Paternalismus und Konsequentialismus - Buch.de

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PATERNALISMUS UND KONSEQUENTIALISMUS Kühler / Nossek (Hrsg.) ·

Sind konsequentialistische Ethiktheorien prinzipiell in der Lage, die Konzepte von Autonomie und individueller Freiheit angemessen zu integrieren? Verfügt der Konsequentialismus über das theoretische Rüstzeug, paternalistische Eingriffe in die Freiheit oder Autonomie der Individuen angemessen zu begrenzen? Dies sind die zentralen Fragen des als ThesisMeets-Critics angelegten vorliegenden Bandes; und Thomas Gutmann beantwortet sie in seinem Hauptbeitrag negativ. Seine These lautet, dass der Konsequentialismus aus sich heraus weder eine angemessene normative Theorie noch eine Kritik des Paternalismus hervorzubringen vermag, wenn innerhalb eines moralischen oder rechtlichen Rahmens der Einzelne als Einzelner respektiert und ein geschützter individueller Entscheidungsspielraum etabliert werden soll. Die weiteren Beiträge sind der kritischen Reflexion dieser These gewidmet und prüfen die Argumente, die Thomas Gutmann für sie vorbringt. Eine Replik Gutmanns auf die kritische Diskussion seines Hauptbeitrags beschließt den Band. Die agonale Form dieser Debatte, Ergebnis der gemeinsamen Diskussion zwischen den Mitgliedern, Fellows und MitarbeiterInnen der Münsteraner KollegForschergruppe „Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“, ermöglicht in detaillierter und pointierter Weise, Rechenschaft über die Argumentationsressourcen zu geben, die zur Klärung der zentralen Fragen herangezogen werden müssen.

ISBN 978-3-89785-324-9

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Michael Kühler / Alexa Nossek (Hrsg.)

PATERNALISMUS UND KONSEQUENTIALISMUS ethica

Kühler /Nossek (Hrsg.) · Paternalismus und Konsequentialismus

ethica Herausgegeben von Dieter Sturma und Michael Quante

Michael Kühler, Alexa Nossek (Hrsg.)

Paternalismus und Konsequentialismus

mentis MÜNSTER

Einbandabbildung: Stefan Klatt, Paternalismus und Konsequentialismus Das Werk wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit Mitteln gefördert, die der Kolleg-Forschergruppe »Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik« bewilligt wurden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. = ethica, Band 27

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier

© 2014 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-324-9 (Print) ISBN 978-3-89785-894-7 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort .................................................................................................................... 7 Einleitung ................................................................................................................. 9 Michael Kühler Paternalismus und Konsequentialismus ........................................................... 27 Thomas Gutmann Paternalismus und der Wert der Autonomie .................................................... 67 Ludwig Siep Führt der Utilitarismus zu einem unbegrenzten Paternalismus? .................. 75 Oliver Hallich Motor- und Handbremse – Die antipaternalistischen Ressourcen konsequentialistischer Ethik ............................................................................... 89 Johann S. Ach und Bettina Schöne-Seifert Rechte und Autonomie im Utilitarismus ........................................................ 109 Bernward Gesang Was heißt: den Paternalismus angemessen begrenzen? ............................... 129 Dominik Düber Maximierungsgebot und die Grenzen der Moral – im Allgemeinen und bei John Stuart Mill im Besonderen ........................................................ 151 Thomas Schramme Der Paternalismus-Einwand gegen den capabilities approach ......................... 161 Sebastian Laukötter Maximale Paternalismusresistenz – eine Errungenschaft subjektiver Theorien des Guten ........................................................................................... 179 Annette Dufner Erwiderung ......................................................................................................... 199 Thomas Gutmann Literatur ............................................................................................................... 217 Index .................................................................................................................... 237 Über die Autorinnen und Autoren .................................................................. 247

