20, 23 – 24) hat dazu das Nötige gesagt.

E Die Erweiterung des Elektorats bei der Kommunalwahl auf die nichtdeutsche Bevölkerung

I. Die geltende Regelung der Wahlberechtigung bei der Kommunalwahl Für die Gemeinderatswahl sind nach den §§ 20, 21 der Gemeindeordnung die „Bürger“ der Gemeinde ab dem 16. Lebensjahr wahlberechtigt. Bürger sind alle Deutschen im Sinne des Art. 116 GG sowie die Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union. Letzteres ist eine Reaktion auf die Einführung von Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG. Ein dreimonatiger Wohnsitz in der Gemeinde ist Voraussetzung für das Wahlrecht. Für die Wahlen zu den Kreistagen gilt nach den §§ 14, 15 der Kreisordnung die gleiche Regelung.

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Immerhin wird in BVerfGE 83, 37, 59 wenigstens angedeutet, wenn auch nicht realisiert, dass dort ein gravierendes Problem liegen kann.

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II. Die Ausweitung des Kommunalwahlrechts auf alle ansässigen Nichtdeutschen

1. Die Bedeutung von Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG Gegen die naheliegende Folgerung aus den vorstehenden Erkenntnissen, dass es in der Hand des sachsen-anhaltischen Gesetzgebers liegt, ein Kommunalwahlrecht auch für nichtdeutsche Einwohner des Landes vorzusehen, könnte der Verweis in Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG auf die ausdrückliche Verbürgung eines Kommunalwahlrechts für Nichtdeutsche, die EU-Bürger sind, sprechen, mag diese auch nur „nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft“ bestehen. Hat diese Formulierung, weil sie offensichtlich die Zulässigkeit einer Ausnahme statuieren will, eine Sperrwirkung gegenüber anderen „Ausnahmen“? Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG ist ein Folge eines einzigen gewichtigen, gleichwohl mit keinem Wort begründeten Satzes in der Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Ausländerwahlrecht in den Kommunen: „Daraus (s.c. aus der aus Art. 20 Abs. 2 GG abgeleiteten Beschränkung des Wahlrechts auf Deutsche auf allen drei Politikebenen von Bund, Länder und Kommunen) folgt nicht, dass die derzeit im Bereich der Europäischen Gemeinschaften erörterten Einführung eines Kommunalwahlrechts für Ausländer nicht Gegenstand einer nach Art. 79 Abs. 3 GG zulässigen Verfassungsänderung sein kann“ (BVerfGE 83, 37, 59 sub IV). Das Gericht war sich also, weil es überhaupt auf Art. 79 Abs. 3 GG verweist, nicht nur der politischen, sondern vor allem der verfassungsrechtlichen Brisanz sowohl seiner vorherigen wie dieser sich hier davon distanzierenden Äußerung bewusst. Umso erstaunlicher ist das Fehlen jeglicher Begründung. Die einfachste und vermutlich zutreffende Erklärung ist, dass eine Begründung die ganze vorhergehende Konstruktion zum Einsturz gebracht hätte. Hatte der Senat nicht vorher außerordentlich viel Eifer darauf verwandt, zum einen den Volksbegriff in Art. 20 Abs. 2 GG maßgeblich „nationalstaatlich“ und nicht primär demokratisch zu interpretieren und ihn auf die deutschen Staatsangehörigen und – schon schwieriger – die nichtstaatsangehörigen „Deutschen“ des Art. 116 Abs. 1 GG zu beschränken? Und hat er nicht zum anderen durchaus zutreffend den Volksbegriff in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG wegen des Homogenitätsgedankens 14 der Vorschrift für Länder wie Kommunen gleich interpretiert? Dann aber nimmt der Volksbegriff auf allen drei Ebenen an der Garantie des Art. 79 Abs. 3 GG teil. Es liegt nicht in der Hand des Bundesverfassungsgerichts, die „Grundsätze“ des Art. 20 GG teilweise aus der Geltung des Art. 79 Abs. 3 GG herauszunehmen.

14

Es hätte als Bestätigung darauf verweisen können, dass schon bei der Schaffung der Weimarer Verfassung gerade im Wahlrecht die politische Homogenität auf allen drei Ebenen durchgesetzt worden ist (s. Art. 17 WRV), wobei es gerade wegen der Einbeziehung der Kommunen durchaus erhebliche Widerstände gab.

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Der eine oben zitierte gewichtige Satz des Urteils ist also nicht nur nicht begründet,15 sondern auch nicht begründbar. Daher fehlt auch nur der Versuch einer Begründung. Das ist ein schönes Beispiel zur oben erörterten Problematik der „tragenden Gründe“. In der Sache ist der Satz ein obiter dictum, weil er zur damaligen Entscheidung selbst nichts beiträgt. Es gab damals kein durch die Verfassung ausdrücklich erlaubtes und auf EUBürger beschränktes kommunales Ausländerwahlrecht. Hätte der Senat der Äußerung Verbindlichkeit beilegen wollen, hätte er sie zudem in den Entscheidungstenor aufnehmen müssen. Das Motiv des Satzes liegt in seinem Hinweis auf die damals „im Bereich der Europäischen Gemeinschaften erörterten Einführung eines Kommunalwahlrechts für Ausländer“ (S. 59), nämlich aus den anderen Europastaaten. Es wäre mehr als peinlich gewesen, wenn Deutschland vom Bundesverfassungsgericht gezwungen gewesen wäre, den anderen durchaus auch nationalstaatlich denkenden europäischen Staaten 16 das „europafreundliche“ Grundgesetz als unüberwindliche Hürde für ein Kommunalwahlrecht für Europabürger entgegenzuhalten.

2. Hat Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG einen exkludierenden Charakter? Die Vorschrift verleiht das Kommunal-Wahlrecht an Staatsangehörige fremder, aber europäischer Mitgliedsstaaten unter der Bedingung, dass und wie weit das Gemeinschaftsrecht es verfügt. Er legt das Wahlrecht also in die Hand des Europarechts. Dass damit eine dem geltenden Europarecht entgegenstehende Wahlgesetzgebung eines deutschen Bundeslandes untersagt ist, liegt auf der Hand. Für eine Sperre zu Lasten der Wahlgesetzgebungshoheit der Länder, soweit sie die Verlagerung der Kompetenz auf Europa nicht berührt, gibt die Vorschrift jedoch keinen Hinweis. Es ist nur darauf zu achten, dass bei einer Ausweitung auf alle im Lande lebenden Nichtdeutschen der europäische Standard nicht unterschritten wird. Schon um der Gesetzesklarheit empfiehlt es sich, bei der notwendig werdenden Wahlgesetzgebung die Regelung nicht auf Nichtdeutsche jenseits der Unionsmitglieder zu beschränken.

15

Wenn man sehr streng sein wollte, könnte man auch fragen, warum sich der Senat nicht an die Verpflichtung aus § 30 Abs. 1 S. 2 BVerfGG gebunden gefühlt hat, seine Entscheidungen zu begründen. 16 Siehe die in Anm. 2 genannten Staaten, die schon vor 1989 ein kommunales Wahlrecht für Bürger anderer Europastaaten kannten.

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3. Der verbleibende Spielraum des Landesgesetzgebers Die „verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern“ (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) zu gestalten, ist Aufgabe des Landesgesetzgebers. Er muss sich dabei an übergeordnetes Recht des Bundes, vor allem an grundgesetzliche Regeln halten. Im Hinblick auf das Wahlrecht hat der sachsen-anhaltische Verfassungsgeber das auch akzeptiert, indem er in Art. 42 Abs. 2 Satz 2 LV Staatenlose und Ausländer als mögliche Inhaber des Wahlrechts bezeichnet, falls und soweit das Grundgesetz das erlaubt. So wichtig der Vorbehalt ist, so ist doch nicht zu verkennen, dass diese in den Landesverfassungen ungewöhnliche Regelung nicht nur eine Offenheit des Verfassungsgebers zur Verleihung des Wahlrechts an Staatenlose und Ausländer ohne jede Beschränkung auf EU-Bürger ausdrückt, sondern schon eine Tendenz. Wozu hätte der Verfassungsgeber die Klausel sonst aufnehmen sollen? Wie oben nachgewiesen ist, wäre bei voller Anerkennung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Band 83 S. 37 ff. aus dem Jahre 1990 derzeit eine entsprechende Landesgesetzgebung nicht zulässig. Wie aber weiter nachgewiesen ist, hindert der Entscheidungstenor als solcher eine sachsen-anhaltische Ausdehnung der Wahlberechtigung im Land und in den Kommunen nicht. Wenn man die tragenden Gründe einer vor fast einem Vierteljahrhundert getroffenen Entscheidung überhaupt oder noch für verbindlich halten sollte, dann haben wir es bei der jetzt überwiegend akzeptierten oder tolerierten und um des Wirtschaftswachstums willen notwendigen Einwanderung, um die Formulierung einer anderen Entscheidung zu übernehmen, um „wechselnde soziale Anforderungen und veränderte Ordnungsvorstellungen“ zu tun, die eine Bindung im Einzelfall mindestens aufheben würde.17 Wichtiger ist noch, dass die Entscheidung in BVerfGE 83, 37, 50 – 59 nur unter Bruch der simpelsten logischen Anforderungen an eine stimmige Entscheidung zustande gekommen ist. Sie ist in ihren Kernaussagen grob widersprüchlich. Eine stimmige Begründung fehlt nicht von ungefähr. Ich gehe daher soweit, es für ausgeschlossen zu halten, dass eine solche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 2014 noch möglich wäre. Der Landesgesetzgeber ist darum schon heute befugt, das Wahlrecht auf Nichtdeutsche auszudehnen.

