pro natura magazin

15.03.2016 - Ein beginnender Gerichtsfall in den. Niederlanden und .... jahr die Regierung des Kantons Obwalden, gleich zwei sei- ner fünf Objekte aus ...
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pro natura magazin thema 02 | 2016 März

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Das Natur- und Heimatschutzgesetz ist ein wackliger Meilenstein

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Näher als wir denken Im Calandarudel sollen Wölfe geschossen werden, weil sie Siedlungen zu nahe gekommen sein sollen. Der

Internationale Verantwortung

Bündner Naturfotograf Peter A. Dettling weiss jedoch

Im Nigerdelta ist die 50-fache Ölmenge der Exxon Valdez-

aus jahrelangen Beobachtungen in Kanada, dass die

Katastrophe in die Umwelt gelangt. Die holländische Part­

Nähe zwischen Wolf und Mensch natürlich und unpro­

nerin von Pro Natura hat es nun geschafft, Shell dafür in

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verfolgt ähnliche Ziele.

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blematisch ist.

Europa vor Gericht zu bringen. Eine Schweizer Initiative Milieudefensie

Peter A. Dettling

14 18

Der Mahner

Catherine Leutenegger

Susanna Meyer

Der Sittener Gemeinderat Christophe Clivaz fordert in seinem Heimatkanton ein

Umdenken in Sachen Winter­ tourismus. Dieser müsse sich

diversifizieren, sagt der Pro­ fessor für Nachhaltigkeit.

Seltene Frühlingsbotschafter Die letzten Vorkommen des Frühlings-Adonisröschens beschränken sich auf den Kanton Wallis. In einer mehrjährigen Aktion sind hier nun erfolgreich die Lebensräume der prächtigen Frühlingsbotschafterin aufgewertet worden.

pro natura magazin Mitgliederzeitschrift von Pro Natura – Schweizerischer Bund für Naturschutz

von der Zewo als gemeinnützig anerkannt.

Impressum: Pro Natura Magazin 2/2016. Das Pro Natura Magazin erscheint fünfmal jährlich (plus Pro Natura Magazin Spezial) und wird allen Pro Natura Mitgliedern zugestellt. ISSN 1422-6235 Redaktion: Raphael Weber (raw), Chefredaktor; Florence Kupferschmid-Enderlin (fk), Redaktion französische Ausgabe; Judith Zoller, pro natura aktiv ­ Layout: Vera Trächsel, Raphael Weber. Mitarbeit an dieser Ausgabe: Mirjam Ballmer, Nicolas Gattlen, Andrea Haslinger (ah), Rico Kessler, Eva-Maria Kläy, Sabine Mari, Lorenz Mohler (Übersetzungen), Frédéric Rein, Rolf Zenklusen (zen). Redaktionsschluss Nr. 3/2016: 15.03.2016. Druck: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen. Auflage: 118 000 (85 500 deutsch, 32 500 französisch). Gedruckt auf FSC-Recyclingpapier. An­schrift: Pro Natura Magazin, Postfach, 4018 Basel; Tel. 061 317 91 91 (9–12 und 14–17 Uhr), Fax 061 317 92 66, E-Mail: [email protected]; www.pronatura.ch; P­ K‑40-331-0 Inserate: CEBECO GmbH, We­berei­str. 66, 8134 Adliswil, Tel. 044 709 19 20, Fax 044 709 19 25, [email protected] Inserateschluss 3/2016: 01.04.2016 Friends of the Earth International. Pro Natura ist Gründungsmitglied der Internationalen Naturschutz­union IUCN und Schweizer Mitglied von

www.pronatura.ch Pro Natura Magazin 2/2016

inhalt

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editorial

4 brennpunkt 4 S  tilles Jubiläum: Vor 50 Jahren wurde das Naturund Heimatschutzgesetz (NHG) in Kraft gesetzt – (k)ein Grund zum Feiern. 6 S  chlechter Unterhalt: Bahnböschungen sind erstklassige Horte der Artenvielfalt, deren Pflege ist aber oft nur zweite Klasse.

Ein Gesetz ist nur so gut wie sein Vollzug «Gesetze regeln unser Leben», sagt der Volksmund, oft mit einem leisen Seufzer. Im Naturschutz ist das ähnlich. Zwar sollte der Schutz unserer Natur eigentlich eine Herzensangelegenheit sein oder zumindest als Notwendigkeit betrachtet werden. Doch seien

8 J  uristischer Nebel: Wie sollen internationale Konzerne für Umweltsünden in Drittländern belangt werden können?

wir realistisch: Ohne gesetzlichen Druck wären unsere Gewässer

11 O  ffenes Experiment: Der geplante Abschuss von Wölfen kann unerwartete Folgen haben und zeigt, wie problemorientiert die Jagdverordnung ist.



14 köpfe 16 in kürze 18 news 18 B  unte Exotin: Ein mehrjähriges Projekt will die letzten Schweizer Vorkommen des FrühlingsAdonisröschens sichern.

19 beobachtet 20 service 23 pro natura aktiv 30 shop 32 die letzte

verseucht, würden ganze Landschaften zubetoniert, würde grossflächig Gift versprüht. Genau diese Situation herrschte vor 50 Jahren, als die

eidgenössischen Räte mit grossem Mehr beschlossen, das Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG) einzuführen. Dieses wurde als Zeitenwende betrachtet, als Meilenstein für eine sauberere Umwelt. Ein halbes Jahrzehnt später zeigt sich: Auf dem Papier mag dem NHG diese Signalwirkung immer noch zukommen, in der Praxis hat es jedoch nicht immer diese Wirkung.

