Politikberater als Mitregenten: Wissenschaftliche ... AWS

beziehen sich eng auf die Thesen Gerhard Lehmbruchs (vgl. Lijphart 1977: 5; 40). Im. Fokus steht dabei der von Lehmbruch geprägte Begriff der ... diejenigen, die zuvor als consociational bezeichnet werden. 2. Starke Rückbezüge auf Gabriel A. Almonds Schriften, sowie auf jeweilige Landesexperten (Lehm- bruch, Sartori ...
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Kristina Viciska

Politikberater als Mitregenten Wissenschaftliche Politikberatung in Frankreich und Deutschland

Diplomica Verlag

Kristina Viciska Politikberater als Mitregenten Wissenschaftliche Politikberatung in Frankreich und Deutschland ISBN: 978-3-8428-1533-9 Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2012 Covermotiv: kallejipp / photocase.com

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Inhaltsverzeichnis Begriffsübersetzungen.....................................................................................................4 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ...........................................................................5 1. Einleitung.....................................................................................................................6 2. Institutionen im internationalen Vergleich ..............................................................9 2.1 Arend Lijpharts Rolle in der Politikwissenschaft ..................................................... 9 2.1.1 Auf dem Weg zu den Patterns of Democracy – Grundsteinlegung................. 11 2.1.2 Auf dem Weg zu den Patterns of Democracy –

Dichotomisierung................. 13

2.1.3 Patterns of Democracy – Regierungsleistung in 36 Staaten – Erweiterung und Aktualisierung.............................................................................................. 17 2.2 Kritik an Lijpharts Patterns of Democracy ............................................................. 29 2.3 Politikberatung ........................................................................................................ 34 2.3.1 Politikberatung als Forschungsgegenstand......................................................... 35 2.3.2 Institutionalisierte, wissenschaftliche Politikberatung ....................................... 40 2.3.3 Theorien und Modelle der Politikberatung......................................................... 43 3. Fallauswahl und vergleichende Methodik..............................................................48 3.1 Fallauswahl ............................................................................................................. 48 3.1.1 Frankreich ........................................................................................................... 50 3.1.2 Deutschland ........................................................................................................ 52 3.2 Auswahl der Institutionen ....................................................................................... 55 3.3 Auswahl der Variablen und Indikatoren ................................................................. 58 4. Analyse französischer und deutscher Beratungsinstitutionen..............................64 4.1 Personelle Zusammensetzung ................................................................................. 64 4.2 Aufgabenstellung .................................................................................................... 78 4.3 Arbeitsverfahren...................................................................................................... 89 4.4 Transparenz und Publizität...................................................................................... 99 4.5 Notwendigkeit der politischen Stellungnahme ..................................................... 103 4.6 Ergebnisse und Kritik ........................................................................................... 106 5. Fazit..........................................................................................................................113 Literaturverzeichnis ....................................................................................................118 Anhang..........................................................................................................................136

Begriffsübersetzungen Arrêté – Erlass Assemblée Nationale – Nationalversammlung Bureau – Leitungszentrale Cabinet Ministeriél – Persönlicher Beraterstab der Minister Centre d’analyse stratégique – Strategierats Conseil d’analyse économique (CAE) – Rat der Wirtschaftsanalyse Conseil d’analyse de la société – Rat zur Gesellschaftsanalyse Conseil Économique, Social et Environnemental (CESE) – Wirtschafts- Sozial- und Umweltrat Cohabitation – Premierministers gehört nicht der Partei des Präsidenten an Commission consultative pour la délimitation des circonscriptions legislatives – Kommission zur Abgrenzung und Neuordnung der Wahlkreise Conseil d´État – Staatsrat Conseiller technique – Berater an staatlichen Institutionen Conseillers web – Beraterstab des Präsidenten für Internetfragen Décret – Erlass Départements – Regionen Direction de la prévision et de l´analyse économique – Rat der Wirtschaftsanalyse Direction des relations économiques extérieurs – Außenhandelskammer Direction générale du Trésor – Wirtschaftsberatungsinstitution und Schatzkammer École Nationale d´Administration (ENA) – Universität für Verwaltungswissenschaften École Polytechnique – Technische Universität Grands Corps – derzeit 21 administrativ und technisch beratende Institutionen Institut National de la Statistique et des Études Économiques (INSEE) – Nationales Statistikamt membres de droit – durch den Premier eingesetzte Wirtschaftsexperten Parti Socialiste – Sozialdemokratische Partei Frankreichs Président délégué – Amtsbezeichnung für den Vorsitzender der Direction générale du Trésor Rapporteur général – Vom CESE berufener Sprecher Sénat – Regionenparlament Frankreichs (2. Kammer)

