Meditationen.mit.Einfuehrung.in.die.5.Skandhas.Sommerkurs.2010.de


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EINFÜHRUNG ZU DEN FÜNF AGGREGATEN (SKANDHAS)

„WER BIN ICH?“

Teil Eins Lama Sönam Lhündrup

Unterweisungen, Meditationen, sowie Fragen und Antworten zum ersten Kapitel der Abhandlung „Einführung in die Vorgehensweise der Experten“ verfasst vom 1. Mipham Rinpotsche

Croizet-Sommerkurs, August 2010

Die fünf Skandhas

Croizet, August 2010

Inhaltsübersicht

Vorbemerkungen .................................................................................................................. 5 Einleitung .............................................................................................................................. 6

Das Aggregat der Formen ................................................................................... 10 Die vier Ursachenformen ................................................................................................... 10 Die elf Ergebnisformen ...................................................................................................... 10 Fragen: .......................................................................................................................... 14

Das Aggregat der Empfindungen ........................................................................ 19 Das Aggregat der Unterscheidungen .................................................................. 23 Unterscheidungen mit Merkmalen ................................................................................... 23 Unterscheidungen ohne Merkmale ................................................................................... 27 Weitere Unterscheidungen ................................................................................................ 27 Fragen: .......................................................................................................................... 28

Das Aggregat der Gestaltungen .......................................................................... 33 Die fünf stets vorhandenen Geistesaktivitäten ................................................................ 34 1) Interesse ....................................................................................................................... 34 2) Empfinden .................................................................................................................... 35 3) Unterscheiden .............................................................................................................. 35 4) Bewussthalten .............................................................................................................. 35 5) Kontakt ......................................................................................................................... 37 Die fünf Objekt-vergewissernden Faktoren .................................................................... 39 6) Streben ......................................................................................................................... 39 7) Entschlossenheit ........................................................................................................... 39 8) Vergegenwärtigen ........................................................................................................ 39 9) Stabiles Verweilen ........................................................................................................ 40 10) Verstehen.................................................................................................................... 40 Fragen: .......................................................................................................................... 42 Zusammenfassung ........................................................................................................ 46

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Croizet, August 2010

Die elf heilsamen Geistesaktivitäten ................................................................................. 47 11) Vertrauen ................................................................................................................... 47 12) Gewissenhaftigkeit ..................................................................................................... 50 Fragen: .......................................................................................................................... 51 13) Flexibilität .................................................................................................................. 58 14) Gleichmut ................................................................................................................... 59 15) Selbstrespekt .............................................................................................................. 60 16) Rücksichtnahme ......................................................................................................... 61 Fragen und Bemerkungen der Teilnehmer ................................................................... 62 17) Nicht-Begehren .......................................................................................................... 64 18) Nicht-Hassen .............................................................................................................. 66 19) Nicht-Verwirrtsein ..................................................................................................... 67 20) Nicht-Schaden-Wollen ............................................................................................... 69 21) Freudige Ausdauer..................................................................................................... 70 Fragen: .......................................................................................................................... 72

Die nicht heilsamen Geistesaktivitäten ............................................................................. 75 Die sechs primären Belastungen ...................................................................................... 76 22) Unwissenheit .............................................................................................................. 76 Fragen: .......................................................................................................................... 78 23) Begierde ..................................................................................................................... 80 Fragen: .......................................................................................................................... 83 24) Ärger .......................................................................................................................... 90 25) Stolz ............................................................................................................................ 92 Fragen: .......................................................................................................................... 97 26) Zweifel ...................................................................................................................... 101 Fragen: ........................................................................................................................ 103 27) Anschauungen .......................................................................................................... 105 Die zwanzig sekundären emotionalen Belastungen ....................................................... 110 28) Wut ........................................................................................................................... 110 3

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29) Groll ......................................................................................................................... 111 30) Verachtung ............................................................................................................... 111 31) Böswilligkeit ............................................................................................................. 111 32) Eifersucht ................................................................................................................. 111 Fragen: ........................................................................................................................ 112 33) Unaufrichtigkeit ....................................................................................................... 114 34) Scheinheiligkeit ........................................................................................................ 114 35) Mangelnder Selbstrespekt ........................................................................................ 114 36) Rücksichtslosigkeit ................................................................................................... 115 37) Verstellung ............................................................................................................... 115 38) Habgier .................................................................................................................... 115 39) Selbstüberheblichkeit ............................................................................................... 116 40) Mangelndes Vertrauen ............................................................................................. 116 41) Faulheit .................................................................................................................... 121 42) Nachlässigkeit .......................................................................................................... 122 43) Verwirrtes Gedächtnis ............................................................................................. 122 44) Mangelnde Bewusstheit ........................................................................................... 123 45) Dumpfheit ................................................................................................................. 123 46) Wildheit .................................................................................................................... 124 47) Abgelenktsein ........................................................................................................... 124 Fragen: ........................................................................................................................ 125

Die vier veränderlichen Geistesaktivitäten .................................................................... 128 48) Schlaf........................................................................................................................ 128 49) Bedauern .................................................................................................................. 129 50) Nachdenken .............................................................................................................. 129 51) Genaues Untersuchen .............................................................................................. 130 Zusammenfassung ...................................................................................................... 131

Das Aggregat des Bewusstseins ........................................................................ 134 Die sechs Bewusstseinsgruppen ..................................................................................... 134 Bewusstsein aus der Sicht der Nur-Geist-Schule ........................................................... 135 All-Grund-Bewusstsein – Zeitloses Gewahrsein ........................................................... 138 Zusammenfassung ............................................................................................................ 138 Fragen: ........................................................................................................................ 139 Widmung ........................................................................................................................... 144

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Vorbemerkungen Ich heiße euch alle herzlich willkommen und bin sehr froh, wieder den Dharma mit euch teilen zu können. Zu Beginn der Unterweisung halte ich es für angemessen, kurz an die Grundlagen der Dharmapraxis zu erinnern – zuallererst daran, wie kostbar dieses Menschenleben ist, welche unglaublichen Bedingungen zusammen kommen, dass wir jetzt in der Lage sind, den Dharma unter sehr privilegierten Bedingungen zu praktizieren. Dieses kostbare Menschenleben ist kurz. Es kann sehr viel kürzer sein als wir denken, sehr viel kürzer als das, was wir für unsere Lebenserwartung halten. Ich erinnere euch daran, dass letztes Jahr noch Lama Djangtschub unter uns war, der alle Sommerkurse seit dem Anfang von Croizet mitgemacht hat und dessen Leben dann ein Aortenriss ganz unerwartet ein Ende gesetzt hat. Ich nutze diesen Moment, um eine kleine Würdigung von Lama Djangtschub auszusprechen, der mit ungefähr Zwanzig den Dharma kennen gelernt hatte und dann tatsächlich jeden Tag praktiziert hat. Seine Hauptpraxis war Tschenresig und Mahamudra, und als er dann starb, blieb sein Herz nach dem Tod noch zweieinhalb Tage warm, was ein Zeichen dafür ist, dass er diesen Übergang nutzen konnte um zu praktizieren – und das aufgrund seiner ständigen Praxis, die er wirklich jeden Tag, ohne Ausnahme, ausgeführt hat. Der dritte grundlegende Gedanke ist die Überlegung, welche Ursachen ich heute setzen möchte um die entsprechenden Auswirkungen in der Zukunft zu erfahren. Dieses Gesetz von Ursache und Wirkung nennt man das Gesetz von Karma, und es lässt sich in der Frage zusammenfassen: „Was für Handlungen mit Körper, Rede und Geist möchte ich heute ausführen, um den Weg des Erwachens zu gehen?“ Auf dem Weg des Erwachens richten wir uns darauf aus, diese Dimension zu verwirklichen, die völlig frei von Leid ist, frei von Ich-Bezogenheit. Frei zu sein von Ich-Bezogenheit ist die Grundlage des Erwachens. Ich-Bezogenheit führt dazu, dass wir ungeschickte Handlungen ausführen, die zu Spannungen im eigenen Geist führen und zu Spannungen im Geist von anderen. All diese Spannungen sind Ausdruck der emotionalen Verblendung, die uns bei diesem Handeln bestimmt. Diese emotionale Verblendung ist essentiell bedingt durch dieses starke Zentriert-Sein auf ‚mich’, auf das Ich oder Selbst. Aufgrund dieser Analyse des Seins – des samsarischen Seins beruhend auf Ich-Bezogenheit – hat der Buddha einen Weg gelehrt, der jenseits von Ich-Bezogenheit und Leid in die vollkommene Befreiung von allem führt, in das, was wir das Erwachen nennen. Im Grunde genommen könnte Erwachen einfach als das Freisein von aller Ich-Bezogenheit beschrieben werden. Aufgrund derselben Analyse hat der 17. Karmapa – als ich ihm die Frage gestellt habe, welches Thema in diesem Sommerkurs behandelt werden soll – sich gewünscht, dass wir die 51 Geistesfaktoren durchgehen, mithilfe derer wir das Funktionieren des Geistes besser verstehen können; besser verstehen können, was zur Ich-Bezogenheit führt und wie wir sie auflösen können. Wir haben doch letztes Jahr Themen für den Kurs aufgeschrieben, und ich hatte aus euren Vorschlägen fünf Bereiche für die Frage an Karmapa herausgefunden. Er hat keinen einzigen dieser Bereiche wollen, sondern sofort die 51 Geistesfaktoren genannt und möchte, dass wir das miteinander teilen. Die 51 Geistesfaktoren sind das vierte der fünf Skandhas oder Aggregate, und mit der Klassifikation in fünf Skandhas hat der Buddha die Fundamente unserer Ich-Bezogenheit beschrieben. Sie sind das, worauf wir uns stützen, wenn dieses Gefühl von einem Ich entsteht. – Worauf basiert das eigentlich?

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Einleitung Bevor ich mit den formellen Erklärungen beginne, zunächst die Beschreibung, wie es überhaupt zu dieser Unterweisung des Buddha kam: Der Buddha saß in einem kleinen Wäldchen, und es war möglich, mit ihm zu sprechen. Ein Laienpraktizierender stellte ihm die wichtige Frage: „Verehrter Meister! Gibt es ein Ich? Gibt es so etwas wie ein Selbst, ein Atman?“ Der Buddha sagte: „Schau! Mit dem Ich, mit dem Selbst ist es genau wie mit diesem Holzhaufen, der dort liegt.“ – Die Bauern hatten Bäume geschlagen und das Holz zum Trocknen aufgeschichtet. – „Was man Individuum, Person, Ich, Selbst oder Seele nennt, ist genauso wie dieser Holzhaufen.“ Haufen heißt auf Sanskrit skandha. Es ist die Anhäufung, das Zusammenkommen von mehreren Elementen, die dann wieder ein neues Gesamtbild ergeben, so wie viele Holzscheite zusammen geschichtet den Eindruck von einem Holzhaufen ergeben. Mit unserer Ich-Identifikation verhält es sich so wie mit einem Holzhaufen, den man aus der Entfernung betrachtet und denkt: „Ja, da drüben, da ist ein richtig schöner Haufen.“ In der Wahrnehmung ist der Haufen eine Einheit. So erleben wir uns auch selbst in unserem Körper als eine Einheit, als eine zusammenhängende Form oder Gestalt mit Inhalt und bemerken nicht, aus wie vielen Aspekten sich diese Existenz zusammensetzt. Es ist derselbe Irrtum, so wie wir die einzelnen Scheite aus der Ferne betrachtet für ein Ding halten. Wenn wir uns modernere Beispiele anschauen – ein Auto oder das Thangka oder die Scheune hier – dann findet immer dasselbe Phänomen statt. Immer wenn wir ein Ding anschauen, ein Etwas, dann schaffen wir eine Abgrenzung, d.h. dort, wo etwas aufhört und etwas anderes beginnt, ziehen wir eine Grenze und was innerhalb dieser Grenze ist, wird als Einheit betrachtet. So können wir ein Auto von seiner Umgebung abgrenzen und betrachten es als ein Auto. Die Form von Tschenresig auf dem Thangka bezeichnen wir als ‚Tschenresig’, die Scheune lässt sich abgrenzen von der Erde und von der Umgebung drum herum und wird als ‚die Scheune’ betrachtet. Wir erschaffen dieses Konzept und übergehen dabei die Tatsache, dass wir ja die Autoteile auseinander nehmen können, dass das Thangka aus vielen kleinen Pixel besteht, aus Farbpunkten, die da sein können oder auch nicht, die man übermalen kann, auswischen und dergleichen. Die Scheune kann man auch auseinandermontieren, sie kann auch in Flammen aufgehen, die einzelnen Teile können auseinander fallen. Das, was ein Ganzes zu sein scheint, ist im Grunde genommen nur das zeitweilige Zusammenkommen von verschiedenen Bestandteilen. Was wir als Einheit wahrnehmen, aber aus vielen einzelnen Bestandteilen zusammengesetzt ist, hängt von Bedingungen ab. So lange die Bedingungen stabil sind, die das Objekt zusammen halten, wird es sich als diese Einheit zeigen. Wenn die Bedingungen sich aber ändern, dann wird sich auch das Objekt ändern. Weil die Bedingungen nicht mehr vorhanden sind, wird es auseinander fallen. Das, was da unter bestimmten Bedingungen zusammengefügt wurde, wird wieder auseinander fallen, wenn die Bedingungen sich ändern. Dieses Zusammenkommen in einer Anhäufung wird auseinander fallen, wird auseinander gehen, sobald Bedingungen entstehen wie Feuer oder ein Unfall für das Auto oder einfach der Zahn der Zeit für die Scheune, was auch immer. Wenn die Erdkräfte – bei einem Unfall wirken die Schwerkräfte – die Kräfte von Wasser, Feuer und Wind auf die äußeren Objekte einwirken, dann verändern sich die äußeren Objekte, bzw. sie lösen sich völlig auf und verwandeln sich in etwas anderes. Das Gleiche gilt für alles andere Wahrnehmbare. Alles ist nur so lange als das, was wir sehen, wahrnehmbar, wie Bedingungen stabil sind. Wenn diese Bedingungen nicht mehr stabil sind, dann wird uns wieder bewusst: „Ah, klar! Das, was ich für permanent hielt, für ewig hielt, ist ja vergänglich. Es ist Bedingungen unterworfen.“ Wir kehren wieder zurück zum Buddha, der dem Laienpraktizierenden weiter antwortet: „Ja also: Das Atman, das Ich, das Selbst existiert so wie dieser Holzhaufen da drüben.“ – „Ja, wie? Existiert es nun oder existiert es nicht?“ – „Ja und nein.“ Und dann wieder der Fragesteller: „Ich versteh das nicht! Kannst Du mir das noch genauer erklären?“