Kernproblem ist die Tatsache, dass das NHG mit dem Vollzug

in den Kantonen steht und fällt. Viele Kantone nehmen schon ihre eigenen Pflichten im Umweltbereich nicht immer ernst und scheuen zudem davor zurück, gegen Rechtsbrüche von Drittparteien vorzugehen – oft auch, weil sie wirtschaftliche Interessen höher gewichten.

Pro Natura fällt deshalb oft die undankbare Rolle zu, gegen

unzulässige Projekte rechtlich vorzugehen. Entsprechende Beispiele finden sich in dieser Ausgabe des Pro Natura Magazins. Doch was tun, wenn ein Schweizer Konzern im Ausland schwere Umweltschäden anrichtet und sich dann hinter dem Argument versteckt, dass diese Schäden nicht in seiner Verantwortung stehen, weil sie von Tochterfirmen oder externen Auftragsnehmern begangen worden sind? Ein beginnender Gerichtsfall in den Niederlanden und eine anstehende Initiative in der Schweiz könnten Licht in diese juristische Grauzone bringen (Seite 8).

Mangelnder Gesetzesvollzug setzt auch unserem Tier des

Jahres zu, der Wasserspitzmaus. Besonders in landwirtschaftlich intensiv genutzten Gegenden werden die Grenzwerte im Gewässerschutz oft massiv überschritten; in den Bächen und Flüssen finden sich Rückstände von Dünger und zahlreichen Pestiziden. Darunter leidet die Bachanwohnerin. Das Pro Natura Titelbild: Die Einführung des Natur- und Heimatschutzgesetzes (NHG) gilt als Meilenstein im Schweizer Naturschutz. Tatsächliche Meilensteine finden sich im gesamten Kanton Bern; auf den sogenannten Stundensteinen wird die historische Marschdistanz zum Zytgloggeturm angezeigt. Passend zur Symbolik hat die Redaktion diesen Stundenstein in eine naturnahe Umgebung gesetzt. Fotografen: Felix Brodmann (Stundenstein), Prisma/Zoonar (Landschaft). Fotomontage: Vera Trächsel.

Pro Natura Magazin 2/2016

Magazin Spezial, das dieser Nummer beiliegt und damit den Schwerpunkt dieser Ausgabe bildet, lässt Sie eintauchen in die (Unterwasser-)Welt der Wasserspitzmaus. Raphael Weber, Chefredaktor

brennpunkt

Keystone (3x)

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Ein Meilenstein mit mässiger Signalwirkung Vor 50 Jahren gab sich die Schweiz ihr erstes, bis heute gültiges Naturschutzgesetz. Die politische Zustimmung zum Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG) war breit, der Handlungsbedarf gross. Doch die damaligen Einwände decken sich mit den heutigen Defiziten.

Trotz der Aufbruchstimmung zeigen sich in den 1950er- und 1960er- protestieren gegen die geplante Flutung des Rheinfalls, die Folgen der Kehrseite der Mobilität. Die Einführung des NHG ist eine Reaktion auf

Die Schweiz im Jahr 1966: Das ist eine Gesellschaft im Wachs-

Hässliche Schaumkronen zeigen der breiten Bevölkerung dras-

tumstaumel. 20 Jahre nach den Entbehrungen zweier Welt-

tisch, dass etwas für den Schutz von Natur und Landschaft ge-

kriege und einer krisenhaften Zwischenkriegszeit geht es für

tan werden muss.

breite Schichten des 6-Millionen-Volkes materiell aufwärts: Transistorradios, Kühlschränke und Fernsehgeräte halten Ein-

Langer Atem trägt Früchte

zug in immer mehr Haushaltungen. Der Automobilismus wird

Die konkreten Bemühungen um gesetzliche Regelungen für

zum Massenphänomen, das Autobahnnetz ist in vollem Bau.

den Natur-, Landschafts- und Heimatschutz gehen bis in die

In der Landwirtschaft erlauben neue Maschinen und der rasch

1920er-Jahre zurück. Eine entsprechende Motion lehnten die

ansteigende Einsatz von Kunstdünger und Pestiziden unge-

Eidgenössischen Räte 1924 ab. Einige Jahre später gelangte

ahnte Ertragssteigerungen.

auch Pro Natura, damals noch als Schweizerischer Bund für



Doch das ungezügelte Wachstum hat seine Kehrseiten.

Naturschutz (SBN), erfolglos ans Parlament. Immerhin rief der

Der anschwellende Strassenverkehr fordert einen heute un-

Bundesrat 1936 die Eidgenössische Natur- und Heimatschutz-

glaublich erscheinenden Blutzoll. Allein 1966 sterben 1300

kommission (ENHK) ins Leben, die bis heute existiert.

Menschen auf Schweizer Strassen. Steigende Komfortansprü-



che und ein rasches Bevölkerungswachstum führen zu einer

sicht in die Notwendigkeit eines verstärkten Natur- und Land-

fieber­haften Bautätigkeit. Vertraute Landschafts- und Orts-

schaftsschutzes stetig. Am 27. Mai 1962 schliesslich stimmte

Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die politische Ein-

bilder verschwinden rasant. Schwelende Abfallgruben künden vielerorts vom neu-

das Schweizer Stimmvolk, das

«Keine Zaghaftigkeit mehr»

en Wegwerfzeitalter.

