Praxisfelder angewandter Ethik

... neben der Kodierung von Handlungen in einen binären Schematismus von ... ser Fähigkeit, derer moralisch richtiges Handeln so dringlich bedarf: eine auf.
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ISBN 978-3-89785-753-7

Steger | Hillerbrand (Hrsg.)

Der Wunsch des Individuums, sein eigenes Verhalten an bestimmten ethischen Standards auszurichten sowie Anforderungen individueller Handlungs- und Entscheidungsträger machen einen professionellen Diskurs über Moral erforderlich. Dieser sollte über die Diskussion in der philosophischen Ethik oder der christlichen Soziallehre hinausgehen und die jeweiligen Wissenschaftsfelder wie Medizin, Technik oder Ökonomie einbeziehen. Moralisch korrektes Verhalten braucht mehr als kodifizierte Normen und allgemeine Handlungsanweisungen. Die Anwendung allgemeiner Regeln in komplexen Handlungssituationen – sei es im klinischen Alltag bei der Therapiebegrenzung, sei es bei politischen Entscheidungen über die Höhe von Treibhausgasreduktionen – erfordert spezifisches Wissen und besondere Fähigkeiten. Im vorliegenden Band werden die Ergebnisse zweier Workshops der AG „Ethik in der Praxis“ der Jungen Akademie (Berlin) zusammengefasst, in denen versucht wurde, das unterschiedliche Vorgehen der verschiedenen Ethiken durch ein gemeinsames moralisches und kognitives Konzept zu ergänzen und so weite Teile der angewandten Ethik näher an die Praxis zu führen. Dabei führt der Weg von der Aristotelischen Phronesis-Konzeption über den Versuch, den Begriff der Urteilskraft für die verschiedenen Ethiken fruchtbar zu machen bis zu der Frage, wie sich diese Art der Klugheit konkret in den verschiedenen Anwendungsbereichen der praktischen Ethik anwenden und insbesondere als Tugend erlernen lässt.

Praxisfelder angewandter Ethik

Florian Steger | Rafaela Hillerbrand (Hrsg.)

EUP

Praxisfelder angewandter Ethik Ethische Orientierung in Medizin, Politik, Technik und Wirtschaft

Steger · Hillerbrand (Hrsg.) · Praxisfelder angewandter Ethik

Florian Steger, Rafaela Hillerbrand (Hrsg.)

Praxisfelder angewandter Ethik Ethische Orientierung in Medizin, Politik, Technik und Wirtschaft

mentis MÜNSTER

Die Publikation wurde durch die Junge Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina unterstützt. www.diejungeakademie.de

»Ethik und Praxis« (EUP) ist eine Buchreihe der AG »Ethik in der Praxis« der Jungen Akademie.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier

© 2013 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Lektorat: Nancy Grochol (www.argwohn-lektorat.de) Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-753-7

INHALTSVERZEICHNIS

Florian Steger und Rafaela Hillerbrand Einleitung: Das Spannungsfeld angewandter Ethik in der Praxis angesichts pluraler Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I

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Praktische Urteilskraft in der Praxis des Gesundheits- und Pflegesystems

Wolfgang Strube und Florian Steger Handlungs- und Entscheidungskompetenz. Ethische Ausbildung bei Medizinstudierenden und Pflegeauszubildenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Marianne Rabe Fallorientierung, Situationsorientierung und Erfahrungsorientierung in der Vermittlung von Ethik in der Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eva Winkler Praktische Urteilskraft und institutionelle Ethik als Voraussetzungen für eine gute Entscheidungspraxis in der Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Tatjana Grützmann Interkulturalität in der klinisch-ethischen Praxis. Bedarf und Möglichkeiten zum Erwerb von Interkultureller Kompetenz für den Umgang mit Patienten mit Migrationshintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II

Inhaltsverzeichnis

Ethische Expertise bei der politischen Gestaltung des Gemeinwesens

Arnd T. May Die rechtspolitische Debatte zu Patientenverfügungen – medizinethische Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sebastian Kessler und Florian Braune Unterschiedliche Begriffe sozialer Ungleichheit. Berührungspunkte und Differenzen zwischen Medizin und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

Gregor Betz Wertfreiheit, Politikberatung und ethische Expertise . . . . . . . . . . .

