Ostpreußen November 1944 AWS

Flucht vor dem Feind kommt nicht in Frage. Unser Land wird mit allen deutschen Leibern verteidigt!“ Unter ihrer Schminke sah man, dass Hen- riette Henseleit eine sehr bleiche, fast schon kranke Gesichtsfarbe hatte. „Ich dachte ...“, stammelte sie. „Ich dachte, nach dem Angriff der Russen im Oktober muss man auf alles.
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Norbert Kleinschmidt

Erzfeinde Kriminalroman

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© 2017 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2017 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag Coverbild: fotolia: Bernstein, Gold der Ostsee Datei: 88503126, Urheber: bitfuerbit Printed in Germany Taschenbuch: Großdruck: eBook epub: eBook PDF: Sonderdruck

ISBN 978-3-8459-2338-3 ISBN 978-3-8459-2339-0 ISBN 978-3-8459-2340-6 ISBN 978-3-8459-2341-3 Mini-Buch ohne ISBN

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Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. 3

Urbansdorf / Ostpreußen November 1944

Henriette Henseleit hatte ihre Sonntagssachen herausgesucht, angesichts der grimmigen Kälte verborgen unter ihrem dicken Lodenmantel mit Pelzkragen. Sie hatte sich mit ein wenig Rouge und Lippenstift so fein herausgeputzt, wie es der Wintertag in diesen Zeiten eben möglich machte. Die eiskalte Luft, die sie einatmete, war kristallklar. Henriette hatte das vierzigste Lebensjahr überschritten. Erst beim genaueren Hinsehen bemerkte man trotz ihrer drahtigen Figur, dass sie im Gesicht älter wirkte. Die Kriegsjahre hatten in Form deutlich eingegrabener Falten Spuren hinterlassen. An den Schläfen wurden zwischen ihren rotblonden Locken graue Strähnen sichtbar. Die einstigen Lachfältchen an den Augen waren zu Furchen geworden, seit ihr 4

Mann Thomas während der Schlacht von Stalingrad als vermisst gemeldet wurde. Als „vermisst“ galt Thomas offiziell zwar immer noch, aber Henriette machte sich schon lange keine Illusionen mehr. Entschlossen betrat sie das rotbraun geklinkerte Gebäude des Bürgermeisteramts, vor dem ein stählerner Adler das Hakenkreuz mit seinen Krallen festhielt. Darunter befand sich ein Schild mit der Aufschrift „Ortsgruppenleiter Urbansdorf“. Hinrich Malchow-Seitz war noch ein junger Mann, nur ein paar Jahre älter als Henriettes eigener Sohn Herbert. Eigentlich war Hinrich nur der stellvertretender Ortsgruppenleiter, aber Karl Ritter von Eylow, sein Vorgänger und jahrelanger Visionär für die deutsche Ostbesiedlung, war beim ersten Angriff der Russen im Oktober gefallen. Als Spross der alten Gutsherrenfamilie Malchow und als begabter Napola-Schüler galt Hinrich als Ideal5

besetzung auf diesem Posten. Henriette kannte ihn von Jugend auf. Den Würgereiz, der sie beim Betreten der Amtsräume befiel, unterdrückte sie mit einem leichten Hüsteln. Die Luft hier drinnen kam ihr spackig vor, eine Mischung aus schwefeliger Braunkohle, deren Abluft aus den Öfen nicht richtig abzog, und dem feuchten Mief nasser Mäntel, die an der Garderobe hingen. Sie hörte klackende Stiefeltritte, eine Tür wurde quietschend geöffnet. „Heil Hitler, Ortsgruppenleiter“, rief sie den rechten Arm halb erhebend. „Heil Hitler!“, entgegnete Hinrich MalchowSeitz. „Was kann ich für Sie tun, Frau Henseleit?“ Hinrich Malchow-Seitz lächelte kurz. Dann kehrten seine Züge wieder in die jahrelang eingeübte abweisende Schärfe des Ausdrucks zurück. Der Mitte zwanzigjährige sah aus wie ein Urtyp der NS-Propaganda: Dichtes stroh6