Im Kulturland müssen

unzählige Hecken, Mäuer­ chen, Wiesenbäche und Obstbäume den neuen Maschinen weichen. Am spek-

tigender Mehrheit einer Ver-

«Die stürmische Entwicklung von Wirtschaft, Technik und Verkehr bedroht das Antlitz unserer Heimat jeden Tag stärker; sie lässt beim Schaffen von gesetzlichen Abwehrmitteln keine Zaghaftigkeit mehr zu.»

takulärsten zeigen sich die neuen Umweltprobleme aber an den Gewässern: Viele Bäche schillern in allen Farben von blutrot bis giftgrün.

sich damals noch auf die Männer beschränkte, mit überwälfassungsbestimmung über den Natur- und Heimatschutz zu. Diese hielt (und hält bis heute) fest, dass Natur- und Heimatschutz Sache der Kantone ist. Der Bund wurde aber ver-

Aus der Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über den Natur- und Heimatschutz, 12. November 1965.

pflichtet, bei der Erfüllung seiner Aufgaben auf Natur- und Heimatschutz Rücksicht zu nehmen. Zudem erhielt er die Pro Natura Magazin 2/2016

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Möglichkeit, Vorschriften zum Schutz der Pflanzen- und Tier-



So zum Beispiel im Auenschutz: Dort versuchte im Vor-

welt zu erlassen. Schliesslich stimmten die Eidgenössischen

jahr die Regierung des Kantons Obwalden, gleich zwei sei-

Räte im Sommer 1966 einstimmig dem Bundesgesetz über den

ner fünf Objekte aus dem Inventar der Auen von nationaler

Natur- und Heimatschutz (NHG) zu. Damit wurde also das

Bedeutung streichen zu lassen, weil deren Schutz auf loka-

NHG vor 50 Jahren in Kraft gesetzt.

len Widerstand stösst. Gleichzeitig hat der Kanton Aargau zusammen mit Pro Natura ein sehr grosses Renaturierungs­

Grosse kantonale Unterschiede

projekt in einer Aue von nationaler Bedeutung am Rhein bei

Und was hat es der Natur in der Schweiz gebracht, das NHG?

Rietheim realisiert.

Der nüchterne Kommentar im «Schweizer Naturschutz» – der Vorgängerin des Pro Natura Magazins – vom August 1966 gilt

Rechtlichen Auftrag vollziehen

bis heute ohne Abstriche: «Wir haben bereits früher (…) vor

Zum 50. Geburtstag des NHG braucht es also neuen Schwung

übertriebenen Erwartungen gewarnt. Diese Warnung ist des-

im konkreten Naturschutz-Vollzug. Dazu muss das Parlament

halb besonders angebracht, weil ja Artikel 1 des Verfassungs-

endlich den längst überfälligen Aktionsplan zur Strategie Bio-

artikels 24sexies klar festhält, dass Natur- und Heimatschutz

diversität Schweiz beschliessen und die nötigen Mittel zur so-

Sache der Kantone sind. In Zusammenarbeit mit den Sektio-

fortigen Umsetzung bereitstellen. Das Projekt steckt seit meh-

nen wird es ein wichtiges Anliegen des SBN sein, die beste-

reren Jahren in der politischen Pipeline. Damit würde unter

henden kantonalen Gesetze zu überprüfen und (…) anzu-

anderem dem qualitativen und quantitativen Verlust von ge-

passen.» Dies macht deutlich, dass das NHG mit dem unter-

schützten Lebensräumen wie Mooren oder Trockenwiesen

schiedlichen Pflichtbewusstsein der einzelnen Kantone steht

entgegengewirkt.

und fällt – vor 50 Jahren wie heute.





versenkt werden, müssen die Organisationen des Natur- und

Trotzdem: Das NHG bleibt, obwohl in den 50 Jahren

Sollte es auf den St. Nimmerleinstag verschoben oder ganz

seiner Existenz keiner Totalrevision unterzogen, weiterhin

Heimatschutzes prüfen, wie sie einen Volksentscheid für den

grundsätzlich tauglich. Fachleute sind sich nämlich einig: Es

Naturschutz in der Schweiz herbeiführen können. Und zwar –

sind nicht fehlende Inhalte oder systematische Mängel im ge-

ganz im Sinne der bundesrätlichen Botschaft von 1966 – ohne

setzlichen Regelwerk, die dazu führen, dass die Biodiversi-

jede Zaghaftigkeit! Eine deutliche Mehrheit der Schweize-

tät und die Landschaften der Schweiz immer noch einer be-

rinnen und Schweizer unterstützt nämlich gemäss einer gfs-­

drohlichen Erosion unterliegen. Was heute bitter fehlt, ist der

Umfrage von 2010 verstärkte politische und praktische Mass-

tatkräftige Vollzug des NHG und der entsprechenden kanto-

nahmen für den Schutz der Biodiversität in der Schweiz.

nalen Gesetze. Und das funktioniert in den einzelnen Kantonen tatsächlich unterschiedlich gut. Pro Natura Magazin 2/2016

RICO KESSLER leitet bei Pro Natura die Abteilung Politik & Internationales.

Fotos St

Jahren auch die Schattenseiten der Wachstumspolitik: Aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger ersten Pestizideinsätze werden offensichtlich, und über 1000 Verkehrstote pro Jahr zeigen die diese Entwicklung.

undenste

in: Felix

Brodman n

brennpunkt

Raphael Weber

brennpunkt

Links das Paradebeispiel einer gut gepflegten und ökologisch vielfältigen Bahnböschung, rechts das Gegenteil: Das Schnittgut wird nicht abgeführt, die Wiese verfettet, lichtkeimende Pflanzen verschwinden.