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Matthias Dumke Ethik in der Politikberatung. Politisches Entscheiden und die Rolle der praktischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III Ethische Grenzen in und für Industrie und Wirtschaft Claudia Reitinger Ökobilanz als Methode zur Nachhaltigkeitsbewertung . . . . . . . . .

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Rafaela Hillerbrand Freiheiten und Technik. Eine Capability-Perspektive auf die Technikethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

Sabine Roeser Emotionen und praktische Urteilskraft in Risikoentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV Wissenschaftliche Praxis im ethischen Rahmen Cornelis Menke Das Wertfreiheitsideal und die Autorität der Wissenschaft . . . . . . .

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Eckhart Arnold Wissenschaft ohne Wahrheit und Erkenntnis. Das Problem epistemischer Verantwortung am Beispiel empirieferner Computersimulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Das Spannungsfeld angewandter Ethik in der Praxis angesichts pluraler Gesellschaften Gleichwohl moderne demokratische Gesellschaften einen starken Fokus auf das Individuum und seine Interessenverwirklichung legen, wird doch an vielen Stellen der Ruf nach ethischer Expertise und ethischen Entscheidungen laut. 1 Derartige Stimmen sind in nahezu jedem Bereich des öffentlichen Lebens zu hören: Es wird nach einer ethisch vertretbaren Energieversorgung, ethisch-nachhaltigem Wirtschaften oder ethisch-moralischen Kriterien für Wissenschaft und Forschung verlangt. Ebenso wünschen wir uns in eher privaten Bereichen ethische und damit nicht zuletzt allgemeinverbindliche Standards, wenn andere in unser Leben eingreifen, etwa im Bereich der Gesundheitsversorgung oder der Pflege. Dabei besteht ein deutliches Spannungsfeld zwischen einer individualistisch orientierten Gesellschaft und dem Wunsch nach ethischer Orientierung. Wenn man von einer kontraktualistischen Engführung absieht, so hat Ethik den Anspruch – zumindest in gewissen Grenzen – allgemeingültige und für alle verbindliche Handlungsprinzipien abzuleiten und zu begründen. 2 In modernen demokratischen Gesellschaften wird erwartet und muss erwartet werden, dass ethische Richtlinien – zumindest im Prinzip – allen gegenüber zu rechtfertigen sind. Bei der Ableitung ethischer Verpflichtungen kann und muss verlangt werden, dass sowohl die Prämissen als auch die 1

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Wo im Folgenden die maskuline Endung verwendet wird, sind Frauen wie Männer gleichermaßen gemeint. Die Wahl der männlichen Schreibweise geschieht nur, um einen lesefreundlichen Sprachgebrauch zu ermöglichen. Diesem Anspruch widerspricht auch nicht die Vielzahl bestehender gruppenspezifischer Normen. Auch ethische Regeln gelten zum Teil, wie die Haftung von Eltern für das Handeln ihrer im Rechtssinn nicht erwachsenen Kinder, nur ceteris paribus. Die ethischen Verpflichtungen, die aus berufsspezifischen Anforderungen an den Ingenieur oder den Gesundheitsund Krankenpfleger erwachsen, stellen sich nur für diese qua Berufsgruppe. Dennoch zeichnet sich Ethik, neben der Kodierung von Handlungen in einen binären Schematismus von gut /richtig /erlaubt versus schlecht /böse /verboten sowie der Formulierung von Handlungsanweisungen (es ist erlaubt, es ist geboten, es ist verboten, . . .) gerade dadurch aus, dass die ethischen Normen für alle verbindlich gelten und prinzipiell gegenüber allen begründbar sind.

