Moralische Dilemmata als wahreWidersprüche - Buch.de

Helen Bohse-Nehrig. Moralische Dilemmata als wahre Widersprüche. Argumente für eine dialethistische Semantik im moralischen Diskurs mentis. MÜNSTER ...
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ISBN 978-3-89785-808-4

Bohse-Nehrig · Moralische

Moralische Dilemmata lassen sich als Situationen charakterisieren, in denen sich eine Person zwei gleich starken moralischen Verpflichtungen gegenübersieht, die nicht beide zugleich erfüllt werden können. Mit diesen Situationen ist eine intuitiv gespürte Widersprüchlichkeit verbunden: Wofür sich die Person auch entscheidet, immer scheint sie damit zugleich etwas moralisch Falsches zu tun. In diesem Buch wird die spürbare Widersprüchlichkeit auf einen tatsächlichen logischen Widerspruch zurückgeführt, und es wird eine Lösung für dieses theoretische Problem moralischer Dilemmata entwickelt, die in der Revision der klassischen Semantik im Sinne des Dialethismus - also der These, dass sich Wahrheit und Falschheit nicht ausschließen - besteht. Ziel ist es zu zeigen, dass eine parakonsistente Lösung für das Problem moralischer Dilemmata, derzufolge wir es in diesen Situationen mit wahren Widersprüchen zu tun haben, eine ernst zu nehmende Alternative ist, die mindestens gleichberechtigt neben anderen Ansätzen steht – wenn sie sich nicht sogar in vielen Punkten als plausibler erweist.

Dilemmata als wahre Widersprüche

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Helen Bohse-Nehrig

Moralische Dilemmata als wahre Widersprüche Argumente für eine dialethistische Semantik im moralischen Diskurs

Bohse-Nehrig · Moralische Dilemmata als wahre Widersprüche

Helen Bohse-Nehrig

Moralische Dilemmata als wahre Widersprüche Argumente für eine dialethistische Semantik im moralischen Diskurs

mentis MÜNSTER

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Zugl. Dissertation der Freien Universität Berlin

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Für Gillian und Bernd Bohse

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 11

1.6.3

Moralische Dilemmata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das symmetrische Auswahldilemma als paradigmatischer Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Arten von moralischen Verpflichtungen . . . . . . . . . . Die Operatoren deontischer Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lösbare und unlösbare Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Charakterisierung moralischer Dilemmata . . . . . . . . Das Argument der moralischen Gefühle . . . . . . . . . . . . . . Das Argument der kontrafaktischen Überlegungen . . . . . . Versuche, die Möglichkeit moralischer Dilemmata zu bestreiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Strategie: Es gibt keine Dilemmata . . . . . . . . . . . . . . Zweite Strategie: Gleich starke Verpflichtungen heben sich auf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dritte Strategie: Die disjunktive Lösung . . . . . . . . . . . . . .

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5 2.4.6 2.4.7 2.4.8

Das Problem moralischer Dilemmata . . . . . . . . . . . . Das Sollen-impliziert-Können-Argument . . . . . . . . . . . . Das Sollen-impliziert-Erlaubt-Argument . . . . . . . . . . . . Das theoretische Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deontische Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Standard Deontic Logic (SDL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gültigkeit von OIP und AGG in SDL . . . . . . . . . . . . . . Argumente gegen das Agglomerationsprinzip (AGG) . . . Das Abgeschlossenheitsprinzip (ABG) . . . . . . . . . . . . . . Das Sollen-impliziert-Können-Prinzip (OIC) . . . . . . . . . Argumente gegen SDL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Sollen-impliziert-Erlaubt-Prinzip (OIP) . . . . . . . . . Fazit aus der Diskussion der deontischen Prinzipien . . . .

. . . . . . . . . . . . .

61 62 63 65 68 69 74 74 79 80 88 95 97

3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3

Partikularismus, Dialethismus, Wahrheit . . . . . . . . . Moral als Theorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Einwand aus generalistischer Perspektive . . . . . . . . . . Partikularismus als Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moralische Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101 101 105 112 117

1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.5.1 1.5.2 1.6 1.6.1 1.6.2

12 15 18 21 26 29 46 48 49 50 51

8

3.1.4 3.1.5 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4

Inhaltsverzeichnis

Einwände gegen den Partikularismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine quasi-generalistische Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine parakonsistente Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die These des Dialethismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrheit, Falschheit und Nicht-Wahrheit . . . . . . . . . . . . . Echte Ablehnung und bloße Falschheit . . . . . . . . . . . . . . . Wahrheitswertüberschüsse und Wahrheitswertlücken . . . . Einwände gegen den Dialethismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist das Problem moralischer Dilemmata gelöst? . . . . . . . . . Parakonsistente Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrheit im moralischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Idee der Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist moralische Wahrheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine minimale Auffassung von Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . Logischer Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120 123 134 135 141 144 147 150 157 159 165 165 168 172 176