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Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildungen 1: Zwei Dimensionen der Demokratie 2: Länderauswahl und Demokratisierungsbeginn 3: Korrelationsmatrix der zehn Variablen 4: Zweidimensionale Darstellung der Forschungsergebnisse 5: Grundriss der institutionalisierten Politikberatung in Frankreich 6: Grundriss der institutionalisierten Politikberatung in Deutschland 7: Zusammenfassende, graduelle Darstellung der Instanz und Transparenz der Mitgliederbesetzung 8: Zusammenfassende, graduelle Darstellung der Formulierung der Aufgaben und Konsultierungsinstanz in Frankreich und Deutschland 9: Zusammenfassende graduelle Darstellung des Staatseinflusses und der politischen Einbindung Tabellen 1: Kriterienvergleich: Mehrheits- und Konsensdemokratie 1984, 1999 2: Ergebnisse Frankreichs in beiden Demokratiedimensionen 3: Ergebnisse Deutschlands in beiden Demokratiedimensionen 4: Messung institutionalisierter Beratung 5: Forschungsdesign 6: Zusammenfassung der personellen Zusammensetzung und Kompetenz zur Mitgliederbenennung 7: Konsultierungskompetenz

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1. Einleitung Die Erstellung von groß angelegten, internationalen Demokratieanalysen ist in den 1990´er Jahren mit den Werken Esping-Andersen „The Three Worlds of Welfare Capitalism“ 1990, Weaver und Rockmans „Do Institutions Matter? Government Capabilities in the United States and Abroad“ 1993 und vor allem Arend Lijpharts „Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries“ von 1999 sehr verbreitet gewesen. Arend Lijphart unterscheidet in Patterns of Democracy zwischen zwei gegensätzlichen Demokratieformen, der Mehrheitsdemokratie und der Konsensdemokratie. Diese Unterteilung beruht auf den bereits 1984 identifizierten Effekten bestimmter staatlicher Arrangements auf die Machtkonzentrierung oder Machtteilung der Exekutivgewalt. In der Veröffentlichung von 1999 werden zehn Variablen vorgestellt, anhand derer diese Unterteilung erfasst werden kann. Es wird davon ausgegangen, dass die ersten fünf Variablen die Machtkonzentrierung der Exekutive messen und die anderen fünf die Machtaufteilung durch rechtliche und zum Teil externe Arrangements. Die Gegenüberstellung verdeutlicht, dass in Mehrheitsdemokratien mit einer starken Machtkonzentrierung und in Konsensdemokratien mit einer Machtstreuung gerechnet wird. Durch die sehr transparente Methodik Lijpharts ist diesbezüglich zahlreich Kritik an dem Werk geübt worden. Diese konzentriert sich jedoch stark auf die Wahl der Indikatoren der empirischen Analyse. Im Allgemeinen werden die Existenz der Demokratiedimensionen und die Aufteilung in Konsens- und Mehrheitsdemokratien nicht angezweifelt. Als problematisch stellt sich jedoch die Konstanz der betrachteten Variablen dar. Nahezu unverändert werden seit den ersten Werken Lijpharts um 1977 den gleichen Arrangements eine Einflussausübung auf die Demokratieausgestaltung zugeschrieben. Dabei finden aktuelle Entwicklungen nur bedingt Zugang in die Theorie. Mit der Einbindung des Interessengruppenpluralismus und der Zentralbankautonomie sollten neuere Entwicklungen berücksichtigt werden. Dabei wird unter Interessengruppenpluralismus lediglich der Korporatismuswert erfasst. Auch die Zentralbankautonomie ist seit der Einführung der Europäischen Zentralbank nur bedingt aktuell. Mögliche Anknüpfungspunkte bietet jedoch die Debatte um die Wirkung der Politikberatung. Bedingt durch den technischen Fortschritt lässt sich eine Verlagerung vieler