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Ableitung der Verpflichtungen aus diesen rational nachvollziehbar und intersubjektiv begründbar sind. Wie John Rawls mit seinem Begriff des Überlegungsgleichgewichtes aufmerksam macht (vgl. hierzu den Beitrag von Kessler und Braune in diesem Band), können zwar abgeleitete Normen niemals frei von vortheoretischen Intuitionen 3 oder metaphysischen Annahmen 4 sein; es zeichnet aber eine philosophisch-angewandte Ethik gegenüber anderen Formen der Moralbegründung – etwa theologischer – aus, dass sie eben sowohl bei der Ableitung als auch in den getroffenen Annahmen (Voraussetzungen) sich um intersubjektive Vermittelbarkeit bemüht. Beide formulierten Ansprüche, universelle Gültigkeit und universelle Rechtfertigbarkeit, bilden die Gründe, aufgrund derer nach ethischen Richtlinien verlangt wird. Jedoch stellen gerade diese Ansprüche zwei Pole dar, die ein extremes Spannungsfeld für die angewandte Ethik heute aufspannen. Die zentrale Frage, deren sich jede Form angewandter Ethik heute stellen muss, sei es im Bereich der Gesundheitsvorsorge oder bei der Regulierung wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Handelns, ist folgende: Wie lassen sich diese Ansprüche, die mit dem Begriff der Ethik verbunden werden, in einer pluralistischen Gesellschaft verwirklichen? Ohne den Antworten vorweg zu greifen, die in den Beiträgen zu diesem Band aus verschiedenen Blickrichtungen gegeben werden, ist anzumerken, dass eine Ethik, die in Anbetracht eines Wertepluralismus auf eine normative Letztbegründung verzichtet, notwendigerweise einen weiten Handlungsspielraum offen lässt. Sie wird sogar verzichten müssen, wenn sie sich in einer wertepluralen Gesellschaft in sittliche Praxis umsetzen soll. Das handelnde und entscheidende Individuum kann nicht auf eine Kasuistik vertrauen, die ihm für konkrete Situationen spezifisch vorgibt, wie es sich denn zu entscheiden hat. Das Individuum muss zwischen allgemein gehaltenen ethischen Prinzipien und Werten sowie der konkreten Einzelsituation vermitteln. Dies erfordert eine spezifische Expertise von einzelnen, die es gezielt zu schulen gilt. Einen Lösungsansatz für dieses keineswegs neue Problem für die angewandte Ethik bietet bereits Aristoteles mit seinem Konzept der Phronesis – jener praktischen Urteilskraft, die im Gegensatz zur Urteilskraft bei Immanuel Kant und anderen Ethikern der Moderne der Moral ursächlich verpflichtet ist. 5 Die Phronesis sorgt für eine Sensibilisierung und für das Einhalten von Normen, sowie für die Ausdifferenzierung von anerkannten Grundwerten und vermittelt so zwischen allgemeinen Regeln und spezifischen Handlungssituationen. Als dianoetische Tugend lässt sich Aristoteles zufolge die Phronesis ebenso wie moralische Tugenden, etwa die Gerechtig3 4 5

Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Patzig, Die logische Form praktischer Sätze in Kants Ethik. Höffe, Moral als Preis der Moderne.