17

So die Formulierung in BVerfGE 77, 84 104. Das Gericht hat die Reaktionsnotwendigkeit gegenüber geänderten Verhältnissen sogar als ein Argument gegen eine Bindung an tragende Gründe einer früheren Entscheidung angesehen.

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F Die Absenkung des Wahlalters bis zu 14 Jahren

I. Die Funktion des Wahlgrundsatzes der allgemeinen Wahl und die Festlegung des Wahlalters Die Allgemeinheit der Wahl ist einer der fünf mittlerweile traditionellen Wahlgrundsätze von Verfassungsrang. 18 Für den Bund findet sich der Wahlgrundsatz in Art. 38 Abs. 1 GG für Sachsen-Anhalt in Art. 42 Abs. 1 LV. Die allgemeine Wahl ist ein Parallelinstitut zum Wahlgrundsatz der gleichen Wahl. 19 Er betrifft im Kern die Wahlberechtigung als solche, während der Wahlgrundsatz der gleichen Wahl sich auf die Bedingungen der Wahl, ihrer Vorbereitung, ihrer Durchführung und ihres Ergebnisses, des Wahlerfolgs, bezieht. Beide Wahlgrundsätze sind Ausfluss der mit der Demokratie untrennbar verbundenen Vorstellung der Egalität der Bürger in ihren demokratischen Rechten. 20 Verfassungsrechtlich unterfallen das Wahlalter und seine Festlegung als Bedingung für das Wahlrecht dem Verfassungsgrundsatz der „Allgemeinheit der Wahl“, der im Grundgesetz und in fast allen geltenden Landesverfassungen verbürgt ist. Im geschichtlichen Verlauf ist die Bedeutung des Grundsatzes der Allgemeinen Wahl mit kleinen Schwankungen kontinuierlich gewachsen. Das gilt, um bedeutendere Beispiele zu nennen, nicht nur für die Erstreckung des Wahlrechts auch auf Nichtselbständige, sondern auch für die Einführung des Frauenwahlrechts im Jahre 1918. Auch beim Wahlalter hat es Entwicklungen gegeben, die mehr oder weniger kontinuierlich zu einer Absenkung, also zu einer Ausweitung des Wahlkörpers geführt haben. Während z. B. im Reich vor 1918 ein Wahlalter von 25 Jahren galt, wurde es 1918 auf 20 Jahre herabgesetzt. Im Bund galt zunächst ein Wahlalter von 21 Jahren, bis es 1970 auf 18 Jahre heruntergesetzt wurde. Die Länder folgten dem. Mittlerweile gibt es eine Tendenz der Absenkung auf 16 Jahre. Nach Bremen, Brandenburg und Schleswig-Holstein hat zuletzt Hamburg 2014 durch eine Verfassungsänderung das Wahlalter für die Bürgerschaft, also ein Landesparlament, auf 16 Jahre gesenkt.

18

Nämlich der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl. Geschichtlich gesehen ist der Wahlgrundsatz der Allgemeinheit der Wahl der Vorläufer des Grundsatzes der gleichen Wahl und hat eine Zeitlang dessen Funktion mitübernommen. Siehe näher Hans Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung, 1973, S. 83 ff. 20 In BVerfGE 121, 266, 295 unter Bezug auf die langjährige Rechtsprechung betont und in E 124, 1, 18 aufgenommen. Siehe in der Literatur z. B. Karl-Ludwig Strelen in Wolfgang Schreiber, BWahlG, 9. Aufl. 2013, Art. 12 Rn. 9.

19

20

Gelegentlich wird zwischen Landtags- und Kommunalwahlen differenziert und nur für die Kommunalwahlen das niedere Alter genommen. So kennt auch Sachsen-Anhalt ein durch einfaches Landesgesetz eingeführtes Wahlalter von 16 Jahren für die Kommunalwahlen und ein durch die Verfassung festgelegtes Wahlalter von 18 Jahren für die Wahlen zum Landtag. Die Absenkung des Wahlalters ist kein deutsches Phänomen, die Bewegung hat vielmehr Entsprechungen in anderen europäischen Ländern. So gilt in Österreich seit 2007 ein Wahlalter von 16 Jahren für die Nationalratswahl; die österreichischen Bundesländer sind von der Bundesverfassung aus Homogenitätsgründen gehalten, dem für ihre Parlamente zu folgen, und haben es zum Teil schon getan.

II. Die rechtliche Bedeutung des Wahlgrundsatzes der Allgemeinen Wahl für die Festlegung des Wahlalters

Eine Begrenzung des Wahlalters in den Fällen, in denen die übrigen Voraussetzungen für das Wahlrecht gegeben sind, bedarf wie beim Wahlgrundsatz der gleichen Wahl „eines besonderen, sachlich legitimierten, ´zwingenden‘ Grundes“. 21 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dieses ausdeutungsfähige Merkmal für das Grundgesetz am Wahlgrundsatz der Wahlgleichheit ausgebildet und in letzter Zeit die Formulierung gefunden worden, dass ein zwingender Grund vorliegt, wenn Gegengründe „von der Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann“ (BVerfGE 121, 266, 297/298). Es ist nicht davon auszugehen, dass Landesverfassungsgerichte in diesem Punkte abweichen würden. Die Festsetzung des Wahlalters ist also kein Akt politischer Opportunität, wie von den politischen Akteuren gelegentlich angenommen wird, sondern eine vor der Verfassung zu begründende Entscheidung. Das bedeutet aber, dass nicht die Senkung einer Sperre, sondern deren Beibehaltung vor der Verfassung eine Begründungslast auslöst. Die Festlegung des Wahlalters ist sicherlich ein eminent verfassungspolitisches Problem und wird von den involvierten politischen Parteien auch oder gar vorrangig als ein solches betrachtet. Es ist aber zugleich auch ein eminent verfassungsrechtliches. Jeglicher Ausschluss vom Wahlrecht bedarf einer Begründung, die „von der Verfassung legitimiert“ ist und ein „Gewicht“ hat, das dem Wahlgrundsatz der Allgemeinheit der Wahl „die Waage halten kann“. So verlangt zum Beispiel 21

BVerfGE 121, 266, 297 mit Übernahme früherer Rechtsprechung zur Wahlrechtsgleichheit.

21

der in den letzten Jahren zunehmend virulent gewordene Gedanke eines Kinderwahlrechts eine Rechtfertigung des Ausschlusses. Sie liegt allein in dem demokratischen Gedanken des personalen Charakters der Wahl und der daraus folgenden Unzulässigkeit einer Vertretung bei der Wahlentscheidung. Sie würde zudem zu einem Doppel- oder Mehrfachwahlrecht des Vertreters führen. Wäre eine Vertretung erlaubt, könnte man Kindern gleich welchen Alters die Wahlberechtigung nicht absprechen. Nimmt man die beschriebene Rechtsbindung ernst und es besteht aller Anlass dazu, dann entfällt auch im Landesbereich eine mögliche Rechtfertigung der Beschränkung der Allgemeinheit der Wahl durch den Ausschluss von unter Achtzehnjährigen für eine Reihe von Gründen, die in der Debatte um das Wahlalter gegen eine Absenkung vorgebracht oder verschwiegen werden, aber wirksam sind.

III. Die Bewertung einiger offensichtlich invalider Ablehnungsgründe

1. Der Verweis auf die Tradition Das erste dieser Argumente ist der Verweis auf die Tradition. Im politischen Diskurs kann die Tradition durchaus ein zulässiges Argument sein. Gegenüber einer Verfassungsposition ist sie dagegen machtlos. Jede neue Verfassung als solche stellt sich ganz oder in Teilen schon gegen die Tradition, sonst wäre sie meist überflüssig. Regelmäßig wird das auch in der Politik so gesehen, weil „die Tradition“ also solche gegenüber einer Veränderungstendenz immer die schwächeren Karten hat. Man argumentiert lieber und auch erfolgreicher mit der Qualität des jeweils „Alten“, „Bisherigen“. Gleichwohl findet man in Rechtsprechung und Literatur auch zum Thema der Wahlmündigkeit nicht selten den Hinweis „von jeher“ 22 oder ähnliche Formulierungen. Zur Rechtfertigung eines Eingriffs in eine Verfassungsposition taugt ein solcher Rekurs nicht. Zur Bestätigung eines auf einer anderen Grundlage beruhenden hinreichenden Arguments mag er dienen, ist dann aber auch streng genommen überflüssig. 2. Der Verweis auf die politischen Folgen In diese Kategorie fallen zwei Argumentationsstränge. Der eine wird offen vertreten, der andere nicht. Letzterer hat aber für die politisch inspirierte Entscheidung für oder gegen die Absenkung des Wahlalters die größere Wirkung. 22

So Karl-Ludig Strehlen, Bundeswahlgesetz (s. Anm. 14), Rn. 4 in der Fassung „Seit jeher (traditionell)“, wobei es freilich in der Schwebe bleibt, ob damit ein Argument gemeint ist oder nur eine Verstärkung dessen, was man für richtig hält, also eine Art Argumentsverstärker.

