MfS-Untersuchungshaft

blick auf die SED-Herrschaftssicherung. Insbesondere wird analysiert, in welchen. 1 Eine Ausnahme stellte der Bezirk Neubrandenburg dar, dort befand sich die ...
653KB Größe 4 Downloads 181 Ansichten
MfS-Untersuchungshaft

Katrin Passens

MfS-Untersuchungshaft Funktionen und Entwicklung von 1971 bis 1989

Lukas Verlag

Foto auf dem Umschlag: BVfS Gera/Abt. XIV, »Bilddokumentation über die Einlieferung, Führung im Zellenhaus und zur Untersuchungsabteilung, Freihofdurchführung, Unterbringung und Aufnahme (Erkennungsdienst) von inhaftierten Personen« v. August 1980, in: BStU/MfS/BV Gera/Abt. XIV 0034, Bl. 28.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

© by Lukas Verlag Erstausgabe, 1. Auflage 2012 Zugl.: Diss., FU Berlin, 2011 Alle Rechte vorbehalten Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte Kollwitzstraße 57 D–10405 Berlin www.lukasverlag.com Korrektorat und Satz: Jana Pippel (Lukas Verlag) Umschlag: Lukas Verlag Druck: Elbe Druckerei Wittenberg Printed in Germany ISBN 978–3–86732–123–5

Inhalt

Einleitung Forschungsgegenstand und Fragestellung Methode und Aufbau Forschungsstand Quellen Editorische Hinweise Das MfS als staatliches Untersuchungsorgan mit eigenen Untersuchungshaftanstalten

9 9 11 13 18 22

24 Gesetzliche Grundlagen 24 Die »Linie IX«: Das Untersuchungsorgan des MfS 27 Stellung und Aufgabenzuweisung im MfS 27 Organisationsstruktur und Tätigkeitsschwerpunkte 28 Die HA IX in der MfS-Zentrale in Berlin 28 Die Abteilungen IX in den MfS-Bezirksverwaltungen 32 Die Mitarbeiter: fachliche und ideologische Anforderungen 33 Zusammenfassung 35 Die »Linie XIV«: Das Untersuchungshaftvollzugsorgan des MfS 35 Stellung und Aufgabenzuweisung im MfS 35 Organisationsstruktur und Tätigkeitsschwerpunkte 36 Die Abt. XIV in der MfS-Zentrale in Berlin 36 Die Abteilungen XIV in den MfS-Bezirksverwaltungen 39 Die Mitarbeiter: fachliche und ideologische Anforderungen 40 Das Verhältnis zwischen den »Linien XIV« und »IX« 42 Zusammenfassung 44 Ermittlungen und Untersuchungshaft beim MfS 45 Ermittlungen und Verhaftung 45 Einleitungsvoraussetzungen und Unterstellungsverhältnis bei Ermittlungsverfahren 45 Verdeckte Ermittlungen im Vorfeld von Ermittlungsverfahren 48 Verhaftung 50 Untersuchungshaft und Vernehmung 52 Einlieferung 52 Praxis der Untersuchungshaft 53 Untersuchungshaft als Mittel zur Informationsgewinnung 63 Zusammenfassung 65 Die Untersuchungshaftanstalten 66 Zusammenfassung 80

Politische Rahmenbedingungen der MfS-Untersuchungshaft

81 Außenpolitische Entwicklung 81 1971 bis 1980 82 1981 bis 1989 84 Zusammenfassung 86 Innenpolitische Situation 87 1971 bis 1980 87 1981 bis 1989 90 Zusammenfassung 93 Opposition im SED-Staat 94 Opposition aus Sicht von SED und MfS 94 Opposition als gestaltende Kraft 97 Begriffsbestimmung 97 Die Entwicklung der Opposition von 1971 bis 1989 98 Zusammenfassung 102 Die Entwicklung des politischen Strafrechts 103 Gegenstand und Zielsetzung des Strafrechts unter besonderer Berücksichtigung des politischen Strafrechts 103 Die Strafrechtsänderungsgesetze in den 70er Jahren 106 Das 1. StÄG von 1974 106 Das 2. StÄG von 1977 107 Das 3. StÄG von 1979 110 Zusammenfassung 113 Phasen der MfS-Untersuchungshaft