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keit, erlernen. Jedoch mehr als diese formale Bestimmung der Phronesis, die kaum mehr als eine Problemanzeige bietet, findet sich bei Aristoteles nicht. 6 Heute bedürfen wir mehr denn je dieser Tugend, dieses Wissens und dieser Fähigkeit, derer moralisch richtiges Handeln so dringlich bedarf: eine auf das Ethische verpflichtete Klugheit. Die Kluft zwischen ethischen Grundlagen auf der einen und praktischer Entscheidungssituation auf der anderen Seite wird durch die Komplexität von aktuellen Handlungs- und Entscheidungssituationen noch verschärft. Eine Kasuistik ist heute bereits aufgrund der Komplexität des Gegenstandsbereiches vieler angewandter Ethiken, sei es in der Umwelt- und Technik-, aber auch zumindest in Ansätzen in der Medizinethik, nahezu unmöglich. Institutionelle oder technische Rahmenbedingungen machen es oftmals für Außenstehende unmöglich, die ethisch relevanten Folgen einer Entscheidung zu überblicken. Aber die erwähnte Komplexität erfordert auch eine Rückbesinnung auf einen weiteren Aspekt der aristotelischen Phronesis. Oftmals kann nur das handelnde Individuum selbst in komplexen Handlungszusammenhängen ethisch relevante Entscheidungssituationen überhaupt erst als solche ausmachen. Hier vermag die Phronesis als eine vorab auf Moral verpflichtete Urteilskraft zu helfen, ethisch relevante Entscheidungssituationen als solche ausfindig zu machen. Die praktische Urteilskraft enthält ein stark pragmatisches Element, da sie kontextvariant ist. 7 Als Urteilskraft variiert die Phronesis mit Zeit, Ort und Themenfeld – so unterscheidet sich ihre spezifische Ausdifferenzierung in der Umweltethik signifikant von der in der Medizinethik. Aber lassen sich jenseits dieser situations- und anwendungsspezifischen Bestimmung allgemeine Aussagen darüber ableiten, wie es zur praktischen Urteilskraft kommt oder wie genau diese erlernt werden kann? Sind allgemeine Strategien der Vermittlung jenseits kontextspezifischer Verpflichtungen denkoder gar beschreibbar? Der vorliegende Sammelband, der den Auftakt der Monographienfolge mit dem Titel »EuP – Ethik und Praxis« bildet, entstand aus Beiträgen zweier Workshops, die 2010 in Berlin von der Arbeitsgruppe »Ethik in der Praxis« der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina veranstaltet wurden. Ziel war und ist es, die Ethik von der akademischen Forschung an Universitäten und Forschungseinrichtungen in die Praxis zu tragen und dabei diverse Anwendungsfelder ethischer Theorie – von Ethikkommissionen in der Politikberatung und in der Forschung bis hin zu Ethikkomitees im klinischen Alltag – miteinander zu verbinden. Die spezifischen Probleme sind dabei sehr unterschiedlich gelagert. Einerseits ist das han6 7

Höffe, Universalistische Ethik und Urteilskraft. Van der Scheer, Widdershoven, Integrated empirical ethics.