Vernachlässigte Perlen Bahnböschungen stellen gerade im intensiv genutzten Mittelland seltene «Hotspots» der Biodiversität dar. Doch die SBB foutiert sich oft um deren fachgerechte Pflege, vielerorts sogar um die rechtlichen Naturschutzauflagen. Damit profitiert sie von Lücken im Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG). Mit der Trittsicherheit einer Berggeiss klettert Markus Staub

Grad Gefälle. Das geschnittene Gras lässt er trocknen, bevor es

die steile Bahnböschung hoch. Oben auf den Gleisen braust

zusammengerecht und zu Ballen gepresst wird. «Weiter aus-

ein Intercity-Zug Richtung Basel. Staub aber interessiert sich

magern» will er die Böschung, damit hier, mitten in der Stadt

kaum dafür, im Fokus hat er einen Wildrosenstrauch, den er

Brugg (AG), eine Trockenwiese gedeiht, die seltenen Tier- und

zurückschneiden will. Seit bald 30 Jahren pflegt er gemein-

Pflanzenarten Lebensraum bietet.

sam mit Mitgliedern des lokalen Naturschutzvereins diese



Böschung.

Hang gemacht hat: Porträts von jungen Schlingnattern, von



Ein- bis zweimal im Jahr fährt er mit dem Balkenmäher

Schachbrettfaltern, Zauneidechsen, Aufrechtem Ziest, Spros-

über den 400 Meter langen und 30 Meter breiten Hang, 70

senden Felsennelken. «Sie sind meine Motivation», erklärt

Staub holt einen Ordner hervor und zeigt Fotos, die er am

Pro Natura Magazin 2/2016

brennpunkt

Staub, der in einem Ökobüro mit Schwerpunkt Biodiversität/



Landwirtschaft tätig ist.

gesetz (NHG) müssen die Gemeinden und die Kantone dafür

Gemäss dem eidgenössichen Natur- und Heimatschutz-

Vorzeigeprojekt zum Nulltarif

Doch sie scheuen sich, die SBB einzuklagen, zu gross ist der

Eine Böschung allein ist ihm aber nicht genug; Staub hat Um-

juristische Aufwand. Und das Bundesamt für Umwelt (Bafu)

fassenderes im Sinn: Er will im Grossraum Brugg die Bahn­

reagiert erst bei krassen Verstössen mit einer Behördenbe-

sorgen, dass die Schutzgüter regelkonform gepflegt werden.

linien als Ökokorridore nutzen und hat im Auftrag des Kan-

schwerde. Beispielsweise, wenn ein kantonaler Entscheid die

tons Aargau ein Pilotprojekt lanciert. Bahnlinien böten ideale

Umweltgesetzgebung des Bundes schwer verletzt oder ein

Voraussetzungen für die ökologische Vernetzung im Siedlungs­

nicht haltbares Präjudiz schafft. «Mangelhafter Vollzug» hin-

gebiet, erklärt Staub. Oft sind sie im intensiv genutzten Mittel-

gegen lässt sich kaum vor Gericht bringen, weil hierfür meist

land die letzten Orte mit einer besonders grossen Artenvielfalt – also sogenannte «Hotspots». «Vernetzungsmöglichkeiten gibt es hier also fast zum Nulltarif», meint Staub.

zuverlässige Daten und verbindliche Fristen fehlen.

Das Bafu strebt deshalb in der «Causa Bahnböschungen»

eine pragmatische, gesamtschweizerische Lösung an. Auf sei-

Das Projekt ist gut unterwegs: Im Auftrag des Kantons und

ne Initiative hin liess die SBB 2008/2009 zusammen mit dem

der SBB haben Bauern, der Verein Naturwerk, lokale Natur-

Bundesamt für Verkehr (BAV) ein «Konzept für einen natur­

schutzorganisationen und die Sektion Pro Natura Aargau in

schutzgerechten Böschungsunterhalt» erstellen. Das Kon-

den letzten Jahren Dutzende Bahnböschungen aufgewertet

zept sieht vor, dass die zumeist aufwändigere Naturschutz-

und interessante Mosaike aus Magerwiesen, extensiv genutz-

pflege sowie Ersatzmassnahmen aus Bauprojekten der SBB

ten Weiden, Altgrasbereichen, Dornhecken und Ruderalflächen

auf Schwerpunktgebiete konzentriert werden. Diese Schwer-

geschaffen.

punkte umfassen rund 20 Prozent aller gehölzfreien Böschun-



gen der SBB und sollen «flächendeckend nach ökologischen

Die Arbeiten in kommunalen und kantonalen Schutzzonen

werden grösstenteils vom Kanton Aargau bezahlt – obschon

Grundsätzen unterhalten» werden. Dafür sind gemäss Kon-

die SBB als Grundeigentümerin rechtlich dazu verpflichtet ist,

zept zusätzliche Kosten von jährlich 1,7 bis 2,7 Millionen

den Wert der Schutzobjekte zu erhalten und die dafür notwen-

Franken nötig.

digen Kosten zu tragen. Tatsächlich aber zahlt die SBB für die Pflege der Böschungen lediglich 35 Rappen pro Quadratmeter.

SBB sistiert Pflegekonzept

Das entspricht den Kosten für den sogenannten «Regelunter-

Nun aber zeigt sich, dass das Konzept gar nicht umgesetzt

halt». Damit wird von der Schiene aus, meist nachts, das Bord

wird; die SBB hat es kurzerhand sistiert, wie Albert Mül-

einmal jährlich gemulcht; zerstückeltes Gras lässt man liegen.

ler, Leiter Natur/Naturrisiken der SBB, bestätigt. Müller

Was zur Folge hat, dass lichtkeimende Pflanzen verschwinden

nennt juristische Gründe: Es sei rechtlich nicht möglich be-

und die einst mageren Wiesen zunehmend «verfetten» und ver-

ziehungsweise riskant, verfügte Auflagen neu auszulegen

brachen. Bis nur noch wenige Pflanzen- und Tierarten übrig

oder Ersatzmassnahmen ausserhalb vom Standort eines Ab-

bleiben, darunter viele Neophyten.