114 114

Phase I: 1971 bis 1975 Ermittlungsverfahren mit Haft: gängiger Abschluss von »Operativen Vorgängen« 116 Haftbedingungen als Spiegel des »politisch-operativen« Nutzens: zentrale Regelungen 119 Geheimpolizeiliches Informationsaufkommen als integraler Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit 125 Grundlagen und Ausmaß der Ermittlungsverfahren 127 Schwerpunkte und abschließende Entscheidung der Ermittlungsverfahren 129 Zusammenfassung 133 Phase II: 1976 bis 1982 135 »Zersetzung« – ein »zeitgemäßes« Verfolgungsinstrument 137 Zielstellungen, Maßnahmen, Betroffene 137 Abgestimmte Repression: Eigenständigkeit und Verzahnung mit Inhaftierung 139 Wirkungsebene: Die Frage nach der Effizienz 141 Ermittlungstätigkeit im Kontext der »Verrechtlichung« der Strafrechtspraxis 142 Einflussfaktoren bei Ermittlungsverfahren 145 6

Inhalt

Inhaftierungen im Zusammenhang mit der Biermann-Ausbürgerung: Hartes Durchgreifen mit Bumerang-Effekt 155 Solidarität mit Biermann: Handhabe und Vorwand für Inhaftierung 156 Auswirkungen im Bereich des Untersuchungshaftvollzuges 163 Die Bekämpfung von Ausreiseantragstellern 164 Grundlagen und Ausmaß der Ermittlungsverfahren 173 Schwerpunkte und abschließende Entscheidung der Ermittlungsverfahren 175 Zusammenfassung 181 Phase III: 1983 bis 1986 184 Inhaftierungen von Angehörigen der staatsunabhängigen Friedens- und Umweltbewegung im »Heißen Herbst« 1983 188 Der Friedenskreis Pankow 188 Die »Storkower Tunnelmaler« 191 Frauen für den Frieden/Berlin 194 »Eine Antwort schafft sieben Leiden« – Die Vorbereitung von Oppositionellen auf eine Inhaftierung 198 Mentale Vorbereitung 198 Rechtliche Vorbereitung 201 Praktische Vorbereitung 203 Auswirkungen der Haftvorbereitung 203 Solidarität mit Inhaftierten 206 Grundlagen und Ausmaß der Ermittlungsverfahren 212 Schwerpunkte und abschließende Entscheidung der Ermittlungsverfahren 214 »Sachverhaltsprüfungen« – Verfolgungsinstrument zur Ahndung von Aktivitäten im strafrechtlichen Grenzbereich 219 Zusammenfassung 222 Phase IV: 1987 bis 1989 226 Die Initiative Frieden und Menschenrechte im Visier des MfS 228 Der Bumerang-Effekt einer konzertierten Aktion: Die »Zions-Affäre« 228 Der Staat holt zum Gegenschlag aus: Die Ereignisse um die »LuxemburgLiebknecht-Demonstration« am 17. Januar 1988 in Berlin 234 MfS-Repression im Herbst 1989 244 Bedeutungsverlust der Untersuchungshaft in der geheimpolizeilichen Verfolgungspraxis 244 Brutales Intermezzo: Leipzig, Dresden und Berlin 250 Institutioneller Abgesang 253 Grundlagen und Ausmaß der Ermittlungsverfahren 254 Schwerpunkte und abschließende Entscheidung der Ermittlungsverfahren 257 Zusammenfassung 261 Ergebnisse und Perspektiven