VORWORT Der vorliegende Band ist im Zuge der Arbeit der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Kolleg-Forschergruppe Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster entstanden. Einer der Themenschwerpunkte der Arbeit der Kolleg-Forschergruppe besteht in der kritischen Aufarbeitung des Potentials konsequentialistischer Ethiktheorien. Eine besonders umstrittene Frage hierbei lautet, inwieweit konsequentialistische Ethiktheorien die Konzepte von Autonomie und individueller Freiheit angemessen zu integrieren in der Lage sind. Der vorliegende Band ist eines der Ergebnisse der gemeinsamen Diskussion zwischen den Mitgliedern, Fellows und MitarbeiterInnen der Kolleg-Forschergruppe. In dem Bemühen, eine unserem Arbeitsprozess angemessene Publikationsform zu finden, haben wir den Band als Thesis-Meets-Critics-Anthologie konzipiert: Nach einer allgemeinen Einleitung in die Debatte, die zugleich eine knappe inhaltliche Übersicht über die einzelnen Beiträge bietet, begründet Thomas Gutmann in seinem Hauptbeitrag die These, dass eine konsequentialistische Ethik prinzipiell nicht in der Lage ist, den Paternalismus in einer angemessenen Weise zu begrenzen. Die weiteren acht Beiträge sind der kritischen Reflexion dieser These und der Argumente Gutmanns gewidmet. Eine Replik Gutmanns auf die kritische Diskussion seines Hauptbeitrags beschließt den Band. (Verweise auf Gutmanns Hauptbeitrag sind hierbei durchweg im Fließtext durch Seitenzahlen in runden Klammern kenntlich gemacht. Bei Verweisen auf die übrigen Beiträge im vorliegenden Band ist zusätzlich der Name des Autors/der Autorin angeführt.) Wir gehen davon aus, dass diese agonale Form der Debatte besonders geeignet ist, den LeserInnen Rechenschaft über die Argumentationsressourcen zu geben, die zur Klärung der hier verhandelten Frage zur Verfügung stehen. Unser herzlicher Dank gilt zuallererst Thomas Gutmann, der das Projekt initiiert und auf den Weg gebracht hat. Ohne seine Initiative und sein kontinuierliches Engagement gäbe es diesen Band nicht. Ebenso möchten wir uns bei allen weiteren Autoren und Autorinnen bedanken, die durch ihre Beiträge und ihre Bereitschaft, ganz gezielt auf die Gutmann’schen Thesen und Argumente einzugehen, die gemeinsame Diskussion erst derart gewinnbringend und lebhaft gestaltet haben. Ein herzlicher Dank gilt zudem allen weiteren Mitgliedern der Kolleg-Forschergruppe, die sich an der gemeinsamen Diskussion beteiligt, wertvolle Anregungen gegeben und die Entstehung des Bandes mit Rat und Tat unterstützt haben: Kurt Bayertz, Michael Quante, Reinold Schmücker und

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Vorwort

Ulrich Willems. Gleiches gilt für all diejenigen Fellows, MitarbeiterInnen und Assoziierte der Kolleg-Forschergruppe, deren wertvolle Beiträge die gemeinsame Diskussion ebenfalls stark bereichert haben: Joel Anderson, Marcia Day und James F. Childress, Arnd Pollmann, Peter Schaber, Thomas Schmidt, Volker H. Schmidt und Massimo La Torre; Birgit Beck, Barbara Stroop, Fabian Wenner und Manon Westphal; sowie Alena Buyx, Simon Derpmann, Bijan Fateh-Moghadam, Markus Rüther, Marco Stier und Lioba Welling. Last but not least gilt unser großer Dank Alisa Hüske, Carolyn Iselt, Felix Krause, Ruth Langer, Michael Sabuga und Konstantin Schnieder für ihre unschätzbare Hilfe beim Erstellen dieses Bandes sowie Stefan Klatt für die exzellente Gestaltung der Einbandabbildung. Michael Kühler und Alexa Nossek Münster, März 2014