baus von Naturwerten in Schwerpunkt-Gebieten anzulegen. Dem widerspricht das Bafu. «Der rechtliche Rahmen bietet

Entwertung von Lebensräumen

genug Spielraum», erklärt Laurence von Fellenberg von der

Das Problem ist erkannt: «Der derzeitige Regelunterhalt führt

Sektion Landschaftsmanagement. «Mit einem gesamtschwei-

langfristig zu einer Entwertung von wertvollen Lebens­

zerisch einheitlichen und genehmigten Konzept würde die

räumen», erklärt Yvonne Schwarzenbach von der Abteilung

SBB die Grundlage schaffen, um die nötigen Änderungen

«Natur und Landschaft» des Kantons Aargau. Davon betrof-

vorzunehmen.»

fen sind auch rechtskräftig ausgewiesene Naturschutzflä-



Ob mit oder ohne Schwerpunkte-Strategie, die SBB soll-

chen. Auf einer Bahnböschung in Boswil (AG) entdecken

te sich in jedem Fall an die Auflagen des NHG halten. Ein

wir an diesem nassen Januartag 2016 Schnittgut, das halb

Blick ins Budget nährt indes Zweifel. Die Bundesbahnen ha-

verfault auf der ganzen Fläche herumliegt.

ben die Mittel für den Grünunterhalt nicht etwa erhöht, son-



dern gekürzt: 2015 standen dafür 400 000 Franken weniger

Über drei Kilometer Böschung sind im Kulturlandplan

der Gemeinde als «Magerwiese» ausgeschieden; Paragraf

zur Verfügung als 2008 (rund 13 Millionen Franken). Damit

19 der Bau- und Nutzungsordnung verlangt, dass man hier

wird die SBB ihren Auftrag kaum erfüllen können. Die auf-

mäht und das Schnittgut abführt. Auf den Regelverstoss an-

gewerteten Böschungen in Brugg dürften also schweizweit

gesprochen, erklärt Gemeindeammann Michael Weber, dass

eine Rarität bleiben.

er davon «keine Kenntnis» habe. Man wolle den Fall nun prüfen. Pro Natura Magazin 2/2016

NICOLAS GATTLEN arbeitet als freier Journalist.

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brennpunkt

«Bei der Frage der Verantwortung stochern wir im juristischen Nebel» In Holland muss sich der Ölkonzern Shell vor Gericht für die Umweltvergehen seiner Tochterfirma in Nigeria verantworten. Sind ähnliche Klagen auch in der Schweiz möglich? Rechtsprofessorin Christine Kaufmann klärt die wichtigsten Punkte. Pro Natura: Frau Kaufmann, in Den Haag hat jüngst ein Richter entschieden, dass der Ölkonzern Shell vor einem holländischen Gericht für die Verfehlungen seiner Tochterfirma in Nigeria eingeklagt werden kann (siehe Text rechts). Die Kläger sprechen von einem «bahnbrechenden Urteil für den Umweltschutz und die Menschenrechte». Teilen Sie diese Einschätzung? Christine Kaufmann: Ich bin da etwas vorsichtiger. Man muss nun abwarten, wie sich der Prozess entwickelt, ob es zu einer Verurteilung kommt. Dass sich aber ein Mutterkonzern für die Umweltvergehen seiner Tochter vor Gericht verantworten muss, ist tatsächlich neu, jedenfalls in Europa. Wird das Urteil nun den Weg freimachen für ähnliche Prozesse auch ausserhalb Hollands? Zum Beispiel in der Schweiz? Juristisch gesehen hat der holländische Entscheid keine Auswirkungen auf andere Länder, auch nicht auf die Schweiz. Jedes Land wendet grundsätzlich seine eigenen Gesetze an und entwickelt eine eigene Rechtsprechung. Bei uns sind Mutterhaus und Tochtergesellschaft zwei eigene, rechtlich selbst­ ständige Einheiten. Es gibt in der Schweiz also keine Möglichkeit, das Mutterhaus für die Verfehlungen der Tochter einzuklagen? Ganz ausgeschlossen ist das nicht. Eine Tochter kann zum Beispiel rechtlich von der Muttergesellschaft völlig unabhängig sein, faktisch aber von ihr gelenkt und kontrolliert werden. In solchen und wenigen weiteren Situationen kann die Muttergesellschaft unter Umständen für Handlungen der Tochter verantwortlich gemacht werden. Aus dem Umweltbereich sind mir allerdings keine Gerichtsentscheide bekannt – wir stochern hier tatsächlich noch etwas im juristischen Nebel.

 Pro Natura Magazin 2/2016

brennpunkt

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Keystone

«Die Konzernverantwortungsinitiative folgt einem internationalen Trend.» Professorin Christine Kaufmann

Friends of the Earth bringen Shell vor Gericht Im Nigerdelta sind in den letzten 50 Jahren aus Pipeline-Lecks geschätzte 1,5 Millionen Tonnen Rohöl in die Wälder und Sümpfe geflossen (das entspricht 50 Exxon Valdez-Katastrophen). Mit verheerenden Folgen für die Bauern und Fischer. 2008 forderten vier betroffene Bauern aus Nigeria zusammen mit der Niederländischen Gruppe von «Friends of the Earth» (FoE) – Partnerorganisation von Pro Natura im globalen FoE-Netzwerk – vor einem Gericht in Den Haag (NL), dass der Ölkonzern Shell ihre Felder und Fischgründe wieder instand setzt und für ihre finanziellen Verluste aufkommt. Zudem sollte Shell dafür sorgen, dass die Pipelines künftig korrekt gewartet und auch vor Sabotageakten geschützt werden. 2013 wies das Gericht die Klage der Bauern ab – für den Schaden sei allein Shell Nigeria verantwortlich und nicht der britisch-niederländische Mutterkonzern. Wo­ raufhin die Bauern in Berufung gingen. Nun hat im Dezember 2015 das Berufungsgericht entschieden, dass der Mutterkonzern Shell vor einem niederländischen Gericht für die Verfehlungen der Tochterfirma belangt werden kann und dass Shell alle internen Dokumente zu diesem Fall freigeben muss. Der Prozess wird dieses Jahr weitergeführt. nig istock

www.milieudefensie.nl/english/shell/courtcase

Luftaufnahme des ölverseuchten Nigerdeltas. Pro Natura Magazin 2/2016

Im Visier der niederländischen Justiz: der Ölkonzern Shell.