22

Offen wird als Argument vorgetragen, Wähler unter 18 Jahren votierten zu einem höheren Anteil als der Durchschnitt der Wähler für extreme Wahlbewerber. Das trifft offensichtlich zu, wenn auch der prozentuale Unterschied nicht gravierend ist. Es handelt sich zudem nur um einen höchst bescheidenen Prozentsatz der jungen Wähler. Außerdem haben deren Jahrgangskohorten im Verhältnis zum derzeitigen Wahlkörper kein großes Gewicht. Unabhängig davon ist aber ein solches Argument der Gefahr „falscher“ Wahlentscheidung gegenüber der Forderung der Verfassung nach „Allgemeiner Wahl“ machtlos. Von der inhaltlichen Bewertung eines wahrscheinlichen Wählervotums kann das Wahlrecht nach dem Grundgesetz zulässiger Weise nicht abhängig gemacht werden. Schwerer wiegt in der Praxis die Überlegung der Parteien, ob die Absenkung der Wahlberechtigung ihnen oder den Gegnern hilft. In diesem Punkt wird selbstverständlich nicht offen argumentiert, weil es eine natürliche politische Schamgrenze gibt. Egoismen vertritt man in der Politik nicht offen. In den Abstimmungen über solche Vorhaben schält sich aber ein Muster heraus, wonach Die Linke, die GRÜNEN und mehrheitlich die SPD, teilweise auch die FDP zu einer Absenkung neigen, während die Union regelmäßig, 23 wenn auch nicht immer geschlossen, bei den Gegnern ist. Die Abstimmung in der Hamburger Bürgerschaft in diesem Jahr über die Absenkung auf 16 Jahre zum Beispiel ergab mit den Stimmen von SPD, Grünen und einem Teil der FDP gegen die CDU die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit. Es geht hier nicht um eine politische Bewertung des Verhaltens, sondern um Anhaltspunkte für die Bestätigung des geschilderten Phänomens. In der Sache ist von Interesse, dass bei einer Ablehnung nicht die möglichen Chancen, sondern die Befürchtungen dominieren. Zwei Überlegungen drängen sich dabei auf. Es gibt Beispiele, dass bei der Einführung des Frauenstimmrechts von den Frauen jedenfalls zunächst nicht die Parteien gewählt worden sind, die das Wahlrecht für sie durchgesetzt haben; sie haben konservativ gewählt. Mittelfristig hat sich dieser Trend aber abgeschliffen. Zum zweiten ist es der Sinn einer Erweiterung des Elektorats, dass sich die Parteien bei ihrer Wahlkampfplanung und später in der Umsetzung ihres Programms darauf einstellen müssen. Darauf ist noch zurückzukommen. Aus der Chancenperspektive für die einzelnen Parteien kann jedenfalls kein Grund zur Einschränkung der allgemeinen Wahl gewonnen werden, der vor der Verfassung bestehen könnte. Das hindert selbstverständlich nicht, dass der Ablehnungsgrund, gerade auch, wenn er verschwiegen wird, virulent ist. Das unterschiedliche Interesse der einzelnen politischen Parteien an einer Absenkung oder eben einer Beibehaltung des Wahlalters zeitigen bei den Verteidigern des status quo Reflexe, die zwar in der politischen Debatte nicht verwunderlich sind, aber mangels Niveau eine Debatte nicht verdienen. Als keineswegs besonders krasse Äußerungen seien aus der entsprechenden Debatte des baden-württembergischen Landtags der Vor23

In Mecklenburg-Vorpommern ist im Februar 2014 der Versuch der Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre am Widerstand des kleineren Koalitionspartners CDU gescheitert (FAZ v. 27. 2. 2014). Der Koalitionsvertrag erlaubt kein abweichendes Stimmverhalten.

23

wurf zitiert, die Jugendlichen sollten keine „Versuchskaninchen“ sein oder wenn Personen noch mit 21 Jahren nach Jugendstrafrecht verurteilt werden könnten, sollte man ihnen mit 16 nicht das (kommunale) Wahlrecht geben.24

3. Der Verweis auf das mangelnde Interesse der in Fragen kommenden Jahrgangskohorten Verfassungsrechtlich ist es unzulässig, das mangelnde Interesse der durch eine Absenkung begünstigten oder betroffenen Jahrgänge, das sich zum Beispiel in einer niedrigeren Wahlbeteiligung als der durchschnittlichen zeigen würde, als ein „zwingendes“ Argument gegen die Absenkung des Wahlalters ins Feld zu führen. Maßstab ist nicht die gegenwärtige Lage des Wahlrechts, für deren Abänderung im Sinne einer Erweiterung des Elektorats ein verfassungsrechtlich valider Grund zu finden wäre, sondern umgekehrt bedarf es angesichts der verfassungsrechtlichen Verbürgung der allgemeinen Wahl eines validen „zwingenden“ Grundes, bei 18 Jahren zu bleiben, also eine Absenkung abzulehnen. Niemand würde auf die Idee kommen, es sei erlaubt, zum Beispiel allen über Achtzigjährigen das Wahlrecht abzusprechen, wenn ihre Wahlbeteiligung erheblich unter dem Durchschnitt liegt. Im Übrigen lässt sich ein Urteil über die zu erwartende dauerhafte Wahlbeteiligung erst seriös fällen, wenn sich alle, nicht nur die Parteien in ihrer Nachwuchspolitik und in ihrem Programm und Wahlkampf, sondern z. B. auch die Schulen sich auf die neuen Jahrgänge der Aktivbürgerschaft eingestellt haben.

4. Der Verweis auf die mangelnde Eignung des Themas „Wahlalter“ für Experimente Die Geschichte der Entwicklung des Wahlrechts ist eine Geschichte des Experiments. Waren die Absenkung des aktiven Wahlrechts im Jahre 1970 von 21 auf 18 Jahre, die Erweiterung um das Frauenstimmrecht 1918, die Ausdehnung auf die Nichtselbständigen in Preußen, die Einführung des Dreiklassenwahlrechts nach der Steuerkraft der Wähler dort und ebenfalls die Aufhebung dieser Regelungen keine Experimente? In Wirklichkeit geht es gar nicht um die Angst vor dem Experiment, sondern um die sichere Erwartung bzw. Befürchtung, dass sich die Ausweitung des Elektorats schwerlich wieder würde rückgängig machen lassen. Tatsächlich haben sich in der Wahlrechtsgeschichte nur die mehr als zweifelhaften Regelungen abschaffen lassen. Sollte man es darauf nicht ankommen lassen? Gegen die Verfassungsverbürgung eines „allgemeinen“ Wahlrechts ist das „Argument“ sowieso wertlos. 24

Ob der Volksvertreter gemerkt hat, dass er mit dem letzten Argument auch das in Baden-Württemberg geltende Wahlrecht zum Landtag ab 18 Jahren angreift, mag bezweifelt werden.

24

5. Der Verweis, dass die Wahl nicht als Einübung in politisches Verhalten missbraucht werden dürfe. Bei jeder Erweiterung des Elektorats durch Absenkung des Wahlalters hat es notwendig eine Einübung in das Wahlgeschehen gegeben. Bei der Absenkung von 25 auf 20 Jahre wie bei der Absenkung auf 18 Jahre war das so; erst recht gilt das für Absenkungen in einigen Bundesländern und in vielen Kommunen auf 16 Jahre. Jede in das Wahlalter hineinwachsende Jahrgangskohorte hatte sich dem zu unterziehen, ohne dass das auch nur zu Fragen Anlass gegeben hätte. Die Einübung in politisches Verhalten kann also nur mit einer möglicherweise altersbedingten mangelnden Fähigkeit dazu diskussionswürdig sein. Das führt aber auf gewichtigere Einwände, auf die im nächsten Abschnitt zu kommen sein wird.