Inhalt

266

7

Anhang

285

Tabellen Tabelle 1 Deliktschlüssel der Ermittlungsverfahren der »Linie IX« 1971 bis 1988 Tabelle 2 Verteilung der Ermittlungsverfahren der »Linie IX« auf die MfS-Zentrale und -Bezirksverwaltungen 1971 bis 1988 Tabelle 3 Grundlage für die Einleitung von Ermittlungsverfahren der »Linie IX« 1971 bis 1988 Tabelle 4 Deliktschlüssel der Verurteilungen bei Ermittlungsver- fahren der »Linie IX« 1971 bis 1988 Tabelle 5 Verurteilungen bei Ermittlungsverfahren der »Linie IX« nach Art und Höhe der Strafen 1971 bis 1988 Tabelle 6 Abschluss der Ermittlungsverfahren der »Linie IX« 1971 bis 1988 Tabelle 7 Bearbeitungsdauer der Ermittlungsverfahren der »Linie IX« 1971 bis 1988 Tabelle 8 Erstvernehmungen der »Linie IX« 1971 bis 1988 Tabelle 9 Ermittlungsverfahren der »Linie IX« gegen Ausreiseantrag steller 1971 bis 1988 Tabelle 10 Ermittlungsverfahren der »Linie IX« gegen Flucht versuchende und Flucht­helfer 1971 bis 1988 Tabelle 11 »Vorkommnis-« und »Sachverhaltsprüfungen« der »Linie IX« 1971 bis 1988

286 286 292 295 299 304 308 310 312 313 314 315

Quellen und Literatur 316 Abkürzungen 341 Dank 344

8

Inhalt

Einleitung Forschungsgegenstand und Fragestellung

Als »Schild und Schwert der Partei« unterhielt das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in der DDR eigene Untersuchungshaftanstalten, in denen die Geheimpolizei selbständig justizförmige Ermittlungsverfahren durchführte. Seit Mitte der 50er Jahre gab es in jeder Bezirksstadt eine, in Berlin darüber hinaus zwei zentrale MfS-­ Untersuchungshaftanstalten1. Die Untersuchungshäftlinge waren von der Außenwelt völlig abgeschottet und von einem regulären Strafverfahren isoliert. Nach einer zumeist mehrmonatigen Untersuchungshaft wurden sie in aller Regel zu Freiheitsstrafen verurteilt. Die MfS-Untersuchungshaft war ein wesentlicher Bestandteil der SED-Herrschaftssicherung. Sie besaß stets zwei grundlegende Funktionen2: eine operative und eine präventive. Ihre Anwendung war allerdings abhängig von unterschiedlichen – zum Teil nicht widerspruchsfreien – Faktoren. Hierzu zählten die außenpolitische Entwicklung, die innenpolitische Situation, die Entwicklung der Opposition sowie die Ausdifferenzierung des politischen Strafrechts. Inwieweit beeinflussten diese Faktoren die Anwendung der MfS-Untersuchungshaft zwischen 1971 und 1989? Eine der Arbeit zugrunde liegende Hypothese ist, dass diese Einflussfaktoren sukzessive eine Veränderung und eine Erweiterung der operativen und präventiven Funktionen der MfS-Untersuchungshaft bewirkt haben. Ausgehend von diesen Überlegungen wird ebenso nach den Intentionen und Maßnahmen gefragt, die das MfS mit der Untersuchungshaft verbunden hat, sowie nach den konkreten Wirkungen dieses Repressionsinstruments3 im Hinblick auf die SED-Herrschaftssicherung. Insbesondere wird analysiert, in welchen 1 Eine Ausnahme stellte der Bezirk Neubrandenburg dar, dort befand sich die Untersuchungshaftanstalt des MfS ab 1987 in der Bezirksstadt. 2 »Funktion« wird in der vorliegenden Untersuchung definiert als Zweck, den etwas in einem System erfüllt. Dabei gehe ich davon aus, dass das MfS mit der Anwendung der Untersuchungshaft verschiedene Intentionen verband, die in der Realität umgesetzt werden sollten. Diese Intentionen konnten genauso aber auch an der Realität scheitern. Die Untersuchung der Funktion der Untersuchungshaft reflektiert insofern vor allem das, was aus den Intentionen des MfS wurde, und analysiert so den Zweck, den die MfS-Untersuchungshaft im SED-Herrschaftssystem erfüllte. Zur Herleitung dieser Begriffsbestimmung vgl. das Statement von Johannes Fried zur Eröffnung des 42. Deutschen Historikertages, abgedruckt in: Marie-Luise Recker/Doris Eizenhöfer/Stefan Kamp (Hg.), Intentionen – Wirklichkeiten. 42. Deutscher Historikertag in Frankfurt am Main 8. bis 11. September 1998. Berichtsband, München 1999, S. 1–6. In den Sozialwissenschaften wird der Funktionsbegriff sehr unterschiedlich definiert und verwendet. Einen guten Überblick zu diesem weiten Feld bietet Walter L. Bühl (Hg.), Funktion und Struktur. Soziologie vor der Geschichte. 11 Aufsätze, München 1975. Ferner vgl. Andreas Reckwitz, Der verschobene Problemzusammenhang des Funktionalismus: Von der Ontologie der sozialen Zweckhaftigkeit zu den Raum-ZeitDistanzierungen, in: Jens Jetzkowitz/Carsten Stark (Hg.), Soziologischer Funktionalismus. Zur Methodologie einer Theorietradition, Opladen 2003, S. 57–81, insbesondere S. 67–69. 3 »Repression« wird in dieser Arbeit synonym für politisch motivierte Unterdrückung benutzt.