blondes Haar, über den Ohren scharf rasiert, bedeckte den Kopf seines fast eins neunzig großen kräftigen Körpers. Die Uniform und seine militärisch stramme Haltung gaben ihm eine Ausstrahlung, die Widerspruch gar nicht erst ermöglichte. „Ich bin gekommen, Ortsgruppenleiter“, hüstelte Henriette erneut und unterbrach sich. „Es ist wegen meines Antrages für einen Treck nach Westen. Ich habe ein Gespann ...“ „Liebe Frau Henseleit“, unterbrach Malchow-Seitz, ging mit seinen Stiefeln klackend zwei Schritte zur Seite und griff mit beiden Daumen in den Koppel, der seine Uniformhose eng umschloss. „Sie wollen mir doch nicht sagen, dass sie Ostpreußen verlassen wollen?“ „Ich habe zwei Pferde und einen Wagen. Mein Herbert … er und Irmi sind das einzige, was ...“ 7

„Der Führer hat befohlen, dass Ostpreußen um jeden Preis gehalten werden muss. Die Flucht vor dem Feind kommt nicht in Frage. Unser Land wird mit allen deutschen Leibern verteidigt!“ Unter ihrer Schminke sah man, dass Henriette Henseleit eine sehr bleiche, fast schon kranke Gesichtsfarbe hatte. „Ich dachte ...“, stammelte sie. „Ich dachte, nach dem Angriff der Russen im Oktober muss man auf alles gefasst sein. Und jetzt sind ja nur noch Herbert, die kleine Irmgard und ich übrig.“ „Deswegen wollen Sie Ihr Vaterland verlassen?“, fragte der Ortsgruppenleiter und lachte in sich hinein. „Dieser Angriff der Bolschewisten war einmalig, das sage ich Ihnen. Und das Massaker, das diese Untermenschen in Nemmersdorf angerichtet haben, wird von der Wehrmacht unbarmherzig bestraft werden.“ Malchow-Seitz kippte in seiner militärisch 8

strammen Haltung leicht vor und zurück. „Haben Sie Vertrauen in den Führer, Frau Henseleit! Er lässt Wunderwaffen bauen, die diesen bolschewistischen Provokationen sehr schnell ein Ende bereiten.“ Henriette wurde angesichts dieser Antwort etwas zaghaft zumute. Sie hustet wieder, aber diesmal nicht nur wegen der rußig-feuchten Luft im Raum. Sie bekam einen echten Hustenanfall. „Wir … wir haben Verwandte in Stettin.“ Sie schnappte nach Luft. „Dort will ich hin mit meinen Kindern, dem einzigen, das mir geblieben ist.“ Ein paar Mal atmete sie tief durch. „Stettin ist nicht sehr weit.“ „Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, Frau Henseleit!“ Der Ortsgruppenleiter machte eine wegwerfende Handbewegung. „Der Führerbefehl ist ganz eindeutig. Ostpreußen wird um jeden Preis gehalten. Von Politik verstehen Sie vielleicht nicht viel. Aber was glauben 9

Sie, welchen Eindruck es machen würde, wenn die deutsche Wehrmacht heldenhaft die Russen bekämpft und feige Zivilisten sich auf die Flucht begeben. Das ist Defätismus, Frau Henseleit, das ist fast schon Verrat am Vaterland! Machen Sie sich das klar!“ MalchowSeitz baute seinen Körper gegenüber der kleinen Frau auf und sah sie mit unbewegter Miene an. „Ich dachte nur, Ortsgruppenleiter, es wird bald Winter.“ Er verzog sein Gesicht zu einem überlegenen Grinsen. „Der Volkssturm, den der Führer kürzlich einberufen hat, braucht immer neue Mitglieder, die die kämpfende Truppe unterstützen. Ist Ihr Sohn nicht allmählich im wehrfähigen Alter?“ Henriettes Blässe trat mit ihrem erschrockenen Blick deutlicher zutage. „Mein Herbert ist erst fünfzehn“, erwiderte sie tonlos. 10