6. Die notwendige Lebenserfahrung fehle Die Lebenserfahrung wächst mit dem Alter. Auf diesen Satz wird man sich beim ersten Hinsehen wohl verständigen können. Bei näherem Hinsehen und im Rückblick auf das eigene Leben wird man aber an der Einsicht kaum vorbei kommen, dass jedes Lebensalter seine eigenen Erfahrungen bereithält und dass sich im Laufe des Lebens sich Erfahrungen verflüchtigen und für Entscheidungen, die man zu treffen hat, keine Rolle mehr spielen. Schon beim jetzigen Wahlkörper ist der Stand der Lebenserfahrungen höchst unterschiedlich, ohne dass daraus Schlüsse für die Wahlberechtigung gezogen würden. Der zwanzigjährige Mensch hat eine andere Lebenserfahrung als der fünfzigjährige und erst der achtzigjährige. Die Absenkung des Wahlalters würde nur zwei oder vier Jahrgänge einbeziehen, für die eine andere Lebenserfahrung für ihre Entscheidungen maßgebend ist, als bei den Älteren. Wenn es ernsthaft für die Wahlberechtigung auf die Lebenserfahrung ankäme, müsste man das Stimmgewicht im Übrigen nach dem Lebensalter stufen. In Wirklichkeit wird dem Wähler aber nicht abverlangt, seine Lebenserfahrung in eine sinnvolle Wahlentscheidung umzusetzen, sondern unter dem feststehenden Angebot die für ihn „richtige“ Partei oder Person im Hinblick auf die Richtung der gewünschten zukünftigen Politik auszuwählen.

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7. Eine Shell-Studie zeige die überwiegende Ablehnung eines Wahlalters von 16 Jahren Gegenüber dem Verfassungsgebot der Allgemeinheit der Wahl kann das Ergebnis einer Befragung selbstverständlich keine Bedeutung haben. Die Bezugnahme von Politikern auf eine Shell-Studie 25 aus dem Jahre 2010 zeigt aber das Niveau der Argumentation. Es wurden nämlich bei der keineswegs auf das Wahlrecht ausgerichteten Studie nicht einmal die möglicherweise in Frage kommenden Jahrgänge nach einem Wahlrecht ab 16 Jahren befragt, sondern die 12- bis 25-Jährigen. Bei ihnen hätten 52% das Wahlrecht mit 16 Jahren abgelehnt. Das ist angesichts der Beteiligung auch von Zwölf- bis Fünfzehnjährigen im Übrigen kein schlechtes Ergebnis. Trotz der gerade für die Wahlrechtsfrage schwerlich begründbaren Grenzziehung beim Befragungsalter ist dieses Umfrageergebnis aber in die politische Debatte eingegangen. Auf die Studie ist bei der Erörterung von seriöseren Gründen gegen eine Absenkung noch einzugehen.

IV. Diskussionswürdige Ablehnungsgründe 1. Junktim mit der zivilrechtlichen Volljährigkeit? Der strikteste der vorgebrachten Gründe gegen eine Absenkung des Wahlalters unter 18 Jahre scheint der Verweis auf das Bürgerliche Gesetzbuch und dort auf die Regeln über die Volljährigkeit zu sein. Tatsächlich liegt es nahe, bei der ja offensichtlich notwendigen Zäsur innerhalb eines kontinuierlichen Zeitrahmens zwischen der Geburt und dem Erwachsensein auf ein außerhalb des Wahlrechts gesetztes und für das Rechtsleben wichtiges Altersdatum zu setzen. Ein solches Datum ist der Eintritt der Volljährigkeit, die § 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs mit der Vollendung des achtzehnten Lebensjahres ansetzt. Sie bedeutet vor allem unbeschränkte Geschäftsfähigkeit. 26 Dieser Anknüpfungspunkt hat den Vorteil, dass man in der Debatte die sachlichen Erfordernisse einer Wahlmündigkeit nicht zu formulieren braucht, sondern schlicht auf die Entscheidung des Bürgerlichen Gesetzbuches über den Eintritt der Volljährigkeit, also der vollen Geschäftsfähigkeit im Rechtsleben verweisen kann. Vor jedem Argumentieren in der Sache ist freilich schon darauf zu verweisen, dass der deutsche Verfassungsgeber wie der Gesetzgeber offensichtlich dieses Datum als Mindestanforderung an das aktive Wahlrecht nicht für maßgebend, geschweige denn für 25 26

Es handelt sich um Ergebnisse einer Langzeitstudie aus dem Jahre 2010. Mit dem Stichtag ist auch das elterliche Sorgerecht erloschen (§ 1626 BGB), treten die Ehemündigkeit, das Recht zu einem eigenhändigen Testament (§ 2247 Abs. 4 BGB) sowie die Prozessfähigkeit (§ 52 ZPO) ein.

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zwingend hält. Oben ist schon darauf hingewiesen, dass für die Bundestagwahl die Verfassung in Art. 38 Abs. 2 GG die Volljährigkeit nicht zum Maßstab der Wahlberechtigung nimmt, sondern sie ausdrücklich mit 18 Jahren eintreten lässt. Die Absenkung der Wahlberechtigung im Jahre 1970 von 21 Jahren auf 18 Jahre war ein bewusster Akt, weil zum einen die Volljährigkeitsgrenze nicht mit abgesenkt wurde und zum anderen die Verfassung in demselben Satz 2 für die passive Wahlberechtigung gerade auf „die Volljährigkeit“ abstellt und nicht auf die damals dafür geltenden „21 Jahre“. 27 In den Jahren zwischen 1970, dem Jahr, in dem die Verfassung das aktive Wahlalter auf 18 Jahre herabsetzte, und dem Jahr 1975, in dem erst die Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre abgesenkt wurde, fand 1972 eine Bundestagswahl statt, bei der die aktive Wahlberechtigung also niedriger lag als die Volljährigkeitsgrenze. Sie ist also schon vom Verfassungsänderungsgesetzgeber und vom Wahlgesetzgeber nicht als relevantes, geschweige denn zwingendes Datum für das aktive Wahlrecht gewertet worden. Die unterschiedliche Behandlung von aktivem und passivem Wahlrecht, indem beim aktiven Wahlrecht unmittelbar auf ein Alter und beim passiven Wahlrecht auf die Volljährigkeit abgestellt wird, hat im Übrigen in diesem Zusammenhang einen bezeichnenden Sinn. Der Gewählte wird nämlich anders als der Wähler Teil eines entscheidungsbefugten Staats- oder Kommunalorgans, das vielfältige zu verantwortende Einzelentscheidungen zu treffen hat. Diese Differenzierung verweist auf ein Moment, das bei der Debatte meist übersehen wird. Zur Gleichsetzung von Volljährigkeit und Wahlmündigkeit ist darauf zu verweisen, dass der Wähler an dem größten Massenverfahren teilnimmt, welches das Recht kennt. Er ist bei einer Gesamtwillensbildung von Tausenden bis Millionen Wählern und Wählerinnen an einem Gesamtakt beteiligt. Schon das unterscheidet sein Handeln bei der Wahl von der Beteiligung am allgemeinen Rechtsverkehr, für den grundsätzlich die Volljährigkeit vorausgesetzt wird. Seine Handlungsmodalitäten sind zudem bei der Wahl außerordentlich eingeschränkt. Als Wähler kann er bei seiner Wahlentscheidung nur auf ein Angebot reagieren, nicht aber aktiv auf die Gestaltung des Angebots einwirken. Das Angebot als solches ist auf die bei der Wahl zugelassenen Parteien beschränkt.28 Die Zahl der aussichtsreichen Parteien beträgt regelmäßig etwas mehr als eine Hand voll. Der für eine Wahl personell und finanziell zu betreibende Aufwand ist so hoch, dass selten eine neue Partei in den Kreis der aussichtsreichen Parteien aufsteigt. Das System auf der Seite des Angebots für die Entscheidung des Wählers ist also über die Jahre sehr stabil. Einen Einfluss kann er darauf als Einzelner erfolgreich nicht nehmen.

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Erst zum 1. 1. 1975 wurde die Volljährigkeit von bis dahin 21 Jahren auf 18 Jahre abgesenkt. Die Absenkung hatte Rückwirkung auf das passive Wahlrecht, weil sie zum selben Zeitpunkt eintrat. 28 In den Kommunen und teilweise in den Ländern gibt es auch freie Listen.

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Man kann also sagen, dass die Situation sich fundamental vom allgemeinen Geschäftsverkehr unterscheidet, für dessen Teilnahme das Recht grundsätzlich die Volljährigkeit voraussetzt. Die Schutzfunktion, welche das Erfordernis der Volljährigkeit hat, läuft zudem bei der Wahl leer, weil die Wahlentscheidung den Wähler nicht bindet. Er bedarf keines Schutzes. Die Volljährigkeit als Maßgabe für die Wahlberechtigung zu nehmen, ist nichts als der Versuch, eine eigenständige Begründung für den Ausschluss vom aktiven Wahlrecht zu vermeiden. Vor dem Anspruch der Allgemeinheit der Wahl kann das Argument nicht bestehen. Die Rechtspraxis nicht nur in Deutschland negiert es auch, wie die zunehmende Absenkung des aktiven Wahlrechts unter die Volljährigkeitsgrenze zeigt. Gleichwohl erfreut sich das Volljährigkeitsdatum in der politischen Debatte großer Beliebtheit, weil man mit den rechtlichen Beschränkungen, denen 16-Jährige gegenüber 18Jährigen unterworfen sind, Eindruck im Publikum zu machen hofft.29 Dass man mit 16 Jahren Mofa fahren darf, aber Auto nur unter Begleitung eines Erwachsenen oder heiraten kann nur mit einem Volljährigen und mit Billigung des Familiengerichts, in die Disco ohne Einwilligung der Eltern nur bis Mitternacht darf, Kaufverträge selbständig nur mit 18 Jahren abschließen kann und schließlich zwar Bier, aber keinen hochprozentigen Alkohol trinken darf, trifft zwar alles zu. Wozu man die für 16-Jährige nicht erlaubten Tätigkeiten aber für die Ausübung des Wahlrechts benötigt, bleibt ein wenig dunkel. Mit einigem Sinn für Ironie kann man sogar fragen, ob die Autoren – und das in einem Weinland! – der Meinung sind, sich mit hochprozentigem Alkohol statt mit Bier betrinken zu dürfen, sei ein Ausweis von Wahlmündigkeit.