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delnde Individuum im Vordergrund; und gerade dort, wo etwa durch Krankenhäuser institutionelle Rahmen geschaffen sind, ist Ethik in die Praxis umzusetzen. Hier ist der Fokus auf die Fähigkeiten und Expertisen gerichtet, die das handelnde Individuum braucht, sowie auf das Erlernen derselben. Andererseits geht es in der Politikberatung oder auch in der Technikbewertung vielmehr darum, einen einheitlichen Rahmen für ethisches Handeln zu ermöglichen. Trotz der unterschiedlich gelagerten Probleme und Spezifizierungen erwachsen doch heute die zentralen Probleme angewandter Ethik in nahezu jeder Form der Praxis aus dem Spannungsfeld, dem Wertepluralismus zu genügen und gleichzeitig allgemeinverbindliche Regeln aufzustellen. Im ersten Teil »Praktische Urteilskraft in der Praxis des Gesundheitsund Pflegesystems« dieses Sammelbands steht das handelnde Individuum im Vordergrund. Es wird der Frage nachgegangen, welche spezifischen Anforderungen im Sinne von Fähigkeiten dieses haben oder erlernen muss, wenn es sich im institutionellen Rahmen der klinischen Versorgung oder der Krankenpflege befindet. Wie kann man nun dieses ursprünglich antike Konzept angesichts moderner Probleme mit Inhalten füllen? Ist das antike Konzept genau das, was uns heute fehlt, um die dringlichen Probleme der Moderne zu lösen? Vor diesem Hintergrund wird insbesondere gefragt, inwieweit sich allgemeine inhaltliche Aussagen über die Phronesis machen lassen. Wolfgang Strube und Florian Steger stellen in ihrem Beitrag »Handlungsund Entscheidungskompetenz. Ethische Ausbildung bei Medizinstudierenden und Pflegeauszubildenden« empirische Daten zur Diskussion. Hintergrund ihrer Erhebung ist die Überlegung, dass Ethikunterricht Auszubildenden ermöglicht, sich in ihrer zukünftigen Tätigkeit in der Auseinandersetzung mit medizin- und pflegeethischen Fragestellungen und Problemen in die gemeinsame Entscheidungsfindung des Behandlungsteams einzubringen. Dabei können Strube und Steger in ihrer Untersuchung den Einfluss ethischer Ausbildung auf die Entwicklung individueller moralischer Positionen und medizin- bzw. pflegeethischer Kenntnisse von Medizinstudierenden und Pflegeauszubildenden zeigen. Anhand der in diesem Rahmen exemplarisch untersuchten Ausbildungskonzepte wurde deutlich, dass eine intensivierte Ausbildung in Medizin- und Pflegeethik das Potential besitzt, individuelle ethische Kenntnisse zu vermitteln und so eine individuelle ethische Kompetenzentwicklung positiv zu beeinflussen. In ihrem Beitrag »Fallorientierung, Situationsorientierung und Erfahrungsorientierung in der Vermittlung von Ethik in der Pflege« setzt sich Marianne Rabe mit der Einübung von moralischer Urteilskraft im Pflegeberuf – etwa durch Geschichten oder szenisches Spiel – auseinander. So wird mit der Einbeziehung von Geschichten und praktischer Erfahrungen im Ethikunterricht versucht, Brücken zwischen Theorie und Praxis zu bauen. Allerdings ist eine bruchlose Übertragung des einen in das andere

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unmöglich, wie Rabe aus Jahren der praktischen Unterrichtserfahrung im Bereich Angewandter Ethik konstatiert. Vielmehr ist es eine Herausforderung für Bildung, Urteilskraft einzuüben und ethische Kompetenz als Teil einer professionellen Grundhaltung in Helferberufen zu entwickeln. Rabe legt in ihrem Beitrag einen phänomenologisch-anthropologischen Ethikansatz zugrunde, der ethische Prinzipien und die menschliche Grundsituation als Orientierungsrahmen hat. Ein darauf aufbauendes Modell zur ethischen Reflexion wird anhand eines konkreten Falles erläutert. Die Themenauswahl für den Ethikunterricht kann im Curriculum verschiedenen handlungsorientierten Lerneinheiten zugeordnet werden. Das szenische Spiel wird als erfahrungsorientierte, nichtkognitive Methode im Ethikunterricht vorgestellt. Die in den letzten Jahren zu beobachtende Zunahme an Gründung und Inanspruchnahme ethischer Beratungsorgane auf mehreren Ebenen unserer Gesellschaft bildet den Ausgangspunkt für Eva Winklers Beitrag »Praktische Urteilskraft und institutionelle Ethik als Voraussetzungen für eine gute Entscheidungspraxis in der Klinik«. Diese wird häufig als Antwort auf zwei Phänomene interpretiert: (1) die moralische Unsicherheit, die mit der Beschleunigung unseres Wissenszuwachses, einer wachsenden Eingriffstiefe und einer Vielzahl der Handlungsmöglichkeiten einhergeht; (2) die Vielfalt von Moralvorstellungen in wertepluralistischen liberalen Demokratien, die sich auch nach der Aufklärung von moralischer Unsicherheit nicht immer auflösen lässt. Beide Phänomene tragen entscheidend zu den Situationen bei, die in der Medizin als ethisch problematisch wahrgenommen werden – beispielsweise die Rettung von Patienten, die ohne Technikwissen gestorben wären oder die Einbeziehung und Mitbestimmung des Patienten in der ArztPatienten-Beziehung. Da in der Wertorientierung und in Fragen nach dem guten Leben nicht einfach auf einen gesellschaftlichen Konsens zurückgegriffen werden kann, darf es auch nicht mehr der fürsorglichen Bewertung des Arztes allein überlassen werden zu sagen, worin das Wohl des Patienten besteht. An einem Beispiel aus der Praxis zeigt Winkler, wie praktische Urteilskraft und Organisationsethik ineinandergreifen. Tatjana Grützmanns Beitrag »Interkulturalität in der klinisch-ethischen Praxis: Bedarf und Möglichkeiten zum Erwerb von interkultureller Kompetenz für den Umgang mit Patienten mit Migrationshintergrund« geht das Problem des Wertepluralismus von einem spezifischen Blickwinkel aus an und setzt sich mit interkulturellen Differenzen auseinander, wie sie zu ethischen Problemen im Klinikalltag führen können. In der vorgestellten Arbeit wird untersucht, welche Arten von interkulturell basierten ethischen Konflikten in der klinischen Praxis auftreten und wie sich der Umgang mit diesen Fällen gestaltet. Grützmann untersucht sowohl den Bedarf an Ausbzw. Weiterbildungen zu interkultureller Kompetenz als auch eine mögliche inhaltliche Ausgestaltung von Trainingsmodulen. Die erhobenen Daten