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Der Buddha sagt: „Ja, schau: Was du hier als Holzhaufen betrachtest, besteht ja wieder aus vielen Holzscheiten, und auch die Holzscheite selbst: wenn man die analysiert, so sind sie aufgebaut aus vielen Fasern und aus verschiedenen Elementen. Und genauso sind wir, die wir uns Menschen nennen. Unser Selbst, unsere Person besteht aus fünf grundlegenden Identifikationen, die ihrerseits wieder aus nichts Beständigem bestehen.“ Dann erklärt der Buddha diese fünf ‚Haufen’, mit denen wir uns identifizieren: 1) Die Identifikation mit den wahrnehmbaren Formen, mit dem was wir äußerlich mit den fünf Sinnen wahrnehmen, und mit dem was wir innerlich wahrnehmen. 2) Die Einstufung dieser Wahrnehmungen – Empfindungen – in angenehm, unangenehm und neutral. 3) Unterscheidungen, die wir treffen: Das ist ein Zeh, das ist ein Auge usw., all die Bezeichnungen. 4) Die verschiedenen Geisteszustände, die angenehmen wie die unangenehmen: Begierde, Hass, Eifersucht und dergleichen sowie Freude, Glück, Liebe, Wissen, Verständnis, Konzentrationsfähigkeit, all das, mit dem wir uns als Ich identifizieren. 5) Die verschiedenen Formen des Bewusstseins: Augenbewusstsein, Hörbewusstsein, die Fähigkeit zu erkennen, wahrzunehmen. Jeder dieser fünf Bereiche setzt sich wiederum zusammen aus einer ständig wechselnden Vielfalt von Faktoren, die zusammenwirken. Das, was wir ein Ich nennen, ist in Wirklichkeit nicht für einen einzigen Moment stabil. Nicht einen Augenblick – im Sinne von nicht für einen einzigen Lidaufschlag – ist das, was wir ein Ich nennen, etwas Stabiles. Es ist ein sich ständig wandelnder Prozess. Wenn wir dessen bewusst sind, dann werden wir verstehen, dass das, was wir ein Atman nennen, keinerlei substanzielle Wirklichkeit besitzt, keinerlei Stabilität. Und dann können wir überlegen, ob wir den Begriff Atman noch benutzen möchten im Sinne von einem prozesshaften Ich, oder ob wir sagen: „Ein Ich, von dem man immer spricht als etwas Stabiles, das gibt es gar nicht.“ Das ist dann eine Frage der Wahl. Entweder definiert man aufgrund tieferer Erkenntnis neu oder man hört auf, den alten Begriff zu benutzen. Diese Unterweisung des Buddha wurde zur Grundlage der Unterweisungen über das Nicht-Selbst, über ein nicht stabiles Selbst in allen buddhistischen Traditionen. Sie beschreibt in diesen fünf Aggregaten, was die hauptsächlichen Bereiche der Identifikation sind, und gibt natürlich auch Hinweise darauf, wie man sie auflösen kann. Ich habe euch jetzt einen kleinen Überblick über die fünf Aggregate gegeben, mit denen wir uns an den nächsten Tagen befassen werden. Wir beginnen mit dem Aggregat der Formen – es ist besser den Plural zu benutzen, denn jedes Aggregat ist wieder zusammengesetzt. Dann kommt das Aggregat der Empfindungen und danach sind die Unterscheidungen. Ihr habt vielleicht anderswo für dieses 3. Aggregat den Begriff ‚Wahrnehmungen’ gelesen, aber der Begriff ‚Unterscheidungen’ passt viel besser, ihr werdet das dann später verstehen. Das 4. Aggregat sind die Geistesfaktoren oder Gestaltungen und das 5. Aggregat sind die verschiedenen Bewusstseinsformen. Wir werden an den ersten drei Tagen die ersten drei Aggregate besprechen, dann etwa eine Woche lang das 4. Aggregat, die Geistesfaktoren, und zum Schluss die verschiedenen Arten von Bewusstsein. Ich würde euch gern noch auf der intellektuellen Ebene ermutigen, eine neue Übersetzung aufzuschreiben: Mit Formen (Skr.: rupa) ist alles Wahrnehmbare gemeint. Wenn wir die Definition von Buddha Shakyamuni anschauen, dann meint er nämlich mit Formen das Wahrnehmbare im visuellen, auditiven, olfaktorischen, gustativen und taktilen Bereich, sowie im mentalen Bereich. All das, was dort als ‚Formen’ wahrnehmbar ist. Eine kleine Übung zum Thema der Formen, zur Identifikation mit Formen:

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Meditation: Wir nehmen eine Haltung ein, die uns ermöglicht, ein wenig zu meditieren… und wir werden uns der körperlichen Haltung bewusst. – Wir erforschen die Empfindungen, all das, was wir wahrnehmen können im Körper, durch die Haut, durch Berührung wie auch im Inneren des Körpers. – Wir spüren den Körper von den Fußsohlen bis zum Scheitelpunkt des Kopfes. – Gibt es in all dem Wahrnehmbaren irgendetwas, was immer schon da war und immer da sein wird? – Gibt es im körperlich Wahrnehmbaren etwas, das sich der Veränderung, dem Wandel entzieht, das dem Wandel nicht unterliegt? – Dann gehen wir in den Bereich des Hörens und stellen uns dieselbe Frage in Bezug auf das mit dem Gehör Wahrgenommene. – Gibt es irgendetwas in dem mit dem Hörsinn Wahrgenommenen, das sich dem Wandel entzieht und das nicht durch Ursachen und Bedingungen hervorgerufen wird? – Dann gehen wir zum Geschmackssinn und untersuchen alles mit dem Geschmackssinn Wahrnehmbare. – Dann mit dem Geruchssinn. – Und dann untersuchen wir alles durch den Sehsinn Wahrnehmbare. – Gibt es in dem, was sichtbare Formen sind irgendetwas, das sich dem Wandel entzieht oder das nicht dem Einfluss von Ursachen und Bedingungen unterliegt? – Jetzt fragen wir uns: „Wo ist das Ich in all dem? Gibt es da in all dem, was wir jetzt untersucht haben, ein stabiles Ich, Selbst, eine Person?“ – Das, was das vermeintliche Ich sieht oder als was es von außen gesehen wird, unterliegt dem Wandel. Das visuelle Erleben von innen und von außen ist dem Wandel unterworfen, ist Bedingungen unterworfen, ist ein ständiger Prozess in Veränderung. Das Gleiche gilt auch für das Wahrnehmbare im Körpersinn, das Wahrnehmbare im Geschmackssinn, im Geruchssinn, im Hörsinn, in allen Bereichen der fünf Sinne. – *** Was ich meine äußere Form nenne – meine Ohren, Augenbrauen, der Glatzkopf – ändert sich, es ist im Wandel. Innerlich, die Körperempfindung wandelt sich ständig, und auch äußerlich ist Wandel. Wo ist da ein stabiles Ich? Was ich rieche und wie mein Körper riecht, was ich höre und was ich an Geräuschen von mir gebe: Gibt es da irgendetwas Stabiles, was man ein stabiles Ich nennen könnte? Was Geschmäcker und Körperempfindungen angeht, genauso. Das Lebewesen, dem man eine Form geben und sagen kann: „Sieht so aus, hat diesen Geruch und hat diesen Geschmack usw.“, das gibt es nicht. Das ist die erste wichtige Schlussfolgerung, zu der wir aufgrund dieses Forschens kommen können.

Meditation: Meditieren bedeutet eigentlich einfach, dass wir uns die Zeit nehmen, wieder auf dem Sitz anzukommen, den Körper wahrzunehmen, die Empfindungen, den Fluss, den Strom der Wahrnehmungen. – Wir sind einfach präsent, ohne irgendetwas verändern zu wollen. – In dieser einfachen Präsenz nehmen wir den Strom des Lebens, der Erfahrungen, der Wahrnehmungen wahr. –

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Gibt es in diesem Strom des Erlebens etwas Stabiles, das wir ein Ich nennen können? – *** Um diese Frage zu beantworten, werden wir nacheinander die fünf Aggregate durchgehen. Warum wir dieser Frage nach dem Ich so viel Bedeutung beimessen, habe ich noch gar nicht so ausführlich erklärt. Eigentlich ist es die Frage nach der Ursache aller Schwierigkeiten. Wenn ich Stress, Spannung erlebe, wenn ich unzufrieden bin, woher kommt das eigentlich? Wenn wir genau hinschauen, bemerken wir, dass das immer wieder aus Situationen kommt, wo es heißt: „Ich will!“ – Ich will etwas bekommen, oder ich will etwas nicht: „Lass mich in Ruhe!“, oder „Ich meine das, aber du meinst das!“, „Ich will das, und du willst es auch.“ – Spannung, Konflikt. „Ich bin nicht gut genug.“ oder „Ich bin besser als alle anderen.“, „Ich will die Kontrolle haben!“ … Immer wieder ich – ich – ich, in ganz mannigfaltigen Formen, manchmal sehr grob, manchmal sehr fein. Immer wieder merken wir, dass in Verbindung mit diesem vermeintlichen Ich Spannung und Leid, Stress auftritt. Und wir merken auch, dass – wenn wir die Situationen analysieren, in denen wir weniger angespannt sind – gleichzeitig dort auch eine geringere Ich-Identifikation besteht. Das können wir schon fühlen, wenn Freude da ist, wenn wirkliche Liebe, Mitgefühl, Freigiebigkeit, Geduld da sind. Das sind Geisteszustände von geringerer Ich-Bezogenheit, und schon ist das Leben leichter. Jetzt werden wir uns anschauen, was es eigentlich ausmacht, dass wir immer wieder in diese starke Ich-Bezogenheit verfallen. Der wichtigste Punkt dabei ist, herauszufinden, ob es denn das Ich überhaupt gibt, das wir verteidigen wollen und das wir nähren wollen. Von dem wir wollen, dass es besser wird oder dass es die Kontrolle behält oder dass es nicht stirbt – Angst vor dem Tod. Das alles hängt ja mit dem Gefühl des Ichs zusammen. In dieser Annahme eines Ichs steckt ein enormes Potential für Konflikte. Wenn das nur eine bloße Annahme, eine Hypothese wäre, dann wäre das ja völlig irrelevant. Man könnte mit dieser Hypothese arbeiten, es wäre eine Arbeitshypothese, man würde sie nicht verteidigen müssen. Aber so sind wir doch dabei, uns immer wieder verbessern zu wollen, uns verteidigen zu wollen. Wir verfallen in Depressionen, wenn wir uns nicht gut genug finden. Ich finde meinen Lebenssinn nicht, ich halte mich für ungenügend, für nicht genug geliebt. Oder wir verfallen in Stolz, weil wir die Qualitäten, die wir auch in uns entdecken, einem vermeintlichen Ich zuschreiben, als wären diese Qualitäten aus dem Ich heraus geboren. Der Buddha sagt, dass wir einem großen Irrtum aufsitzen, wenn wir diese Arbeitshypothese eines Ichs für ein wirkliches Ich halten, und dass dieser Grundirrtum Ursache von all unserem Leid ist, also nicht nur von einem Teil. Dieser Irrtum ist die Ursache von aller Spannung in unserem Geist, wir nennen das Leid, dukkha. Alle Anspannung kommt aus dieser Annahme eines Ichs. Der Buddha verwendete auch das Wort ‚Ich’: „Ich gehe, um eine Unterweisung zu geben.“, „Ich habe Durst.“, „Morgen gehe ich dort hin, weil ich eingeladen bin.“ Er hat auf eine ganz einfache Art und Weise das Wort ‚Ich’ benutzt, aber nur als einen Begriff, der diesen Prozess, diesen Geistesstrom, beschreibt, der im ständigen Wandel ist, nicht als etwas Fixes oder etwas Stabiles.

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Das Aggregat der Formen Rupa Skandha Das Aggregat von allem, was als Form bezeichnet wird, unterteilt man weiter in vier UrsachenFormen und elf Ergebnis-Formen.

Die vier Ursachenformen sind die vier großen Elementarkräfte (maha-bhuta). Hierbei stellt das Erdelement Festigkeit dar und dient als Basis (oder Stütze). Das Wasserelement ist Flüssigkeit und bindet. Das Feuerelement ist Hitze und bringt zur Reife. Das Windelement ist Bewegung und verstärkt. Diese vier Ursachen-Formen – Erde, Wasser, Feuer und Wind – können wir im Außen beobachten. Es gibt die Erde, wir gehen auf der Erde. Es gibt Flüsse, es gibt Regen, es gibt Wasser, das wir trinken. Es gibt die Sonne, es gibt Feuer, es gibt Hitze. Es gibt Bewegung, den Wind, die Luft. Das alles ist sehr spürbar. Auch am eigenen Körper, der als das Zusammenkommen dieser Elemente erfahren wird, merken wir, dass es Stabilität gibt, Festigkeit, die typisch für die Erde ist. Es gibt die Kohäsion, das flüssige Element, das charakteristisch für das Wasser ist. Es gibt Wärme, charakteristisch für das Feuerelement, und es gibt Bewegung, es gibt das Ein- und Ausatmen, das Pulsieren des Blutes, all das, was typisch für das Windelement und für Wandel ist. Was hier Ursachen-Formen genannt wird, ist das, was sich in immer neuen Verbindungen als Objekte, als alles Wahrnehmbare im Universum manifestiert. Wenn wir diese verschiedenen Grundelemente von Festigkeit, Kohäsion, Wärme und Bewegung kombinieren, dann kommt es dazu, dass verschiedenste Objekte entstehen. Zum Beispiel dieses Mikrophon hat ein starkes Erdelement, das ist seine Festigkeit, es hat eine Schwere. Es hat eine Kohäsion, es fällt nicht auseinander – das ist das Wasserelement. Es hat eine Kühle oder eine Wärme – das ist das Feuerelement. Und es ist innerlich in Bewegung, was man am Zerfall sehen kann, der sich vollzieht, wenn man es z.B. zehn Jahre draußen liegen lässt. Das ist die innere Teilchenbewegung. Wenn sich die vier äußeren Elemente in unterschiedlicher Form kombinieren, dann kommt es zu Tischen, dann kommt es zu Blättern, zu Holz. Bei einem Blatt dieser Blume z.B. sind die Anteile von dem, was Festigkeit, Wärme, Kohäsion oder Wasserelement ist, ganz anders. Es ist ein ganz anderes Verhalten der Elemente. Die vier Grundelemente, denen wir in der Natur begegnen, heißen Ursachen-Formen, weil sie die Ergebnisse produzieren, die wir als visuelle Objekte wahrnehmen. Jedes visuelle Objekt ist ein Zusammenkommen dieser vier Grundelemente. Alle diese visuellen Objekte können Klänge von sich geben, entweder aktiv oder indem sie wie z.B. die Mikrophone hier einfach gegeneinander geschlagen werden. Oder der Tisch, alle Objekte klingen und jedes Objekt hat einen eigenen Klang, sie sind verschieden. Das waren visuelle Form und Klangform, dann Geschmack – man kann alles schmecken, man kann alles riechen, man kann alles anfassen und spüren. Das nennt man Ergebnisformen.