2. Das Wahlrecht überfordere den Minderjährigen, weil er eine verantwortbare Entscheidung zu treffen nicht in der Lage sei Dieser meist psychologisch mit dem noch unausgereiften Charakter von Jugendlichen unterfütterte Einwand unterstellt unausgesprochen, dass der Wähler sich für seine Wahlentscheidung zu rechtfertigen habe. Nun gibt es zwar bei ungünstigem Wahlausgang gelegentlich Wählerschelte durch die Betroffenen und ihren publizistischen Anhang. Aber selbst solche Äußerungen reklamieren keine individuelle Verantwortung einzelner Wähler. Das Verfassungsrecht selbst stellt jeden Wähler davon frei. Die garantierte Geheimheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 42 Abs. 1 LV) schützt nämlich den Wähler vor jeder individuellen Haftung: sein Einfluss auf das Wahlergebnis bleibt unbekannt. Weil sich niemand für seine Wahl verantworten muss, kann die Fähigkeit dazu keine Voraussetzung für die Verleihung des Wahlrechts sein. Es mag daher dahinstehen, ob der globale Vorwurf der „Unverantwortlichkeit“ an einzelne Jahrgänge hinrei29

Alle folgenden Beispiele sind in einer Presseerklärung der CDU Rheinland-Pfalz vom 7. 11. 2010 anlässlich der dortigen Debatte über die Absenkung des Wahlalters aufgeführt. Sie finden sich in Variationen aber auch in anderen Stellungnahmen von Gegnern einer Absenkung.

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chend substantiiert ist, was man mit Fug bezweifeln kann, stehen doch nicht wenige von ihnen schon im Berufsleben.

3. Das Wahlrecht überfordere den Minderjährigen, weil er zu einer rationalen Entscheidung nicht in der Lage sei. Es geht hier wie im gesamten Wahlrecht nicht um die Frage richtigen Entscheidens, weil es für das Ergebnis keine rechtliche Vorgabe gibt, sondern je nach Anhängerschaft oder politischer Grundausrichtung nur Präferenzen. Es geht vielmehr um die Rationalität einer Wahlentscheidung als solcher. Die Möglichkeit dazu wird Minderjährigen global oder je nach Jahrgang abgesprochen. Zur Bewertung eines solchen Urteils lohnt es, näher auf die Entscheidungssituation bei der Wahl einzugehen. Die Wahl ist ausschließlich eine Reaktion auf ein fest stehendes Angebot, unterscheidet sich insofern nicht unerheblich von anderen Entscheidungssituationen, auch solchen in der Familie. Will der Wähler keine Proteststimme abgeben, sondern auf die Besetzung des Parlaments oder kommunalen Rats einwirken, so dürfte schon ein Vierzehnjähriger nicht überfordert sein mit der Erkenntnis, dass sich die Möglichkeit einer in diesem Sinne wirksamer Stimmabgabe auf wenige Alternativen des Angebots beschränkt. Noch weniger dürfte ihm entgangen sein, dass die wenigen Anbieter, Parteien oder Wählergemeinschaften, bei allen Überlappungen ein unterschiedliches allgemeines Politikangebot, eine allgemeine politische Richtung repräsentieren und dies versuchen, durch die Wahlwerbung auch verständlich zu präsentieren. Geht es um das personelle Angebot, so kann auch der Vierzehnjährige wie die Fünfundzwanzigjährige oder der Achtzigjährige in der Regel mangels näherer Kenntnis der Person kein fundiertes Urteil abgeben und ist auf die Werbung oder individuelle Äußerungen des Betreffenden oder eben dessen Zugehörigkeit zu einer der politischen Gruppierungen angewiesen. 30 Insgesamt erweisen sich die rationalen Anforderungen an eine Wahlentscheidung als nicht sonderlich hoch – man könnte sie auch relativ primitiv nennen – vor allem, weil alternative Möglichkeiten durch das feststehende Angebot ausgeschlossen sind. Hinzu kommt, dass Sachentscheidungen als solche nicht Gegenstand der Wahl sind und selbst, wenn sie es wären und hier und da, wenn auch nur unterschwellig, sind, hat die Wahlentscheidung gegenüber den Abgeordneten wegen der ihnen verbürgten Entscheidungsfreiheit (s. z. B. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 41 Abs. 2 Satz 2 LV) keine verbindliche Wirkung. Diese Freiheit gilt auch, wenn nicht gar vorrangig gegenüber ihren Wählern. Der abrupte Wechsel in der Atompolitik nach der vorletzten Wahl mag dafür ein markantes Beispiel sein.

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Der Drang der Politiker vor die Fernsehkameras resultiert aus der Chance, über dieses Medium einem größeren Kreis der Wähler überhaupt „bekannt“ zu werden.

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Nimmt man die emotionalen Einflüsse auf die Wahlentscheidung nach dem Motto „auf die Kanzlerin oder den Kanzler kommt es an“, so ist ihre rationale Grundlage meist schwach und überfordert selbst einen Vierzehnjährigen nicht. Dass dagegen Minderjährige zum Teil jedenfalls andere Vernunftgründe präferieren als Erwachsene ist kein Argument gegen ihr Wahlrecht. Unterschiedliche Alterskohorten haben oft unterschiedliche Präferenzen. Die Politik muss mit allen zurechtkommen.

4. Das nötige Urteilsvermögen fehle. Basis eines jeden Urteilsvermögens ist die Fähigkeit, die zugrundeliegenden Fakten eines Problems einigermaßen sicher bewerten zu können. Die meisten heutigen Wähler wissen im wahrsten Sinne des Wortes weder Hinreichendes über die Gefahr der Atomenergie oder ihres Abfalls noch über die Gefahr oder Wohltat der Staatverschuldung noch über die richtige Schulpolitik noch über versteckte Subventionen noch über den Sinn eines Auslandseinsatzes der Bundeswehr usw. Sie mögen mehr oder weniger fundierte Anschauungen zu den einzelnen Problemen haben. Die Komplexität politischen Handelns steht aber auch nicht zur Wahl, sodass ein Urteil bei der Wahl auch nicht abverlangt wird. Es ist zwischen politischen Richtungen und möglicherweise zwischen einzelnen Personen zu entscheiden oder zwischen der Kombination von beiden. Dass diese Leistung von einem Sechzehnjährigen nicht erbracht werden kann, dürfte kaum zu belegen sein; selbst bei Vierzehnjährigen scheint mir das schwerlich begründbar. Außerdem ist darauf zu verweisen, dass ohne Wahlrecht diese Jahrgänge auch kein besonderes Interesse haben, sich damit zu befassen. Im Übrigen wird man bei solchen Argumenten an die letzte Bundestagswahl erinnert und an die Slogans der einzelnen politischen Wettbewerber. Eine anspruchsvolle Vermittlung von Fakten, an die sich der Wähler ausrichten könnte, gehörte jedenfalls nicht dazu. Die politischen Parteien gehen aber und vermutlich zu Recht davon aus, dass das zur Wahlwerbung reicht, der Wähler also nicht besonders gefordert werden muss.

5. Die Shell-Studie 2010 als Argument. Die schon erwähnte und durchaus seriöse Shell-Studie 2010 wird gerne von den Gegnern einer Absenkung des Wahlalters mit dem Hinweis ins Feld geführt, von den 12- bis 25-Jährigen seien 52% gegen eine Absenkung auf 16 Jahre. Nun vermag eine Befragung, wie schon gesagt, nichts gegen den Verfassungsgrundsatz der allgemeinen Wahl ausrichten. Das Ergebnis der Umfrage bedeutet freilich auch, dass immerhin 48% nichts dagegen haben. Beschäftigt man sich näher mit der Langzeitstudie, entdeckt man, dass das politische Interesse von 12- bis 14-Jährigen von 2002 bis 2010 von 11% auf 21% und das der 15- bis 17-Jährigen von 20% auf 33% gestiegen ist, während bei den wahlmündigen 30

18- bis 25-Jährigen keinerlei Anstieg zu vermelden ist. Die Studie kann also in jede Richtung ausgedeutet werden. Verfassungsrechtlich Bedeutung haben ihre Ergebnisse nicht.