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zeigen, dass in Deutschland vermehrt interkulturelle Konflikte im medizinischen Alltag entstehen, und dass Behandlungsteams mit diesen Situationen häufig überfordert sind. Im Vergleich zu anderen Immigrationsländern wie den USA oder der Schweiz liegt Deutschland in Hinblick auf migrantensensible Gesundheitsversorgung und Schulung der Mitarbeiter im Gesundheitswesen weit zurück. Eine hilfreiche Maßnahme wäre u. a. die flächendeckende Einbindung von Modulen zu interkultureller Kompetenz in Curricula des Medizinstudiums und der Pflegeausbildung. Wie Winkler im ersten Teil dieses Bandes schreibt, sind es zum einen die Beschleunigung unseres Wissenszuwachses und die damit wachsende Eingriffstiefe sowie Vielzahl der Handlungsmöglichkeiten, zum anderen die Vielfalt von Moralvorstellungen in wertepluralistischen liberalen Demokratien, welche den behandelnden Arzt oder das Pflegepersonal mit ethischen Problemen konfrontiert. Während der erste Teil des Bandes ethisch relevante Entscheidungen behandelt, welche Individuen treffen, fragt der zweite Teil »Ethische Expertise bei der politischen Gestaltung des Gemeinwesens« nach der Ausgestaltung der ethischen Rahmenbedingungen dieses Handelns, das auf politischer Ebene getroffen wird. Nicht nur ein Gesetz zur Patientenverfügung ist hier von Relevanz, sondern gerade im Bereich der Umwelt- und Technikethik haben wir es mit ethischen Problemsituationen zu tun, die gar nicht auf individueller Ebene entschieden werden können. Die Entscheidungen werden von demokratisch legitimierten Vertretern getroffen. Die Frage, die hier im zweiten Teil des Bandes im Vordergrund steht, ist die, wie Ethikberatung in der Politik, speziell über Ethikkommissionen, dem angesprochenen Spannungsfeld gerecht werden kann und ethische und damit doch in gewissem Sinne dogmatische Kriterien berücksichtigen kann, ohne ihre demokratischen Wurzeln zu verleugnen. Arnd May geht dieser Frage in seinem Beitrag »Die rechtspolitische Debatte zu Patientenverfügungen – medizinethische Beobachtungen« anhand der Debatte zu Patientenverfügungen seit den 1970er Jahren nach. Dabei liegt der Schwerpunkt von Mays Analyse auf Aspekten, die in der rechtspolitischen Debatte des Jahres 2009 Bedeutung erlangten. Dazu gehörten Fragen der Bindungswirkung, der Reichweite und des Umgangs mit bzw. der Überprüfung von Patientenverfügungen. Es hat im Laufe der Zeit eine Reihe von Gremien Vorschläge zur gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen gemacht. Die Auswirkungen werden dargestellt. Weiterhin wird der Einfluss der Beratungsgremien auf das Entscheidungsverhalten der Abgeordneten des Deutschen Bundestages gezeigt. Sebastian Kessler und Florian Braune schließen hier nahtlos an, wenn sie in ihrem Beitrag »Unterschiedliche Begriffe sozialer Ungleichheit. Berührungspunkte und Differenzen zwischen Medizin und Politik« auf die Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit und Krankheit fokussieren. Die