Die elf Ergebnisformen Zehn der elf Ergebnisformen sind die fünf Sinnesfähigkeiten mit ihren fünf Sinnesinhalten. Die fünf Sinnesfähigkeiten werden den Formen zugeordnet, weil sie auf Formen beruhen, auf Ohren, Nase, Augen usw. Da ist eine Basis von etwas Wahrnehmbarem, was dann die eigentliche Wahrnehmung ermöglicht. Dann gibt es zusätzlich als 11. Ergebnisform die Geistesobjekte im Dharma-Sinnesfeld – das, was nur mental wahrnehmbar ist. Der Ausdruck Formen wird hier im übertragenen Sinn verwendet. Z.B. sagt

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man im Deutschen: Wir formen eine Gruppe, wir formen uns eine Vorstellung, wir formen uns ein Bild. In diesem Sinn wird alles, was geformt ist, Form genannt. Die 11. Ergebnisform ist also nicht Form in dem engen Sinn von visueller Form, äußerlich als Materie wahrnehmbar, sondern es ist all das gemeint, was geformte Wahrnehmung ist, was als ein Bild, als Idee oder Vorstellung innerlich entsteht.

Wir machen ein kleines Experiment: Schaut einfach vor euch – visuelle Wahrnehmung, die sich vor euch jetzt gerade zeigt. – Jetzt schließt die Augen und schaut mal, ob ihr euch noch erinnern könnt an das, was ihr gerade mit den Augen gesehen habt. – Das war die Übung für ein großes Sichtfeld. Jetzt nehmen wir ein Objekt. Nehmt ein Objekt, schaut es euch an, und nehmt dann das Objekt weg und versucht, euch an das Objekt zu erinnern. – Nimmt einen Stift in die Hand. Wie heißt das, was ich in der Hand halte? Es ist ein Stift. Warum nennen wir das Stift? Wir nennen es einen Stift aufgrund seines Nutzens. Wir nennen es Stift, weil es andere Objekte gibt, die eine gleiche Funktion und ein ähnliches Aussehen haben, die wir alle Stifte nennen. Wir haben aufgrund vielfältiger Erfahrungen in der Vergangenheit, wo wir Stifte in die Hand genommen und benutzt haben, innere Vergleiche erstellt und können dies hier jetzt der Kategorie ‚Stift’ zuordnen. Das geschieht aufgrund innerer Abbilder. Wir machen deutlich den Unterschied zwischen einem Kugelschreiber und einem Bleistift oder einem Füllfelderhalter. Wir können fein unterscheiden. Wir können noch weiter unterschieden, und diese Unterscheidungen finden aufgrund innerer Bilder, mentaler Abbilder und Vergleiche statt. Das Sehen des Stiftes vollzieht sich in der Gegenwart. Die Augen nehmen einen Stift wahr, das wird bereits mental verarbeitet. Aber wenn der Stift weg ist und ich mich an den Stift erinnere, dann ist das ein nur mentales Geschehen, das keinerlei visuelle Basis mehr hat. Mit diesen mentalen Abbildern arbeiten wir ständig. Wir vergleichen mit mentalen Abbildern, wenn wir uns an andere Stifte erinnern oder an andere Autos. Wenn wir uns an unsere Mutter erinnern, die jetzt nicht hier im Raum sitzt, dann arbeiten wir mit mentalen Abbildern. Wenn wir uns an den Menschen erinnern, der uns gestern genervt hat, dann arbeiten wir mit mentalen Abbildern. Die Erfahrung ist schon längst vorbei. Wir sind ständig dabei, mit inneren Abbildern, mit ‚Formen’ zu arbeiten, die sich geformt haben, als es direkte Erfahrung über die Sinne gab. Diese Nachbilder oder Abbilder der gemachten Erfahrungen vergleichen wir miteinander, und daran hängen sich auch unsere Emotionen auf. Auch unser Ich definiert sich über solche Abbilder und nicht über direktes Erleben. Es definiert sich über Nachbilder, Abbilder. Ich erinnere mich aufgrund innerer Abbilder, Nachbilder an das, was ich als Kind erfahren habe, als Jugendlicher, als Erwachsener, bis heute, und die Summe dieser ganzen Bilder, dieser Nachbilder ergibt eine Form, eine Gesamtform, die ich ‚Ich’ nenne: „Ich! Mein Leben. Das bin ich.“ Das sind geistige Bilder.

Wir machen ein anderes Experiment: Streicht euch über die Haut und versucht, euch dann daran zu erinnern, wie es war, als ihr euch über die Haut gestrichen habt. – Kneift euch und versucht euch danach daran zu erinnern, wie das ist, sich in die Haut gekniffen zu haben. – Wenn ich euch jetzt frage, welche der beiden Erfahrungen ihr lieber habt, das Streichen über die Haut oder das Kneifen, so braucht ihr es nicht einmal zu wiederholen. Allein die Erinnerung an das Erfahrene ermöglicht euch zu sagen, dass ihr das eine oder andere lieber habt. Das ist also ein rein mentaler Prozess, er geht nicht mehr in den Körper zurück. Der Körper wird nicht erneut gestreichelt und gekniffen.

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Das alles nennt man Formen. Es hat sich also auch aus dem taktilen Bereich heraus ein Abbild geformt, ein Erinnerungsbild – in diesem Fall eine taktile Form, eine Repräsentation von dem taktilen Erlebnis im eigenen Geist. Wenn wir jetzt das Gleiche mit Klängen machen, wird es sehr einfach. Wir können sehr gut unterscheiden: Schnippt mit den Fingern – den Klang behalten. – Schnippt noch einmal – Wir können den Klang innerlich wiederholen, wir können uns daran erinnern. Klatscht in die Hände – Auch eine Folge von Händeklatschen und Fingerschnippen lässt sich innerlich wiederholen. Das geht so weit, dass wir uns an Lieder, die wir in der Kindheit gehört haben, erinnern – z.B. ‚Bruder Jakob’. Wir wissen genau, wie die Melodie zu singen ist, welche Tonfolge stimmig ist und welche falsch, unserem inneren Abbild nicht angemessen. Das Gleiche gilt für den Geschmacksinn. Wir sind durchaus in der Lage uns vorzustellen, wie ein kühles Blondes schmeckt oder ein guter Rotwein – durchaus anders. Ein Nutella-Brot ist schon wieder ganz anders, völlig unterschiedlich. Wir können in unserer Unterscheidungsfähigkeit sehr fein werden. Es gibt Weinkenner, die verschiedene Jahrgänge derselben Rebe unterscheiden können oder verschiedene Reben, verschiedene Weinberge. Das ist eine ganz fein ausgeprägte Fähigkeit, innere Abbilder miteinander zu vergleichen. Mit dem Geruchssinn ist es genauso. Wir können gute Parfums von den Gerüchen der Natur unterscheiden. Wir können uns vielleicht an Rosenduft erinnern oder wie Kaffee morgens riecht. Wir haben all diese Gerüche innerlich als Abbilder gespeichert. All das nennt man Formen. Es gibt also eine Vielzahl solcher Formen. Alles, was sich zu einer Erfahrung formt, wird Form genannt, egal ob es Klangbilder sind, Geruchsbilder, visuelle Bilder oder Ideen. Und in dieser Vielzahl der Formen, sagt der Buddha, gibt es kein Ich zu finden. Es ist da eine unendliche Vielzahl von Eindrücken, die entstehen, die abgespeichert werden können oder auch nicht, und in denen sich kein Ich und kein Selbst finden lässt. Es ist eine unaufhörliche Aufeinanderfolge von Erfahrungen. Wir nehmen uns einen Moment Zeit, um den Atem wieder zu finden. – Um zu vermeiden, dass wir nur in mentalen Reproduktionen leben, raten uns die Meister, dass wir so viel wie möglich in das unmittelbare Erleben zurückkehren. Im unmittelbaren Erleben wird die Vielfalt der Eindrücke offensichtlich. Die geistigen Nachbilder sind nicht mehr in Verbindung mit der Wirklichkeit und erscheinen stabil. Wenn wir nur mit geistigen Abbildern leben, erscheint uns die Welt stabil. Es braucht den direkten Kontakt, die direkte Lebenserfahrung, um immer wieder unsere Vorstellung über das Erlebte anzupassen, aufzufrischen, zu erneuern. Viele von uns haben sich seit einem Jahr vielleicht nicht gesehen, manche seit zwei Jahren oder mehr. Christian z.B. war vor zwei Jahren da, vor zwei Jahren hat sich ein Bild geformt von dem, was Christian ist. Wenn jetzt Christian wieder auftaucht und ich nur mit der Vorstellung, mit dem Abbild agiere, das ich mir damals gebildet habe, dann nehme ich vielleicht gar nicht wahr, was da jetzt für eine Person ist, die vielleicht etwas ganz Neues hat, etwas Frisches. Dadurch lässt man der Person gar keine Chance, ihre Veränderung zu zeigen, zu erleben. Es braucht immer den Kontakt mit der direkten Erfahrung. Als ich noch verheiratet war, habe ich es mir zur Regel gemacht, meine Frau mit den Augen zu betrachten, als würde ich sie nicht kennen – jeden Tag, jede Situation aufs Neue zu entdecken. Das hat total gut geholfen. Wir müssen das mit allen Personen machen, jede Person in jeder Situation neu entdecken, denn nie ist eine Person genau so wie in irgendeiner Situation zuvor. Sie ist jedes Mal neu, und das machen wir mit allen Dingen. Die mentalen Abbilder funktionieren genauso wie die in den fünf äußeren Sinnen. Wir haben Vorstellungen im Geist, es haben sich Formen gebildet, z.B. Kommunismus, Kapitalismus. Da sind Ideen entstanden. Das sind reine Gedankenkonstrukte, die zwar was bedeuten, aber sie sind von Anfang an Gedankenprodukte, geistige Produkte, und wir jonglieren damit. Wir hören was – z.B. Demokratie – und dieses Konzept löst was aus, oder wir hören ‚Christentum, katholische Kirche, Papst’. Bei einigen öffnet es das Herz und bei einigen schließt es das Herz. Je nachdem, was wir mit diesen inneren Formen, diesen inneren Abbildern verbinden. Bei vielen dieser Formen lässt sich klar sehen, dass sie gar keine

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Basis im konkreten Erleben haben. – Wer von uns ist denn z.B. schon Sarkozy begegnet oder Merkel? Wer hat dem Papst schon die Hand geschüttelt? – Aber wir haben Bilder und Anschauungen und Reaktionen dazu. Wir haben aufgrund von Austausch, von Gesprächen Ideen gebildet. Auch das schöne Wort Liebe ist eigentlich nur eine Idee. Es ist ein abstrakter Begriff, der sich gebildet hat, um bestimmte Formen des Zusammenseins, des Austauschs, der Herzenswärme und dergleichen zu beschreiben. Das ist eine mentale Welt, die gar nicht mehr direkte Sinneseindrücke beschreibt. Ist in dieser mentalen Welt ein Ich zu finden? Ergeben diese mentalen Formen, diese Konstrukte, ein Ich, ein Selbst? Im Dharma-Sinnesfeld gibt es fünf Arten von Formen: 1) „Geschlussfolgert“ sind die Formen der kleinsten Teilchen, die – obwohl sie Formen sind – nur mental erkannt werden. 2) „Räumlich“ oder „als Raum erscheinend“ sind Formen, die – wie zuvor [unter visuellen Formen] beschrieben – anderes nicht behindern. 3) „Aus richtigem Annehmen entstehend“ sind Formen, die [für gewöhnliche Lebewesen] nicht offenkundig sind. 4) „Vorgestellte Formen“ sind wie Spiegelbilder [im Geist] oder Formen im Traum. 5) „Beherrschte Formen“ sind Formen, die kraft der Meisterschaft meditativer Versenkung erscheinen, wie Vollständiges Blau und dergleichen. Die Details hier sind nicht so wichtig. Es geht darum, dass wir das Prinzip verstehen. Manche dieser Formen sind durch Schlussfolgerungen entstanden, andere sind z.B. wie Raum die Abwesenheit von etwas anderem. Manche entstehen aufgrund subtiler Wahrnehmungen – wenn z.B. jemand hier im Raum wäre, der die Aura, das Energiefeld um einen Menschen herum, sehen könnte, dann würde das einen inneren Eindruck im Geist hinterlassen und ebenso zu einer Formwahrnehmung führen, die nachher Emotionen und Identifikationen auslösen kann. Es gibt reine Vorstellungen, wie Traumbilder, und es gibt Formen, die aufgrund von Erfahrungen in der Meditation entstehen, wo es keine Erfahrung in den fünf äußeren Sinnen gibt, sondern wo sich Meditations-Erfahrungen zu Formen verdichten, an denen wir anhaften oder die wir ablehnen mögen. Da finden ebenfalls Identifikationen statt. Wichtig ist hier zu verstehen, dass in den sechs Sinnen unaufhörlich Formen erscheinen. Jede bietet die Möglichkeit, sich zu identifizieren, aber eigentlich ist es nur ein ständiges Spiel wechselnder Erscheinungen. Wenn wir uns in diesem Strom aufsteigender Formen, aufsteigender Erfahrungen irgendwo identifizieren, dann führt das zu Stockungen, zu Blockaden. Wir sind mit einer Form mehr identifiziert als mit einer anderen, wollen im Ausschluss der anderen Form mehr die eine Form sein, was natürlicherweise zu Spannungen führt. Egal mit welcher Form wir uns identifizieren, es wird immer im Ausschluss zu anderen Wahrnehmungen sein, in Konkurrenz zu anderen Wahrnehmungen. Z.B.: „Ich bin Sozialdemokrat, Deutscher, Mann usw.“ bis hinein ins Detail. „Ich trage einen Bart, habe die und die Brille, nehme das und das Parfum. Ich kleide mich so und so….“ Je weiter die Identifikationen sich verfeinern, desto mehr entsteht Spannung zu anderen Formen, die auch Sinneswahrnehmungen sind. Diese Identifikation kann so weit gehen, dass ich z.B. heute nicht glücklich bin, dass ich depressiv bin, weil gestern, letztes Jahr oder in meiner Kindheit etwas schief gelaufen ist. Das ist aber heute nicht mehr die aktuelle Erfahrung. Ich identifiziere mich aber mit einer Erfahrungs-Form, mit einer geistigen Reproduktion, die bereits vorbei ist und bin dadurch nicht mehr offen für die Erfahrung, die jetzt gerade ist. Das ist der Prozess, wie wir Leiden mit uns tragen, wie wir es mitnehmen und wie es uns weiterhin begleitet aufgrund der geistigen Abbilder, an denen wir haften. ***

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Fragen: Sitzhaltung Soll beim Meditieren das rechte Bein vorne sein? Ich habe manchmal das Bedürfnis zu wechseln. Was hat das für eine Bedeutung? Du kannst mit dem rechten Bein und mit dem linken Bein vorne praktizieren. Wenn die Beine übereinander liegen, dann soll – wenn das rechte Bein über dem linken liegt – auch die rechte Hand über der linken liegen und umgekehrt. Es geht nur darum, dass die Zirkulation der Energien harmonisch ist.