V. Verfassungspolitische Argumente für eine Absenkung des Wahlalters

1. Die Konzentration des Blicks auf die potentiellen Neu-Wähler und die Ausblendung der Systemsicherungen sowie vieler Entwicklungen Es fällt auf, dass bei der Argumentation gegen eine Absenkung des Wahlalters fast ausschließlich der derzeitige Zustand der möglichen neuen Aktivwähler zur Grundlage eines Urteils gemacht wird und dabei der ideale, voll informierte, umfassend politisch gebildete und zu rationaler Entscheidung fähige Wähler zum Maßstab für die Zuerkennung des Wahlrechts genommen wird. Dass die Wirklichkeit, die uns bei den Wahlkämpfen, das heißt bei der Eigeneinschätzung der politischen Akteure, vor Augen geführt wird, dem nicht sonderlich nahe kommt, wird ebenso ausgeblendet, wie die Schutzmechanismen, die in hinreichender Zahl im Wahlverfahren also solchem stecken. Auch die Veränderungen in der sozialen Wirklichkeit, nicht nur, aber vor allem im Kommunikationsbereich im weitesten Sinne werden ausgeblendet. So kommen in der Debatte die Veränderungen der Kommunikationsmöglichkeiten und der Kommunikationspraxis seit der Einführung des Wahlalters von 18 Jahren in dem letzten knappen Vierteljahrhundert nicht ins Blickfeld noch wird der Einfluss neuer Wählerjahrgänge auf das Politikangebot der politischen Parteien ins Kalkül einbezogen noch erwähnt, dass die politischen Parteien in ihrer Jugendarbeit durchaus mit den in Frage stehenden und sogar noch jüngeren Jahrgängen arbeiten, noch schließlich darauf verwiesen, dass nicht nur das ja überwiegend staatliche Schulwesen sich in dem, was gemeinhin „Gemeinschaftskunde“ genannt wird, auf die neue Situation einstellen müsste, mit Folgen für den Kenntnisstand der neuen Wählerjahrgänge. Schließlich bleibt unerörtert, dass es eine ernsthafte Bewegung gibt, Kindern ab Geburt ein Wahlrecht zu geben, das durch die Eltern ausgeübt werden soll. Dahinter steht auch der Gedanke, dass mit achtzehn Jahrgängen ein nicht unerheblicher Teil des Volkes von der demokratischen Mitbestimmung bei der Wahl ausgeschlossen ist. Dabei ist zu betonen, dass es nicht um die Verlagerung der Entscheidungsgewalt auf eine unreife Generation geht, sondern um einen angemessenen und daher durchaus bescheidenen, aber realen Einfluss von zwei oder vier Jahrgängen auf das politische Personal und die von ihm betriebene Politik. 31

2. Die Veränderung der Kommunikationsmöglichkeiten und der Kommunikationspraxis Im Verhältnis zu der Zeit, in der das Wahlalter festgelegt worden ist, haben sich die Kommunikationsmöglichkeiten radikal verändert. Das Informationsangebot auch im politisch relevanten Bereich ist erheblich breiter geworden, als es je gewesen ist. Es kann jederzeit und höchst einfach auf das Angebot zugegriffen werden und gerade die jüngere Generation, die mit der neuen Technik groß geworden ist, nutzt es ausgiebig, auch im zwischenmenschlichen Verkehr. Die für die etablierten Parteien schreckhafte Erscheinung einer gegenüber früher markant erhöhten Volatilität der Wählerstimmen beruht auch auf der höheren Informationsdichte, welche die neuen Informationstechniken erst erlauben. Die Vermutung ist daher nicht abwegig, dass auch die netzaffinen und bisher noch nicht wahlberechtigten jüngeren Jahrgänge einen höheren politischen Wissensstand haben oder zumindest haben können, als das früher der Fall war. Das Wachsen des politischen Interesses der noch nicht wahlberechtigten Jahrgänge der 12- bis 17Jährigen, das die erwähnte Shell-Studie 2010 nachgewiesen hat, mag als Beleg dienen. Und wenn sie diesen Wissensstand nicht haben, könnten sie ihn sich bei Verleihung des aktiven Wahlrechts jederzeit und höchst einfach beschaffen.

3. Der Einfluss auf das Politikangebot In die Debatte über das richtige Wahlalter wird der Frage überhaupt nicht nachgegangen, ob und wie sich die Einbeziehung jüngerer Jahrgänge auf das Politikangebot und auf die nach der Wahl verfolgte Politik auswirken könnte oder gar wird. Der Wahlkampf für die Wahl 2013 und die Entscheidung der späteren Koalitionäre für die Gestaltung eines wichtigen Politikfeldes, nämlich der Renten, wirft ein Schlaglicht auf die damit verbundenen Probleme. Beide großen Politikblöcke, die Union und die SPD haben sich parallel besonders um die Verbesserung der Renten bemüht, offensichtlich in der nicht gerade abwegigen Vermutung, dass hier wegen der Überalterung der Gesellschaft ein sehr relevantes Wählerpotential steckt. 31 Da der Haushalt des Bundes jahrelang trotz guter Konjunktur nicht oder nur „strukturell“ ausgeglichen war, was im Klartext heißt,

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Der Zufall will es, dass am Tage der Fertigstellung dieses Gutachten in der umstürzlerischer Gedanken unverdächtigen FAZ ein Aufsatz „ Große Koalition der Alten“ erschien, der den hohen Altenanteil an Mitgliedern und Wählern von Union und SPD auflistete und Roman Herzog zitierte: “Ich fürchte, wir sehen gerade Vorboten einer Rentner-Demokratie: Die Älteren werden immer mehr und alle Parteien nehmen überproportional Rücksicht auf sie.“ Die Zahlen erweisen, dass bei beiden Parteiblöcken der Anteil der Mitglieder um die 50% liegt und die der Wähler zwischen 42,8 % bei der CDU und 40.2% bei CSU und SPD.

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dass er ebenfalls nicht ausgeglichen war 32 und also der Bund sich weiter verschulden musste, lädt die Politik seit langem vor allem der nächsten Generation weitere Schulden dauerhaft auf. Liegt es nicht nahe, dass ein solches hoch unseriöses Verhalten wenigstens nur sehr abgeschwächt hätte in den Wahlkampf eingebracht und nach der Wahl betrieben werden können, wenn zwei oder besser noch vier weitere davon betroffenen Jahrgänge in der Wahlpropaganda und in der danach einzuleitenden Politik hätten berücksichtigt werden müssen?

4. Die politischen Parteien und die nichtwahlmündigen Jugendlichen Die politischen Parteien, vor allem die der Wahlaltersabsenkung am Wenigsten zugeneigte Union, sind auf Ihre Schüler- und Jugendorganisationen besonders stolz. 33 Offenbar gehen sie und das zu Recht, davon aus, dass es lohnt, schon vor 18, 16 oder gar 14 Jahren mit Jugendlichen politische Erziehung zu betreiben. Die frühzeitige personelle und auch inhaltliche Rekrutierung des Nachwuchses ist eine durchaus sinnvolle Politikarbeit; ohne die Annahme eines zu weckenden politischen Bewusstseins wäre dies Verhalten der politischen Parteien wenig verständlich.

5. Bildung und Ausbildung Bei der Bewertung einer Absenkung des Wahlalters unter verfassungspolitischen Gesichtspunkten ist auch ins Kalkül einzubeziehen, dass sich das Schul- und Bildungswesen insgesamt bei der politischen Erziehung der Schüler auf die neue Situation einzustellen hätten. Was jetzt bei den betreffenden Jahrgängen nur aus der Distanz des Beobachtenden vermittelt werden kann und wird, wäre dann vor diesen Jahrgängen mit dem Bewusstsein des Ernstfall zu besprechen, was pädagogisch sicher anspruchsvoller, aber auch fruchtbarer sein könnte.

6. Bestrebungen zur Einführung eines „Kinderwahlrechts“ Bis in den Bundestag ist die Forderung gedrungen, ein „Kinderwahlrecht“ einzuführen. Dahinter steht der Gedanke, dass die Interessen eines großen Teils der Bevölkerung je32

In der Politiksprache und auch in der Wirtschaft sollte man immer vorsichtig sein, wenn das Wort „Struktur“, „strukturiert“ oder „strukturell“ genutzt wird. Entgegen dem Sprachgefühl, dass damit etwa Handfestes, Sicheres gemeint ist, meint das Wort in der Politik wie im Finanzwesen das Gegenteil davon. Strukturiert waren die Papiere voll fauler Immobilienkredite, die das Fass zur Finanzkrise zum Überlaufen brachten, weil sie kaum zu verstehen, aber lange Zeit gut zu verkaufen waren, und der strukturell ausgeglichene Haushalt ist ein nicht ausgeglichener Haushalt, weil die Politik bestimmte fällig werdende Leistungen einfach nicht mitrechnet. 33 Dem Internet-Auftritt der Jungen Union und der Schülerunion mit einem sehr hohen Mitgliederbestand ist freilich nicht zu entnehmen, welche Mindestaltersgrenze für die Aufnahme gilt. Früher waren es 12 Jahre.