Einleitung

9

Kontexten Funktionswandlungen beziehungsweise Funktionsergänzungen der MfS-­Untersuchungshaft erfolgten. Die vorliegende Untersuchung orientiert sich dabei an folgenden Fragen: • Welche Funktionsveränderungen des Repressionsinstrumentes MfS-­Untersuchungshaft lassen sich im Zeitverlauf erkennen? • Wie korrespondierte der Einsatz der MfS-Untersuchungshaft mit den anderen Herrschaftstechniken und der Gesamtstrategie der SED? • Welche konkreten Vorwürfe führten zu einer Inhaftierung? Welche soziologischen Einflussfaktoren (zum Beispiel sozialer Status, Prominenz, Berlin/Provinz) waren von Bedeutung? • Wie haben sich die Inhaftierungsgründe im Untersuchungszeitraum von 1971 bis 1989 verändert und wie wurden sie zu verschiedenen Zeiten vom MfS bewertet? • Ergeben sich für bestimmte Inhaftierungsgründe politische Zäsuren? Kann daraus eine Phasenentwicklung auf der Repressionsseite abgeleitet werden? • Lassen sich daraus wiederum Funktionsveränderungen beziehungsweise Periodi­ sierungen der Nutzung der MfS-Untersuchungshaft als Repressionsinstrument ableiten? Bei der Untersuchung wird davon ausgegangen, dass die wesentlichen Funktionen der Untersuchungshaft auf eine doppelte Art erfüllt wurden, die als Dualität von indirekter und direkter Repression zu verstehen ist: Sowohl die politischen Gegner als auch die breite Bevölkerung waren einer permanent vorhandenen unterschwelligen Bedrohung durch die Existenz der geheimpolizeilichen Untersuchungshaftanstalten ausgesetzt. Diese Form der Unterdrückung wird als indirekte Repression charakterisiert. Direkte Repression hingegen meint die in den Untersuchungshaftanstalten gegen die Inhaftierten zur Anwendung gebrachte psychische Gewalt in Form der MfS-spezifischen Haftprinzipien und Vernehmungsmethoden. Damit ist die MfS-Untersuchungshaft als ein in die Gesellschaft zielendes und zugleich in den Ort der Freiheitsberaubung greifendes Repressionsinstrument anzusehen.4 Die wissenschaftliche Forschung über die MfS-Untersuchungshaft weist bislang erhebliche Lücken auf. Über die sich verändernden Funktionen dieses Repressions­ instruments im Hinblick auf die SED-Herrschaftssicherung ist bislang nur ansatzweise geforscht worden. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, zentrale Aussagen über die Funktion der MfS-Untersuchungshaft im Gesamtkontext des SED-Herrschaftssystems zu treffen. Die Analyse der Funktionen der MfS-Untersuchungshaft als Teil der innenpolitischen Repression soll wesentliche Erkenntnisse über den Machterhalt der SED-Herrschaft und darüber hinaus über die generellen Etablierungsbedingungen von politischer Herrschaft bringen. Während weitestgehend Konsens darüber herrscht, dass es sich bei der DDR um eine Diktatur handelte, besteht keine Einigkeit darüber, für welchen »Typus« von 4 Diese Charakterisierung erfolgt in Anlehnung an Johannes Tuchel, Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der »Inspektion der Konzentrationslager« 1934–1938, Boppard/ Rhein 1991 (= Schriften des Bundesarchivs, 39), S. 5ff.