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181 185 187

Einleitung

Wir verbinden mit moralischen Dilemmata eine intuitiv gespürte Widersprüchlichkeit. Auch ohne die speziellen Charakteristika dieser Situationen im Detail näher bestimmt zu haben, denken wir sofort an besonders tragische Konfliktsituationen, in denen sich Personen zwei moralischen Erfordernissen gegenübersehen, die nicht beide zugleich erfüllt werden können. Wofür wir uns auch entscheiden, immer scheinen wir damit zugleich etwas moralisch Falsches zu tun. In dieser Arbeit wird die spürbare Widersprüchlichkeit auf einen tatsächlichen logischen Widerspruch, mit dem wir es in dilemmatischen Situationen zu tun haben, zurückgeführt, und es werden die sich daraus für unser Verständnis von Wahrheit ergebenden Konsequenzen dargestellt. Im ersten Kapitel wird eine Charakterisierung moralischer Dilemmata vorgeschlagen und dafür argumentiert, dass in diesen Situationen tatsächlich zwei gleich starke moralische Verpflichtungen vorliegen. Das zweite Kapitel entfaltet das theoretische Problem, das sich aus moralischen Dilemmata ergibt, und diskutiert die Gültigkeit bestimmter Prinzipien deontischer Logik. Im dritten Kapitel folgen zunächst Überlegungen zur Bildung unserer moralischen Urteile, bevor eine Lösung für das theoretische Problem moralischer Dilemmata, die in einer Revision der klassischen Semantik im Sinne des Dialethismus besteht, entwickelt wird. Den Abschluss bildet eine Skizze dazu, wie diese Revision unser Verständnis von Wahrheit im moralischen Diskurs berührt.

1 Moralische Dilemmata

In diesem ersten Kapitel soll zunächst eine Charakterisierung moralischer Dilemmata entwickelt und für die mögliche Existenz solcher Situationen argumentiert werden. Diese Charakterisierung moralischer Dilemmata wird dann im folgenden Kapitel als Ausgangspunkt für die Diskussion des so genannten Problems moralischer Dilemmata dienen, das in der Ableitbarkeit eines logischen Widerspruchs aus moralisch dilemmatischen Situationen besteht. Die möglichst exakte Beschreibung dessen, was unter einem moralischen Dilemma verstanden werden soll, ist von entscheidender Bedeutung für den weiteren Argumentationsgang, da – wie an verschiedenen Punkten immer wieder deutlich werden wird – die Konsequenzen, die sich aus dilemmatischen Situationen ergeben bzw. Aussagen darüber, ob Dilemmata überhaupt existieren können, wesentlich von der Definition dieser Situationen abhängen. Im Grunde sollte diese Feststellung nicht überraschen: Ob eine bestimmte Situation überhaupt auftreten kann, hängt auch davon ab, wie diese Situation definiert ist. Im Falle moralischer Dilemmata scheinen Fragen der korrekten Charakterisierung und Fragen der möglichen Existenz jedoch besonders eng miteinander verwoben zu sein, und Überzeugungen hinsichtlich der möglichen Existenz solcher Situationen scheinen Einfluss auf ihre Charakterisierung zu haben. Wer also der Meinung ist, unser Moralsystem dürfe dilemmatische Situationen nicht zulassen, wird möglicherweise eine Charakterisierung dieser Situationen vorschlagen, die Dilemmata auch tatsächlich ausschließt. 1 Meine These lautet hier, dass es Situationen geben kann, auf die die von mir vorgeschlagene Charakterisierung zutrifft. Moralische Dilemmata sind demnach nicht a priori ausgeschlossen, ihre Existenz ist also möglich. Es sind zahlreiche Situationen denkbar, die wir intuitiv als dilemmatisch bezeichnen würden. Ohne Zweifel wären alle diese Fälle es wert, ausführlich diskutiert zu werden. Für die Zwecke dieser Arbeit, die in erster Linie eine metaethische Betrachtung des Problems moralischer Dilemmata darstellt und in der ein neuer Lösungsvorschlag für dieses Problem entwickelt wird, scheint es mir ratsamer, die Diskussion anhand eines einzigen, paradigmatischen Dilemmas zu führen, um mich nicht in ethische Fragen der ersten, normativen Ebene zu vertiefen, die letztlich dem übergeordneten Argumentationsziel nicht dienlich sind. Die Bedeutung und Relevanz praktischer ethi1

Vgl. Weber (2002).

12

1 Moralische Dilemmata

scher Fragen sowie der Diskussion um konkrete moralische Ge- und Verbote soll hier nicht übersehen oder gar geleugnet werden, ihr kann und muss im Rahmen dieser Arbeit aber nicht Rechnung getragen werden.