„Das wissen wir“, entgegnete er immer noch lächelnd. „Aber mir liegt ein Schreiben aus Berlin vor, nach dem bald auch der Geburtsjahrgang 1929 für den Volkssturm vorgesehen wird. Ich rechne ziemlich schnell mit einer dementsprechenden Weisung.“ Ruckartig drehte er sich um und schritt hinter seinen Schreibtisch. „Sie verstehen doch, dass das Reich in diesem Völkerringen jeden wehrfähigen Mann benötigt.“ „Ich verstehe nur, dass Sie mich nicht fahren lassen wollen, Herr Malchow-Seitz. Dabei wissen Sie nicht, dass alle weg wollen. Keiner glaubt mehr dem Gerede der Partei. Alle haben Angst und treffen ihre Vorbereitungen. Aber ...“, ihre Stimme begann zu krächzen. „Aber meinen Jungen bekommt ihr nicht.“ Sie wandte sich zum Gehen. „Frau Henseleit! Warten Sie!“ Er schritt an ihr vorbei zur Tür und straffte seine Haltung. „Ich kann Ihnen meinen Wagen nach Steinha11

gen anbieten. Ich habe jetzt Feierabend und möchte selbst auch nach Hause.“ MalchowSeitz hielt ihr die Tür auf. „Danke! Ich bin mit Pferd und Wagen da – dem Wagen, mit dem ich nach Stettin will.“ „Heil Hitler, Frau Henseleit!“ Grußlos verließ Henriette den Raum.

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Steinhagen / Ostpreußen November 1944

Der Posten am Ortseingang drückte die Zigarette aus. Er ging ein paar Schritte auf und ab. Zum ersten Mal in diesem Jahr empfand er die Luft als winterlich kalt. Kurt Dressler versuchte, sich mit flügelschlagenden Armbewegungen Wärme aus dem eigenen Körper heraus zu verschaffen. Er zündete sich eine weitere Zigarette an und musste beim Einatmen husten. Er konnte eigentlich froh sein, dieses Kommando an seinem Heimatort zu haben. Mit seinen zwanzig Jahren war er schon ziemlich weit in Russland herumgekommen, bis nach Leningrad, und nun konnte er ein paar hundert Meter von seinem Elternhaus Dienst tun.

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Dieser Krieg konnte für einen Soldaten in jeder Minute zu Ende sein. Aber Kurt selbst hatte – abgesehen von Tieffliegerangriffen – erst einmal eine wirklich lebensgefährliche Situation erlebt, vor vier Wochen, als die Russen gekommen waren. Urplötzlich standen sie in der Rominter Heide. Der Rotarmist, der ihm aus dem Gebüsch ins Schussfeld gelaufen war, hatte ihn zu Tode erschreckt. Zum ersten Mal hatte er „den Feind“ vor sich – einen Menschen, der abgehetzt aussah und bei seinem Anblick die Augen vor Schreck weit aufriss. Er hatte ihn noch aus etwa zwanzig Meter Entfernung angerufen. Dann hatte der Russe seine Waffe angelegt. Stehend sah Kurt zu, wie er mit ausholendem Arm eine Garbe auf in abfeuerte. Links und rechts hörte er die sirrende Munition ins Erdreich einschlagen. Ungläubig, nicht getroffen zu sein, hob er viel zu spät seine Waffe. Mit einem Gefühl, das schon jenseits der Angst war, und ohne jeden 14

Hauch von Zorn schoss er ohne zu zielen einfach geradeaus. Er hörte einen Schrei, lief auf den Russen zu und stellte fest, dass er ihn mehrfach getroffen haben musste. In seinem Bauch sickerte aus einigen Wunden Blut. Der Mann röchelte in tiefen stockenden Atemzügen. Dann floss das Blut auch aus seinem Mund. Kurt ergriff die rechte Hand des besiegten Feindes. Der Russe drückte so fest zu, dass es schmerzte. Fast fürchtete er, der Sterbende würde ihm die Finger brechen, dann ließ der Druck nach. Die Hand des toten Rotarmisten fiel zur Seite. Kurt stand auf und blickte sich um. Er hörte Gewehrfeuer, aber er sah keinen seiner Kameraden. Er musste sich zurückziehen und den Anschluss an seine Einheit finden. Mit einem Blick auf das noch immer aus dem Bauch sickernde Blut des Russen, wurde ihm klar, dass er zum ersten Mal in seinem Leben einen Menschen getötet hatte. 15