Keystone/Ruetschi

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vorpresche und Schweizer Firmen massiv benachteiligt würden. Die Konzernverantwortungsinitiative folgt einem internationalen Trend. 2011 hat der UNO-Menschrechtsrat die «Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte» verabschiedet. Da­r in ist festgehalten, dass die Unternehmen mit einer konsequenten Sorgfaltspflicht Menschenrechtsverletzungen vermeiden und Staaten die Menschenrechte auch gegenüber Bedrohun-

Konzerne in die Verantwortung nehmen

gen von wirtschaftlichen Akteuren schützen müssen. Im Falle erlittener Menschenrechtsverletzungen sollen die Geschädig-

Internationale Konzerne stehen immer wieder negativ in den Schlagzeilen, weil sie Menschenrechte und Umweltstandards verletzen. Das «Business & Human Rights Resource Centre» dokumentiert auf seiner Webseite akribisch Hunderte solcher Fälle. Darunter sind auch mehrere Unternehmen und Konzerne mit Sitz in der Schweiz, so etwa Nestle. Bekannt sind etwa Fälle von Kinderarbeit auf Kakaoplantagen, von unmenschlichen Arbeitsbedingungen in Textilfabriken und Minen oder von gravierenden Umweltverschmutzungen beim Rohstoffabbau. Eine Allianz von 66 Organisationen will nun gegen solche Geschäftspraktiken vorgehen und hat dazu eine Volksinitiative lanciert. Der Initiativtext sieht vor, dass für Schweizer Firmen und Schweizer Teile von multi­ nationalen Unternehmen neu eine Sorgfaltsprüfung eingeführt wird. Das bedeutet: Die Konzerne müssen überprüfen, ob durch Tätigkeiten im Ausland Menschenrechte und Umweltstandards verletzt werden, und nötigenfalls handeln. Missachten die Konzerne ihre Sorgfaltsprüfungspflicht, kann in der Schweiz geklagt werden, auch für Schäden im Ausland. Die Initianten gehen davon aus, «dass die meisten Konzerne aufgrund drohender Kosten und eines möglichen Imageverlustes von sich aus die notwendigen Massnahmen ergreifen». Die Unterschriftensammlung läuft bis am 21. Oktober 2016. Pro Natura wird die Initiative voraussichtlich unterstützen. nig

ten Zugang zu Wiedergutmachungsmechanismen haben. Die OECD hat diese Prinzipien 2011 übernommen und um das Thema Umwelt erweitert. Als Mitglied der UNO und der OECD sollte die Schweiz diese Prinzipien umsetzen. Das ist so. Der Bundesrat hat deshalb 2015 ein Positionspapier zur gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen verabschiedet. Parallel dazu wird derzeit ein Nationaler Aktionsplan zur Umsetzung der UNO-Leitprinzipien erarbeitet.

«Völkerrechtlich gibt es heute praktisch nur verbindliche Pflichten für Staaten, nicht für Unternehmen.»

www.business-humanrights.org www.konzern-initiative.ch

Dann rennen die Initianten offene Türen ein? Nun, die UNO- und OECD-Leitsätze verlangen zwar von den Unternehmen eine Sorgfaltsprüfung, diese ist aber nicht rechtsverbindlich. Völkerrechtlich gibt es heute praktisch nur verbindliche Pflichten für Staaten, nicht für Unternehmen. Die Initianten hingegen wollen weiter gehen und die Unternehmen nicht nur moralisch, sondern rechtlich zur Sorgfalts­prüfung verpflichten. Gemäss Initiative drohen den Unternehmen Klagen, wenn sie im Ausland Umweltnormen verletzen. Ist zu befürchten, dass die Firmen bei einer Annahme der Initiative ihre Tätigkeiten in Länder mit «weicheren» Umweltauflagen verlegen?

 Würde die Annahme der Konzernverantwortungsinitiative

Kaum. Die Standortwahl hängt ja nicht nur von den Umwelt­

(siehe Text oben) hier Klarheit schaffen?

auflagen vor Ort ab. Auch ganz andere Faktoren wie zum Bei-

Ja und nein. Die faktische Kontrolle wäre dann zwar eindeu-

spiel die Sicherheitslage, rechtsstaatliche Garantien, Infra­

tig mit Verantwortung verbunden. Gleichzeitig wirft die Initi-

struktur oder Lebensqualität für die Mitarbeitenden spielen

ative aber auch neue Fragen auf und birgt damit Stoff für neue

bei solchen Entscheiden eine zentrale Rolle.

Rechtsunsicherheiten. Entscheidend wird sein, wie das Gesetz ausformuliert wird. Herzstück der Initiative ist die Sorgfaltsprüfungspflicht für Unternehmen. Die Gegner argumentieren, dass die Schweiz

NICOLAS GATTLEN arbeitet als freischaffender Journalist. Professorin Christine Kaufmann lehrt an der Universität Zürich Staats-, Völker- und Europarecht. Sie ist Mitgründerin des Kompetenz­ zentrums für Menschenrechte der Universität Zürich.