EINLEITUNG Michael Kühler Verfügt der Konsequentialismus über das theoretische Rüstzeug, paternalistische Eingriffe in die Freiheit bzw. Autonomie der Individuen strikt oder immerhin angemessen zu begrenzen? Dies ist die zentrale Frage des vorliegenden Bandes, und Thomas Gutmann beantwortet sie in seinem Hauptbeitrag negativ. Seine These lautet, dass der Konsequentialismus aus sich heraus weder eine angemessene normative Theorie noch eine Kritik des Paternalismus hervorzubringen vermag, wenn innerhalb eines moralischen oder rechtlichen Rahmens der Einzelne als Einzelner respektiert und ein geschützter individueller Entscheidungsspielraum etabliert werden soll (vgl. 27). Zwar lassen hybride konsequentialistische Positionen die Formulierung einer plausiblen Adäquatheitsbedingung zur Begrenzung paternalistischer Eingriffe zu. Diese Möglichkeit resultiert jedoch nicht aus den konsequentialistischen Momenten der Theorie, sondern aus den nicht-konsequentialistischen Ergänzungen bzw. Modifikationen. Wie überzeugend ist Gutmanns in dieser Hinsicht fundamentale Kritik am Konsequentialismus? Die weiteren Beiträge des Bandes sind ihrerseits einer kritischen Überprüfung und Einschätzung von Gutmanns Argumenten gewidmet, wobei Gutmann auf sie nochmals in einer abschließenden Replik reagiert. Im Hintergrund dieser Thesis-Meets-Critics-Struktur steht die Hoffnung, die moraltheoretische Grundsatzdebatte zwischen konsequentialistischen und utilitaristischen Positionen einerseits und deontologischen Ansätzen andererseits, die letztlich durch fundamental konkurrierende und nicht aufeinander reduzierbare Intuitionen geprägt zu sein scheint, auf indirekte Art voranzubringen, indem die jeweiligen theorieimmanenten Potentiale dahingehend ausgelotet werden, wie weit die entscheidenden Momente der anderen Position aufgenommen und integriert werden können (vgl. 199f.). Die Frage der Paternalismusresistenz des Konsequentialismus stellt insofern eine Spielart dieser indirekten Auseinandersetzung dar.1 Im Rahmen dieser Einleitung sollen zunächst die beiden maßgeblichen Begriffe ‚Konsequentialismus‘ und ‚Paternalismus‘ knapp in ihrem Bedeutungsspielraum skizziert werden. Anschließend werden überblicksartig die 1

Umgekehrt wären deontologische Ansätze beispielsweise daraufhin zu befragen, inwieweit sie der Intuition erecht zu werden vermögen, dass in Fällen, in denen nicht alle Individuen gerettet werden können, die bloße Anzahl der Individuen einen entscheidenden Unterschied hinsichtlich des moralisch Geforderten machen kann. Siehe hierzu exemplarisch Taurek 1977 und Lübbe 2004.