10

Einleitung

Diktatur die DDR steht.5 Mit den verschiedenen Klassifizierungen werden jeweils, »in idealtypischer Zuspitzung, Merkmale der DDR-Wirklichkeit in den Vordergrund«6 gerückt, die sich aus der vergleichenden Perspektive (Demokratie/Diktatur) ergeben. Unabhängig von der jeweiligen Klassifizierung wird dabei »Repression«, wie sie hier verstanden wird, in den Merkmalskatalog aufgenommen. In aller Regel wird ­»Repression« als ein Mittel zur Herrschaftssicherung bezeichnet. Dieser Ausschnitt wird hier am Beispiel der MfS-Untersuchungshaft genauer betrachtet. Die vorliegende Analyse der MfS-Untersuchungshaft soll insofern auch einen empirisch fundierten Beitrag für die weiterführende Diskussion liefern.7 Methode und Aufbau

Das Repressionsinstrument MfS-Untersuchungshaft wird in einer politikgeschichtlichen Analyse untersucht. Dabei werden die Akten des MfS mit Methoden der modernen historischen Sozialwissenschaft quellenkritisch ausgewertet. Text- und Kontextanalyse stehen hier im Mittelpunkt. Im Anschluss an die Einleitung wird im folgenden Kapitel die Tätigkeit des MfS als staatliches Untersuchungsorgan mit eigenen Untersuchungshaftanstalten fokussiert. Zunächst wird den gesetzlichen Grundlagen für diesen Kernbereich der MfS-Arbeit nachgegangen, um dann die beiden in den Untersuchungshaftanstalten zuständigen Diensteinheiten, die »Linien IX« und »XIV«, vorzustellen. Der zweite Teil des Kapitels befasst sich mit der Ermittlungs- und Untersuchungshaftpraxis beim MfS. Es wird ein Bogen gespannt von den formellen Voraussetzungen für die Ein-

5

Vgl. Jürgen Kocka, Die DDR – eine moderne Diktatur? Überlegungen zur Begriffswahl, in: M ­ ichael Grüttner/Rüdiger Hachtmann/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt/Main/New York 1999, S. 540. Zur Bestimmung des »Wesens« der Diktatur in der DDR werden mitunter sehr unterschiedliche Begriffe benutzt, dazu zählen »totalitär«, »modern« und »kommunistisch«. Auf die verschiedenen Begriffsbestimmungen soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Festzuhalten ist, dass die Diskussion im Wesentlichen um die Frage kreist beziehungsweise aus ihr hervorgegangen ist, ob der Totalitarismusbegriff geeignet ist, den Charakter der Diktatur in der DDR zu analysieren. Der Totalitarismusbegriff selbst wird dabei sehr unterschiedlich definiert. Zum weiten Feld der Totalitarismustheorie(n) und der Diskussion darüber vgl. Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Baden-Baden 1996 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 336); Alfons Söllner/Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997; Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997; Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Totalitarismus. Sechs Vorträge über Gehalt und Reichweite eines klassischen Konzepts der Diktaturforschung, Dresden 1999 (= Berichte und Studien Nr. 18). 6 Kocka 1999, S. 541. 7 Anregend für die vorliegende Arbeit waren insbesondere die Überlegungen von Hannah Arendt und Franz Neumann. Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 4. Aufl., München 1995, S. 608–730; Franz Neumann, Notizen zur Theorie der Diktatur (1957), in: Ders., Demokratischer und autoritärer Staat. Beiträge zur Soziologie der Politik, Frankfurt/Main 1967, S. 147–170. Vgl. auch Peter Graf Kielmansegg, Krise der Totalitarismustheorie? (1974), in: Jesse 1996, S. 286–299; Kocka 1999.