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denfalls durch die Wahl nicht vertreten werden. Es sind immerhin 18 Jahrgänge von Deutschen, also Millionen, denen überhaupt eine, geschweige denn eine adäquate Vertretung in der Volksvertretung nicht möglich ist. Da die Stimmabgabe aber in diesen Fällen nur qua Vertretung der betroffenen Kinder wahrgenommen werden könnte, dies aber gegen den demokratischen Sinn der Wahl verstoßen und zu einem doppelten Stimmrecht des Begünstigten führen würde, also meist eines Elternteils, ist dieser Weg verfassungsrechtlich verschlossen. Mit einer Absenkung des Wahlalters würde aber das hinter diesen Bestrebungen steckende Problem nicht unerheblich minimiert.

7. Die Immunisierung des Systems vor den Gefahren einer Absenkung des Wahlalters Da eine Wahl nur die Reaktion auf ein personelles und inhaltliches Angebot ist, das der Wähler nicht verändern kann, kann die Gefahr einer „Verkindlichung der Politik“ nicht eintreten. Das passive Wahlrecht, also die Wählbarkeit wird aus guten Gründen nicht gesenkt. Es geht also auch nicht um die wenigstens teilweise Übernahme der Politikgestaltung durch unreife Jahrgänge. Das System entwickelt also weiterhin hinreichenden Schutz. Das aktive Wahlrecht erzwingt aber nach der Logik des Wahlkampfes eine Berücksichtigung der berechtigten Interessen dieser Jahrgänge, weil sie als potentielle Wähler erstmals für die Machtverteilung durch die Wahl Bedeutung gewinnen. Angesichts der Überalterung der Wahlbevölkerung sollte das ein verfassungspolitisches Anliegen sein.

G Die derzeitige Verfassungslage

I. Grundlage Verfassungsrechtlicher Grundlage für die Festlegung der Wahlmündigkeit in Sachsen-Anhalt ist für die Landtags- wie die Kommunalwahl die Verbürgung der „allgemeinen Wahl“, und zwar in Art. 42 Abs. 1 LV für die Landtagswahl und in Art. 89 LV für die Kommunalwahlen. Allgemeinheit der Wahl bedeutet, dass mindestens jeder Deutsche, der die übrigen Voraussetzungen des Wahlrechts besitzt, wie etwa den 1. Wohnsitz im Lande, wahlberechtigt ist. Da die Verfassungslage sich im Hinblick auf das Wahlalter zwischen der Landtags- und den Kommunalwahlen unterscheidet, weil für die Landtags34

wahlen in Art. 42 Abs. 2 Satz 1 LV das Mindest-Wahlalter auf 18 Jahre festgelegt ist, während es für die Kommunalwahlen keine solche Festlegung gibt, bedarf es einer getrennten Untersuchung.

II. Das Wahlalter bei der Kommunalwahl Das in der Gemeinde- und in der Kreisordnung festgelegte Wahlalter von 16 Jahren 34 beruht auf der Erkenntnis des sachsen-anhaltischen Parlaments, dass 16-Jährige eine hinreichenden Entwicklungsstand haben, um mit dem Wahlrecht sinnvoll umzugehen. Das heißt zunächst, den Sinn der Wahl verstehen, die immerhin in ihrem technischen Bereich durch die Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens der drei Stimmen, die jeder Wähler hat, etwas anspruchsvoller als gewöhnlich und auch als das mit einer Erststimme für den Wahlkreisabgeordneten und einer Zweitstimme für die Liste arbeitende Landtagswahlrecht ist. Es heißt aber auch, dass nach der Erkenntnis des Landtages schon von 16-Jährigen der politische Sinn der Wahl verstanden und eine rationale Entscheidung zwischen den politischen und personellen Angeboten getroffen werden kann. Nach den Ausführungen in den Kapiteln III bis V ist angesichts der geringen Komplexität der allein maßgeblichen Alternativen bei der Wahl und auch die von den über 16-Jährigen nicht verlangten und auch nicht erwarteten Einblicke in alle in der Kommune in Fragen kommenden Politikbereiche die Überlegung naheliegend, ob nicht schon 14-Jährige diese Leistung zu erbringen in der Lage sind. Sollte das der Fall sein, so verlangte die durch die Verfassung verbürgte Allgemeinheit der Wahl eine Absenkung des Wahlalters auf diesen Level. Dafür spricht, dass das Recht auch im Übrigen ab diesem Alter eine Zäsur setzt und den Jugendlichen Verantwortung zumutet. So fasst das Jugendgerichtsgesetz in § 1 Abs. 2 die 14- bis 18-Jährigen gemeinsam unter die Kategorie der „Jugendlichen“ und hält sie in gleicher Weise für strafrechtlich verantwortlich. Maßstab ist für alle vier Jahrgänge gemeinsam, dass der Einzelne das Unrecht einzusehen in der Lage ist, weil es die Basis von Schuld und Strafe ist. Bei der Wahlentscheidung geht es aber nicht darum einzusehen, ob eigenes Handeln gut oder schlecht, richtig oder falsch ist, sondern allein um die Auswahl zwischen den zur Wahl angebotenen Konzepten, Programmen, Versprechungen etc. der Parteien und Wählergemeinschaften und den zu ihrer Verwirklichung vorgeschlagenen Personen. Das ist eher eine geringere Leistung, als man sie für die Einsichtsfähigkeit in unrechtes Tun im Einzelfall benötigt. Außerdem mutet das Recht schon den 14-Jährigen zu, eine von den Eltern unabhängige Entscheidung über die Religionszugehörigkeit zu treffen, eine zumindest für das eigene Leben durchaus gravierende Entscheidung. 34

Siehe oben im Abschnitt B.

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III. Das Verfassungsgebot der Allgemeinheit der Wahl bei der Kommunalwahl

Die Arbeit an dem Gutachten ist nicht mit dem Ziel begonnen worden, ein Wahlalter von 14 Jahren zu verteidigen. Die Entwicklung der Argumentation und die Erörterung der in der Debatte um das Wahlalter vorgebrachten und nicht vorgebrachten, aber politisch wirksamen Gegenargumente, die einer Prüfung auf Relevanz für das Thema schon nicht standhalten, sowie der diskussionswürdigen Argumente, deren Gründe aber eher der Tradition verhaftet sind und die unter einem völlig verengten Blick auf die entsprechenden Altersjahrgänge und unter völliger Ausblendung der Sicherungen des Systems argumentieren, zwingen mit dem Blick für die Vorteile verantwortlicher Generationenpolitik zu der Erkenntnis, dass eine Absenkung des Wahlalters bei den Kommunalwahlen auf 14 Jahren unter den heutigen Bedingungen von dem Erfordernis der Allgemeinheit auch der Kommunalwahl (Art. 89 LV) gefordert wird. Das verfassungspolitisch verständliche Argument der entgegenstehenden Tradition als solches kann gegenüber der Erkenntnis, dass die Allgemeinheit der Wahl ein Verfassungsgebot ist, nicht ins Feld geführt werden. Nur das Argument, dass Vierzehnjährige generell zu einer sinnvollen Wahlentscheidung nicht in der Lage wären, könnte dem Verfassungsanspruch entgegengehalten werden. Eine solche Annahme ist aber angesichts der relativ einfach strukturierten Alternativen des Wahlangebots nicht zu begründen.

IV. Das Wahlalter bei der Landtagswahl

Die Verfassungssituation des Wahlalters bei der Landtagswahl ist einerseits einfacher, weil die Verfassung selbst es in Art. 42 Abs. 2 Satz 1 LV auf 18 Jahre fixiert. Sie ist andererseits aber prekärer, weil das Wahlalter schon heute bei den Wahlen zu den Volksvertretungen in den Kommunen mit 16 Jahren niedriger festgelegt ist als bei den Landtagswahlen mit ihren 18 Jahren. Beides steht aber unter dem verfassungsrechtlichen Erfordernis der „Allgemeinen Wahl“, die für Landtags- wie Kommunalwahlen mit Verfassungsrang (Art. 42 und Art. 89 LV) festgelegt ist und zudem von der Verfassung des Bundes in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG aus Gründen der Homogenität gefordert wird. Nun verbürgt das allgemeine Wahlrecht auch anderes als das korrekte Wahlalter, aber eben auch dieses. Eine unterschiedliche Behandlung des Wahlalters im Land und in den Kommunen wird man in einem demokratischen System aber nur dann tolerieren können, 36