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im Bundestag verabschiedete Gesetzgebung beeinflusse die Rahmenbedingungen des ärztlichen Handelns am Krankenbett. Die Autoren machen auf Grundlage einer begriffsgeschichtlichen Analyse von Politikberatung und gesundheitspolitischen Debatten im Bundestag von 1998 bis 2009 deutlich, wie sich die bundesdeutsche Politik nur zum Teil mit dem Problem der sozialen Ungleichheit und Krankheit auseinandersetzt. Wichtige Aspekte des Zusammenhangs zwischen diesen beiden Feldern werden zwar in der Politikberatung, aber nicht in der Politik besprochen. In der Konsequenz wird die Lebenswirklichkeit sozioökonomisch armer Menschen medikalisiert. Dies führt nicht zuletzt zu einer Überfrachtung des Anspruchs an Ärzte, die sich den Auswirkungen der sozialen Ungleichheit bei den betroffenen Patienten nicht entziehen können. Gregor Betz beginnt seinen Beitrag »Wertfreiheit, Politikberatung und ethische Expertise« mit Überlegungen zur Rolle der Ethik im politischen Entscheidungsprozess und den Erwartungshaltungen an die Philosophie. Früher hätten Philosophen deutlich auf politische und gesellschaftliche Missstände hingewiesen und eine bessere, gerechtere Politik eingefordert. Heute sollten Philosophen sich daran ein Beispiel nehmen und öffentlich für Werte und Wertorientierung eintreten. Hinter diesem häufig vorgetragenen Vorwurf stehe offenkundig die Erwartung, die Philosophie solle in öffentlichen Debatten einen bestimmten moralischen Standpunkt vertreten und einfordern. Und auch einige Philosophen scheinen ihre Rolle so zu verstehen. Anders sei zumindest nicht zu erklären, warum etwa der Deutsche Ethikrat kategorische Stellungnahmen abgibt, gegebenenfalls in Mehrheits-, Minderheits- und Sondervoten, anstatt sich darauf zu beschränken, das moralische Für und Wider darzulegen und die letzte Entscheidung demokratisch legitimierten Institutionen zu überlassen. Betz argumentiert dafür, dass jene Erwartungen verfehlt sind. Es wäre sogar moralisch verwerflich, da undemokratisch, wenn Philosophen und Ethiker die normativen Grundlagen, auf denen kollektiv verbindliche Entscheidungen getroffen werden, in überproportionalem Maße beeinflussen würden. Stattdessen sollte sich die ethischphilosophische Expertise und Politikberatung auf die nüchterne Darlegung der moralischen Gründe beschränken. Matthias Dumke behandelt in seinem Aufsatz zu »Ethik in der Politikberatung. Politisches Entscheiden und die Rolle der praktischen Philosophie« ebenso wie Betz die Rolle der Ethik in politischen Entscheidungsfindungen. Dumke argumentiert für einen inhaltlichen Eingriff des Ethikers in den politischen Entscheidungsfindungsprozess und geht damit über Betz hinaus. Die Betzsche Konzeption – eine Art »Minimalkonzeption angewandter Ethik« – wird problematisiert und auf ihre Grenzen hin untersucht. Ihr stellt Dumke das aristotelische Projekt der Ethik gegenüber. Aristoteles ordnet die Überlegungen seiner Nikomachischen Ethik ausdrücklich der politischen Wissen-