Methode und Aufbau

11

leitung eines Ermittlungsverfahrens mit Haft bis zu der geheimpolizeilichen Realität. Anschließend wendet sich dieser Kapitelteil den Bedingungen der Untersuchungshaft zu. Den dritten und letzten Teil des Kapitels markieren Skizzen der fünfzehn Untersuchungshaftanstalten der MfS-Bezirksverwaltungen und der beiden zentralen Untersuchungshaftanstalten in Berlin. Das dritte Kapitel fokussiert auf die politischen Rahmenbedingungen der MfSUntersuchungshaft. Hier werden die wesentlichen Entwicklungslinien der eingangs erwähnten Einflussfaktoren (Außen- und Innenpolitik, Opposition, politisches Strafrecht) nachgezeichnet. Das vierte Kapitel bildet den Hauptteil der Untersuchung. Hier wird die MfSUntersuchungshaft in einer Phasenuntersuchung analysiert. Die Bildung von Phasen soll Kontinuitäten und Veränderungen der Untersuchungshaft deutlich machen. Inhaltlich erfolgt sie in Korrespondenz mit den Auswirkungen, die die Einflussfaktoren für die Anwendung der MfS-Untersuchungshaft hatten. Die Phasenbildung ist somit heuristisches Hilfsmittel und Arbeitsresultat zugleich. Die in den Phasen behandelten Themen ergeben sich aus dem Untersuchungsmaterial, ohne dass dabei ein Anspruch auf Vollständigkeit verfolgt wird. Der Entscheidung, ein bestimmtes Thema in einer Phase aufzugreifen, lagen im Wesentlichen zwei Kriterien zugrunde: dessen Erstmaligkeit und/oder Relevanz. Das heißt, es handelt sich jeweils um eine Neuerung, die in der Phase eingeführt wurde, diese aber überdauerte, es sei denn, sie wurde abgeschafft. Darüber hinaus fällt dem Thema in dieser Phase eine hervorgehobene Bedeutung zu. Neben den spezifischen Themen stellen die auf statistischen Überlieferungen basierenden Ausführungen zu Grundlagen und Ausmaß sowie Schwerpunkten und Ausgängen von Ermittlungsverfahren einen Schwerpunkt der Phasenuntersuchung dar. Die Analyse wurde in vier Phasen gegliedert: 1971 bis 1975, 1976 bis 1982, 1983 bis 1986 und 1987 bis 1989. Die erste Phase (1971 bis 1975) setzt mit der Amtsübernahme von Erich Honecker ein. Bereits Ende der 60er Jahre wurden vom MfS die Auswirkungen von Inhaftierungen zunehmend kritisch hinterfragt. Die entsprechenden Überlegungen erhielten angesichts der außenpolitischen Anerkennung der DDR ab 1972, ihrer Aufnahme in die Vereinten Nationen (UN) 1973 und schließlich mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki im Sommer 1975 eine zusätzliche Dynamik und machten es aus Sicht des MfS notwendig, seine Verfolgungsinstrumente den neuen innen- und außenpolitischen Erfordernissen anzupassen. Die zweite Phase (1976 bis 1982) ist dadurch gekennzeichnet, dass die Gegnerbekämpfung den veränderten innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen (weiter) angepasst wurde. Verfolgungsmaßnahmen wurden nun verstärkt in das Vorfeld von Inhaftierungen verlagert. Die dritte Phase (1983 bis 1986) ist geprägt durch eine ansteigende innenpolitische »Unruhe« und die Verstetigung oppositionellen Handelns. Die Auseinandersetzung von Oppositionellen mit der Haftsituation im Vorfeld von Inhaftierungen erfolgte erstmals systematisch. Viele Akteure bewegten sich auch ganz bewusst im Grenzbereich des Strafrechts. Das MfS reagierte mit einer weiteren Ausdifferenzierung der 12