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Entscheidungen und Regulierungsmaßnahmen auf die politische Ebene beobachten. Besonders von der Europäischen Union wird evidenzbasiertes Wissen als Grundlage für politische Entscheidungen gefordert. Diese Tendenz einer zunehmenden Einbindung von Wissenschaft an politischen Prozessen kann bedeuten, dass Handlungsträger Kompetenzen abgeben und Politikberater zu Mitregenten werden. In einer solchen Position können Berater dazu befähigt werden die politische Macht der Regierung einzuschränken, oder unterstützend für diese tätig zu sein und die Regierungsmacht weiter ausbauen. Der Politikberatungsforschung kann entnommen werden, dass besonders für den Bereich der institutionalisierten wissenschaftlichen Politikberatung mit solchen Effekten zu rechnen ist. Begründet wird dies einerseits mit der regierungsnahen Installierung und der Ermöglichung eines konstanten Zugangs zu Entscheidungsträgen und andererseits mit der Möglichkeit des Staats die Institutionalisierung der Beratungsgremien selbst vorzunehmen. Der letzte Aspekt erscheint besonders relevant, da sich aus der Betrachtung der Institutionalisierungsformen auf den staatlichen Umgang mit Politikberatung schließen lässt. Unter Institutionen wird „eine Ansammlung von mehr oder weniger dauerhaften sozialen gegenseitigen Erwartungen, aus denen sich Regelsysteme herauskristallisiert haben, welche die sozialen Interaktionen steuern“ verstanden. Die weitere Unterteilung in formelle und informelle Institutionen wird als Vorhandensein einer Rechtsgrundlage (formell) und das Fehlen einer solchen (informell) vorgenommen (vgl. Waarden 2009: 274). Staatlich institutionalisierte, wissenschaftliche Politikberatung kann folglich über die Kommunikation zwischen Politikern mit Wissenschaftlern Einfluss auf die Entscheidungsfindung nehmen. Je nach dem wie diese institutionalisiert wird kann Politikberatung als machtteiliges oder machtkonzentrierendes Element wirken. Aus der Verbindung dieser Annahmen zur Politikberatung mit den Demokratietypen Lijpharts ergibt sich die Fragestellung, ob wissenschaftliche Politikberatung in Mehrheitsdemokratien machtkonzentrierend und in Konsensdemokratien machtteilig institutionalisiert ist. Anhand dieser Fragestellung soll beantwortet werden können, ob Politikberatung machteinschränkend wirkt und wie Staaten über rechtliche Regelungen dies zulassen oder vermeiden.

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In Bezug auf die Theorie Lijpharts soll aus der Bearbeitung dieser Fragestellung hervorgehen, ob die Logik der Demokratiedimensionen auch für andere, als die betrachteten Variablen zutreffend ist. Darüber hinaus können über eine internationale Betrachtung wissenschaftlicher Politikberatung mögliche Regelmäßigkeiten identifiziert werden, die innerhalb der Politikberatungsforschung zur Ergänzung bestehender Modelle dienen könnten. Innerhalb dieses Werks werden zunächst jeweils ein Staat für die Mehrheitsdemokratie und ein Staat für die Konsensdemokratie betrachtet. Anhand von zwei betrachteten Staaten lassen sich zwar keine grundsätzlichen Generalisierungen treffen, die Analyse kann jedoch als Pretest verstanden werden. Zur Bearbeitung der Fragestellung werden Politik beratende Gremien in den ausgewählten Ländern, Frankreich (Mehrheitsdemokratie) und Deutschland (Konsensdemokratie) anhand eines aufgestellten Analyserahmens betrachtet. Die Auswahl dieser Staaten macht neben der theoretischen Zuordnung durch Lijphart auch im Bereich der Politikberatung Sinn. So lassen sich in aktuellen Medien Berichte über die Besetzung eines Beratungsgremiums durch den Staatschef Nicolas Sarkozy finden (vgl. Les Echos 19. Januar 2010: 2), wohingegen in Deutschland Politikberater zumeist durch die Veröffentlichung von Jahresgutachten auf sich aufmerksam machen (vgl. Zeit Online 12. November 2009). Aus empirischen Untersuchungen und theoretischen Modellen der Politikberatungsforschung sind fünf Variablen hervor gegangen, die die Ausgestaltung staatlich institutionalisierter Beratung erfassen. Für Frankreich und Deutschland werden jeweils vier Gremien analysiert. Diese sind in Frankreich der Rat der Wirtschaftsanalyse (Conseil d´Analyse économique), die Kommission zur Abgrenzung und Neuordnung der Wahlkreise (Commission consultative pour la délimitation des circonscriptions legislatives), eine Wirtschaftsberatungsinstitution (Direction générale du Trésor), sowie der Wirtschafts- Sozial- und Umweltrat (Conseil Économique, Social et Environnemental). Für Deutschland werden die Monopolkommission, die Kommission zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung, der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen und der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen betrachtet.