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Hauptstränge der Kritik Gutmanns sowie der nachfolgenden Entgegnungen dargestellt. I. KONSEQUENTIALISMUS Eine konsequentialistische Moraltheorie zeichnet sich, wie der Name sagt, im Kern dadurch aus, dass es allein oder zumindest primär die Konsequenzen bzw. Folgen einer Handlung sind, die darüber entscheiden, ob eine Handlung moralisch richtig oder falsch, gut oder schlecht ist. 2 Nur wenn durch eine Handlung die (außermoralisch) besten oder zumindest hinreichend gute3 Folgen realisiert werden, zu erwarten sind oder zumindest seitens des Akteurs intendiert werden, ist die Handlung auch als moralisch richtig bzw. gut zu beurteilen. Bereits in dieser Formulierung wird ein erster Spielraum an Möglichkeiten in der Rede von Handlungsfolgen deutlich.4 Denn aus moraltheoretischer Sicht sind es keineswegs notwendig nur die tatsächlich eingetretenen Handlungsfolgen, die zu beachten sind – diese sind ohnehin nur partiell vom Akteur abhängig und lassen sich durch ihre Auswirkungen auf weitere zukünftige Ereignisse zudem zu keinem bestimmten Zeitpunkt vollständig bestimmen. Zur Debatte stehen deshalb häufig entweder die vom Akteur beabsichtigten oder vorausgesehenen oder zumindest voraussehbaren Folgen, wobei letztere häufig wiederum durch gesellschaftliche normative Standards festgelegt werden, d. h. dadurch, was man voneinander als unter normalen Umständen voraussehbar erwartet. Ein zweiter Spielraum ergibt sich aus dem Umstand, dass sich die Folgen, von denen die Rede ist, unterschiedlichen Ursachen bzw. Umständen verdanken können. Entscheidend ist hierbei vor allem die klassische Unterscheidung zwischen Akt- und Regelkonsequentialismus.5 Während aktkonsequentialistische Ansätze die Folgen einzelner Handlungen ins Zentrum stel2

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Einen hilfreichen aktuellen Überblick zum Konsequentialismus bietet Sinnott-Armstrong 2012. Konsequentialistische Moraltheorien stehen damit insbesondere deontologischen Ansätzen gegenüber, denen zufolge nicht die Folgen einer Handlung, sondern vielmehr ihre intrinsische moralische Richtigkeit oder Notwendigkeit moraltheoretisch entscheidend ist. Eine weitere grundsätzliche Alternative bieten tugendethische Ansätze, denen zufolge die entscheidende Frage lautet, ob der Akteur in seinem Handeln eine charakterliche ethische Exzellenz an den Tag gelegt hat, d. h. eben tugendhaft gehandelt hat. Für eine knappe Übersicht über diese drei prominenten moraltheoretischen Alternativen siehe Quante 2011, Kap. VIII. Eine weitere hilfreiche einführende Darstellung findet sich in Birnbacher 2003, Kap. 4-5 und 7.5. Angesprochen ist damit die Idee des ‚Satisficing‘ im Gegensatz zu einer strengen Maximierungsforderung. Siehe hierzu Slote/Pettit 1984. Vgl. für die folgenden Differenzierungen Birnbacher 2003, 178-186. Wobei diese Unterscheidung insbesondere innerhalb utilitaristischer Konzeptionen einflussreich ist, d. h. wenn zwischen Akt- und Regelutilitarismus unterschieden wird.

