Pictor doctus« et Orbis pictus

oder Rudolf Nehmer und die Dresdner Bildtradition: Kunst zwischen Klassik, Romantik und ... Photographic Image im Solomon R. Guggenheim museum für jene neue ... für den Schaffensprozess des bildenden Künstlers zur ewigen.
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Rudolf Nehmer

Gerd-Helge Vogel

Rudolf Nehmer (1912 – 1983)

Lukas Verlag

»Pictor doctus« et Orbis pictus oder Rudolf Nehmer und die Dresdner Bildtradition: Kunst zwischen Klassik, Romantik und Realismus Gerd-Helge Vogel

Rudolf Nehmer in der Tradition eines »pictor doctus« »Tüchtige saubere Malkunst zeigt Rudolf Nehmer, der haargenau seine Vorwürfe ausmalt, so daß er bisweilen nicht der Gefahr entgeht, gemalte Farbfotografien zu zeigen«1. Diese eklatante Fehleinschätzung des künstlerischen Schaffens durch einen westdeutschen Kunstkritiker gelegentlich einer der ersten Kunstausstellungen ostdeutscher Künstler im Westen im Jahre 1957 zeigt deutlich, wie leicht missverständlich sein Werk aufgefasst wurde, wenn seine Malerei lediglich als virtuoser, aber doch letztlich platter Naturalismus verstanden wurde, der unter westlicher Sicht bestenfalls als Vorläufer des Fotorealismus2 Akzeptanz fand. Aber auch im Osten bestand für Rudolf Nehmer, der in seinem malerischen Schaffen aus den altmeisterlichen Techniken der Neuen Sachlichkeit erwuchs und deshalb die künstlerische Sprache des »neuen Naturalismus« pflegte3, die Gefahr, als unschöpferischer Naturalist verkannt zu werden, der die Wirklichkeit ohne reflektorischen Tiefgang lediglich als simples Abbild wiedergibt. Stimmen aus dem ›Volk‹, die sich besonders während der Diskussionen um Orbis pictus in der Presse zu Wort meldeten, lassen dies erahnen, denn der Hinweis auf »überfeinerte Akribie im naturalistischen Detail« oder die »fast fotografische Treue nachgezeichnete[r] Blüten«4 mussten vom Künstler nicht nur als Komplimente für seine brillanten handwerklichen Fertigkeiten in der Wiedergabe der Realität betrachtet werden, sondern spielten indirekt auf einen entideologisierten Naturalismus an, dessen Wirklichkeitsspiegelung angeblich auch durch die Fotografie ersetzt werden könnte. Damit gefährdeten diese Kunsteinschätzungen, die unter den Bedingungen ideologischer Scheuklappen die Werthaltigkeit von Nehmers Malerei für die Inanspruchnahme der »Ziele des Aufbaus einer neuen Gesellschaft« offenkundig in Frage zu stellen schienen, die Existenzgrundlage des Künstlers in der Gesellschaft des realen Sozialismus. Glücklicherweise gab es aber genug Kunstsachverständige, die diese Gefahr angeblicher Inhaltslosigkeit von Nehmers Kunst, wie sie manchem Kritiker bloß als formale Abschrift der Natur erschien, nicht teilten, sondern, die im Gegenteil, gerade auf die »Weisheit«, »Gleichnishaftigkeit« und »Beseeltheit« seines Schaffens wiesen.5 Damit stellten sie künstlerische Tugenden heraus, die spätestens seit den kunsttheoretischen Reflexion der Renaissancemeister für den Schaffensprozess des bildenden Künstlers zur ewigen Richtschnur geworden waren. Mit Nehmers Bekenntnis zu den altmeisterlichen, also handwerklich auch solide gehandhabten Techniken, sowohl in der Malkunst wie im Holzschnitt, stellte sich der Meister bewusst in diese Traditionslinie. Dabei reduzierte sich das künstlerische Bekenntnis zu den Tugenden der alten Meister nicht nur auf formale Aspekte in der Schilderung der »Pictor doctus« et Orbis pictus

Wirklichkeit, vielmehr schloss es selbstverständlich die gesamte Komplexität verantwortungsbewusster Schaffensweise mit ein. Dazu gehört zunächst nach den theoretischen Überlegungen Karel van Manders die Erfüllung der Hauptbedingungen der Kunst, nämlich, der Besitz einer natürlichen Begabung (ingenium), eines entwickelten Könnens (ars, Kunstfertigkeit) sowie die Geübtheit bzw. Versiertheit (exercitatio, usus) und vor allem auch die »Wellevenheit«, also eine moralisch einwandfreie Lebensführung.6 Doch damit ist es noch längst nicht genug! Der Künstler bedarf nach Leon Battista Albertis Tractat De pictura von 1435, auf dem van Manders 1603/04 erschienene Schrift »Grondt der edel vry schilder-const« als Basis für das Selbstverständnis eines Maler beruht, nicht allein eines integren Charakters, sondern ebenso einer umfassenden Bildung, um schließlich seiner sozialen Aufgabe gerecht werden zu können, nämlich als »Auserwählter […] wenn auch sterblich, wie ein Gott den Menschen und die Natur neu schöpf[en] und neu interpretier[en]« zu können, um letztlich damit »dem Publikum zu gefallen«7, es zu bilden und es sogar zu erziehen. Rudolf Nehmers Selbstverständnis als Künstler schloss sich genau diesem Berufsethos an. Entsprechend ernsthaft waren seine Bemühungen um die Beherrschung der technischen Voraussetzungen wie auch die lebenslange literarische Bildung und Auseinandersetzung mit dem gesamten Fundus der Geistesgeschichte, von der er seine Inspirationen empfing und die er als Erkenntnisse, als Lebensweisheit und als Einfühlungsvermögen in das Wesen von Mensch und Dingen in seine Kunst einfließen ließ. Ohne nur oberflächlich gelehrt zu sein oder gelehrt wirken zu wollen, war er mit dieser Einstellung im klassischen Sinne ein »pictor doctus«, also ein gelehrter Künstler, der erfindungsreich in seinen Bildern – Stillleben, Porträts und Holzschnitten – nach der Darstellung tieferer Bezüge strebte. 1 -ock 1957. 2 Der Begriff des Fotorealismus als Stilströmung der westlichen Moderne wurde erst 1966 nach der programmatischen New Yorker Ausstellung The Photographic Image im Solomon R. Guggenheim Museum für jene neue Kunstrichtung als Synonym für Hyperrealismus oder Radikaler Realismus geprägt, die mit Hilfe fotografischer Verfahren eine bewusste Gegenströmung zur damals vorherrschenden abstrakten Malerei einleitete. 3 Vgl. Schwarz 2012, S. 22 bzw. Dalbajewa 2012, S. 8–9. 4 Vgl. die Meinungsäußerungen von Volker Weidner, Alexander Burenkow und Andreas Krell im ST-Forum: Orbis pictus, in: Sächsisches Tageblatt (undatierter Zeitungsausschnitt, vor dem 28. Juni 1972. 5 Vgl. Wenzkat 1972a. – Tilgner 1972. – Emmrich 1977 u.a.m. 6 Vgl. Mander 1973, Bd. I, S. 70–83, zitiert nach: Vignau-Wilberg 1977, S. 182. 7 Alberti 1540, zitiert nach: Vignau-Wilberg 1977, S. 182.

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