Eigene Abwertung Eine sehr persönliche Frage. Es geht um die Tendenz, sich aus einer Gruppe auszuschließen aufgrund der eigenen Abwertung. Ich kann in der Kürze der Zeit nicht viel dazu sagen, aber der Rat wäre, damit zu beginnen, sich selbst zu akzeptieren und sich weniger zu bewerten; auch zu wissen, dass von außen gar nicht so viel wahrzunehmen ist. Wir blähen innerlich oft sehr auf, was wir an uns nicht akzeptieren können. Es wäre sicherlich hilfreich, Tonglen mit sich selbst zu praktizieren. Ich praktiziere Tonglen schon lange und recht intensiv aber offensichtlich vorwiegend mit anderen. Es ist so schwierig, Liebe und Mitgefühl auch für sich selbst zu empfinden. Liebe und Mitgefühl für sich selber zu entwickeln ist aber die notwendige Basis. Um Liebe und Mitgefühl auch auf andere auszudehnen, brauchen wir erst einmal dieses Akzeptieren von uns selbst. Förderliche Stabilität im Leben Im Zusammenhang mit der Flexibilität des Geistes ging es darum, dass wir mit dem Erwachsen-Werden steifer werden. Aber wenn wir praktizieren wollen, dann brauchen wir doch eine Art von Stabilität – innerlich und in den äußeren Bedingungen. Das war natürlich ein bisschen scherzhaft gesagt, es war ein Scherz mit etwas Lebenserfahrung. Aber wir können beobachten, dass die so genannten Erwachsenen dazu neigen, es sich in ihrer eigenen Welt einzurichten mit sehr festen Bezugspunkten, mit Anschauungen und Wertvorstellungen, die immer unverrückbarer werden, sodass sie dann im greisen Alter völlig unflexibel sind. Das ist aber nicht der Prozess, der unbedingt stattfinden muss. Ein Erwachsener, der durch eine wahre spirituelle Entwicklung geht, wird eine andere Richtung einschlagen. Die Stabilität, die er dabei findet, ist eine Stabilität, die sich dem Wandel nicht mehr widersetzt. Es ist die Fähigkeit, in einer weisen, mitfühlenden Art in diesem Prozess zu sein. Die Stabilität liegt in den Qualitäten, die sich im Geist zeigen und nicht in den festgefahrenen Ideen in der Welt. Äußere Stabilität kann man sich erarbeiten. Ein Erwachsener kann in ziemlich stabilen äußeren Bedingungen leben. Wahre Stabilität ist aber die eines flexiblen, geschmeidigen Geistes. Je flexibler der Geist wird, je weniger er sich der Realität widersetzt, umso stabiler wird er. Ein rigider Geist ist eigentlich recht instabil, weil er ständig angespannt und deshalb ziemlich emotional ist. Diese so genannte ‚Stabilität der Fixierung’ ist ein sehr riskanter Zustand, denn aufgrund innerer Anspannung und aufgrund von Emotionen wird man immer wieder in schwierige Situationen geraten. Die schwierigste Situation ist wohl das Sterben, wenn man in Fixierung verharrt und nicht in den Prozess des Loslassens finden kann. Wenn man im Fluss ist, sich auf Neues einlassen und es annehmen kann, dann kann der Tod viel leichter sein – eigentlich sehr leicht.

Visualisation – mentale Abbilder? Wir haben heute gehört, dass wir eigentlich fast immer mit diesen mentalen Abbildern umgehen. Wenn wir visualisieren, arbeiten wir auch mit mentalen Abbildern. Inwiefern könnten die uns denn helfen, zu dieser direkten Wahrnehmung vorzustoßen?

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Du hast völlig Recht, die Bilder in der Visualisation sind Bilder der gleichen Art, eigentlich wie die Bilder, die wir in unserer eigenen Erfahrung erzeugt haben. Der Unterschied besteht darin, dass die Bilder, mit denen wir in den Visualisationen arbeiten, aus einem erwachten, aus einem freien Erleben stammen und eigentlich eine Provokation für unsere normalen Fixierungen sind. Wenn ich z.B. dich jetzt als äußere Person fixiere und dann visualisiere, dass sowohl du wie auch ich Tara oder Tschenresig sind, dann ist das eine Herausforderung für unsere normale Sichtweise. Wir arbeiten gezielt mit solchen Herausforderungen für die normale Sichtweise durch diese Bilder aus dem erwachten Erleben, um unsere Fixierung aufzulösen und zu neuen Sichtweisen der Realität zu kommen. Später dann geht es auch darum, diese Visualisationen loszulassen. Sie sind Heilmittel, Hilfsmittel, um Zugang zu Tiefen, Weiten der Wahrnehmung zu gewinnen, die uns ohne diese Hilfen nicht so leicht zugänglich wären. Ist es mit dem Mantra dasselbe? Gibt man das am Ende des Weges auch auf? Ja, denn bei der Mantra-Rezitation geht es darum, zu einer Dimension der Rede vorzudringen, die völlig frei von Ich-Bezogenheit ist. Wenn das Erwachen sich vollzogen hat, ist alle Rede – egal, ob was gesungen, erklärt oder ob geschwiegen wird – rein, die Kommunikation ist völlig frei von IchBezogenheit. Da braucht man nicht ständig Mantras zu wiederholen. Ein Buddha drückt einfach das aus, was spontan notwendig ist und das ist Mantra, das hat diese mantrische Qualität. Allerdings dürfen wir nicht davon ausgehen, dass sich dieser Prozess vollständig in diesem Leben vollzieht. Es ist also nicht so, dass wir für fünf Jahre Mantra praktizieren und dann schon an dem Punkt sind, wo es nicht mehr notwendig ist. Vermutlich wird es doch ein bisschen länger dauern. Wenn ich einem Buddha begegne, reicht das dann auch? Ja, wenn unser Geist in dieser Dimension des völligen Freiseins von Ich-Bezogenheit ist, dann sind die Worte, die wir dann sprechen werden, reine Kommunikation, wie Mantra. Dann brauchen wir nicht extra noch Mantras rezitieren, sondern alles wird wie Mantra. Wenn der Geist voll wahrer Liebe, Offenheit, tiefer Weisheit ist, dann sind alle Worte, die in diesem Geisteszustand ausgedrückt werden, eben Ausdruck dieser Dimension und haben damit diese mantrische Qualität.

Mitgefühl ohne Bezugspunkt Wenn Buddha diesen Zustand erreicht hat, dann kann man vielleicht sagen, er hat kein Ich mehr in dem Sinn gehabt, dass er an etwas angehaftet hat. Das heißt, da ist freier Raum, er nimmt auf und gibt zurück, was im Raum ist und sonst nichts … freier Fluss. Wenn man dann sagt „zum Wohle der Menschheit“, setzt er da ‚noch eines drauf’ und versucht, seinen Fluss in die Richtung zu lenken oder bleibt es einfach Fluss? Ja, das hast du gut beobachtet. Es bleibt einfach Fluss. Es ist nicht nötig, dass er seinem Handeln eine Richtung gibt zum Wohle aller Menschen, zum Wohle aller Wesen. Er braucht diesen Wunsch, der für uns sehr wichtig ist, nicht mehr zu konzeptualisieren, das ist in diesem Geisteszustand selbstverständlich.

Gibt es eine Wirklichkeit außerhalb des Geistes? Mir ist heute Morgen klar geworden, dass ich die gesamte Welt eigentlich nur über meine Empfindungen wahrnehme und diese Welt der Empfindung, der Wahrnehmung, ist ja eine sehr persönliche, geistige Welt, wo ich gar nicht in Kontakt mit der Realität bin. Gibt es eine Realität außerhalb von deinem Geist? Nein! Das ist eine wirklich wichtige Frage: Gibt es außerhalb deines Geistes eine Realität? Doch! Ja, es gibt eine Wirklichkeit außerhalb von meinem Geist.

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Dann kann ich verstehen, warum du versuchst, mit ihr in Kontakt zu sein. Das Dilemma hier ist das, was alle Lebewesen erfahren, wenn sie in diesen dualistischen Mustern funktionieren: ‚Hier bin ich und um mich herum ist die Welt, die Wirklichkeit, und ich bin in Kontakt mit der Welt.’ Wenn ich dann höre, dass alles über den Prozess der Wahrnehmung geht und merke, dass ich in meiner inneren Welt der geistigen Wahrnehmung bin, dann frage ich mich: ‚Wie komme ich denn da raus in die Begegnung mit der richtigen Welt, mit dem, was die Wirklichkeit dann ist?’ Das ist das große Dilemma, das sich stellt, wenn wir versuchen, mit dem dualistischen Funktionieren unseren spirituellen Weg zu gehen. Den Versuch, eine Wirklichkeit, eine Welt außerhalb unserer Sinne, unserer Wahrnehmungen zu kontaktieren – fünf äußeren Sinne und der geistige Sinn –, dieses Unterfangen müssen wir aufgeben. Die Möglichkeit, solch eine Wirklichkeit außerhalb des Geistes zu kontaktieren, besteht nicht. Was auch immer wir anstellen, es wird immer durch unsere fünf Sinne und den Geistessinn sein. Erleben findet halt darin statt. Man könnte auch sagen: „Lassen wir das doch die Maschinen machen! Wir lassen die Maschinen die Wirklichkeit untersuchen und lesen dann die Ergebnisse ab.“ Aber die Maschinen sind auch von Menschen konstruiert und von Menschen interpretiert und fügen sich ein in unsere Welt der Interpretation. Die Lösung ist, das geistige Erleben voll bewusst zu erleben. So wie man einen Film, einen Traum in vollem Bewusstsein als das erfährt, was es ist, ohne dem Erfahrenen, den Abbildern, den Nachbildern eine wirkliche Existenz zuzuschreiben. Das ist der Weg, auf dem wir zu einer Lösung kommen können. Die verschiedenen Konstrukte, mit denen wir leben, speziell das Konstrukt von Subjekt und Objekt – Beobachter und Beobachtetes – diese Annahmen über die Wirklichkeit werden in sich zusammenfallen, wenn wir entspannt dessen gewahr sind, was sich vollzieht. Nicht das Erleben muss sich ändern, sondern unsere Interpretationen des Erlebens müssen korrigiert werden, bzw. brauchen nicht mehr stattzufinden. Nicht das Erleben ist verkehrt, sondern das, was wir daraus machen.

Erleben im Moment Wie war das gemeint mit „wieder in den gegenwärtigen Moment zurückzufinden“? Da war das Beispiel mit dem Kaffee, man erinnert sich an den Geruch des Kaffees. Man kann doch aber nicht in das vergangene Erleben wieder zurückfinden, das bleibt doch ein Bild. Da hast du mich ein bisschen missverstanden. Ich meinte nicht das Zurückfinden in das Erleben der Vergangenheit, sondern es geht darum, in das Erleben hineinzufinden, was jetzt gerade stattfindet. So taucht das Beispiel von Kaffee auf, weil ich vielleicht Durst habe. Da spüre ich, „Ich habe Durst!“, und bin beim Erleben: „Ja, ich habe Durst!“ oder ich habe Hunger, weil ich das Bild von Schokolade habe. Aber wenn kein Kaffee da ist, dann tut es auch Wasser. Also erst hinein ins Erleben – „Was ist jetzt gerade los?“ – dann geschickter Umgang damit, die entsprechende Antwort, ohne an Bildern festzuhalten. Da gibt es Leute, die müssen sich um Mitternacht aufmachen, um unbedingt eine bestimmte Biersorte oder Wurstsorte, oder sonst was zu besorgen. Sie finden dann irgendwo noch im Flughafen einen offenen Laden, wo sie das kriegen können. Das sind Fixierungen im Geist, die uns das Leben unglaublich schwer machen, weil wir unbedingt das wollen und nichts anderes. Dabei geht es eigentlich nur darum, satt zu sein und einen entspannten Geist zu haben. Eigentlich geht’s nur darum, und die Fixierungen führen dazu, dass das Leben sehr, sehr schwierig und sehr kompliziert wird.

Die elfte Ergebnisform Ich habe eine Frage zur elften Ergebnisform. Ich habe es bisher so verstanden, dass das recht rudimentär ist, also es sind mentale Vorstellungen, Bilder oder Repräsentationen von Gerüchen. In den Erklärungen heute Morgen kamen dann auch noch Ideologien usw. dazu, also ausgearbeitete mentale Konstrukte, die ich vorher den späteren Skandhas zugeordnet hätte. Das hat mich etwas überrascht.