Einleitung

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len, konzentriert sich ein Regelkonsequentialismus auf die Folgen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung einer Handlungsregel ergeben. Im Rahmen eines konsequentialistischen Zwei-Ebenen-Modells lassen sich beide Ansätze dabei durchaus gemeinsam vertreten, wobei ihr innertheoretisches Verhältnis jedoch notorisch umstritten ist. Üblich ist die Auffassung, dass regelkonsequentialistischen Erwägungen lediglich ein Prima-facie-Status zukommt oder sie im Sinne von Sekundärprinzipien oder ‚Daumenregeln‘ zu interpretieren sind,6 während in jedem Einzelfall letztlich das aktkonsequentialistische Urteil entscheidend ist.7 Schließlich kommt ein dritter, handlungstheoretischer Spielraum hinzu. Denn das naheliegende rein kausale Verständnis von Handlungsfolgen ist ebenfalls keineswegs alternativlos. „‚Folgen‘ eines Ereignisses ‚e‘ sind alle Ereignisse, für die e entweder (im Grenzfall) allein oder (normalerweise) in Verbindung mit relevanten Zusatzbedingungen hinreichend ist“,8 wie Gottfried Seebaß in exemplarischer Weise das generelle Verständnis von ‚Folgen‘ expliziert. Denkbar sind deshalb eine ganze Reihe unterschiedlicher Arten von Handlungsfolgen.9 An erster Stelle stehen, wie erwähnt, die kausalen Folgen einer Handlung. Wenn die Handlung beispielsweise in dem Werfen eines faustgroßen Steins besteht, so könnte eine kausale Folge des Wurfes in dem Zerbrechen einer Fensterscheibe bestehen, wenn der Stein mit ausreichender Geschwindigkeit auf sie trifft. Die Handlung gilt insofern als Initiator oder zumindest als entscheidendes Glied innerhalb einer Kausalkette von Ereignissen. Denn hätte der Akteur nicht gehandelt, d. h. den Stein nicht geworfen, dann wäre die Fensterscheibe nicht zu Bruch gegangen. Deshalb schreiben wir üblicherweise zumindest zeitlich naheliegende kausale Folgen, wie etwa das Zerbrechen der Fensterscheibe, dem Akteur zu, d. h. betrachten ihn als hierfür verantwortlich. Je größer der zeitliche Abstand zwischen Handlung und kausaler Folge jedoch wird, desto zögerlicher werden wir in der Verantwortungszuschreibung dieser Folgen, da zumeist eine Vielzahl weiterer kausaler Faktoren ins Spiel kommt, die vom Akteur weder beeinflusst noch intendiert oder auch vorausgesehen werden (können). Eine Fokussierung auf ein derart kausales Verständnis der Handlungsfolgen liegt vor allem dann nahe, wenn man an einen hedonistischen Konsequentialismus denkt, dem zufolge es um die Maximierung faktisch empfundener Lustgefühle geht – zumindest wenn man davon ausgeht, dass Lust6

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Klassisch in diesem Sinne Mill 1977 [1859], 224f., wobei die Frage, ob Mill nun einen Akt- oder Regelutilitarismus vertritt, ebenfalls notorisch umstritten ist. So etwa das einflussreiche Zwei-Ebenen-Modell Richard M. Hares. Siehe v. a. Hare 1982. Seebaß 1993, 235, Fn. 12. Für die folgende Darstellung der unterschiedlichen Arten von Handlungsfolgen vgl. Seebaß 1993, 15f., und 234ff., Fn. 9-12.

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empfindungen durch bestimmte Handlungen kausal hervorgerufen werden (können). Vor diesem Hintergrund speist sich beispielsweise einerseits die Plausibilität der berühmten ‚Erfahrungsmaschine‘ Robert Nozicks,10 andererseits aber zugleich auch die Kritik an diesem einseitigen Verständnis. Die Folgen einer Handlung können auch nichtkausal-faktischer Art sein, z. B. schlicht durch die Änderung der raumzeitlichen Position des Akteurs. So hat ein Überqueren der Straße die nichtkausal-faktische Folge, dass sich der Akteur nicht mehr am ursprünglichen Ort befindet. Des Weiteren können Handlungsfolgen logischer Art sein, etwa begriffsanalytischer oder definitorischer Art. So könnte beispielsweise der Beweis von p zugleich logisch zur Folge haben, dass non-q bewiesen ist, und „[w]er ‚paßt‘, wenn er an die Reihe kommt, ‚paßt oder erhöht seinen Einsatz‘ und erweist sich damit (nicht durch sein Passen allein) als regelkonformer Pokerspieler.“11 Deutlich einschlägiger als nichtkausal-faktische und logische Folgen sind für die folgende Diskussion jedoch nichtkausal-konventionelle Folgen, d. h. (weit verstandene) normative Folgen aller Art, insbesondere moralische und rechtliche. Beispielsweise hat mein schnelles Autofahren, das auf dieser Straße durch die (normativ-rechtlich) festgelegte Höchstgeschwindigkeit als zu schnell gilt, die normativ-rechtliche Folge, dass ich eine Geldbuße zahlen soll. Im Gegensatz zu den primär naturbedingten kausalen Handlungsfolgen sind normative Folgen ausschließlich menschengemacht und bleiben damit prinzipiell veränderbar. Ob die mit ‚ungenügend‘ bewertete Arbeit eines Studenten tatsächlich zur (normativen) Folge hat, dass er das Studienmodul endgültig nicht bestanden hat und daraufhin den kompletten Studiengang nicht mehr erfolgreich abschließen kann bzw. darf, ist keineswegs naturgegeben, sondern eine – durch Änderung der Studienordnung – veränderbare normativ-rechtliche Festlegung. Dieser Umstand gilt insbesondere für all jene Folgen, die sich erst unter Rückgriff auf grundsätzlich normativ definierte und damit zugleich normativ umstrittene Begriffe, wie etwa ‚Glück‘, ‚Wohl‘, ‚Autonomie‘ und ‚Paternalismus‘, ergeben bzw. einsichtig machen lassen. Ob und gegebenenfalls inwiefern Handlungen demnach überhaupt die Förderung des ‚Glücks‘ oder ‚Wohls‘ der Betroffenen zur Folge haben oder als umstrittene ‚paternalistische‘ Eingriffe in die ‚Autonomie‘ einer Person gelten, hängt in entscheidender Weise davon ab, wie die einschlägigen Begriffe hier (normativ) definiert sind.12 Die Spannbreite der Positionen zum Verständnis des ‚Glücks‘ oder 10 11 12

