Ratgeber Förderdiagnostik

John DEWEY (1859–1952) hat mit seinem Erfahrungsbegriff die moderne konstruk- tivistische Lerntheorie angeregt. Lernerfahrungen haben nach DEWEY stets ...
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U. Heimlich/ S. Lutz/K. Wilfert de Icaza

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Aus dem Inhalt • • • • • •

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Ratgeber Förderdiagnostik Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen

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ISBN 978-3-403-23297-1

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U. Heimlich/S. Lutz/K. Wilfert de Icaza

Ratgeber Förderdiagnostik Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen

© 2013 Persen Verlag, Hamburg AAP Lehrerfachverlage GmbH Alle Rechte vorbehalten. Das Werk als Ganzes sowie in seinen Teilen unterliegt dem deutschen Urheberrecht. Der Erwerber des Werkes ist berechtigt, das Werk als Ganzes oder in seinen Teilen für den eigenen Gebrauch und den Einsatz im Unterricht zu nutzen. Die Nutzung ist nur für den genannten Zweck gestattet, nicht jedoch für einen weiteren kommerziellen Gebrauch, für die Weiterleitung an Dritte oder für die Veröffentlichung im Internet oder in Intranets. Eine über den genannten Zweck hinausgehende Nutzung bedarf in jedem Fall der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlages. Sind Internetadressen in diesem Werk angegeben, wurden diese vom Verlag sorgfältig geprüft. Da wir auf die externen Seiten weder inhaltliche noch gestalterische Einflussmöglichkeiten haben, können wir nicht garantieren, dass die Inhalte zu einem späteren Zeitpunkt noch dieselben sind wie zum Zeitpunkt der Drucklegung. Der Persen Verlag übernimmt deshalb keine Gewähr für die Aktualität und den Inhalt dieser Internetseiten oder solcher, die mit ihnen verlinkt sind, und schließt jegliche Haftung aus. Illustrationen: Mele Brink Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth ISBN 978-3-403-53297-2 www.persen.de

Inhaltsverzeichnis

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Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort 1

1.1 Förderschwerpunkt Lernen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.2 Förderdiagnostik im Förderschwerpunkt Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.3 Qualität sonderpädagogischer Förderung im Förderschwerpunkt Lernen . . . . . . . . 14

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Methoden der Förderdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.1 2.2 2.3 2.4

Kind-Umfeld-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Fehleranalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Diagnostisches Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.4.1 Diagnostisches Elterngespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.4.2 Explorative Gespräche mit Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.4.3 Exploratives Lehrergespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.5 Förderdiagnostische Tests (Kurzporträts) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.5.1 Diagnose sprachlicher Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.5.2 Diagnose schriftsprachlicher Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.5.3 Diagnose mathematischer Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.5.4 Diagnose kognitiver Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2.5.5 Diagnose sensomotorischer Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.5.6 Diagnose sozial-emotionaler Kompetenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

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Fördergutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

4

Methoden schulischer Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.1 Grundlagen der Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.2 Kooperative Beratung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4.3 Gespräche mit Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Leitfaden zum sonderpädagogischen Fördergutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Beobachtungsprotokoll (Kopiervorlage) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Gesprächsprotokoll (Kopiervorlage) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Zusätzliches Download-Material

Die Vorlagen für das Beobachtungs- und Gesprächsprotokoll können Sie unter folgendem Link auch als Word-Dateien kostenlos herunterladen: http://www.persen.de/Zusatzmaterial-23297.html U. Heimlich/S. Lutz/K. Wilfert de Icaza: Ratgeber Förderdiagnostik © Persen Verlag

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Vorwort Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Förderdiagnostik