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2. Institutionen im internationalen Vergleich Die Erfassung staatlicher Institutionen ist ein Kernelement politikwissenschaftlicher Arbeit. Über mehrere Werke hinweg entwickelt Arend Lijphart durch eine Verbindung unterschiedlicher Ansätze eine Theorie, die eine Differenzierung demokratischer Systeme bezüglich einer bestehenden Machtkonzentrierung oder Streuung ermöglicht. Die Betrachtungen klammern jedoch kontinuierlich bestimmte staatliche Elemente aus. Aus der Kritik geht hervorgeht, dass die Wirkung institutionalisierter, wissenschaftlicher Politikberatung in den internationalen Regimevergleichen außer Acht gelassen wird. Aufgrund einer zunehmenden Wissensbasierung der Staaten ist jedoch davon auszugehen, dass eine Verbindung zwischen der Ausgestaltung staatlicher Politikberatung und dem Demokratietypen besteht. Um dies bewerten zu können wird in diesem Kapitel der Entwicklungspfad der Theorie Lijpharts geschildert um die Auswahl der betrachteten Institutionen des Hauptwerks nachvollziehen zu können. Aus der Kritik an der Theorie geht die Notwendigkeit hervor die Institutionalisierung von Politikberatung aus Sicht der Politikberatungsforschung zu reflektieren und somit Formen der Beratung und Möglichkeiten zur Erfassung dieser auszumachen.

2.1 Arend Lijpharts Rolle in der Politikwissenschaft Die Analysen Arend Lijpharts haben die vergleichende Staats- und Demokratieforschung nachhaltig geprägt. Auf der Basis internationaler Demokratievergleiche und einer innovativen, empirisch-analytischen Methodik hat Lijphart weitreichende Thesen formuliert. Seine Theorie kann als politikwissenschaftliches Grundlagenwissen angesehen werden. Die besondere Relevanz und breite Rezeption Lijpharts Werken lässt sich an der großen Zahl internationaler, kritischer Auseinandersetzungen, Erweiterungen sowie aktueller Sekundärliteratur erkennen (vgl. z. B. Kailitz 2007, Schmidt 2006, Tsebelis 2002, Crepaz et al. 2000, Siaroff 2000). Arend Lijphart, 1939 in den Niederlanden geboren, hat den Großteil seiner politikwissenschaftlichen Forschungen in den USA erbracht. Für seine wissenschaftlichen Leistungen ist er mehrfach ausgezeichnet worden. Besonders hervorzuheben sind der Vorsitz in der „National Academy of Arts and Sciences“ (1989) und die Präsidentschaft