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Du hast es heute Morgen richtig verstanden, denn diese Ergebnisform beinhaltet alle geistigen Bilder. Da gibt es nicht noch irgendwo anders in den Skandhas einen Ort, wo die auftauchen würden. Das andere sind dann noch weitere Komplikationen durch emotionelle Verknüpfungen. Die Bilder, die ich angesprochen habe, können recht kompliziert sein, genauso wie auch visuelle Eindrücke oder auch auditive Eindrücke sehr vielfältig, sehr kompliziert sein können. Das sind komplexe, innere Bilder. Man weiß gar nicht, wo man ein einfaches Bild finden kann. Selbst das Bild ‚der Duft von Kaffee’ ist eigentlich kein einfaches Bild. Damit hängt auch unter Umständen ganz viel zusammen, es hört sich nur einfach an. Da sind im Grunde genommen alle mentalen Bilder enthalten. Die Texte sagen: So wie das, was in Träumen auftaucht. – Das ist sehr komplex, was in Träumen auftaucht. Es gibt auch sonst keinen Ort in den Skandhas, wo das Arbeiten mit den Formen, der inneren Repräsentation, dieses Fixieren auf Formen sonst untergebracht wird. Form, z.B. das Bild ‚Mutter’ oder ‚Vater’ ist extrem komplex. Es ist aber auch eigentlich nur ein momentaner Eindruck, obwohl er in seiner Komplexität – bis sich der Eindruck gebildet hat – unglaublich lange gebraucht hat. Es sind Zigtausende von Erfahrungen, die sich in diesem Bild kompensieren.

Direkte Erfahrung als Ziel von Meditation? Worum geht es hier eigentlich? Wir haben die Wahrnehmung und die darauf aufbauenden Schlussfolgerungen, die Repräsentationen im Geist und die Konzeptualisierung, die dann stattfindet. Geht es darum, soviel wie möglich in der direkten Erfahrung zu bleiben? Ist das das Ziel? Das Ziel lässt sich vielleicht etwas anders definieren. Wenn wir davon sprechen, dass es darum geht, wieder ins direkte Erleben zurückzufinden, so nur deshalb, weil es notwendig ist, anhand des direkten Erlebens unsere Annahmen über die Wirklichkeit zu korrigieren. Das brauchen wir in dem Maße wie unsere Annahmen nicht der Wirklichkeit entsprechen, wir müssen diesen Widerspruch zwischen Annahme und Wirklichkeit auflösen. Aber es findet keine Idealisierung des direkten Erlebens statt. Es ist nicht so, dass direktes Erleben in den Sinneserfahrungen das Ziel spiritueller Praxis wäre, keineswegs. Ein Erwachter benutzt Sprache, benutzt philosophische Konzepte, benutzt alle Möglichkeiten, die menschliche Kultur zur Verfügung stellt. Aber er glaubt nicht an die Wirklichkeit der Abbildungen, der konzeptuellen Repräsentationen, der begrifflichen Bilder und Konstrukte, die man da benutzt. Er bleibt im Fluss, erzeugt nicht neue Fixierungen, die sich dann wieder als Blockaden auswirken, als Spannung zwischen dem, was man annimmt und dem, was wirklich ist. Es geht darum, diese Spannung zwischen Annahme und Wirklichkeit aufzulösen. Im Fluss zu bleiben und immer in Übereinstimmung zu sein mit dem, was ist, in völliger Harmonie des Seins, wo es keinerlei verkehrte Annahme über die Wirklichkeit mehr gibt. Um das noch weiter ausführend zu beantworten: Wir werden dann im 4. Skandha sehen, dass die sechste Wurzelverblendung ‚Sichtweisen’ heißt. Und der Buddha beschrieb alle Sichtweisen als hinderlich für die Befreiung. Es geht dem Buddha nicht darum, dass wir verkehrte Sichtweisen auflösen, um dann die richtige Sichtweise anzunehmen, sondern dass wir alle Meinungen, alle Anschauungen über die Wirklichkeit loslassen und das Sein leben, ohne philosophische Konstrukte, Meinungen über das Sein aufzubauen. Um das zu erklären, benutzt der Buddha aber durchaus Begriffe und philosophische Ausdrücke, um uns zu helfen, uns aus diesen unnötigen Verwicklungen zu befreien. Das Ziel des buddhistischen Weges ist also ein Auflösen aller Meinungen, aller Anschauungen über die Wirklichkeit, mit denen wir uns identifizieren und die wir dann wieder für die einzig richtige halten. Freie Entscheidung? Wie ist das mit der freien Entscheidung? Der Geruch des Kaffees taucht auf oder wir erinnern uns an ein Lächeln – jemand hat uns tagsüber angelächelt. Es tauchen solche Bilder auf, und die Bilder lösen doch sofort eine Reaktion im Körper aus, eine Beschleunigung der Herzfrequenz, es bildet sich viel-

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leicht Speichel im Mund, wenn wir an Nahrungsmittel denken. Dann wird es doch recht schwierig mit der freien Entscheidung, wenn diese physiologischen Prozesse schon im Gange sind. Ja, wenn das denn so wäre, dann würden wir wie ein Roboter einfach mechanisch diesen Bildern folgen. Ein Bild löst eine physiologische Erregung aus und wir folgen ihr, um die auszuleben, umzusetzen, um wieder Frieden herzustellen. Es gibt aber auch einen anderen Weg: Es gibt die Möglichkeit, das Bild loszulassen. Dann beruhigt sich auch die physiologische Stimulation und es entsteht ein Raum, in dem wir uns entscheiden können, ob wir dem folgen wollen oder nicht, oder ob etwas anderes für uns wichtiger ist. Da entscheidet sich, ob jemand das Menschsein wirklich voll nutzt, oder ob wir eigentlich nur unseren Impulsen oder Trieben folgen. Da haben wir die Möglichkeit, frei zu werden. Diese Freiheit des Sich-Entscheiden-Könnens finden wir durch Entspannung, und wir erlernen sie durch Meditation. Das ist das Trainingsfeld, das Übungsfeld. *** Gestern haben wir uns mit dem ersten der fünf Aggregate, dem Aggregat der Formen, befasst. Wir haben darüber gesprochen, dass mit Form alles Wahrnehmbare gemeint ist, alles was in den sechs Sinnen – in den fünf äußeren Sinnen und dem mentalen Sinn – wahrnehmbar ist. Man kann sagen, es sind die grundlegenden Sinnesinformationen, das was wahrnehmbar wird, und mit dem wir dann unseren weiteren Prozess gehen. Dieses erste Aggregat der Formen funktioniert nie alleine. Es ist nicht möglich, einfach bei der bloßen Wahrnehmung von Sinnes-Empfindungen zu bleiben, ohne dass sich danach andere Prozesse anschließen. Auch wenn wir schon bemerken, dass es ganz unmittelbar zu Fixierung, zu Identifikationen kommt, so ist der Wunsch es bei bloßer Wahrnehmung zu belassen nicht angebracht, weil alles Weitere, alles Erkennen, alles Verstehen, alle Sinngebung im Leben, alle Kommunikation auf den anschließenden Prozessen basiert, von denen wir noch mehr hören werden. Es ist also nicht angebracht zu denken, man könnte mit einem Aggregat alleine funktionieren. Die Aggregate gehören zusammen, die Prozesse greifen ineinander und sind auch gar nicht streng voneinander abzutrennen. Wir fahren jetzt fort mit dem Aggregat der Empfindungen. Dabei geht es um den Gefühls-Ton, mit dem die Erfahrungen gemacht werden. Entweder ist es angenehm, unangenehm oder neutral. Man kann auch sagen angenehm und schmerzhaft.

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Das Aggregat der Empfindungen Vedana Skandha

Das Merkmal von Empfindungen ist, dass sie erfahren werden. Das Aggregat der Empfindungen wird in drei Arten unterteilt: angenehme, schmerzhafte und neutrale Empfindungen. Wenn die ersten beiden weiter unterteilt werden, ergibt dies fünf Arten: angenehme [physische] Empfindungen und mentale Freude, schmerzhafte [physische] Empfindungen und mentales Unglücklichsein sowie neutrale Empfindungen. Diese Unterscheidung in angenehm, unangenehm und neutral – weder angenehm noch unangenehm – beruht auf früheren Eindrücken, man kann sagen auf Karma, auf den Mustern, die wir in unserem Geist aufgebaut haben. Das hängt mit unserer Empfindlichkeit zusammen, mit unserer Geschichte, mit gemachten Erfahrungen. Und so kann die einfache Berührung der Haut, das Streicheln über die Haut bei einzelnen Menschen als unmittelbar unangenehm erfahren werden, sie ziehen sich zurück. Andere finden es sehr angenehm, sie möchten mehr davon, und andere berührt es nicht weiter. Es kommt natürlich auch sehr auf die aktuelle Situation an. Wir sind nicht programmiert, immer gleich zu empfinden. Die gleiche Sinneserfahrung, von gleicher Stärke, am gleichen Ort, kann zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Situationen durchaus anders bewertet werden. Hinzu kommt auch, dass dieselbe Empfindung je nach ihrer Intensität andere Reaktionen in uns hervorrufen kann. Die schönste Musik, die schönste Stimme wird – wenn sie zu laut, zu intensiv wird – als schmerzhaft empfunden, die schönste Stimme schallt dann zu laut aus den Lautsprechern. Diese Unterscheidungen in angenehm und unangenehm treten fast unmittelbar auf. So wie z.B. heute Morgen, als wir um den Buddha herum meditiert haben. – Sonnenstrahlen auf der Haut, früh morgens, das bisschen Wärme ist sofort angenehm. Das Gefühl von angenehmer Empfindung taucht unmittelbar mit dem Sonnenstrahl auf. Oder: Einige saßen mit dem Gesicht zur Sonne. Das Gefühl geblendet zu werden löst fast unweigerlich eine innere Reaktion von unangenehm aus: „Das ist mir unangenehm, das ist zu stark.“ Es ist schwer, diese unmittelbaren oder fast unmittelbaren Reaktionen zu verhindern, so entspannt zu sein, dass diese initialen Bewertungen erst gar nicht auftauchen. Die Möglichkeit besteht, sich so in Geistesruhe zu schulen, dass es nicht einmal zu diesen initialen Bewertungen kommt. Gut möglich ist aber, dass die Bewertungen zwar auftauchen, wir uns aber damit entspannen und dem nicht weiter nachgehen. Normalerweise würden wir ja sagen: „Angenehm, mag ich, davon möchte ich mehr – unangenehm, mag ich nicht, will ich vermeiden“. So kommen wir ins Reagieren. Wir kommen aus dem Einstufen der Sinnesempfindung in das Reagieren, z.B. mehr haben zu wollen, das Gesicht der Sonne entgegenzustrecken oder wegzuziehen oder die Augen zu schließen. Wir kommen ins Reagieren und mit diesem Reagieren sind wir dann schon eine Stufe weiter. Wir sind dann schon in den Folgeerscheinungen dieser Unterscheidung in angenehm, unangenehm und neutral. Die Unterscheidung in angenehm, unangenehm und neutral spiegelt die Aktivität von Begierde, Abneigung und Unwissenheit oder Desinteresse wieder und zeigt, dass diese drei grundlegenden Tendenzen eigentlich ständig in uns aktiv sind. Wenn sie nicht vorhanden wären, dann würden wir die Natur der Empfindungen als leer, als ohne Wesenskern, als illusorisch wahrnehmen. In diesen Unterscheidungen in angenehm, unangenehm und neutral verbergen sich auch ÜberlebensInstinkte. Man unterscheidet ganz schnell in etwas, was hilfreich sein könnte, das Leben angenehmer, besser gestalten würde, z.B. hilfreich ist um sich zu ernähren, um besser zu überleben und in etwas, was gefährlich werden und das Lebens bedrohen könnte, oder etwas ist im Moment irrelevant, weder bedrohlich noch förderlich. Diese zusätzliche Erklärung stammt von Thrungpa Rinpoche. Er hat auf diese Vermischung von angenehm und unangenehm mit hilfreich und bedrohlich hingewiesen.

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Ihre Stütze ist folgende: Der Kontakt, d.h. das Zusammenkommen von Augen, Ohren, Nase, Zunge, Körper und Mentalem [mit ihren Objekten und ihrem jeweiligen Bewusstsein] ruft sechs Arten von Empfindungen hervor. Wenn diese weiter in freudvoll, leidvoll und ausgeglichen unterteilt werden, ergibt dies 18 Arten von Empfindungen, die geistige Aktivität begleiten. Mit dem ersten Aggregat der Formen erleben wir den Kontakt, Kontakt zwischen den sechs Sinnesfähigkeiten und den sechs Sinnesinhalten, es kommt zum Kontakt. Beim Kontakt werden zunächst einmal Formen bewusst, aber sie bleiben nicht einfach Formen, sondern werden direkt empfunden in ihrer Erlebensqualität als angenehm, unangenehm oder neutral. Die Basis für Empfindungen ist also Kontakt. Wo kein Kontakt ist, wo kein Zusammentreffen von aktivierten Sinnesorganen mit Sinnesfähigkeiten und den entsprechenden Objekten ist, kommt es nicht zu einer Empfindung. Zudem werden noch zahlreiche weitere Arten von Empfindungen aufgeführt: körperliche Empfindungen, welche die Wahrnehmungen der fünf Tore begleiten; geistige Empfindungen, die mentale Wahrnehmung begleiten; aufwühlende Empfindungen die körperliches Verlangen begleiten; nicht aufwühlende Empfindungen, die frei von Verlangen sind; Empfindungen, die das Verlangen nach den fünf Sinnesfreuden begleiten und Grundlage des Festhaltens sind; sowie Empfindungen, die frei von Festhalten und Grundlage der Befreiung sind. Natürlich können wir auch unterscheiden zwischen den Empfindungen, die durch den Kontakt mit den fünf äußeren Sinnen stattfinden – wir nennen sie oft körperliche, durch die körperlichen Organe stattfindende Sinnesempfindungen – und geistigen Sinnesempfindungen. Wir können die mentalen und auch die körperlichen Empfindungen weiter unterscheiden in Empfindungen, die aufwühlend sind, und in Empfindungen, die nicht aufwühlend sind. Körperliche Empfindungen, die aufwühlend sind, beruhen auf Bedürfnissen, die im Körper gespürt werden. Geistig aufwühlende Empfindungen beruhen auf dem Verlangen, das im Geist gespürt wird. Die nicht aufwühlenden Empfindungen, die frei von Verlangen und Festhalten sind, sind Grundlage der Befreiung. Diese Empfindungen werden im vollen Gewahrsein der wahren Natur der Erscheinungen gemacht. Diese Unterscheidung in aufwühlende und nicht aufwühlende Empfindungen ist sehr wichtig, weil sie uns darauf hinweist, wo wir ansetzen können, um den Weg zur Befreiung zu gehen. Normalerweise entsteht im Prozess der Wahrnehmung eine Kette: Kontakt führt zur Wahrnehmung, die Wahrnehmung, die als angenehm oder unangenehm empfunden wird, führt zu emotionalen Reaktionen und dann zum entsprechenden Verhalten. Das Sinnvollste wäre, wir könnten ganz früh in der Kette zu einer Entspannung finden und bewusst entscheiden, ob wir reagieren, darauf eingehen wollen oder nicht. – „Gibt es etwas zu tun oder gibt es nichts zu tun? Kann ich einfach weitermachen mit dem, was ich ohnehin gerade dabei bin zu tun?“ Es geht also um Entspannung, die so früh wie möglich in dieser Kette einsetzen sollte. Es ist offenkundig, dass wir hier an dem Punkt ankommen, wo die Meditation eine enorme Rolle spielt. In der Meditation setzen wir uns hin und sagen uns: „Okay! Jetzt bleibe ich eine Weile still sitzen, ohne mich zu bewegen.“ Und dann tauchen Empfindungen auf, im Körper oder vielleicht auch von außen, entweder juckt mich was, wo ich mich normalerweise kratzen würde, oder es kommt eine Fliege und setzt sich mir auf die Stirn. Normalerweise würde ich vielleicht eine Handbewegung machen, um sie zu verscheuchen, aber jetzt bleibe ich sitzen und nehme erst einmal wahr: „Ja, es ist etwas unangenehm aber auch nicht so stark.“ Meine sonstige Bewertung ‚unangenehm genug, um sofort zu reagieren’ wird schon etwas entspannt. Es ist eine kleine Geduldsprobe, aber es ist nicht so wahnsinnig unangenehm und so kann ich bemerken, dass Fliegen sich auf meine Stirn setzen und dann wieder fort fliegen, dass es eigentlich gar nichts zu tun gibt. Es mag aber sein, dass ein Käfer in mein Ohr krabbeln möchte, und das geht dann zu weit. Ich entscheide: „Das geht zu weit, jetzt aber fort!“, oder ich lasse es zu. Das ist die Fähigkeit, bewusst zu entscheiden. Es gibt Schmerzen im Körper, die auftauchen aber auch wieder weggehen, ohne dass ich mich bewegt habe. Das kann ich nur herausfinden, wenn ich still sitzen bleibe. Ich nehme dann wahr, dass es z.B. zu Spannungen kommt, die sich von selbst wieder auflösen, obwohl ich nichts mit dem Körper unternommen habe, um das aufzulösen. Solche Entdeckungen kann ich nur machen, weil ich still sitzen geblieben bin. Ich entdecke dadurch auch die Geistesruhe, die ich nicht entdecken würde, wenn ich ständig dabei wäre, mich zu bewegen, zu drehen, zu räkeln, zu kratzen usw., dann würde ich nie die Entdeckung der Geistesruhe machen.