UN-Konvention

Förderschwerpunkt Lernen

Praxishandreichungen

Aufbau des Ratgebers

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die sonderpädagogische Diagnostik befindet sich nach dem Erscheinen der „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung …“ der Kultusministerkonferenz von 1994 in einem grundlegenden Wandel. Nicht mehr die Überweisung an den besonderen Förderort steht im Vordergrund der diagnostischen Tätigkeit, sondern vielmehr die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Sonderpädagogische Diagnostik hat sich deshalb auch in der sonderpädagogischen Förderpraxis mehr und mehr zur Förderdiagnostik weiterentwickelt. Wir praktizieren Diagnostik um der Förderung willen. Es geht darum, Fördermaßnahmen für Schülerinnen und Schüler an unterschiedlichen Förderorten zu entwickeln, um sie möglichst optimal in ihrer Lernentwicklung zu begleiten und zu unterstützen. Mit dem Inkrafttreten der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung im Jahre 2009 steht die Förderdiagnostik zukünftig im Dienste der Entwicklung eines inklusiven Bildungs- und Erziehungssystems auf allen Ebenen (Art. 24, UN-Konvention). Sonderpädagogische Förderdiagnostik wird damit zu einer Serviceleistung in der allgemeinen Schule, die nicht nur auf die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs abzielt, sondern lernprozessbegleitend potenziell für alle Schülerinnen und Schüler bereitsteht, die vorübergehend oder länger andauernd Probleme beim Lernen haben. Für den Förderschwerpunkt Lernen ergibt sich dabei die Schwierigkeit, dass die Intelligenzdiagnostik zur Feststellung einer „Lernbehinderung“ nicht mehr ausreicht. Sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen beinhaltet vielmehr ein Bündel an Maßnahmen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen besonders im Bereich der Schulleistungen. Aber emotionale, soziale, sprachliche, sensomotorische und kognitive Aspekte der Lernentwicklung müssen im Rahmen effektiver Förderkonzepte ebenfalls umfassend berücksichtigt werden. Sowohl die Diagnose- als auch die Förderstrategie sind auf diese komplexe Ausgangssituation zu beziehen. Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen mit der fachlichen Kompetenz für den Förderschwerpunkt Lernen sind heute im gesamten Bildungs- und Erziehungssystem gefordert, ihre Fähigkeiten bereitzustellen und daran mitzuwirken, dass sonderpädagogische Förderung auch in der Praxis als Aufgabe aller Schularten zunehmend anerkannt wird. Im Lehrstuhl Lernbehindertenpädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München sind zu diesem Aufgabenbereich in den letzten Jahren in Kooperation mit Projektschulen, Koordinatorinnen und Koordinatoren für Förderdiagnostik, Studierenden und Praktikumslehrkräften einige Handreichungen zur Förderdiagnostik und Förderplanung im Förderschwerpunkt Lernen entstanden. Wir möchten Ihnen diese gern auf diesem Wege zur Verfügung stellen und hoffen gleichzeitig, dass sie Ihre förderdiagnostische Tätigkeit wirksam unterstützen können. Für Rückmeldungen und Anregungen sind wir jederzeit offen. Bitte wenden Sie sich an unsere auf Seite 5 angegebene Adresse. Wir haben unser Konzept zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen an den Anfang gestellt (Kap. 1). Hier finden Sie in aller Kürze einige grundlegende Überlegungen. Die Methoden der Förderdi-

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Vorwort

agnostik stehen danach im Mittelpunkt und bilden den Schwerpunkt dieser Praxishandreichung (Kap. 2). Neben den Überblicken zu ausgewählten Verfahren sind hier auch Kurzporträts der empfehlenswerten förderdiagnostischen Tests aufgeführt. Die Übersichten zum jeweiligen Kompetenzschwerpunkt sollen den Überblick erleichtern. Das Kap. 3 enthält Hinweise zum Aufbau und zur Gestaltung des Fördergutachtens. Da auch die Kommunikation über die Ergebnisse der Förderdiagnostik im Gesamtprozess enthalten ist, werden in Kap. 4 Anregungen zur Gestaltung der unterschiedlichen Gesprächssituationen gegeben. Der Anhang besteht aus Leitfäden für die praktische Arbeit in der Diagnostik (als Kopiervorlagen). Diese Vorlagen können auch über folgenden Link kostenlos heruntergeladen und bearbeitet werden: http://www.persen.de/zusatzmaterial-23297.html. Jedes Kapitel wird mit einer kurzen Übersicht zu den inhaltlichen Schwerpunkten eingeleitet. Die Stichworte in der Randspalte sollen die Orientierung im Text erleichtern. Im Text werden die folgenden Besonderheiten des bayerischen Systems sonderpädagogischer Förderung erwähnt:  Schulvorbereitende Einrichtungen (SVE) sind Vorschuleinrichtungen der Förderschulen bzw. Sonderpädagogischen Förderzentren.  Mobile Sonderpädagogische Hilfe (MSH) ist ein Angebot zur sonderpädagogischen Förderung der Sonderpädagogischen Förderzentren in Kindertageseinrichtungen.  Mobile Sonderpädagogische Dienste (MSD) werden von Lehrkräften für Sonderpädagogik aus den Sonderpädagogischen Förderzentren in allgemeinen Schulen angeboten. Der vorliegende „Ratgeber Förderdiagnostik“ baut auf der Publikation „Diagnose und Förderung im Förderschwerpunkt Lernen“ auf, die im Jahre 2005 im Auer Verlag erschienen ist. Die dort enthaltenen Beiträge von Martina März und Monika Lotter konnten für den vorliegenden Band mit freundlicher Genehmigung der KoAutorinnen übernommen und aktualisiert werden. Wir danken dem Persen Verlag, dass er diese Publikation in der vorliegenden Form ermöglicht hat, und wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Weiterentwicklung Ihrer förderdiagnostischen Praxis. Prof. Dr. Ulrich Heimlich Studienrätin im Förderschuldienst Stephanie Lutz Dr. Kathrin Wilfert de Icaza Kontaktadresse: Ludwig-Maximilians-Universität München Department Pädagogik und Rehabilitation Lehrstuhl Lernbehindertenpädagogik Prof. Dr. Ulrich Heimlich Leopoldstr. 13, D-80802 München Tel.: 089/2180-5121,Fax: 089/2180-3989 www.edu.lmu.de/lbp E-Mail: [email protected]