Pro Natura Magazin 2/2016

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Ein Experiment mit offenem Ausgang Nach mehreren Wolfssichtungen haben die Behörden zwei Wölfe des Calandarudels zum Abschuss freigegeben. Dies zeigt die Schwächen der eidgenössischen Jagdverordnung auf, die problem- statt lösungsorientiert ist. Peter Dettling

Begegnungen mit Mitgliedern der Calanda-Wolfsfamilie waren

Grundlage. Pro Natura warnte, dass mehr Probleme und Unklar­

dem Naturfotografen Peter Dettling in den letzten Monaten kei-

heiten geschaffen würden, anstatt Lösungen für eine konflikt­

ne vergönnt (siehe Interview folgende Doppelseite), obwohl er

arme Wolfspolitik anzubieten.

viel Zeit im Wolfsterritorium verbracht hat. Ab und zu stiessen jedoch Dorfbewohner überraschend auf einen Wolf.

Keine aussergewöhnlichen Begegnungen



28 dieser von den Wildhütern protokollierten Begegnungen

Aus heutiger Sicht bestätigt sich dies: Begegnungen zwischen

wurden als unerwünscht oder problematisch eingestuft. Mehr

Wolf und Mensch in dessen Aktivitätszeit sind nichts Problema-

als die Hälfte davon ereignete sich jedoch in der natürlichen

tisches. Die Annäherung von Wölfen ans Siedlungsgebiet, wenn

Aktivitäts­zeit des Wolfes – in der Dämmerung oder sogar bei

es dort Futter zu holen gibt, ist ebenfalls nicht aussergewöhn-

Dunkelheit. Ein Drittel der Beobachtungen wurden bei Einzel-

lich. Auch dass Wölfe die Infrastrukturen der Menschen nicht

höfen oder Maiensässen gemacht und zehn Prozent bei Tages-

meiden und Strassen oder Wege sogar nutzen, kann überall in

licht am Dorfrand.

der Welt beobachtet werden.

Doch die Jagdverordnung und die im neuen Wolfskon-

Unklarer Erziehungseffekt

zept veröffentlichte Einschätztabelle für Wolfsverhalten sind so

Die 28 Fälle wurden von den kantonalen Jagdverwaltungen

konzi­piert, dass all diese Ereignisse als problematisch oder so-

und dem Bundesamt für Umwelt (Bafu) als Habituierung de-

gar als potenzielle Gefährdung von Menschen eingestuft werden

klariert. Mit dem Abschuss von zwei Jungwölfen in Siedlungs­

können. Das sorgt für Unsicherheit.

nähe und unter Beisein weiterer Tiere sollen die überlebenden



Tiere deshalb «erzogen» werden. Ob dies eintritt, ist völlig of-

schussbewilligung eingereicht. Die juristische Einschätzung er-

fen. Studien, ob solche Abschüsse einen Effekt haben, gibt es

gab, dass damit kaum Verbesserungen an den mangelhaften ge-

Pro Natura hat dennoch keine Beschwerde gegen die Ab-

nicht. Die Behörden bewilligten also ein Experiment mit offe-

setzlichen Grundlagen erreicht werden können. Pro Natura legt

nem Ausgang.

den Schwerpunkt auf die politische Arbeit und engagiert sich



für eine unaufgeregte Debatte über den Wolf und die Nachbar-

Dies ist der erste Fall eines Regulationsabschusses, wie ihn

die kürzlich revidierte Jagdverordnung zulässt. Schon damals

schaft mit ihm.

bezeichnete Pro Natura die von Bundesrätin Leuthard ange-

MIRJAM BALLMER ist bei Pro Natura zuständig für die Wolfspolitik.

ordnete Änderung als politisch motiviert und ohne fachliche

www.pronatura.ch/grossraubtiere

Pro Natura Magazin 2/2016

brennpunkt

Peter Dettling

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«Der Wolf geht dorthin, wo seine Nahrung ist» Der Bündner Naturfotograf Peter Dettling verfolgt die Wölfe am Calanda intensiv, während mehreren Jahren hat er auch in Kanada Wölfe beobachtet. Die derzeitigen Entwicklungen bereiten ihm Sorge. Pro Natura: Wir befinden uns am Rand des Calandamassivs im bündnerischen Felsberg – in einem Dorf, wo der Wolf manchmal den Menschen sehr nahe kommt. Herr Dettling, wie reagieren die Leute darauf? Peter Dettling: Ich habe rund um das Calandamassiv mit vielen Leuten geredet, auch mit Jägern und Schafbauern. Die Haltung gegenüber dem Wolf ist viel positiver als erwartet. Das zeigt auch eine Umfrage vom Sommer 2015: Darin erklären 70  Prozent der Bündnerinnen und Bündner, den Wolf zu tolerieren oder seine Rückkehr sogar zu fördern. gesömmerten Schafe schweizweit den Wölfen zum Opfer falWarum kommt der Wolf so nahe zu den Siedlungen?

len; der Anteil anderer Schäden wie Steinschlag, Verluste durch

Im Winter leben die Wölfe eher als Nomaden. Der Wolf geht

wildernde Hunde usw. liegt weit höher.

dorthin, wo seine Nahrung ist. Er folgt dem Wild, das sich vor allem im Winter in die Hänge über dem Dorf zurückzieht. In

Können Wölfe Menschen gefährden?

der Nacht kommt das Wild herunter auf die freien Felder, dort

Unter der Berücksichtigung, dass wir die Tollwut eliminiert ha-

gibt es dann manchmal Wolfsrisse.

ben und sehr robuste Wildtierpopulationen vorfinden, stellen Wölfe in unseren Breitengraden für den Menschen eine sehr geringe Gefahr dar. Das Risiko, in den Alpen von einer Mutterkuh angegriffen zu werden, ist viel grösser. Wölfe versuchen

«Das Risiko, in den Alpen von einer Mutterkuh angegriffen zu werden, ist viel grösser.»