Vgl. Nozick 1974, 42f. Seebaß 1993, 235, Fn. 10. Zur Bedeutungsvielfalt des Paternalismusbegriffs siehe den folgenden Abschnitt. Der Be-

Einleitung

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des ‚Wohls‘ einer Person erstreckt sich von subjektivistischen hedonistischen Theorien über Theorien (aufgeklärter) Wunsch- oder Präferenzerfüllung bis hin zu objektivistischen Thesen hinsichtlich bestimmter Güterlisten. 13 Umstritten ist dabei nicht zuletzt, welche Rolle – falls überhaupt eine – hierbei der Freiheit und insbesondere der selbst wiederum normativ umstrittenen Konzeption der Autonomie der Person jeweils zukommt bzw. zukommen sollte. Selbst unter Voraussetzung eines metaphysischen Autonomiebegriffs und dem Zugeständnis, dass dessen Definition nicht im engeren Sinne normativ, sondern eben metaphysisch umstritten ist, gilt, dass immerhin mit Blick auf die geforderte Achtung vor der Autonomie der Person normativ umstritten bleibt, worin diese wiederum genau bestehen und wie weit sie gegebenenfalls reichen soll, d. h. umgekehrt unter welchen Voraussetzungen eine paternalistische Missachtung der Autonomie allererst als solche verstanden werden kann und dann gegebenenfalls zu kritisieren ist. Der Rückgriff auf normative Begriffsfestlegungen und die mit ihnen verbundenen konzeptionellen Implikationen ist für das Verständnis des Konsequentialismus und sein Verhältnis zum Paternalismus auch deshalb interessant, weil Eingriffe in die Freiheit oder Autonomie der Individuen damit eben nicht nur unter kausaler Perspektive, sondern ausdrücklich auch als normativ-konzeptionelle Folgen betrachtet werden können. Statt also zu behaupten, eine Handlung sei intrinsisch moralisch richtig oder falsch, gut oder schlecht, wie es deontologische Theorien tun, könnte nunmehr konsequentialistisch die These vertreten werden, dass die Handlung sehr wohl aufgrund ihrer Folgen moralisch richtig oder falsch, gut oder schlecht ist, diese Folgen aber eben als normativ-konzeptionelle Folgen aufzufassen sind. Eine paternalistische Handlung wäre damit nicht deshalb zu kritisieren, weil sie in deontologischem Sinne eine Missachtung der Autonomie der betroffenen Person wäre und deshalb intrinsisch als moralisch falsch zu beurteilen ist, z. B. Kantisch durch die mangelnde Universalisierbarkeit ihrer zugrunde liegenden Maxime, sondern weil sie in konsequentialistischem Sinne die normativ-konzeptionelle Folge hätte, die Autonomie der betroffenen Person einzuschränken oder zu übergehen, und diese Folge nunmehr als (normativ) schlechter zu beurteilen ist als die sich aus der Unterlassung der Handlung ergebende. Auch wenn der Konsequentialismus eine solche handlungstheoretische Analyse zulässt und unter Umständen gar notwendig voraussetzt,14 so liegt