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1 Feststellung des sonderpädagogischen

Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen

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Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen

Vorbemerkung Die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen erfordert eine Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Diagnostik. Sie verändert sich zunehmend von einer reinen Überweisungsdiagnostik hin zu einer individualisierten Förderdiagnostik. Dabei stellt sich zunächst die Frage, welche Begründungen für diese Neuorientierung diagnostischen Handelns innerhalb moderner sonderpädagogischer Förderung vorliegen. Zu dieser Problemstellung finden Sie im folgenden Kapitel  einen Versuch zur inhaltlichen Abgrenzung des Förderschwerpunktes Lernen,  einige Hinweise auf moderne Lerntheorien im Anschluss an den Konstruktivismus und die neuere Hirnforschung und  eine kritische Stellungnahme zur einseitigen Dominanz der Intelligenzdiagnostik in der sonderpädagogischen Diagnostik und einige Konsequenzen für die Förderdiagnostik im Förderschwerpunkt Lernen. Nach der Bearbeitung dieses Kapitels sollten Sie in der Lage sein, mit Fachkolleginnen und -kollegen eine kritische Diskussion zur Bedeutung der Förderdiagnostik in Ihrer Einrichtung zu führen. Außerdem können Sie in diesem Kapitel einen guten Überblick über die weiteren Schwerpunkte dieser Praxishandreichung gewinnen.

Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen Seit der Veröffentlichung der „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung […]“ seitens der Kultusministerkonferenz (KMK) im Jahre 1994 und der Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Lernen aus dem Jahre 1999 (vgl. DRAVE/RUMPLER/ WACHTEL 2000) stehen Förderschullehrkräfte vor der Aufgabe, den sonderpädagogischen Förderbedarf festzustellen. Besonders das Konzept des sonderpädagogischen Förderbedarfs erweist sich dabei als sehr offen und wenig eindeutig. Klare Abgrenzungen zwischen den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten fallen schwer. Zu groß sind die jeweiligen Überschneidungsbereiche beim einzelnen Kind bzw. Jugendlichen. In der Förderpraxis gibt es kaum Schülerinnen und Schüler, die einen Förderbedarf ausschließlich in bestimmten, eng umgrenzten Bereichen des Lern- und Leistungsverhaltens haben. Hinzu treten in der Regel soziale, emotionale und sprachliche Probleme. Sonderpädagogische Diagnostik hat in diesem Zusammenhang nicht mehr zum Ziel, eine Behinderungsart festzustellen, sondern vielmehr den Förderbedarf zu beschreiben. Damit geht eine Abkehr von der Orientierung an individuellen Defiziten einher und eine Hinwendung zu den Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen als Basis jeglicher Förderung. Gleichzeitig hat sich die grundlegende Zielsetzung der sonderpädagogischen Diagnostik verändert. Ging es in der Vergangenheit hauptsächlich darum, die Frage zu beantworten, ob die jeweilige Schülerin bzw. der Schüler in die Förderschule zur Lernförderung (bzw. Schule für Lernhilfe, Allgemeine Förderschule, Schule für Lernbehinderte usw.) überwiesen werden muss, so steht heute die Entwick-

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sonderpädagogischer Förderbedarf

Kompetenzorientierung

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Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen

Förderungsorientierung

Förderdiagnostik

wachsende Bedeutung der Schulleistungsdiagnostik

lung von Fördermaßnahmen im Vordergrund (vgl. zur pädagogischen und sonderpädagogischen Diagnostik allgemein: BUNDSCHUH 2007; INGENKAMP/LISSMANN 2005; KLEBER 1992; MUTZECK/JOGSCHIES 2004; PETERMANN/PETERMANN 2006; RITTMEYER 2005). Sonderpädagogische Diagnostik hat nunmehr zum Ziel, zur individuellen Förderung eines Kindes bzw. Jugendlichen beizutragen. Die Ergebnisse der sonderpädagogischen Diagnose müssen also anschlussfähig für die sonderpädagogische Förderung sein. Sonderpädagogische Diagnostik wird so zum zentralen Bestandteil sonderpädagogischer Förderung neben der Intervention und der Evaluation (vgl. BUNDSCHUH 2010). Insofern wird der Begriff der sonderpädagogischen Förderung hier als Oberbegriff verwendet, der sowohl Maßnahmen der Diagnostik als auch der Intervention und der Evaluation sowie der begleitenden Beratung umfasst. Ein Blick in die Diagnosepraxis zeigt, dass diese veränderte Aufgabenstellung gegenwärtig mit herkömmlichen Methoden der sonderpädagogischen Diagnostik nicht mehr bewältigt werden kann. Besonders Intelligenztests verlieren vor diesem Hintergrund immer mehr an Bedeutung, weil ihre Aufgabe, Kinder und Jugendliche abhängig vom jeweiligen Intelligenzquotienten in verschiedene Gruppen aufzuteilen, mit den Zielen einer förderungsorientierten Diagnostik nicht mehr in Einklang steht. Förderdiagnostik im Förderschwerpunkt Lernen ist in der Hauptsache eine gute Schulleistungsdiagnostik, deren Ergebnisse die Ableitung von direkten Fördermaßnahmen im Lesen, Schreiben und Rechnen erlauben. Von daher vollzieht sich gegenwärtig in der förderdiagnostischen Praxis bezogen auf den Förderschwerpunkt Lernen eine grundlegende Neuorientierung. Diese zentrale Behauptung der vorliegenden Handreichung soll nun bezogen auf den sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen und seine förderdiagnostische Feststellung begründet werden.

1.1 Förderschwerpunkt Lernen In den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zum Förderschwerpunkt Lernen wird folgende Definition vorgeschlagen: Förderschwerpunkt Lernen

„Sonderpädagogischer Förderbedarf ist bei Kindern und Jugendlichen gegeben, die in ihrer Lern- und Leistungsentwicklung so erheblichen Beeinträchtigungen unterliegen, dass sie auch mit zusätzlichen Lernhilfen der allgemeinen Schulen nicht ihren Möglichkeiten entsprechend gefördert werden können.“ (DRAVE/RUMPLER/WACHTEL 2000, S. 302).

Lernschwierigkeiten

Schwierigkeiten des Lernens (vgl. HEIMLICH 2009; ZIELINSKI 1998) können mit sensorischen, motorischen, kognitiven und sprachlichen Auffälligkeiten, aber auch mit Verhaltensproblemen oder speziellen Aspekten des sozialen Umfeldes bzw. der bisherigen Förderung einhergehen (vgl. SCHMETZ 2000). Meist werden Beeinträchtigungen des Lernens erst mit dem Eintritt in die Schule erkannt (vgl. KANTER 2001) und so mit schulischen Lernproblemen gleichgesetzt. Lernbehinderungen sind wiederum besonders gravierende Lernstörungen (vgl. LAUTH 2000, S. 21). Ihre individuelle Genese reicht jedoch in der Regel bis in die frühe Kindheit zurück. Häufig lassen sich mangelnde Entwicklungsanregungen bereits frühzeitig konstatieren. Mit dem Schuleintritt haben sich die Entwicklungsrückstände meist schon

Lernbehinderungen

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Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen

manifestiert. Im Förderschwerpunkt Lernen wird die Förderung in der allgemeinen Schule als Bezugspunkt der Bestimmung des sonderpädagogischen Förderbedarfs herangezogen, allerdings verbunden mit der Aufforderung, dass die Richtlinien der allgemeinen Schule auf die individuellen Förderbedürfnisse dieser Schülergruppe bezogen werden müssten und von daher zu modifizieren seien.

Inklusion in der allgemeinen Schule

Lernen als Konstruktion Den KMK-Empfehlungen liegt eine Lerntheorie zugrunde, die Lernen als aktiven Interaktionsprozess mit der sozialen Umwelt ansieht. Lernen gilt dabei als „eine durch Erfahrung herbeigeführte Verhaltensänderung“ (SCHMETZ 2000, S. 324). Dazu sind nach KLAUER/LAUTH (1997) „Selbstreflexion“, „Planungsprozesse“, „Befolgung einer Strategie“ und „Zielbewußtsein“ erforderlich (zit. n. SCHMETZ 2000, S. 324). Zugleich ist Lernen stets ein konstruktiver Akt des Individuums im Austausch mit seiner sozialen Umwelt (a. a. O., S. 324 f.). Lerninhalte und Lerngegenstände werden nicht einfach vom Gehirn abgebildet, sie werden von jedem Lernenden gleichsam noch einmal hervorgebracht (konstruiert). Nachdem man innerhalb des radikalen Konstruktivismus zunächst davon ausgegangen ist, dass dieser Konstruktionsvorgang ausschließlich individuell geprägt wird, hat der soziale Konstruktivismus (vgl. GERGEN 2002; für die Lernbehindertenpädagogik: BENKMANN 1998) die soziale Vermitteltheit dieses Konstruktionsvorganges immer klarer gezeigt. So konstruiert nicht jeder Lernende seinen eigenen Lerngegenstand, vielmehr entstehen Lerngegenstände in einem ko-konstruktiven Akt. Für die Entstehung von Lernbehinderungen bzw. Lernstörungen bedeutet dies, dass hier keine individuellen Syndrome vorliegen, sondern vielmehr Probleme beim Lernen, die in ihrem sozialen Kontext zu sehen sind.