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Wir entdecken also mit der Meditation Freiräume, die wir vorher nicht kannten: Freiräume, wo wir nicht mehr verpflichtet sind, wo wir nicht mehr unter dem Zwang stehen zu reagieren. Wenn wir lang genug meditieren, werden jede Menge innerer Bilder auftauchen: Wunschvorstellungen, Angstvorstellungen, innere Eindrücke von früher. Das ganze Zeug, das wir so weggesteckt haben, kommt hoch. All unsere halb oder kaum verdauten Eindrücke werden aufsteigen. All diese Eindrücke werden einer neuen Betrachtung unterzogen, indem wir zunächst einmal nicht reagieren. Darin liegt eine große Chance. Etwas, das unglaublich unangenehm war, taucht jetzt in Form von Erinnerungsbildern auf, löst noch einmal Reaktionen aus, wird aber nicht mehr gleich bewertet. Wir sind in einem viel entspannteren Geisteszustand und lernen, Dinge anders zu erleben, entspannter zu erleben. Wenn wir länger in Meditation sitzen, wird all das auftauchen, was in uns noch aufgewühlt ist, was noch von früher am Köcheln ist. Wir nennen das das ‚Reif-Werden von Karma’. In der buddhistischen Lehre wird beschrieben, dass die Folgen früherer Gedanken, Worte und physischer Handlungen, und was diese Handlungen an Spuren hinterlassen haben, im Empfinden reif wird – als Empfindung im Körper und als Empfindung im Geist. Wer also sein Karma ‚reinigen’ oder auflösen möchte, muss unweigerlich durch einen Prozess des Erfahrens gehen, in dem all das, was noch nicht aufgelöst ist, wieder ins Bewusstsein aufsteigt. Im Bewusstsein wird es neu verstanden, es wird im Licht der Weisheit neu betrachtet und kann sich dann auflösen. Die alten Reaktionsmuster springen nicht mehr an, das was aufsteigt, wird voll wahrgenommen und kann sich im nicht-haftenden Geist auflösen. Das nennt man den Prozess der Reinigung von Karma. Er kann nirgendwo sonst stattfinden als im Erleben selbst, in den Empfindungen. Was auch immer auftaucht, ob es angenehme oder unangenehme Erfahrungen sind, alles wird in das Gewahrsein hinein genommen. Da können sehr angenehme, verführerische Bilder, Eindrücke auftauchen, die uns normalerweise in Richtung Anhaften, Begierde, Habenwollen leiten würden. Normalerweise würden wir reagieren, wir kleben an diesen Eindrücken. Oder es können andere Eindrücke auftauchen, die uns Angst machen, die Verteidigungsreaktionen auslösen, die uns ärgerlich machen, weil sie so unangenehm sind, weil sie uns angreifen. Auch diese aggressiven Reaktionen oder Fluchtreaktionen finden nicht mehr statt, deswegen geht der Kreislauf karmischen Reagierens nicht mehr weiter, die Bewusstseinsinhalte steigen auf, werden wahrgenommen und in ihrer wahren Natur erkannt. Um das tun zu können, gibt es eine Reihe von Methoden, die wir einsetzen können, aber der grundlegende Prozess ist, entspannt zu bleiben bei allem was kommt. Das ist der grundlegende Prozess der karmischen Reinigung. Wenn wir weiter gehen, als uns nur zu entspannen, dann bringen wir Verstehen in den Prozess hinein und das beschleunigt den Prozess noch. Je tiefer wir verstehen, desto schneller lösen sich die Dinge auf und desto mehr Raum gibt es für die weiteren Eindrücke, sich zu manifestieren. Was da an Empfindungen aufsteigt, braucht natürlich nicht nur aus der Vergangenheit zu kommen. Eben jetzt finden viele Empfindungen statt. Da ist ein unzähliger Strom von Empfindungen, die jetzt gerade Anhaften und Abneigen auslösen können. Wir sitzen z.B. bei unserer schönen Buddha-Statue und im Hintergrund fängt ein Bauer an, mit seinem Trecker das Feld zu bestellen. Entweder ist es für uns schnell erledigt, wir sehen: „Wunderbar, er bestellt das Feld. Das muss so sein. Ich meditiere, das darf auch so sein.“ – Kein Konflikt, oder ich erkenne sogar die illusorische Natur von Geräuschen, die Einheit von Klang und Leerheit. Oder aber ich beginne mich zu nerven: „Was muss der auch gerade jetzt, wo ich hier in Ferien bin und meditieren möchte, sein Feld bestellen! Nicht einmal hier kann ich in Ruhe meditieren!“ und irgendwann packe ich mein Kissen und dampfe ab. In dem Fall hätte ich wieder neues Karma angesammelt, frisches Karma von Ablehnung, Fixierung und Ich-Bezogenheit. Oder im ersten Fall: nicht nur dass sich kein neues Karma aufgebaut hat, sondern es ist sogar zusätzliches Verständnis entstanden. Dieselbe Situation, aber unterschiedlicher Umgang damit hat ganz unterschiedliche Folgen. Soweit zum Aggregat der Empfindungen. Vielleicht können wir festhalten: Jede Empfindung kann zur Basis von tieferem Verständnis und Freiheit werden oder zur Basis von karmischen Reaktionen. Genau dort liegt also unsere Praxis, genau da setzen wir an zusammen mit dem 3. Aggregat.

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Meditation: Lasst uns mit den Empfindungen im Körper, mit den Berührungsempfindungen anfangen. Darin sind auch das Pulsieren, das Vibrieren im Körper einbezogen, die Empfindungen der Haltung, von Schwere und Leichtigkeit, von Wärme und Kühle. Das alles ist mit Körperempfindungen gemeint. – Was ist alles los in unserem Körper? – Gibt es unter den Empfindungen im Körper welche, die ich als unangenehm empfinde? – Gibt es welche, die ich als angenehm empfinde? – Und welche sind weder angenehm noch unangenehm? – Gibt es welche, wo ich jetzt schon am liebsten reagieren würde und z.B. die Körperhaltung ändern möchte? – Jedes Mal, wenn ich mich bewege und das Kissen verändere oder mich strecke oder das Bein hebe, so ist das Ausdruck davon, dass eine unangenehme Empfindung mich bewegt, um Erleichterung zu finden, etwas mehr Komfort zu finden. – Jetzt lasst uns dieselbe Übung mit den Klängen, den Geräuschen machen. Gibt es Geräusche, die ich lieber nicht hätte, nicht hören will? – Gibt es angenehme Geräusche und Klänge? – Gibt es Klänge, die weder angenehm noch unangenehm sind? – Stellt euch vor, dass die Geräusche stärker werden. Würde das etwas ändern in ihrer Einschätzung als angenehm? – Und jetzt gehen wir zum Sehsinn. Wie erfahren wir, empfinden wir die visuellen Eindrücke? – Sind die alle neutral oder gibt es angenehmere visuelle Eindrücke als andere? – *** Ihr habt sicherlich bemerkt, dass das Benennen von angenehm, unangenehm und neutral nichts Festes ist, dass unsere Einschätzung vielen Einflüssen und Bedingungen unterliegt. Der Buddha hat uns dieses zweite Skandha nicht nur erklärt, damit wir das Funktionieren des Geistes besser verstehen, sondern auch mit der Frage: Gibt es in dieser Vielfalt von Empfindungen ein Ich, ein Selbst? Gibt es da etwas Konstantes, das wir Ich nennen könnten? Oder ist das nicht vielleicht auch einfach ein Strom wechselnder Einschätzungen, wechselnder Bewertungen unter dem Einfluss vielfältiger Bedingungen? Das gilt es zu untersuchen. Ihr werdet sehen, dass dieses zweite Aggregat mit dem dritten unglaublich eng zusammen hängt.

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Das Aggregat der Unterscheidungen Samjna Skandha

Unterscheiden ist das Erfassen von Merkmalen. Mit Unterscheiden ist das Erfassen der beschreibenden Merkmale gemeint, der Merkmale von dem, worauf sich unsere Sinneswahrnehmungen richten. Das Aggregat des Unterscheidens von Merkmalen ist die mentale, intellektuelle Komponente des Unterscheidens, während das 2. Aggregat stärker affektiv ist – „Mag ich“ oder „Mag ich nicht.“ Seine Stütze sind die sechs Arten von Unterscheidungen, die aus dem Kontakt, dem Zusammenkommen von Augen [Ohren, Nase, Zunge und Körper] bis hin zum Mentalen entstehen. Wie auch für die anderen Aggregate, findet das Unterscheiden in allen sechs Bereichen der Sinneswahrnehmungen statt – im Körperbereich, im Hören, im Sehen, im Schmecken, im Riechen und im Denken, der geistigen Wahrnehmung. Beim Erfassen von Merkmalen gibt es das Erfassen von Sinnesinhalten, wie Erscheinungen als blau, gelb und dergleichen zu erfassen, sowie das Erfassen von Konventionen, wie die Vorstellung von einem Mann und einer Frau. Es gibt ebenso viele weitere Unterteilungen, wie es Erkennbares gibt. In diesem Unterscheiden der Merkmale stützen wir uns zunächst einmal auf die erfassten Sinnesinhalte mit ihren Merkmalen, die sie beschreiben, z.B. rot, rechtwinklig, glatt, stabil, solide usw. – Das sind die Merkmale dieses roten Tisches hier, auf dem ich meinen Text liegen habe. Dieses Objekt wird also durch seine Adjektive beschrieben, die erst einmal die offenkundigen Merkmale des Objektes sind. Diese Merkmale sind anders als die der roten Tischchen, die ihr benutzt, die nicht ganz rechtwinkelig sind, eine andere Oberflächenstruktur haben, nicht so glatt sind usw. Man könnte sie bis ins kleinste Detail beschreiben. Das ist das Erfassen von Merkmalen, z.B. das Blatt hier ist grün, gewölbt, in eine Spitze auslaufend. Auf der Basis der erfassten Merkmale gibt man dem Objekt dann einen Namen. Mit dem Benennen wird das Objekt der Gruppe all jener Objekte zugeordnet, die den gleichen Namen haben, und diese Unterscheidungen können sehr fein oder sie können grob sein. Ob ich Pflanze oder Blatt sage, ist schon einmal ein Unterschied, und dann kann man noch weiter unterscheiden. Unterscheidungen werden weiter in sechs Arten unterteilt:

Unterscheidungen mit Merkmalen beinhalten alle Unterscheidungen außer solche ohne Merkmale. Der Prozess des Unterscheidens von wahrgenommenen Objekten aufgrund ihrer Merkmale ist erst einmal kein affektiver Prozess. Es scheint ein logischer Prozess zu sein auf der Basis des Erkennens ähnlicher Merkmale im Vergleich mit bereits bekannten. Im Vergleich mit bereits Bekanntem wird das Objekt dann einer bestimmten Kategorie von Dingen zugeordnet. Das hier ist z.B. eine Uhr. Um festzustellen, ob es sich wirklich um eine Uhr handelt, vergewissert man sich: Das Ding hat ein Armband, Zeiger, Ziffern für die Einteilung der Zeit, die Zeiger bewegen sich sogar, … Es scheint sich tatsächlich um eine Uhr zu handeln. Manchmal geht man deduktiv vor, manchmal induktiv, je nachdem was man zuerst präsentiert bekommt. Anhand der Merkmale vergewissern wir uns dann, wozu das Objekt gehört. Dieser Prozess des Unterscheidens lässt sich besonders gut verfolgen, wenn wir uns in unserer Wahrnehmung nicht sicher sind.