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der „American Political Science Association“ (1995-1996), die jeweils nur an Personen mit besonderer wissenschaftlicher Leistung vergeben werden. Mittlerweile an der University of California in San Diego emeritiert, lassen sich seine ersten relevanten Schriften bereits in das Jahr 1968 zurückverfolgen. Mit dem Aufsatz „Politics of Accomodation“ hat Lijphart die ersten Thesen zur Art der Konfliktregulierung in den Niederlanden aufgestellt. Fast ein Jahrzehnt später, 1977, erscheint „Democracy in Plural Societies. A comparative exploration“. In diesem Werk vergleicht Lijphart pluralistische Demokratien und stellt Thesen zu den Gründen auf, aus denen die betrachteten Staaten trotz einer jeweils pluralen Gesellschaft wider Erwarten nicht instabil werden. 1984 erscheint mit „Democracies. Patterns of Majoritarian and Consensus Government in Twenty-One Countries“ eine weitere Schrift zu diesem Thema. Anders als im Vorgängerwerk werden in Democracies auch Demokratien mit nicht pluralistisch zusammengesetzten Gesellschaften betrachtet. Lijphart stellt idealtypisch zwei entgegengesetzte Arten der Demokratie dar, die Westminster- und die Konsensusdemokratie. Auf Basis dieser Grundannahme werden 21 Staaten einem der beiden Typen zugeordnet. Aus dem Ergebnis der empirischen Analyse schlussfolgert Lijphart, dass sich Demokratien über zwei Dimensionen messen lassen (vgl. Lijphart 1984). Angeregt von der Neuordnung der politischen Machtverhältnisse nach dem Zerfall der UdSSR, sowie durch die Existenz neuer Datengrundlagen, überarbeitet Lijphart Democracies und veröffentlicht 1999 das erweiterte Werk „Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries“. Diese thesenreiche Arbeit entwickelt sich schnell zu einem Standardwerk der vergleichenden Staatsanalyse und Demokratieforschung. Sowohl der Erkenntnisgewinn über die einzelnen Staaten, als auch das methodische Vorgehen sind innerhalb der internationalen Scientific Community beispielhaft. Durch die Transparenz der Theorie und Methodik ist das Werk jedoch sehr offen für Kritik, die in Folge dessen auch zahlreich geübt wird. Im Rahmen der 2008 erschienenen Aufsatzsammlung „Thinking about Democracy. Power sharing and majority rule in theory and practice“ äußert sich Lijphart zu den, seines Erachtens nach, wichtigsten Kritikpunkten. Im Folgenden soll hauptsächlich das Werk „Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries“, betrachtet werden. Dabei stehen die Demokratietypen, sowie die theoretische und methodische Erarbeitung der Erkenntnisgewin-

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nung im Fokus. Um deren Entstehung nachzuvollziehen, werden die Kernaussagen der Vorgängerwerke kurz erläutert. Für einen ganzheitlichen und aktuellen Blick auf die Forschungen werden anschließend deutsche und internationale Kritiken an den Patterns of Democracy vorgestellt.

2.1.1

Auf dem Weg zu den Patterns of Democracy – Grundsteinlegung

Mit „Democracy in Plural Societies“ erschien 1977 Arend Lijpharts erste große internationale Vergleichanalyse. Im Rahmen dieser Forschungsarbeit werden weltweit existierende Demokratien mit pluralen Gesellschaften betrachtet. Ziel des Werks ist der Beleg der These, dass auch Staaten mit pluralen und segmentierten Gesellschaften in der Lage sind, ein hohes Maß an politischer Stabilität zu erzeugen. Daraus werden unter anderem Rückschlüsse gezogen auf mögliche Gründe der Regimezusammenbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auf der Basis einer empirischen Analyse entwickelt Lijphart den normativen, an Althusius (1603) anlehnenden Begriff der Consociational Democracy. Darunter werden vier (Staats-) Charakteristika gefasst die notwendig erscheinen, um eine pluralistische Demokratie stabil existent zu halten (vgl. Lijphart 1977, 2-5, 25-52). Vor dem historischen Hintergrund ist dieses Werk als Plädoyer und direkte Anleitung für den Wiederaufbau zerfallender und in Transformation befindlicher Regime, nach demokratischem Muster, zu verstehen (vgl. Lijphart 1977, 22, 223-225). Die Identifikation der demokratischen Systeme beruht auf der Demokratiemessung Robert A. Dahls (1971), der in seinem Werk „Polyarchy: Participation and Opposition“ 114 Staaten auf Polyarche Systeme hin überprüft. Lijphart setzt den Polyarchiebegriff mit dem der Demokratie gleich (vgl. Lijphart 1977: 4). Die Definition der pluralen und segmentierten Gesellschaft, als wesentliches Betrachtungskriterium bzw. unabhängige Variable, lehnt an Harry Ecksteins (1966) aufgestellte Beschreibung der „segmental cleavages“ an. Darunter wird verstanden, dass gesellschaftliche Unterschiede die religiös, ideologisch, sprachlich, regional, kulturell oder ethnisch bedingt sein können, sich in politischen Strukturen (Parteien, Interessengruppen, Medien, zivilgesellschaftliche Akteure) manifestieren (vgl. Lijphart 1977: 3-4). Die von Lijphart aufgestellten und sich auf unterschiedliche empirische und theoretische Werke beziehenden Bedingungen für eine „Consociational Democracy“ sind folgende:

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(1) eine regierende Große Koalition an der alle wesentlichen Teilgruppen der pluralen Gesellschaft partizipieren, (2) die Möglichkeit eines wechselseitigen Vetos bzw. die Notwendigkeit zur einvernehmlichen Entscheidungsfindung, (3) Proportionalität als Prinzip der politischen Repräsentation, (4) ein hohes Maß an Autonomie für die einzelnen Teilbereiche bzw. ein starker Föderalismus (vgl. Lijphart 1977: 25). Die Aspekte (2) einvernehmliche Entscheidungsfindung und (3) Proportionalität, beziehen sich eng auf die Thesen Gerhard Lehmbruchs (vgl. Lijphart 1977: 5; 40). Im Fokus steht dabei der von Lehmbruch geprägte Begriff der Konkordanzdemokratie. Als konkordanzdemokratisch werden diejenigen Staaten bezeichnet, die auf Elitenebene Konfliktregulierungen durch Kooperation und Aushandlung betreiben. Die Schweiz und Österreich, die Lehmbruch aufgrund der Abbildung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in einem Parteienproporz als Proporzdemokratien identifiziert (vgl. Lehmbruch 1969: 1-2; Lehmbruch 1967: 7-9), sind bei Lijphart aus ähnlichen Gründen Beispiele für consociationale Staaten. Es liegt folglich eine inhaltliche Nähe der beiden Konzepte (Konkordanzdemokratie und Consociational Democracy) vor. Doch während Lehmbruch mit der Konkordanzdemokratie die Art der Konfliktregulierung beschreibt, benutzt Lijphart diesen Befund zur Gewinnung von Stabilitätsfaktoren pluraler demokratischer Regime. Bei der Identifizierung pluraler Staaten mit einem hohen Maß an politischer Stabilität, werden Österreich, Belgien, die Niederlande sowie die Schweiz, als den Kriterien der Consociation besonders nahe kommend begriffen. Diese, dem Idealtypen nahekommenden Staaten werden im Rahmen des Kapitels „Favorable Conditions for Consociational Democracy“, eingängig analysiert.1 Aus der Analyse sollen Gründe der staatlichen Stabilität hervorgehen und die zuvor aufgestellten Thesen belegt werden. Um profunde Aussagen treffen zu können, überprüft Lijphart die Staaten auf folgende Kriterien hin: (1) Machtgleichgewicht, (2) Vielparteiensystem, (3) Bezug zwischen Staatsgröße und Consociation, (4) Art der gesellschaftlichen Kluft, (5) übergreifendes Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gesellschaft, (6) Repräsentativität des Parteiensystems, Föderalismus, (7) Anpassungsfähigkeit in der Koalitionsfindung der Eliten (vgl. Lijphart 1977: 53-103).

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Methodisch handelt es sich hierbei um keinen Idealtypen im Sinne Max Werbers. Für eine kritische Zuordnung der von Lijphart gebildeten Typen siehe Bogaards 2000.

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Die Operationalisierung dieser Kriterien erfolgt größtenteils über Indikatoren die Lijphart, aus vorhandenen empirischen Ergebnissen bezieht und in einen neuen Kontext setzt.2 Die ermittelten Ergebnisse dienen als Grundlage, um daraufhin nicht plurale Gesellschaften, sowie Staaten der Dritten Welt zu betrachten. Dabei sollen Unterschiede zu den vier Staaten, sowie weitere consociationale Elemente herausgestellt werden. Die Analyseergebnisse werden im Umkehrschluss zur Betrachtung möglicher Gründe für Systemzusammenbrüche heran gezogen (vgl. z.B. Lijphart 1977: 142-174). Die Forschungsergebnisse werden im Kapitel „Consociational Engineering“ als Handlungsanweisungen umformuliert, und richten sich explizit an so genannte „Constitutional Engineers“ (Verfassungsgründer). Folglich, benutzt Lijphart seine Forschungen zur wissenschaftlichen Politikberatung.