1.1 Das symmetrische Auswahldilemma als paradigmatischer Fall Den paradigmatischen Fall eines Dilemmas, der als Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen dienen wird, bezeichne ich als das symmetrische Auswahldilemma. Ein klassisches Beispiel aus der Literatur ist das Dilemma in William Styrons Sophie’s Choice. 2 Sophie wird mit ihren beiden Kindern in ein Konzentrationslager gebracht, wo ihr eröffnet wird, dass sie eines der beiden Kinder auszuwählen habe, das dann sofort getötet werde, während das andere zunächst in der für Kinder vorgesehenen Baracke untergebracht werde. Weigere sie sich, eines der Kinder zu bestimmen, würden beide sofort getötet. Ich bezeichne diesen Fall als symmetrisch, weil sich die beiden Handlungsalternativen, zu denen Sophie offenbar verpflichtet ist, – nämlich sowohl das eine Kind als auch das andere Kind vor dem sicheren Tod zu retten –, in ihrer moralischen Relevanz nicht unterscheiden. Um die Symmetrie zu verschärfen, könnte man nun beispielsweise zusätzlich annehmen, dass es sich bei den Geschwistern um eineiige Zwillinge handelt; diese Verschärfung ist aber für die weitere Argumentation nicht zwingend erforderlich. Entscheidend ist, dass sich keine Rangordnung zwischen den beiden Geboten, das eine Kind zu retten und das andere Kind zu retten, herstellen lässt und dass die Gebote in diesem Sinne als gleich stark zu bezeichnen sind. Abzugrenzen sind symmetrische Dilemmata von asymmetrischen Dilemmata, in denen sich die beiden unvereinbaren Handlungsalternativen ihrer moralischen Natur nach unterscheiden. Ein Beispiel für einen solchen Fall, der – ohne hier eine detailliertere Analyse vorzunehmen – zumindest intuitiv als asymmetrisches Dilemma bezeichnet werden kann, ist der Fall des Frankfurter Polizeipräsidenten, der einem Kindesentführer Gewalt androhen ließ, um ihn dazu zu bringen, den Aufenthaltsort des Kindes preiszugeben. 3 In diesem Fall steht dem Gebot, das Leben des Kindes zu retten, das Verbot, einem Tatverdächtigen Gewalt anzudrohen, gegenüber, und es kann nicht sowohl das Ge- als auch das Verbot befolgt werden. 4 Im 2 3

4

Styron (1980). Vgl. Christoph Albrecht, »Die Tragödie der Folter«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.02.2003. Hier wird vorausgesetzt, dass der Polizeipräsident das Leben des Kindes nicht retten kann, ohne dem Verdächtigen Gewalt anzudrohen. Diese Annahme lässt sich natürlich bestreiten:

1.1 Das symmetrische Auswahldilemma als paradigmatischer Fall

13

Gegensatz zum symmetrischen Fall unterscheiden sich hier die Handlungsalternativen im moralischen Sinne – im einen Fall geht es um Lebensrettung, im anderen Fall um Androhung von Gewalt. Man könnte auch sagen, dass es sich um unterschiedliche moralische Werte handelt: einmal um den Wert der Lebensrettung, das andere Mal um den Wert der Vermeidung von Gewaltandrohung. Um auch hier von einem Dilemma sprechen zu können, muss zusätzlich davon ausgegangen werden, dass keine Rangordnung zwischen den beiden Verpflichtungen hergestellt werden kann. Dies ist bei asymmetrischen Dilemmata sehr viel schwieriger als in symmetrischen Fällen, in denen sich die Handlungsalternativen in moralischer Hinsicht nicht unterscheiden. Sobald es um die Vergleichbarkeit moralischer Werte geht, entstehen zusätzliche Probleme, auf die hier jedoch nicht im Detail eingegangen werden kann: Es wäre zu klären, ob und in welchem Sinne moralische Werte vergleichbar sind, ob sie in eine Rangordnung gebracht werden können und ob es für eine Betrachtung moralischer Dilemmata überhaupt nötig ist, von einer solchen Vergleichbarkeit auszugehen. Vielleicht genügt bereits die Inkommensurabilität von Werten, um bestimmte Situationen als (asymmetrische) Dilemmata bezeichnen zu können. In diesem Fall wären die beiden Verpflichtungsurteile nicht gleich stark, sondern unvergleichbar, so dass gilt: Weder ist eines der beiden Verpflichtungs- oder Werturteile stärker als das andere, noch sind sie beide gleich stark. 5 Auf eine Diskussion asymmetrischer Dilemmata soll hier jedoch verzichtet werden, da sich für die metaethische These, die in dieser Arbeit vertreten werden soll, bereits anhand symmetrischer Dilemmata argumentieren lässt. Neben dem »Sophie’s Choice«-Fall lassen sich andere Situationen konstruieren, die als symmetrische Auswahldilemmata bezeichnet werden können, so zum Beispiel der Fall des Arztes, der in einer abgelegenen Gegend des australischen Outbacks zu zwei Schlangenbissopfern gerufen wird, aber nur eine Einzeldosis des Antiserums mit sich führt, und vor der Entscheidung steht, welchem Patienten er das Gegenmittel verabreicht und welchen er durch diese Entscheidung sterben lässt. Oder aber eine Situation, in der eine auf einer Brücke stehende Person beobachtet, wie zwei spielende Kinder die Böschung herunterrutschen und von der Strömung mitgerissen werden. Die Beobachterin kann nach einem Sprung von der Brücke nur einem der beiden Kinder entgegen schwimmen, um es zu retten. Welches Kind wird sie wählen?