Konstruktivistische Lerntheorie

Lernen als Ko-Konstruktion

Moderne Hirnforschung und Lernen In jedem Fall gilt, dass der Mensch und vor allem das menschliche Gehirn gar nicht anders kann als zu lernen, wie Manfred SPITZER, Professor für Psychiatrie aus Ulm, in seinem viel beachteten Wissenschaftsbestseller zum Thema Lernen nicht müde wird zu betonen (2002). Und nichts kann unser Gehirn besser als zu lernen. Die neuere Hirnforschung hat unser Bild vom Lernen nachhaltig gewandelt. Das Bild vom passiv aufnehmenden Lernenden, dem über Instruktionen etwas „beigebracht“ wird – und zwar genau das, was der Lehrende beabsichtigt –, gehört der Vergangenheit an. Lernen ist ein aktiver Vorgang, eine aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt. Und Lernen erfolgt selbst gesteuert. Bereits der Genfer Psychologe und Erkenntnistheoretiker Jean PIAGET (1896–1980) hat uns mit dieser Erkenntnis vertraut gemacht. Aktives „Greifen“, also sensomotorische Handlungen, sind die Basis für das „Begreifen“, also die Denkentwicklung bei Kindern und Jugendlichen. Auch der nordamerikanische Pädagoge und Erziehungsphilosoph John DEWEY (1859–1952) hat mit seinem Erfahrungsbegriff die moderne konstruktivistische Lerntheorie angeregt. Lernerfahrungen haben nach DEWEY stets eine aktive und eine passive Seite. Und nur derjenige kann lernen, der vielfältige Erfahrungen in der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt macht, eine Einsicht, die in reformpädagogischen Konzeptionen von Unterricht und Schule (MONTESSORI, PETERSEN, FREINET usw .) bereits zum festen Bestandteil zählt.

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Gehirn und Lernen (SPITZER)

aktives Lernen

Lernerfahrungen

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Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen

Einflussfaktoren von Lernschwierigkeiten

untergeordnete Bedeutung der Intelligenz im Vergleich zum Vorwissen

Fördereffekte bei LRS unabhängig von Intelligenz

Aber wie kommt es nun zur Entstehung von Lernschwierigkeiten? Ist es nicht doch so, dass Schülerinnen und Schüler mit einer unterdurchschnittlichen Intelligenz eher Lernschwierigkeiten haben als solche mit einer durchschnittlichen Intelligenz und die anderen Einflussfaktoren eher nachrangig sind? Die moderne Lernforschung hat diese Zusammenhänge inzwischen genauer untersucht. Der Einfluss der Intelligenz auf den Schulleistungserfolg wird nach diesen Ergebnissen weitgehend überschätzt. Vielmehr betonen Lernforscher wie Elsbeth STERN (2003) mit großem Nachdruck die Bedeutung der kumulativen Lernprozesse. Viel entscheidender als die Intelligenz ist das Vorwissen für den Schulleistungserfolg z. B. im Bereich Mathematik (vgl. FRITZ/RICKEN 2008; WERNER 2009). Schülerinnen und Schüler mit einem gutem Vorwissen sind sehr wohl in der Lage, eine unterdurchschnittliche Intelligenz auszugleichen. Hingegen schaffen Schülerinnen und Schüler mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz und geringem Vorwissen das keineswegs. Auch die Lernforschung auf dem Gebiet der Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS) hat gezeigt, dass die Intelligenz nicht den entscheidenden Einfluss auf die Fördererfolge bei entsprechenden Fördermaßnahmen hat (vgl. SCHLEIDER 2009). Kinder mit normaler Intelligenz und LRS profitieren in gleicher Weise von Fördermaßnahmen wie Kinder mit unterdurchschnittlicher Intelligenz und LRS (vgl. WEBER 2004).