wenn die Wahl in den unterschiedlichen Ebenen im Hinblick auf die Wahlmündigkeit gravierende, die unterschiedliche Festlegung der Wahlmündigkeit sinnvoll begründende Differenzierungen aufweist und gerade dadurch das unterschiedliche Wahlalter rechtfertigt. Diesem Erfordernis wird nur Rechnung getragen, wenn eine Einschränkung sich auf Gründe stützen kann, welche der Verwirklichung eines Anliegens von Verfassungsgewicht dienen. Ein solches Anliegen ist der Ausschluss von Personen, die konstitutionell nicht in der Lage sind, den demokratischen Sinn der Wahl einer Volksvertretung als Grundorgan des demokratischen Aufbaus des Staates, also der Mitwirkung an einer wichtigen Grundfunktion demokratischer Gestaltung zu verstehen, weil sie z.B. noch kein Alter erreicht haben, in dem ein solches Verständnis vorhanden sein kann. Darum ist ein Ausschluss von Kindern von der Wahl verfassungsrechtlich nicht nur zulässig, sondern geboten. Das Wahlrecht erlaubt keine Stellvertretung in der Wahlwillensbildung. Jeder hat seine eigene Stimme als demokratischer Bürger. Die Festlegung des Wahlalters kann aber weder durch die Tradition begründet noch an die Anforderung der Vollrechtsfähigkeit geknüpft werden. Die Vollrechtsfähigkeit dient der grundsätzlichen Freiheit einer Person im Rechtsverkehr. Aus ihr ergibt sich die Fähigkeit, sich selbst zu binden. Sie erst mit 18 Jahren eintreten zu lassen, dient dem Schutz jüngerer Personen vor den Gefahren dieses Rechtsverkehrs. Da die Wahl keinerlei Verbindlichkeit für den Wähler begründet, fehlt es an einem Schutzzweck für eine Festlegung des Wahlalters auf 18 Jahre. Eine Beibehaltung dieser Grenze für die Wahlmündigkeit könnte sich nur darauf stützen, dass in einem niedrigeren Alter das Verständnis für den Wahlzweck oder für das Wahlverfahren als solches generell und im Gegensatz zu den Kommunalwahlen nicht vorhanden ist. Diese Feststellung lässt sich mit Sicherheit für 16- bis 18-Jährige seriöser Weise nicht treffen. Der Gesetzgeber in Sachsen-Anhalt hat durch die Absenkung des Wahlalters bei den Kommunalwahlen auf 16 Jahren den 16- und 17-Jährigen die Wahlmündigkeit bescheinigt. Die Argumentation, dass für die Wähler in den Kommunen die Entscheidungen „näher“ seien, trägt nicht, da es für die Demokratie nicht auf das Maß oder die Unmittelbarkeit der Betroffenheit ankommt. Es geht um ein Mitgestaltungsrecht. Außerdem sind auch hier keine Sachentscheidungen zu fällen, sondern es ist wie im Land nur eine Volksvertretung zu konstituieren, die in ihren Entscheidungen frei ist. Die Chance einen Bewerber zu kennen, ist zwar größer als im Land. Da aber die Wahl nach den Grundsätzen der Verhältniswahl abgehalten wird (s. z. B. § 39 GO), ist der Einfluss der Vielzahl der Wähler auf die erfolgreiche Wahl ihnen bekannter Personen selbst bei der Möglichkeit zu kumulieren und panaschieren gering. Es ist daher in der Sache zwingend, das Wahlalter in Land und Kommunen anzugleichen. Da es bei der Kommunalwahl 2009 im Hinblick auf die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre offenbar keine Anstände gegeben hat, lässt sich für die Landtagswahl eine Beibe-

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haltung der Altersgrenze von 18 Jahren inhaltlich und damit verfassungspolitisch nicht mehr rechtfertigen. Verfassungsrechtlich dagegen wird man der Festlegung des Wahlalters zur Landtagswahl in Art. 42 Abs. 2 LV auf 18 Jahre als der spezielleren Norm den Vorrang geben müssen. Eine Interpretation der Norm als Mindestgarantie, von der der Gesetzgeber zugunsten einer Erweiterung des Wahlkörpers abweichen könnte, wird schwerlich vertreten werden können; schon der Wortlaut ist zu eindeutig. Die bestehende Diskrepanz wird jedoch auf Dauer nicht erträglich sein. Die Demokratie ist in Land und Kommunen keine unterschiedliche, worauf spätestens Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG verweist, der den Volksvertretungen in „den Ländern, Kreisen und Gemeinden“ gleiche Dignität zubilligt. Debattieren könnte man allerdings, ob dem Parlament wegen veränderter Verhältnisse eine Anpassungspflicht obliegt. Dabei wäre nicht nur die Absenkung der Altersgrenze für die Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt, sondern auch entsprechende Absenkungen in anderen Bundesländern auf Kommunal- wie Landesebene ins Kalkül einzubeziehen. Es ist nicht anzunehmen, dass der Reifegrad der entsprechenden Alterskohorten in der Bundesrepublik relevant unterschiedlich ist. Eine in den Formulierungsvorschlägen weiter verfolgte Möglichkeit wäre, die Wahlaltersgrenze aus der Verfassung herauszunehmen und dem Wahlgesetzgeber zu überlassen. Wie sich gezeigt hat, haben sich nicht nur in Deutschland mit der sozialen Wirklichkeit die Vorstellungen vom zulässigen Wahlalter in den letzten zwanzig Jahren erheblich verändert. Man erhielte größerer Beweglichkeit. Da man bei einer Ausdehnung des Wahlkörpers auf nichtdeutsche Einwohner Art. 42 Abs. 2 LV sowieso überarbeiten müsste, wenn sich die Erwartung des Satz 2 dieser Vorschrift realisiert, könnte man auch diese Möglichkeit realisieren.

H Vorschlag zur gesetzlichen Umsetzung des Gutachtenergebnisses

I. Verfassungsänderungen

Gesetz zur Änderung der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Art. 42 Abs. 2 und 3 der Landesverfassung erhalten folgende Fassung: 38

„(2) Wahlberechtigt sind alle Bewohner des Landes Sachsen-Anhalt, die das 14. Lebensjahr vollendet haben. Wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.35 (3) Das Nähere wird durch Gesetz geregelt. Dieses kann die Wahlberechtigung und die Wählbarkeit insbesondere von einer bestimmten Dauer des Wohnsitzes im Land abhängig machen.“

Begründung Art. 42 Abs. 1 wird von den Änderungen nicht berührt. In Absatz 2 ist der Merkposten für die „Staatenlose und Ausländer“ überflüssig geworden, da es für die Bewohner keine „Herkunftsbeschränkung“ mehr gibt. In Absatz 3 erübrigt sich der Hinweis auf die Staatsangehörigkeit. Mit 14 Jahren ist die äußerste untere Grenze bezeichnet.

II. Änderung einfachgesetzlicher Wahlrechtsregeln

Gesetz zur Änderung wahlrechtlicher Vorschriften

1. Änderung des Wahlgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt (Landeswahlgesetz) § 2 des Landeswahlgesetzes erhält folgen Fassung: Wahlberechtigt sind alle Bewohner des Landes Sachsen-Anhalt, die 1. das 14. Lebensjahr vollendet haben und 2. im Land Sachsen-Anhalt mindestens seit drei Monaten ihren Wohnsitz haben. Bei Inhabern von Haupt- und Nebenwohnung im Sinne des Melderechts ist der Wohnsitz am Ort der Hauptwohnung. 2. Änderung der Gemeindeordnung für das Land Sachsen-Anhalt § 20 Abs. 2 Satz 1 erhält folgende Fassung: „(2) Bürger der Gemeinde sind alle Einwohner der Gemeinde, die das 14. Lebensjahr vollendet haben und seit mindestens drei Monaten in der Gemeinde wohnen.“

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Das ist an Art. 38 Abs. 2 GG angelehnt. Einfacher wäre zu sagen. „Wählbar ist, wer volljährig ist.“

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3. Änderung der Kreisordnung für das Land Sachsen-Anhalt § 14 Abs. 2 Satz 1 erhält folgende Fassung: „(2) Bürger des Landkreises sind alle Einwohner, die das 14. Lebensjahr vollendet haben und seit mindestens drei Monaten im Landkreis wohnen.“ 4. Änderung des Entwurfs eines Kommunalverfassungsgesetzes Da sich zur Zeit ein Kommunalverfassungsgesetz (KVG LSA), das die Gemeinde- und die Kreisordnung zusammenfassen soll, in der Endphase der parlamentarischen Behandlung befindet, folgt auch der Entwurf einer Änderung dieses Gesetzesvorhabens in der Fassung der Ausschussvorlage. § 21 Abs. 2 Satz 1 E erhält folgende Fassung: „Bürger einer Kommune sind alle Einwohner, die das 14. Lebensjahr vollendet haben und seit mindestens drei Monaten in dieser Kommune wohnen.“ Begründung Die Änderungen erklären sich nach dem Ergebnis des Gutachtens von selbst. Einer Sonderregel für Europabürger bedarf es nicht mehr. An den bisherigen Regeln über die Wählbarkeit wird festgehalten. Berlin, den 29. März 2014 gez. Hans Meyer

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