5

Möglicherweise ließe sich der Aufenthaltsort auf andere Weise in Erfahrung bringen. Zur Illustration dessen, was unter einem asymmetrischen Dilemma zu verstehen ist, sind diese Details an dieser Stelle jedoch irrelevant. Zur Inkommensurabilität von Werten s. Raz (1986).

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1 Moralische Dilemmata

Es mag sein, dass diese Beispiele auf den ersten Blick sehr konstruiert und realitätsfern wirken, woraufhin sich die Frage aufdrängt, inwiefern die Diskussion eines Problems, das an solchen Beispielen illustriert wird, überhaupt ein ernstzunehmendes Unterfangen ist. Hier erinnere ich an meinen Hinweis zu Beginn dieses Abschnitts: Natürlich ließe sich die metaethische bzw. logische These, die ich mit dieser Arbeit zu plausibilisieren beabsichtige, auch anhand realistischerer, praktischerer, »interessanterer« Beispiele entwickeln. Wenn meine These eine allgemeingültige ist, dann trifft sie natürlich auch auf weniger konstruierte, realistischere Situationen zu, von denen gezeigt werden kann, dass sie unter meine Charakterisierung moralischer Dilemmata fallen. Zum Zwecke der geplanten metaethischen Argumentation ist es allerdings sinnvoller, sich gewissermaßen unter »moralischen Laborbedingungen« auf die Aspekte des Problems zu beschränken, auf die es für die Motivation einer bestimmten These ankommt. Lebensnähere Beispiele für Dilemmata werden dann ebenfalls diese Struktur aufweisen – gleichwohl ist damit nicht ausgeschlossen, dass die Charakterisierung insgesamt nur auf wenige Fälle zutrifft. Den genannten Fällen, die als paradigmatische Beispiele für Dilemmata gelten sollen, ist gemein, dass sich eine Person zumindest auf den ersten Blick zwei gleich starken 6 und – von einem moralischen Standpunkt gesehen – gleichartigen Verpflichtungen gegenübersieht, die zwar einzeln, aber nicht gemeinsam erfüllt werden können. Unter Umständen regen sich schon bei dieser ersten, intuitiven Beschreibung der Situation als einer, in der jemand sich zwei unvereinbaren Verpflichtungen gegenübersieht, erste Zweifel. Können wir überhaupt von zwei Verpflichtungen sprechen, wenn nicht beide erfüllt werden können? Ich werde später auf diesen und auf andere legitime Einwände noch ausführlich eingehen. An dieser Stelle möchte ich mich nur auf einen intuitiven, vortheoretischen Eindruck beziehen, der nicht von der Hand zu weisen ist: Wer zum ersten Mal mit einem solchen Fall konfrontiert ist, kann nicht umhin, den Konflikt zwischen zwei gleichartigen, aber nicht gemeinsam erfüllbaren moralischen Anforderungen zu spüren. Diesen ersten Eindruck von Widersprüchlichkeit, der an dieser Stelle noch nicht im Sinne eines logischen Widerspruchs zu verstehen ist, möchte ich als Teil der moralischen Phänomenologie ernst nehmen und zum Ausgangspunkt meiner Arbeit machen. Auch wenn für eine metaethische Diskussion des Problems moralischer Dilemmata eine weitaus detailliertere Betrachtung der beteiligten moralischen Urteile und Prinzipien nötig ist, die 6

Wie bereits erwähnt, kann bei asymmetrischen Dilemmata möglicherweise nicht von gleicher Stärke gesprochen werden. Exakter im Sinne der Allgemeingültigkeit wäre also die Formulierung »zwei Verpflichtungen, die nicht in eine Rangordnung gebracht werden können«, da sie den Fall der Inkommensurabilität einschließt.