Konsequenzen für die Diagnose im Förderschwerpunkt Lernen kognitive Einflussfaktoren von Lernschwierigkeiten

kognitive Förderung

direkte Diagnostik

direkte Förderung

Vielfalt der Förderorte

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Um keinen Missverständnissen Vorschub zu leisten: Eine kognitiv orientierte Förderdiagnostik ist weiter notwendig. Kognitive Einflussfaktoren können durchaus mit zur Entstehung von Lernschwierigkeiten beitragen. Für die Förderung kann es von Bedeutung sein, dass wir die möglichen kognitiven Ursachen von Lernschwierigkeiten genauer eingegrenzt haben. Testverfahren mit entsprechendem Intelligenzkonzept liefern bei intensiver Auswertung durchaus Hinweise für die Förderung. Selbst im kognitiven Bereich können Fördererfolge erzielt werden (vgl. KLAUER 1989). Aber die kognitiven Ursachen von Lernschwierigkeiten liefern nur Informationen über einen möglichen Einflussfaktor. Ebenso erforderlich ist ein diagnostischer Blick auf die sensomotorischen, sozialen, emotionalen und sprachlichen Einflussfaktoren. Das Primäre bleibt aber selbst dann im Förderschwerpunkt Lernen die direkte Diagnostik der Lernschwierigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen, um hier auch mit entsprechend direkten Fördermaßnahmen ansetzen zu können (vgl. WEMBER 1999). In der bundesdeutschen sonderpädagogischen Diagnostik ist die indirekte Diagnose und Förderung zu lange betont worden. Im internationalen Zusammenhang werden seit geraumer Zeit direkte Diagnose- und Förderkonzepte verstärkt entwickelt und praktiziert. Die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen erfordert in diesem direkten Sinne eine stärkere Betonung der Schulleistungsdiagnostik – und zwar einer Schulleistungsdiagnostik, die nicht bei der Klassifizierung von Schulleistungsproblemen und bei Gruppenvergleichswerten stehen bleibt. Wir benötigen eine individualisierte Förderdiagnostik im Förderschwerpunkt Lernen, die uns die Grundlagen für eine intensive sonderpädagogische Förderung an unterschiedlichen Förderorten im gesamten Bildungs- und Erziehungssystem liefert (vgl. HEIMLICH/KAHLERT 2012).

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Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen

1.2 Förderdiagnostik im Förderschwerpunkt Lernen Die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen wird aus diesem Grunde auch in den KMK-Empfehlungen als interdisziplinärer Prozess beschrieben. Erst die Kind-Umfeld-Analyse im Anschluss an das Konzept von Alfred SANDER (2002) bietet Aufschluss über die Entstehungszusammenhänge und den Verlauf von Lernschwierigkeiten. Im Einzelnen sind neben dem allgemeinen Lern- und Entwicklungsstand Informationen zu den Bereichen bisheriger Förderung, zum aktuellen schulischen Leistungsstand, zu den sensorischen, motorischen, kognitiven, kommunikativen, emotionalen und sprachlichen Fähigkeiten sowie zu den jeweiligen Lebensumständen erforderlich (vgl. DRAVE/ RUMPLER/WACHTEL 2000, S. 304). Es wird bereits hier deutlich: Sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen beschränkt sich nicht auf das Lern- und Leistungsverhalten – geschweige denn auf eine sog. „Intelligenzschwäche“. Aus der Fülle der individuellen Förderbedürfnisse, die mit diesem Förderschwerpunkt einhergehen, erwachsen weite Überschneidungsbereiche zu den Förderschwerpunkten „Sprache“ sowie „emotionale und soziale Entwicklung“. Von Kindern und Jugendlichen ohne Förderbedarf unterscheiden sich Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen lediglich dadurch, dass sie bei der Auseinandersetzung mit Lernschwierigkeiten intensive Hilfe und Unterstützung benötigen. Das Bildungsziel sonderpädagogischer Förderung im Förderschwerpunkt Lernen bleibt jedoch weiterhin die handlungsfähige, selbstständige und eigenverantwortliche Persönlichkeit (vgl. a. a. O., S. 306). Sonderpädagogische Förderung folgt also auch hier dem subsidiären Grundsatz der „Hilfe zur Selbsthilfe“. Im Sinne einer ökologischen Neuorientierung moderner Lernbehindertenpädagogik (vgl. HEIMLICH 2009) bezieht sich sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt Lernen auf erschwerte Lernsituationen. Nicht nur der Schüler bzw. die Schülerin sind Gegenstand der Förderdiagnostik. Auch das Umfeld wird in die Diagnostik einbezogen. Ressourcen für die sonderpädagogische Förderung ergeben sich sowohl im Kind bzw. Jugendlichen selbst als auch in seinem Umfeld. Gerade angesichts immer knapper werdender Mittel im Bildungsbereich gilt es fortan, die vorhandenen Ressourcen so effektiv wie möglich zu nutzen. Das ist immer dann wahrscheinlicher, wenn sonderpädagogische Förderung in enger Vernetzung geschieht. Die Entscheidung über den Ort der sonderpädagogischen Förderung ist zunächst davon unabhängig. Sonderpädagogischer Förderbedarf kann auch an der allgemeinen Schule realisiert werden – so jedenfalls die Empfehlung der KMK von 1994 und von 1999 für den Förderschwerpunkt Lernen und die UN-Konvention mit der Perspektive der inklusiven Bildung.