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schaft zu und richtet sich an politische Entscheider. 8 Es wird argumentiert, dass die aristotelische Ethik ein Bildungsziel verfolgt und zu diesem Zweck einen Reflexionsprozess anleiten sollte. Dumke zeigt, dass der Ansatz sich allerdings als zu anspruchsvoll erweist, um heute noch realisierbar zu sein. Dumkes Vorschlag ist der einer vermittelnden Konzeption praktischer Philosophie, die den Schwächen der »Minimalkonzeption« begegnen soll, ohne die starken Bildungsansprüche des aristotelischen Projekts zu erheben. Im Zentrum dieser Konzeption steht der sogenannte capability approach, der auf Arbeiten von Amartya Sen und Martha Nussbaum zurückgeht. 9 Diese Konzeption, so Dumke, richtet sich insbesondere an die Vorstellungskraft und das Einfühlungsvermögen politischer Entscheider und ermöglicht ihnen ein Verständnis der Konsequenzen einer Entscheidung jenseits bloßen Informiertseins. Im dritten Teil »Ethische Grenzen in und für Industrie und Wirtschaft« des vorliegenden Bandes steht Ethik in der industriellen Praxis im Mittelpunkt. Hier wird versucht, über ISO- oder DIN-Normen dem Individuum in der Produktentwicklung oder der Bewertung von Techniken oder Technologien ähnliche institutionelle Rahmenbedingungen für moralisches Verhalten zu geben, wie diese in der Medizin bereits beispielsweise bei standesethischen Kodifizierungen verwirklicht sind. Während die Diskussion sich hier in der Frage nach der Ausgestaltung von »Nachhaltigkeit« für konkrete Produkte oder Prozesse erschöpft, bilden die Beiträge dieses Sammelbandes ein Grundgerüst, das es überhaupt erst erlaubt, sich der Frage nach Nachhaltigkeit zu stellen (Reitinger, Hillerbrand) und diese in Bezug zu den individuellen Handlungsträgern (Roeser) zu setzen. Claudia Reitinger zeigt in ihrem Beitrag »Ökobilanz als Methode zur Nachhaltigkeitsbewertung« eine spezifische Form der Nachhaltigkeitsbewertung, die sogenannte Ökobilanz oder Lebenszyklusanalyse. Charakteristisch für diese Methode ist es, Umweltauswirkungen von Produktionsprozessen unter einem holistischen Blickwinkel zu bewerten. Bei der Implementierung nachhaltiger Entwicklung deckt die klassische Ökobilanz lediglich die ökologische Säule ab. Strebt man eine vollständige lebenszyklusbasierte Nachhaltigkeitsbewertung an, müssen ökonomische und soziale Aspekte in gleicher Weise Berücksichtigung finden. Das Pendant im Bereich der Ökonomie ist die Lebenszykluskostenrechnung (LCC). Die soziale Ökobilanz (SLCA) ist momentan in Entwicklung. Reitingers Artikel gibt eine knappe Übersicht über die Methode der ökologischen Lebenszyklusanalyse, um mit den Grundzügen des »Denkens in Lebenszyklen« vertraut 8 9

Höffe (Hg.), Nikomachische Ethik. Sen, Nussbaum (Hgg.), The Quality of Life; Sen, Inequality Reexamined; Sen, Development as Freedom; Sen, The Idea of Justice.