2.1.2

Auf dem Weg zu den Patterns of Democracy – Dichotomisierung

In „Democracies. Patterns of Majoritarian and Consensus Government in Twenty-One Countries“ von 1984 verändert Arend Lijphart den Betrachtungsgegenstand. Anders als in Democracy in Plural Societies stehen nicht mehr ausschließlich plurale Gesellschaften und deren demokratische Stabilität im Blickpunkt. Lijphart betrachtet systematisch 21 Demokratien und versucht diese nach dem theoretisch-empirischen Konstrukt in majoritarian democracy (Mehrheitsdemokratie) und consensus democracy (Konsensdemokratie) einzuteilen. Dabei lehnt consensus democracy an den Begriff der consociational democracy an, ist jedoch nicht mit diesem gleich zu setzen. Die Mehrheitsdemokratie entspricht dem Westminstermodell und wird aus historischen Gründen als politisches Grundmodell verstanden. Folglich ist die Konsensdemokratie eine Abweichung von diesem Normalfall. Der Konsensdemokratie werden mehr Charakteristika zugeschrieben als zuvor der consociational democracy (vgl. Lijphart 1984: xiii-xv). Die bestehenden Parallelen in der Variablenauswahl verdeutlichen jedoch die starke Verknüpfung der Modelle Mehrheits- und Konsensdemokratie. Zudem sind die aufgeführten Länderbeispiele für den konsensdemokratischen Typen größtenteils auch diejenigen, die zuvor als consociational bezeichnet werden. 2

Starke Rückbezüge auf Gabriel A. Almonds Schriften, sowie auf jeweilige Landesexperten (Lehmbruch, Sartori, Rose, Eckstein, Lipson, Daalder u.v.a.)

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Im Folgenden sollen die Kernelemente von Democracies, auf dem das spätere Schlüsselwerkwerk Patterns of Democracy aufbaut, kurz beschrieben werden um die Weiterentwicklung der Theorie erfassen zu können. Die vergleichende Studie basiert wesentlich auf der zu Beginn dargestellten Dichotomisierung zwischen Mehrheits- und Konsensdemokratie. Diese in der Politikwissenschaft bereits gebräuchlichen Begriffe bauen auf den Forschungen Robert G. Dixon Jr.´s (1968) und Robert A. Dahls (1956) auf (vgl. Lijphart 1984: xiii), und werden von Lijphart teilweise umdefiniert und erweitert. Anhand zugeschriebener Typmerkmale ordnet Lijphart die betrachteten Staaten auf einer Skala zwischen Mehrheits- und Konsensdemokratie an. Die jeweilige Annäherung an den einen oder anderen Typen misst die Konzentrierung bzw. Streuung politischer Macht. Für die Analyse sind nur diejenigen Staaten ausgewählt worden, die innerhalb des Betrachtungszeitraums (19451980) als stabile Demokratien identifiziert werden konnten (vgl. Lijphart 1984: 40-45). Diese Kriterien werden von 21 Staaten – zum Großteil OECD Mitgliedern – erfüllt. Die französische Vierte und Fünfte Republik werden als zwei Fälle behandelt, wodurch sich demzufoge 22 Fälle ergeben (vgl. Lijphart 1984: 39). Das zu Beginn beschriebene Westminster-Modell, das auch als Mehrheitsdemokratie bezeichnet wird ist, nach Lijphart in Anlehnung an Dahl, gekennzeichnet durch neun Merkmale (vgl. Lijphart 1984: 2, 6-9): 1. Concentration of executive power: one party bare-majority cabinets 2. Fusion of power and cabinet dominance 3. Asymmetric bicameralism 4. Two-party system 5. One-dimensional party system 6. Plurality system of elections 7. Unitary and centralized government 8. Unwritten constitution and parliamentary sovereignty 9. Exclusively representative democracy

(Lijphart 1984: 10-16). Der Sinn hinter einem solchen Staatsaufbau besteht in der Logik des „government by the majority of the people“ (Lijphart 1984: 21), also eines Staats, in

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