Einleitung

Verfolgungsmittel und passte rechtliche Möglichkeiten und Maßnahmen den neuen Erscheinungen an. Die vierte Phase (1987 bis 1989) markiert die Endphase des SED-Regimes. Der MfS-Überfall auf die Umwelt-Bibliothek Berlin (UB) im November 1987 und die Inhaftierungen im Zusammenhang mit der offiziellen Luxemburg-LiebknechtDemonstration im Januar 1988 in Berlin lösten DDR-weit Protestaktionen aus und beförderten den Erosionsprozess in der DDR. Ab dem Sommer 1989 erfuhr die MfS-Untersuchungshaft einen Bedeutungsverlust. Zur Gegnerbekämpfung wurden nun verstärkt »Zuführungen« eingesetzt. Im Anschluss an die Phasenuntersuchung werden im fünften Kapitel abschließend die inhaltlichen Ergebnisse der Analyse zusammengefasst. Hier werden auch Perspektiven für die weitere Forschung eröffnet. Forschungsstand

Es gibt keine Monographie oder Überblicksdarstellung, die sich dem hier zu untersuchenden Thema widmet. Bis 1989 blieben zahlreiche mit dem MfS zusammenhängende Themen und damit auch das der MfS-Untersuchungshaft in der westdeutschen DDR-Forschung größtenteils unbeachtet. Einige inhaltlich und methodisch relevante Publikationen beschäftigen sich jedoch mit der MfS-Untersuchungshaft vor 1971. Vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Kalten Krieges seit Ende der 40er Jahre wurde die politische Verfolgung durch das MfS frühzeitig öffentlich und wissenschaftlich beobachtet und – soweit möglich – erfasst. Die frühen Publikationen basieren vorrangig auf Flüchtlingsberichten und den wenigen in der DDR publizierten offiziellen Bestimmungen. Diese Veröffentlichungen stellen bis heute eine wichtige Materialsammlung dar.8 Darüber hinaus wurden in den 50er und 60er Jahren erste Analysen der MfS-Untersuchungshaft vorgelegt. In diesem Zusammenhang sind besonders die Arbeiten von Karl Wilhelm Fricke von zentraler Bedeutung.9 Fricke entwickelte grundlegende Analysekriterien zur Erfassung der MfS-Untersuchungshaft und hat die weitere Forschung über den Repressionsapparat maßgeblich

8 Vgl. zum Beispiel die Jahrgänge des »SBZ-Archivs« beziehungsweise später des »Deutschland Archivs«; Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.), Unrecht als System. Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen im sowjetischen Besatzungsgebiet, Bonn/Berlin 1952–1962, 4 Bde. 9 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Die Taktik des Menschenraubs. Ein Opfer berichtet, in: SBZ-Archiv. Dokumente, Berichte, Kommentare zu gesamtdeutschen Fragen 10 (1959), H. 12, S. 178–181; Ders., So werden Schauprozesse vorbereitet. Vernehmungstechnik und Geständniserpressung beim Staatssicherheitsdienst, in: SBZ-Archiv. Dokumente, Berichte, Kommentare zu gesamtdeutschen Fragen 10 (1959), H. 14, S. 210–213; Ders., Ein Schauprozeß fand nicht statt. Gründe und Hintergründe eines kommunistischen Gesinnungsurteils, in: SBZ-Archiv. Dokumente, Berichte, Kommentare zu gesamtdeutschen Fragen 10 (1959), H. 20, S. 315–317. Vgl. ferner Gerhard Finn, Die politischen Häftlinge der Sowjetzone 1945–1958, Berlin 1958; Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.), Der Staatssicherheitsdienst. Ein Instrument der politischen Verfolgung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Bonn/Berlin 1962.