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Ein visuelles Beispiel: Da hinten bewegt sich was, neben dem Baum ist so was Dunkles, ein dunkler Schatten, der sich bewegt. Ich strecke meinen Hals und schau genauer hin, ich versuche, mich visuell einzuzoomen. Ah ja, das bewegt sich so ähnlich wie ein Mensch. Ja genau, das ist ein Mensch, das kann ich jetzt an den Bewegungen identifizieren. Ich weiß noch nicht, ob es ein Mann oder eine Frau ist. – Ich versuche, anhand der wahrnehmbaren Merkmale herauszufinden, um was es sich denn wohl genau handelt. Dieser Prozess ist eben dann besonders offenkundig, wenn nicht klar ist, um was es sich handelt. Ein Beispiel mit einem Klang: Ich höre ein Geräusch. Es hört sich nach einem künstlichen Geräusch an, wie schneiden oder bohren. Es scheint ein motorgetriebenes Geräusch zu sein. Nein, es ist kein Bohren, es ist vielleicht … „Ah! Das muss der Serge sein, der mit seiner Flex die Kacheln durchschneidet.“ So komme ich durch hinhören, wieder hinhören, noch einmal hinhören, vergleichen mit bekannten Klängen zum Schluss: „Ah! Das muss es sein.“ Wir können jede Menge Beispiele nehmen. Da sehe ich jemanden sitzen und schau genau hin. Er hat blonde Haare, lacht, das Alter hat er auch. Das müsste der Robin sein! Ich gebe einen Namen und dann weiß ich: „Er ist es!“ Ich kann mich aber auch getäuscht haben, wenn ich nicht genau hingeschaut habe. Sobald ich dem Objekt einen Namen gegeben habe, ist es für mich normalerweise eine erledigte Geschichte. „Ah! Da singt eine Amsel.“ Ich bin mit dem Namen Amsel zufrieden und höre dann auf, hinzuhören, es ist eingeordnet. Da liegt die Quelle für jede Menge von Irrtümern und Fehlern, weil ich mit dem Benennen meine, etwas erfasst zu haben, es eigentlich aber nur einer Gruppe zugeordnet habe und gar nicht mehr hinhöre, wie denn diese Amsel jetzt gerade singt. Das Spezielle der Situation kriege ich gar nicht mehr mit. Wie geht es denn diesem Robin heute, jetzt gerade, in diesem Moment? Ich habe ihm einfach seinen Namen verpasst und schaue gar nicht mehr hin, wie es ihm eigentlich geht. Wenn dieses Zuordnen zu Kategorien dazu führt, dass wir damit aufhören hinzuspüren, hinzuhören, hinzuschauen, dann wird sich unser Leben in Kategorien vollziehen. Wir leben immer mit denselben Menschen, fahren mit demselben Auto zur Arbeit, nehmen dieselbe Strecke, begegnen auch so denselben Menschen, essen dieselbe Nahrung. Das Leben wird grau. Das Leben wird dann in den Kategorien der Wahrnehmung gelebt und nicht mehr in der eigentlichen Wahrnehmung. Es verliert seine Vielgestaltigkeit, seine unendliche Vielfalt, wo keine Erfahrung mit der anderen identisch ist. Darunter leiden viele Menschen heute. Darunter haben die Menschen aber auch schon vor 2500 Jahren gelitten, als der Buddha davon sprach, dass wir einander in Kategorien wahrnehmen und nicht genau hinfühlen, nicht genau hinspüren: Wir nehmen die Dinge nicht mehr in ihrer Frische wie gerade jetzt wahr. Wir schlucken das Essen einfach runter, wir nehmen Getränke zu uns, ohne überhaupt mitzubekommen, was wir da trinken und schmecken. Dieses Problem, in einer begrifflichen Welt zu leben, in einem Erfassen von Kategorien und sich dann in Kategorien zu bewegen, gab es also schon damals zu Zeiten des Buddha. Es lag dem Buddha besonders am Herzen, die Begrifflichkeit um das Ich herum aufzulösen, dieses Gefühl, als ein stabiles Ich zu leben und von der tatsächlichen Erfahrung dieses Geistesstroms weg zu sein. Der Begriff Ich ist ja durchaus sinnvoll, um die Kontinuität zu beschreiben von dem, was sich da von unserer Kindheit bis heute fortsetzt als ein Strom des Erlebens mit einer gewissen Kontinuität. Zu dem sagt man dann aus der eigenen Perspektive heraus ‚Ich’ und die anderen sagen dazu Tilman oder Lhündrup, wenn sie mich betrachten. In dem Moment, in dem wir die Begrifflichkeit benutzen, besteht die Gefahr, dass wir uns von dem eigentlichen Erleben entfernen, denn der Begriff ist statisch. Begriffe wandeln sich nicht. Begriffe bleiben, während das, was damit beschrieben wird, einen ständigen Wandel erfährt, und darin liegt die große Gefahr. Wir müssen also sehr aufpassen, denn wenn wir nur mit Konzepten leben würden, würde uns das weit entfernen von dem, was tatsächlich geschieht, was wir tatsächlich erleben. Der Begriff, mit dem wir uns tatsächlich bezeichnen – Marianne, Elgin usw. – die Namen wandeln sich ja nicht, aber was damit beschrieben wird, ist in jedem Moment etwas Neues und enorm unterschiedlich von einem Tag zum anderen, von einer Stimmung zu anderen. Aber von der Perspektive des Namens aus ist es dieselbe Elisabeth, derselbe Lhündrup.

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Wir haben seit Tausenden von Jahren Bäume. Bäume, die wachsen, da draußen sind Bäume, Bäume, Bäume. Es werden auch in Hunderten von Jahren noch Bäume sein, hoffentlich. Mit dem Begriff „Baum“ sehen wir aber nicht die Individualität des Baumes. Wenn wir weiter unterscheiden, dann hat es da draußen Eichen, Buchen, Nussbäume usw. Damit kommen wir zwar etwas näher ran, unsere Kategorie verfeinert sich, aber die eine Eiche, die vielen verschiedenen Eichen, die z.B. hier auf dem Grundstück sind, die verschiedenen Buchen, die verschiedenen Haselnusssträucher oder Kastanien und dergleichen sind damit nicht erfasst. Jeder einzelne Baum ist unterschiedlich. Das erfassen wir nicht mit der Kategorie, und so erfassen wir auch nicht die Unterschiedlichkeit des Menschen vor uns, wenn wir ihm nur den Namen geben oder nur das Attribut sehen, z.B. das Attribut „Mutter“, „meine Mutter“. Das wird ja in uns zu einem Bild. Da hat sich was verfestigt, was wir für „meine Mutter“ halten. Was für ein Wesen sich tatsächlich hinter dem Begriff „meine Mutter“ verbirgt, das muss ich jedes Mal neu herausfinden. Das ist ja jedes Mal eine andere Mutter oder ein anderer Vater, es ist ja nicht ein immer gleich bleibender Vater. Ich habe den irgendwann einmal abgespeichert, als ich den Begriff „Vater“ gelernt oder geprägt habe und habe dann dazu gelernt. Dieser Begriff hat sich verfeinert. „Mein Vater“ ist aber geprägt von all dem, was ich damit assoziiere. Das, was ich als meinen Vater betrachte, ist also ein Komplex von Assoziationen mit diesem Begriff. Ob ich noch offen bin für den immer neuen Menschen, der sich hinter diesem Begriff verbirgt, ist dann eine wirklich wichtige Frage. Wenn ich ständig zu „meinem Vater“ spreche und die Person, die da aber tatsächlich ist, völlig verpeile, nicht erfasse, dann kommt es zu Konflikten. Es kommt zu ganz starken Missverständnissen, wo sich keiner von beiden verstanden fühlt. – So geht es uns ständig. Wir bewegen uns ständig in diesem Konflikt zwischen Begriff und Wirklichkeit. Ihr sprecht mich an als Lama Lhündrup. Ja, wo ist denn dieser Lama Lhündrup? Da ist ein Mensch, der von Moment zu Moment anders ist, der ganz vielseitig ist und der mit der Rolle auch gar nicht komplett zu erfassen ist. Man kann sich teilweise darauf einlassen, um dem Bild zu entsprechen, aber es ist ein Kompromiss, es erfasst nicht die ganze Person. Und so geht es jedem von uns. Wir haben alle unsere Rollen, die mit Begriffen belegt sind. Man wendet sich an uns in unserer Begrifflichkeit, in unseren Rollen, aber die Person, die da gerade vor einem ist, wird nicht als ganze erfasst. Das Gleiche passiert uns in allen Lebensbereichen. Wir haben eine Vorstellung von einer Autobahn. Eine Autobahn ist eine Straße, auf der man schnell vorwärts kommt, auf der man schnell von A nach B kommt. Wenn man auf der Autobahn in einen Stau gerät, ist man mit Merkmalen einer Autobahn konfrontiert, die nicht vorgesehen sind – Konflikt mit der Wirklichkeit. Auf einer Autobahn sollte man schnell fahren können und nicht still stehen – Stress, Schwierigkeit. Meine Mutter sollte sich doch um mich kümmern, ich bin das Kind und meine Mutter ist doch dafür da, sich um mich zu kümmern. Wenn die Mutter mit sich selbst beschäftigt ist, ist das nicht vorgesehen in meinem Begriff von Mutter – Stress. Egal wo wir auch hinschauen, wenn wir nicht in der Lage sind, das, was wir mit Begriffen assoziieren, ganz flink auf die Seite zu räumen, loszulassen und uns für die neue Situation zu öffnen und dazuzulernen, dann kommt es zu Konflikten. Es kommt zu Stress, es kommt zu Leid, zu dem, was der Buddha dukkha nannte – Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Vorstellung. Dieser Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Vorstellung ist genau das, was uns vom Erwachen trennt. Wenn dieser Widerspruch aufgelöst ist und wir ganz in der Natur der Dinge aufgehen, in völligem Gewahrsein, dann sind wir Erwachte. Wir werden dann nicht aufhören, die Begriffe, die Kategorien zu benutzen, aber wir werden die volle Flexibilität des Geistes haben, Begriffe dafür zu nutzen, wofür sie gut sind und sie wegzulassen, wenn sie nicht sinnvoll sind. Die Welt der Vorstellungen ist im Konflikt mit dem, was unsere sechs Sinne uns melden, wenn wir uns tatsächlich öffnen. Wenn wir uns dafür nicht öffnen, müssen wir es zumindest noch verstehen. Wenn wir es zutiefst verstehen, dann sind wir im Einklang mit dem was ist, dann sind wir im Sosein, im vollen Gewahrsein angelangt. – Ein Buddha wird weiterhin Begriffe, Konzepte benutzen. Es gibt kein Problem mit den Konzepten. Begriffe werden dann dafür eingesetzt, wofür sie sinnvoll sind, und sie werden weggelassen, wenn sie nicht mehr sinnvoll sind. Diese Unterscheidungen, Unterteilungen sind so unzählig möglich, wie es Sinnesobjekte gibt. Noch einmal das Beispiel der Eiche. Wie weit können wir eigentlich mit den Unterscheidungen gehen? Wir

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haben alle Eichen der Welt und dann haben wir bestimmte Eichen. Da gibt es die amerikanische Roteiche usw. – ich kenne mich mit den botanischen Bezeichnungen nicht so genau aus – schließlich finden wir die korrekte botanische Bezeichnung für die Eiche in unserem Garten. Aber dann wollen wir noch spezifischer werden. Wir können der Eiche in unserem Garten sogar einen persönlichen Namen geben. Das ist die Eiche Franz z.B. Damit hat sie ihren Namen und wir denken, das wäre jetzt die eine unverwechselbare Eiche. Aber dieser Name ist auch nicht spezifisch genug, um die Eiche in ihrer Individualität von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, von Moment zu Moment zu erfassen. Äste brechen ab, andere Äste wachsen, mal hat sie dort Blätter, mal dort, mal keine mehr, verschiedene Insekten hinterlassen ihre Spuren, Moos wächst… Diese eine Eiche wird in ihrer Individualität nie von einem Namen befriedigend erfasst werden können. So geht es mit allen Dingen. Alle Bezeichnungen, alle Klassifikationen sind Verallgemeinerungen. Um einen Begriff zu finden, müssen wir weg von dem ständigen Wandel, wir müssen eine Verallgemeinerung treffen. Wir sagen z.B.: „Dieses Objekt, das immer an dem Ort zu finden ist, das nenne ich meine Eiche Franz.“ Aber damit sind wir dabei, etwas einzugrenzen, wo wir nicht mehr den Wandel von Moment zu Moment erfassen können. Das ist das grundsätzliche Problem mit allen Bezeichnungen, mit allen Kategorien. Wir werden dieses Problem nie lösen können, denn der Sinn von Bezeichnungen ist, Stabilität zu schaffen dort, wo es Wandel gibt. Das genau ist der Sinn von Bezeichnungen: etwas bezeichnen zu können, das sich andernfalls völlig der Bezeichnung entziehen würde. Dieser Prozess ist also notwendig, nur müssen wir uns dessen bewusst sein und dürfen nicht die Bezeichnung mit dem Bezeichneten identifizieren. Wenn wir denken, sie wären identisch, haben wir ein Problem. Im Prozess der Kommunikation erschaffen wir uns also Bezeichnungen, Begriffe, die aus dem zu beschreibenden Objekt das herausfiltern, was sich nicht so schnell ändert. Um beim Beispiel der Eiche in meinem Garten zu bleiben: Dieser Baum wird seine Eichenmerkmale nicht verlieren, solange es ihn gibt, er wird immer eine Eiche sein. Ich kann den Baum benennen, weil ich das herausfiltere, was sich nicht so schnell verändert, das andere muss ich aber weglassen. Wenn ich dem Menschen vor mir jeden Tag einen anderen Namen geben würde, bloß weil er jetzt gerade anders ist, könnten wir ja gar nicht kommunizieren. Begriffe brauchen eine Stabilität. So dass jeder diese Begriffe lernen kann, Zeit hat, sich die Begriffe anzueignen, zu wissen, was damit gemeint ist um dann mit anderen, die auch die Zeit hatten, die Begriffe zu lernen, zu kommunizieren. Dann macht die Kommunikation Sinn, wir sprechen über dasselbe, wir verwenden Begriffe, die jeder verstehen kann. Es wäre überhaupt nicht angebracht, die Begriffe ständig zu verändern. Es ist aber wirklich wichtig, dass wir uns bewusst sind, dass hinter den Begriffen die zu entdeckende Wirklichkeit ist, die sich weiterhin ständig wandelt, wir aber wandelnde Merkmale nicht so schnell herausgefiltert haben. Wenn wir also wissen, dass wir uns mit der Sprache auf einer virtuellen Ebene befinden – die Dinge werden benannt, sind aber nicht identisch mit dem, was beschrieben wird – wenn wir da genau sind und nicht die Bezeichnung mit dem Bezeichneten verwechseln, dann gibt es kein Problem. Wir nutzen die virtuelle Ebene, die Ebene der Begriffe, um etwas zu kommunizieren und dann gehen wir wieder zurück in die Welt der Erfahrung, die immer frisch ist. Wenn ich diesen Unterschied zwischen Bezeichnung, Idee, Vorstellung und der wirklichen Welt nicht begreife, dann werde ich auch nicht begreifen, warum mich Menschen missverstehen; warum ich andere nicht verstehe; warum die Dinge nicht so laufen, wie ich sie geplant habe; warum mir immer wieder Dinge passieren, die ich nicht vorgesehen habe, die in meiner Welt eigentlich gar nicht vorkommen sollten. Das hängt damit zusammen, dass ich in einer Welt der Vorstellungen lebe und den Kontakt mit dem, was ist, verloren habe. Wenn der Kontakt wieder zufrieden stellend hergestellt wird, wird sich meine Arbeit mit den Vorstellungen auch anpassen. Das ist der Heilungsprozess. Der Heilungsprozess geschieht dadurch, dass wir verstärkt den Kontakt aufnehmen mit dem, was ist, um unsere Begriffe, Ideen, Vorstellungen revidieren zu können, anpassen zu können; dass wir immer wieder neu verstehen: Wer ist eigentlich meine Mutter? Wer ist heute mein Vater? Wer ist heute mein Partner? Wie geht es meinem Freund heute? Wie sehen meine Blumen heute im Garten aus? – einfach immer, immer frisch, immer neu. Wenn das ständig stattfindet, gibt es keinen Konflikt zwischen Vorstellung und Wirklichkeit.