Kind-UmfeldAnalyse (SANDER)

Vernetzung der Förderschwerpunkte

erschwerte Lern- und Lebenssituationen

Ressourcenorientierung inklusive Bildung

Methoden der Förderdiagnostik Methodisch ist mit dieser aktuellen Aufgabenstellung sonderpädagogischer Diagnostik besonders eine Abkehr von der einseitigen Orientierung an Tests einhergegangen. Wollen wir erschwerte Lernsituationen förderdiagnostisch in den Blick bekommen, so erhalten gezielt eingesetzte Beobachtungs- und Gesprächsmethoden einen gleichwertigen Rang. Häufig liefern gerade Beobachtungen und Gespräche erst die förderrelevanten Informationen. Allerdings ist hier besonders

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Beobachtung und Gespräch

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Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen

Fehleranalyse

förderdiagnostische Tests

Entwicklungsmodelle

Zone der nächsten Entwicklung (VYGOTSKIJ)

Diagnose und Förderung

darauf zu achten, dass Beobachtungen und Gespräche in einer wissenschaftlich fundierten Weise eingesetzt werden. Dies setzt zuallererst voraus, dass die Ergebnisse protokolliert werden, um so auch für die Überprüfung im Diagnostikteam offen zu sein (vgl. SUHRWEIER/HETZNER 1993, S. 102 ff.). Auch die Analyse von Schülerarbeiten oder die Anfertigung von informellen Aufgabensammlungen (bzw. Screenings) kann für die Förderung wertvolle Hinweise hervorbringen. Das gilt insbesondere für die Fehleranalyse, für die zwischenzeitlich gut fundierte Materialien bezogen auf das Lesen, Schreiben und Rechnen bereitstehen (vgl. SUHRWEIER/HETZNER 1993, S. 140 ff.). In den letzten Jahren hat sich allerdings der Markt für förderdiagnostische Testverfahren deutlich belebt. Für alle schulleistungsrelevanten Bereiche liegen derzeit erprobte Tests vor, die teilweise auch schon in die höheren Jahrgangsstufen hineinreichen (z. B. die Hamburger Schreib-Probe). Diese mehr oder weniger standardisierten förderdiagnostischen Testverfahren sollten den informellen Verfahren in jedem Fall vorgezogen werden. Allerdings liegen nicht für alle förderdiagnostischen Tests auch entsprechende Normwerte vor. Im Zweifelsfall sollte man jedoch im Rahmen der förderdiagnostischen Aufgabenstellung die Aufmerksamkeit stets auf die Förderung richten. Je individueller die Förderdiagnostik ausgerichtet wird, umso weniger sind die Vergleichsdaten mit der Alters- bzw. Klassengruppe von Bedeutung. Neben Kompetenzinventaren, in denen Fähigkeiten von Kindern bzw. Jugendlichen in verschiedenen Entwicklungsbereichen aufgelistet sind, liegen förderdiagnostischen Tests in der Regel bestimmte Entwicklungsmodelle zugrunde (z. B. Entwicklungsmodell schriftsprachlicher Kompetenzen nach GÜNTHER; Entwicklungsmodell mathematischer Kompetenzen nach AEBLI, vgl. HEIMLICH 2009). Der Zusammenhang von Diagnose und Förderung ergibt sich hier aus der Antwort auf die Frage: „Wie weit ist das Kind bzw. der Jugendliche entwickelt?“ Die Feststellung des aktuellen Entwicklungsstandes kann mit dem Hinweis auf die nächsten Entwicklungsschritte verbunden werden. Insofern folgt die Förderdiagnostik prinzipiell dem Modell der „Zone der nächsten Entwicklung“ (ZNE), das auf den russischen Psychologen Lev S. VYGOTSKIJ (2002) zurückgeht. Eine andere Möglichkeit den Zusammenhang zwischen Diagnose und Förderung herzustellen, ergibt sich aus sachstrukturellen Aspekten. Beispielsweise setzt die mathematische Operation der Multiplikation das Grundverständnis der Addition voraus. Von daher ist es folgerichtig, bei Lernschwierigkeiten mit der Multiplikation zunächst zu überprüfen, inwiefern die Addition als vorausgehende Kompetenz bereits gesichert ist. Auch wenn Diagnoseaussagen Ist-Aussagen beinhalten (Deskription) und Förderaussagen demgegenüber Soll-Aussagen umfassen (Präskription) und insofern zunächst im logischen Sinne unverbunden nebeneinanderstehen, so können doch über den Weg der entwicklungsorientierten Modelle und der sachstrukturellen Modelle Verbindungen zwischen Diagnose und Förderung aufgezeigt werden.