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griff der Autonomie lässt sich mit Gutmann hier der Einfachheit halber grob so verstehen, „dass eine autonome Person befähigt ist, ihre je individuellen Lebensziele zu wählen und effektiv zu verfolgen“ (22). Siehe exemplarisch die Beiträge in Steinfath 1998 und in Hoesch/Muders/Rüther 2013. Auf die eine oder andere Weise sind ohnehin sämtliche moraltheoretischen Ansätze, d. h. auch deontologische und tugendethische Positionen, mit dieser Analyse konfrontiert.

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der moraltheoretisch gewichtigste Aspekt für die Kritik an paternalistischen Handlungen dennoch an anderer Stelle, und zwar in der jeweils vorausgesetzten Axiologie. Diese muss die These enthalten, dass Autonomie bzw. deren Achtung nicht nur in einem gewissen Sinne wertvoll ist, sondern zudem wertvoller als ihre Missachtung, selbst wenn diese eine paternalistische ist. Die konsequentialistisch zu beantwortende Frage lautet deshalb, aus welchen Gründen paternalistische Eingriffe in die Freiheit oder Autonomie außermoralisch schlechte bzw. schlechtere Folgen als die entsprechenden Unterlassungen zeitigen, seien die Folgen nun kausaler oder normativer Art. Warum also sollte es grundsätzlich oder doch immerhin zumeist schlechter sein, paternalistisch zu handeln, als die Freiheit und Autonomie der betroffenen Person zu achten? Als Antwort auf diese Frage sind grundsätzlich zwei Strategien vorstellbar: Erstens könnte innerhalb der konsequentialistischen Axiologie der Autonomie ein partieller oder auch grundsätzlicher Vorrang eingeräumt werden. Allerdings bleibt fraglich, ob diese axiologische Festlegung auf Autonomie als einem vorrangigen Wert durch ausschließlich konsequentialistische Erwägungen begründet werden kann, und zwar gerade wenn man dies handlungstheoretisch im Sinne normativer Folgen versteht. Es liegt der Verdacht nahe, dass die erforderliche normative Begründung für den Vorrang der Autonomie auf nicht-konsequentialistische Momente setzen muss, um überhaupt Aussicht auf Erfolg zu haben. Dies ist denn auch Gutmanns Einschätzung (vgl. 35f. und 66). Zweitens könnte konsequentialistisch die These vertreten werden, dass die Gesamtabwägung der Folgen paternalistischer Eingriffe stets oder zumindest in den relevanten Fällen dazu führt, ihre Unterlassungen zu fordern. Ein Antipaternalismus würde demnach generell oder doch in den entscheidenden Fällen außermoralisch bessere bzw. – angesichts der obigen handlungstheoretischen Erläuterungen – auch normativ bessere Folgen zeitigen. Allerdings läuft der Konsequentialismus an dieser Stelle Gefahr, dass zum einen der zuletzt genannte Verweis auf die besseren normativen Folgen nur erneut auf eine nicht-konsequentialistische normative Begründung angewiesen bleibt und dass zum anderen der Rückgriff auf die außermoralisch besseren Folgen einer notwendigen empirischen Überprüfung nicht standhält. Entsprechend formuliert auch Gutmann seine Kritik (vgl. 35f. und 42f.). II.

PATERNALISMUS

Wie aber sind paternalistische Eingriffe ihrerseits genau zu verstehen? Welchen Bedeutungsspielraum umfasst der Paternalismusbegriff? Eine erste Be-