Direktbegegnungen in der Regel zu vermeiden. Die ab und zu

Peter A. Dettling

zeigen Studien und meine jahrelangen persönlichen Beobach­

beobachtete Neugier gegenüber menschlichen Aktivitäten ist normal und betrifft in erster Linie Jungwölfe. Mit dem Erwachsenwerden kehrt die natürliche Scheu meistens zurück. Das tungen in Kanada.

Wie viele Wölfe leben rund um das Calandamassiv?

Ist Kanada vergleichbar mit der Schweiz?

Das weiss niemand genau. Aufgrund von gesichteten Spuren

Zweifelsohne. Das Grundverhalten der Wölfe ist gleich. Das Ge-

vermute ich, dass die Calanda-Wolfsfamilie im Moment aus

biet im Banff Nationalpark wird jedoch viel intensiver touris-

acht Tieren besteht.

tisch genutzt. Die Wölfe teilen das Gebiet dort mit rund acht Millionen Touristen pro Jahr. Trotz der Nähe von Wolf und

Wie viele Nutztiere wurden gerissen?

Mensch ist das Zusammen­leben unproblematisch.

Letztes Jahr gab es auf der Bündner Seite keinen einzigen Fall; im Kanton St. Gallen wurden sieben Ziegen und ein Kalb ge- Trotzdem gibt es viele Menschen, die sich vor ihm fürchten ... rissen. Dazu muss man festhalten, dass nur ein Bruchteil der

Natürlich. Der Schatten der letzten paar Jahrhunderte – mit Pro Natura Magazin 2/2016

brennpunkt

Wölfe nutzen menschliche Infrastruktur, und auch deshalb kann es zu Begegnungen mit Menschen kommen – so wie bei diesem Wolf, den Peter Dettling im kanadischen Banff-Nationalpark fotografiert hat.

dem Rotkäppchen und der Verteufelung des Wolfes durch

sich auch mit Abschüssen nicht vermeiden, dass dort manch-

Staat und ­K irche – ist lang und geistert noch in unseren Köp-

mal ein Wolf jagen geht und in der Dämmerung gesichtet wird.

fen herum. Teil des Problems ist, dass bei uns der allgemei-

Der Wolf muss dies auch tun, wenn er überleben will.

ne Wissens­stand über das Verhalten der Wölfe teilweise erschreckend tief liegt – auch bei den Wildhütern. Statt in Sa-

Welche Rolle spielen die Luderplätze, mit denen die Jäger

chen Wolfsverhalten vermehrt aufzuklären, haben die Kantone

Füchse mit Fleisch anlocken?

St. Gallen und Graubünden im Dezember 2015 eine Abschuss­

Luderplätze locken nicht nur Füchse, sondern auch Wölfe an.

bewilligung für zwei Jungwölfe erteilt. Das ist ein sehr frag-

Diese Luderplätze in der Nähe von Siedlungen oder – wie bei

würdiges Experiment.

einem mir bekannten Fall – in der Nähe von Schafherden anzulegen, sollte nicht mehr erlaubt sein.

Warum?



Mit der Abschussbewilligung nimmt man die Gefahr in Kauf,

Wolf zu leben, bedarf es vertiefte Wolfkenntnisse und gute

am Calanda die Familienstruktur der ersten Schweizer Wolfs­

Kommunikationsarbeit seitens der Behörden. Der voreilige Griff

familie existenziell zu zerstören. Das Risiko ist gross, dass

zur Flinte ist vielleicht einfacher, hilft jedoch unserer Gesell-

Lassen Sie mich noch Folgendes festhalten: Um mit dem

statt ein Jungtier plötzlich die Mutter oder der Vater abgeschos-

schaft nicht weiter. Die Anwesenheit des Wolfes bringt uns sehr

sen wird. Studien zeigen zudem, dass Abschüsse zu vermehr-

viel und hilft zum Beispiel, die überhohen Huftierbestände zu

ten Nutztierrissen führen können.

vermindern, die in Schutzwäldern grosse Verbissschäden anrichten. Wir müssen unsere Gesamteinstellung zur Natur über-

Aus Sicht der Wildhut gab es bei Felsberg einen problematischen Fall. Was ist passiert? In der Nähe eines Bauernhofes am Dorfrand hat jemand in der Dämmerung einen Wolf beobachtet, der einen Rehkopf mit sich trug. Die Wildhut hat diesen Fall als unerwünschtes Verhalten eingestuft. Ich verstehe das nicht: Das betroffene Gebiet ist am Rande einer Wildruhezone, die in offene Felder übergeht, 1,5  K ilo­meter von der Siedlung entfernt. Es lässt Pro Natura Magazin 2/2016

denken – dafür kommt der Wolf gerade zur rechten Zeit! ROLF ZENKLUSEN, freischaffender Journalist. Peter A. Dettling, geboren 1972 in Sedrun (GR), ist mehrfach preisgekrönter Naturfotograf. Von Kindesalter an faszinieren ihn die Natur und Menschen, die ihr Leben dem Naturschutz widmen. Mit Bildern und Filmen will er die ramponierte Beziehung zwischen Mensch und Natur verbessern. Eine wichtige Rolle dabei spielt seine Arbeit mit Wölfen und Bären. Seit 2013 befasst sich der Autor mehrerer Wolfs­ bücher intensiv mit dem Rudel am Calanda.

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