Testgütekriterien

qualitative Diagnostik

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Gleichzeitig verändern sich die zugrunde liegenden Testgütekriterien. Während in der quantitativ orientierten Psychodiagnostik ein Testergebnis nur dann als wissenschaftlich fundiert gilt, wenn es den Kriterien Objektivität, Reliabilität und Validität entspricht, wird in der Förderdiagnostik mit qualitativen Diagnostikmodellen

U. Heimlich/S. Lutz/K. Wilfert de Icaza: Ratgeber Förderdiagnostik © Persen Verlag

Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen

gearbeitet. Dietrich EGGERT (1998) weist darauf hin, dass vor dem Hintergrund der konstruktivistischen Erkenntnistheorie objektive Erkenntnisse über die sonderpädagogische Förderpraxis nicht möglich sind. Ein Testurteil wird deshalb auch nicht vollständig unabhängig (bzw. objektiv) von den menschlichen Konstruktionen sein können – geschweige denn das „Objekt“ (im Sinne von „objektiv“) unmittelbar repräsentieren. Wir können im Rahmen der Förderdiagnostik allenfalls eine veränderte Objektivität anstreben. Im konstruktivistischen Sinne ist ein Testergebnis dann objektiv, wenn es eine größtmögliche intersubjektive Übereinstimmung gestattet. Folglich sollte Förderdiagnostik zukünftig auch nur noch in Diagnostikteams stattfinden, in denen großer Wert auf den kommunikativen Austausch (KoKonstruktion) gelegt wird. Im Idealfall wird dieser Austausch auch auf größere Teamrunden (Teamfallbesprechungen) ausgedehnt und die Förderplanung ebenfalls mit einbezogen. Valide ist ein Testergebnis im Rahmen der Förderdiagnostik auch erst dann, wenn es nicht nur auf die Testsituation bezogen werden kann, sondern sich auch in der Fördersituation Gültigkeit einstellt (sog. „externe Validität“). Inwieweit ein Testergebnis über einen längeren Zeitraum hinweg stabil sein sollte (Reliabilität), muss aus förderdiagnostischer Sicht grundsätzlich bezweifelt werden, da die Diagnose ja gerade mit einem Prozess der Intervention zum Zweck der Veränderung des gemessenen Merkmals einhergeht. Insgesamt kann festgehalten werden, dass im Rahmen der Förderdiagnostik im Zweifelsfall die Entscheidung für die angestrebten Fördermöglichkeiten fallen wird. Immer dort, wo standardisierte und normierte Testergebnisse möglich sind, sollte man neben dem individuellen Testwert auch den Vergleichswert mit heranziehen und damit sowohl intraindividuelle als auch interindividuelle Vergleiche ermöglichen.

veränderte Objektivität Diagnostik im Team

externe Validität

Gutachten und Förderplan Diese veränderte methodische Ausrichtung der sonderpädagogischen Diagnostik im Förderschwerpunkt Lernen wirkt sich schließlich auch auf die Gestaltung von Gutachten aus (vgl. HEIMLICH/MÄRZ 2003). Sie entwickeln sich zu sonderpädagogischen Fördergutachten weiter, in denen neben den weiterhin wichtigen Bestandteilen (wie Vorgeschichte, Planung, Durchführung, Ergebnisse und Interpretation) bereits begründete Annahmen über wichtige Aspekte der sonderpädagogischen Förderung mit eingehen. Auch im Fördergutachten wird zwischen der Feststellung des Förderbedarfs und dem Entscheidungsvorschlag für den Förderort strikt getrennt. Als Förderort ist stets auch die allgemeine Schule mit ihren Möglichkeiten in die Überlegung einzubeziehen. Aufbauend darauf enthält der sonderpädagogische Förderplan das ausgearbeitete Förderkonzept mit den didaktisch-methodischen und organisatorischen Vorgaben. Hier wird zusätzlich zum Gutachten besonders der Förderverlauf dokumentiert und nach längeren Förderabschnitten erneut die Wirkung der Fördermaßnahmen evaluiert. Diese Evaluation mündet ggf. wiederum in einen aktualisierten Förderplan. Auf diese Weise entsteht in der förderdiagnostischen Praxis ein Prozess der Lernbegleitung (vgl. HEIMLICH 2002). Im Gesamtüberblick ergibt sich so das folgende idealtypische Modell des förderdiagnostischen Prozesses:

U. Heimlich/S. Lutz/K. Wilfert de Icaza: Ratgeber Förderdiagnostik © Persen Verlag

Fördergutachten

Förderplan

Evaluation Lernbegleitung

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