Forschungsstand

13

geprägt. So hat er erstmals die mit der MfS-Untersuchungshaft verfolgte zweifache Zielsetzung herausgearbeitet: die Klärung tatsächlicher oder vermeintlich gegen das Regime gerichteter Taten (Aussageerpressung) sowie die »Präparierung« der Untersuchungshäftlinge auf die Gerichtsverhandlung. Bereits in den 50er und 60er Jahren hob die Forschung hervor, dass diese Dualität der Intentionen die Vernehmungsmethoden und Haftprinzipien grundlegend bestimmt hat. Dass politisch Andersdenkende nicht offen wegen ihrer Gesinnung verfolgt wurden, sondern vielmehr moralisch herabgewürdigt werden sollten, indem sie etwa wegen des Vorwurfs der »Spionage« oder der »Diversion« in Untersuchungshaft genommen und vor Gericht gestellt wurden, hat insbesondere Fricke frühzeitig als zweckgerichtetes Mittel analysiert, im persönlichen und politischen Umfeld des Betreffenden Misstrauen und Argwohn zu erzeugen. Der MfS-Untersuchungshaft wurden ebenfalls bereits zu dieser Zeit einander ergänzende operative und präventive Funktionen zugeschrieben. Dementsprechend hat Fricke die politische Repression auch von Beginn an in einem Kausalitätsverhältnis zur Opposition gegen das SED-Regime begriffen10. Darüber hinaus wurde der seit Mitte der 50er/Anfang der 60er Jahre sukzessive einsetzende Wandel in den Vernehmungsmethoden von der Anwendung physischer Gewalt hin zu psychologischen Methoden analysiert sowie als maßgebliche Prinzipien der MfS-Untersuchungshaft die umfassende Desorientierung und systematische Isolierung der Häftlinge ausgemacht. Vor dem Hintergrund der in den 60er Jahren einsetzenden Entspannungspolitik rückte die Erforschung des MfS-Repressionsapparates noch stärker aus dem Blickfeld der westdeutschen DDR-Forschung. Als Fricke 1979 seine dokumentarische Untersuchung der Geschichte der politischen Verfolgung in der SBZ/DDR von 1945 bis 1968 vorlegte11, konnte er daher zu Recht feststellen, dass »die politische Verfolgung im heutigen Staat der SED bisher kaum Gegenstand eingehender Forschungen gewesen«12 ist. Frickes Untersuchung basiert auf einer Fülle von Haftberichten, deren Inhalt seine bisherige Analyse und Bestimmung der MfS-Untersuchungshaft bestätigte. In diesem Zusammenhang arbeitete er die Diskrepanz zwischen Norm und Realität der Strafprozessordnung für das Unterstellungsverhältnis des MfS unter die Staatsanwaltschaft heraus und unterstrich, dass Dauer, Verlauf und Ergebnis der Untersuchungshaft letztlich vom MfS bestimmt wurden. Dieser Befund konnte 1982 in Bezug auf die Dauer der Untersuchungshaft dahingehend weiterentwickelt werden, dass die durch 10 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Selbstbehauptung und Widerstand in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, hg. v. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1964 (= Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland). Diesen Ansatz hat Fricke seinen weiteren Arbeiten zur Repressions- und Oppositionsforschung zugrunde gelegt. Vgl. beispielsweise Ders., Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report, Köln 1984; Ders., Dimensionen von Opposition und Widerstand in der DDR, in: Klaus-Dietmar Henke/Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hg.), Widerstand und Opposition in der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999 (= Schriftenreihe des HannahArendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Bd. 9), S. 21–43. 11 Vgl. Ders., Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945–1968. Bericht und Dokumentation, Köln 1979. 12 Ebd., S. 7.

14

Einleitung