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Es wird im Text auch von „Unterscheidungen ohne Merkmale“ gesprochen. Das sind Ausnahmeerscheinungen, wo wir z.B. in tiefer Meditation in eine Dimension eintreten, die keine Merkmale mehr aufweist, die sich nicht beschreiben lässt.

Unterscheidungen ohne Merkmale finden sich: - bei Personen, die nicht in Konventionen bewandert sind; sie sehen z.B. eine Form, können sie aber aus Unkenntnis nicht bezeichnen. - bei Wahrnehmung einer Dimension ohne Merkmale - in meditativer Ausgeglichenheit am Gipfel der Existenz Von Unterscheidungen ohne Merkmale spricht man bei Erfahrungen, die sich schlecht beschreiben lassen, die wir zwar ganz klar spüren, wahrnehmen, aber wo uns die Worte fehlen. Das passiert uns ständig. Wir sind nicht die tollen Dichter, die mit der Sprache so spielen, jonglieren können, dass sie selbst die feinsten Nuancen noch erfassen können. Sprache ist eigentlich auch gar nicht dafür gedacht, alles zu erfassen, damit muss man sich auch abfinden. Vieles braucht gar nicht bezeichnet zu werden, es wird trotzdem erlebt. Das Erleben findet statt, die Wahrnehmung findet statt, es braucht ja nicht unbedingt beschrieben zu werden. Es wird nicht ‚wahrer’ dadurch, dass es beschrieben wird. Das ist nämlich der Punkt, auf den ich kommen möchte: Für uns haben Dinge, die wir beschreiben können, einen höheren Wahrheits-, Wirklichkeitsgrad als das, was wir nicht beschreiben können. Je häufiger wir ein Wort hören, desto wirklicher scheint das, was dahinter steckt, für uns zu sein. Lügen braucht man ja nur zu wiederholen und sie werden zur erklärten Wahrheit. Je häufiger wir Konzepte wiederholen, desto mehr scheinen sie einen Wirklichkeitsgehalt zu haben. Nun gibt es da ein Konzept, das wir recht häufig wiederholen: das Wörtchen Ich. – Ich, mein, mein Name, du, dein. – Das wiederholen wir ständig, und es bekommt einen enormen Wahrheitsgehalt. Es scheint wahr zu sein, weil ja alle dieses Wörtchen, diesen Namen benutzen. Gibt es denn dahinter auch diese korrespondierende Wirklichkeit von dem, was da bezeichnet wird? Das gilt es herauszufinden! Dem Buddha ging es darum, erst einmal den Unterschied zwischen dem Beschriebenen und dem Begriff aufzuzeigen, und dann auch, dass der Begriff Ich nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt, nicht mit der Wirklichkeit identisch ist, die da beschrieben wird. Es ging ihm aber auch darum, zu zeigen, dass die Summe all unserer Unterscheidungen auch kein Ich ausmacht. Die Fähigkeit, viele Dinge benennen zu können und zu unterscheiden, ist eigentlich ein Prozess ständiger Anpassung an neue Wirklichkeiten, die es wieder zu beschreiben gilt. Diese Fähigkeit ist auch keine ausreichende Grundlage dafür, von einem stabilen Ich sprechen zu können, das in sich stabil, in sich ruhend wäre. Es ist wiederum ein Prozess des Beschreibens, des Identifizierens, ein Prozess, um immer wieder in Einklang mit der sich wandelnden Wirklichkeit zu kommen. In der Liste gibt es noch weitere Arten von Unterscheidungen:

Weitere Unterscheidungen – Geringere Unterscheidungen entstehen aus den Wahrnehmungen des Bereichs der Sinnesbegierde. – Weite Unterscheidungen entstehen in gleicher Weise aus den Wahrnehmungen des Formbereichs. – Unermessliche Unterscheidungen entstehen aus den Wahrnehmungen von „Unendlichem Raum“ und „Unendlichem Bewusstsein“. – Unterscheidungen von Nichts-was-auch-immer entstehen aus der Wahrnehmung des Sinnesfeldes von Nichts-was-auch-immer.

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Die geringeren Unterscheidungen gelten für unsere Welt der Sinnesbegierde, und die anderen stammen aus dem Bereich der Götter der Form und der Formlosigkeit. Sie sind hier aufgelistet, um deren Lebenserfahrung in der Liste hier mit unterzubringen, sind aber weiter nicht relevant für uns. Was nun den Praktizierenden, die Praktizierende angeht: Wir üben uns zunächst einmal einfach darin, den Geist zu entspannen und nicht so sehr in Unterscheidungen zu funktionieren. Wir lassen es also einfach einmal sein. Da ist ein Geräusch hinten auf der Straße: Ich brauche nicht zu identifizieren, was es nun für ein Auto ist oder gar welcher Nachbar da gerade vorbei fährt. Es gibt Geräusche im Haus: Ich muss nicht unbedingt identifizieren, woher diese Geräusche kommen. Ich betrachte Blumen: Ich muss nicht unbedingt die Namen der Blumen wissen. Ich höre Musik: Ich muss nicht unbedingt den Komponisten wissen. Ich muss nicht wissen, welches Orchester da gerade spielt. Ich muss nicht wissen, welches Stück es gerade ist. – Ich kann mich einfach an der Musik erfreuen. Wir vereinfachen also die Geistesvorgänge, um mehr im direkten Erleben sein zu können, und wir benennen, klassifizieren, unterscheiden nur dann, wenn es wirklich sinnvoll ist. Es ist ganz wichtig, aus dem automatischen Benennen, aus dem Unterscheidungswahn, dem Klassifizierungswahn heraus zu kommen. Als zweiter Punkt erscheint mir wichtig zu sein, dass wir uns – wenn wir Begriffe, also Sprache benutzen – bewusst sind, dass es sich um Übereinkünfte, um sprachliche Konventionen handelt. Übereinkünfte ermöglichen uns zu kommunizieren, sie beschreiben aber nicht exakt, was beschrieben werden soll. Es sind Verallgemeinerungen, also ist Vorsicht angebracht. Wir sollten sorgfältig mit Sprache umgehen und uns des Unterschiedes zwischen Sprache und beschriebener Wirklichkeit bewusst sein. Das ist ein zweiter Schritt. Drittens erscheint mir wichtig, dass man dann wirklich die konfliktträchtigen Begriffe angeht und schaut, was denn dahinter steckt. Der wichtigste Begriff ist Ich, dann du, was ist gemeint mit du, mit mein Mann, meine Frau, meine Tochter, mein Sohn, meine Mutter, mein Vater? Das sind die Begriffe, um die herum sich immer wieder Erwartungen aufbauen, Identifikationen aufbauen, wo es zu Leid, zu Spannungen kommt. Was verstehe ich unter Gesellschaft, was verstehe ich unter französisch, deutsch usw.? Wir müssen hinter die Begriffe schauen. Was ist eigentlich gemeint? Was könnte gemeint sein? Wir müssen die Begriffe vorsichtig benutzen und dürfen nicht glauben, wir könnten mit Begriffen die Welt erfassen.

Fragen: Das Ich als Arbeitshypothese Noch einmal zur Geschichte mit der Frage nach der Existenz des Ich. Habe ich den Buddha richtig verstanden, wenn ich folgenden Schluss ziehe: Wenn du diesen kontinuierlichen Strom von Geistesaktivitäten als Atman bezeichnen willst, dann kannst du es tun. D.h., wenn ich in der Tat Personen, mich selbst als Kontinuität im Wandel verstehen kann, kann ich es so nennen? Der Buddha hat auf jeden Fall gesagt: „Ja, sei dir bewusst, was du mit Atman bezeichnest. Ein Atman, das stabil ist, individuell abgegrenzt und dergleichen, kann niemand finden. Wenn du damit aber einen Prozess bezeichnest, das ist okay.“ Genauso die Antwort auf die Frage zum Pendant dazu: Gibt es Brahman? Gibt es Gott? Das hat der Buddha ebenfalls weder mit ja noch mit nein beantwortet sondern genauer ausgeführt: ‚Ja, es gibt Götter, die Teil des Daseinskreislaufs sind, die sich ebenfalls befreien möchten, die sehr mächtig sind. Sie sind so mächtig und so langlebig, dass wir ihnen Schöpferkräfte zuschreiben, aber da ist kein bleibender Gott. Es gibt die Dimension der Befreiung, es gibt bodhi, das Erwachen, und wenn wir wollen, steht es uns frei, das mit Namen zu belegen. In vielen Texten und Belehrungen werde ich eigentlich angesprochen als jemand, der noch an diese alte Atman-Lehre glaubt oder an Leibnizsche Monaden oder an die Theorien des 19. Jh. wo es feste

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Charaktere oder ähnliches gab. Ich bin in der dynamischen Psychologie groß geworden – zugegeben, in den 2500 Jahren sind die hundert Jahre noch nicht sehr viel – und schwanke dann zwischen „Soll ich mich davon ansprechen lassen als jemand, der einem überholten Modell anhängt?“ und „Soll ich mich darüber ärgern?“ oder „Soll ich es übergehen?“ Ich merke da eine Irritation in mir. Ich bin mir bewusst, dass wir auf dieser Ebene – der Idee von einem Selbst, das stabil, individuell beschrieben wird, verhaftet – angesprochen werden. Eine dynamische Sichtweise des Ichs wird dabei nicht in Betracht gezogen. Nun ist das aber auch gar nicht so relevant. Wenn uns – die wir dieses wunderbare Konzept über das Ich haben, das ein dynamischer Prozess ist – etwas passiert, wenn uns etwas piekst, eine Beziehung auseinander geht, wir einen geliebten Menschen verlieren, dann reagieren wir aber genauso, wie die Menschen, die an einem stabilen Ich anhaften. Das heißt, die konzeptuelle Idee von einem dynamischen Ich hat überhaupt noch nicht den Weg ins Herz gefunden. Es tut eigentlich schon gut, dass wir immer noch auf dieser Ebene angesprochen werden, denn wir verhalten uns immer noch so, als würden wir von einem soliden Ich ausgehen. Der Weg vom intellektuellen Verstehen ins erfahrende Erleben hat nicht stattgefunden – trotz aller Psychologen-Ausbildung und Schulung und Überzeugung. Wir reagieren immer noch wie Kinder, die nichts verstanden haben, und da fühlt sich unser Stolz etwas provoziert. Wir haben es im Kopf verstanden, aber im Herzen ist es noch nicht angekommen. Die Reaktion, dass sich mein Stolz provoziert fühlt, wenn mich jemand für so unwissend hält, dass ich die Person nicht als etwas Dynamisches verstanden hätte, wird aufhören, wenn ich es wirklich verstanden habe. Dann kann ich gut damit leben, dass jemand nicht sieht, dass ich tatsächlich in der Dimension frei von Anhaften bin.

Geringere Unterscheidungen im Begierdebereich Was ist mit diesen ‚geringeren Unterscheidungen’ gemeint, die in der Liste von sechs Unterteilungen angesprochen sind und sich auf den Begierdebereich beziehen? Im frühen Buddhismus wurde mit einer Unterscheidung in drei große Daseinsbereiche gearbeitet. Der Bereich des Anhaftens an Sinnesfreuden, den man auch den Begierdebereich nennt, umfasst alle Daseinsformen – angefangen von den Höllenbereichen über die Hungergeister, Tiere, Menschen, Halbgötter, bis in den Götterbereich zu den Göttern, die noch an Sinnesfreuden haften. Das alles wurde Bereich des Haftens an Sinnesfreuden genannt. Dann gibt es aber Götter, die nicht mehr an Sinnesfreuden haften, sondern nur noch mit ihrer subtilen Form, mit der Form eines Lichtkörpers identifiziert sind. Man nennt das den Bereich der Form. Sie haben deutlich weniger Anhaftung als jene des Begierdebereiches. Und dann gibt es Götter im Bereich ohne Form, die auch keinen subtilen Lichtkörper mehr haben, die eine Anhaftung an subtile Meditationszustände aufweisen; Meditationszustände ohne Form wie z.B. die erwähnte „Nichts-was-auchimmer-Dimension“ oder der Bereich „Jenseits von Unterscheidung und Nicht-Unterscheidung“. Es gibt verschiedene Bezeichnungen für diese grenzenlose Meditation. Das sind subtile Anhaftungen im Bereich der formlosen Götter. Keiner dieser Daseinsbereiche dauert für immer. Jede Existenz endet damit, dass das Karma, das diese Existenz hervorgerufen hat, erschöpft wird und man wieder in andere Daseinsformen eintritt. Das war die Vorstellung, die der indischen Kultur damals entsprach und sehr geeignet ist, die Dinge den Indern zu erklären.

Zeichen des Fortschritts Woran können wir erkennen, dass unsere Entwicklung in die richtige Richtung geht, dass wir uns einer Sichtweise annähern, die dem Erwachen förderlich ist. Ich bin mir bewusst, dass unsere Sichtweisen alle noch von Ichanhaften geprägt sind, aber gibt es vielleicht Zeichen, an denen wir erkennen können, dass sich unsere verkehrten Sichtweisen auflösen und man sich an etwas annähert, das dem Erwachen förderlich ist?

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Die Zeichen dafür sind, dass unser Geist geschmeidiger wird, dass wir uns weniger in Blockaden verfangen, dass wir innere Freiheit erleben, dass Freude auftaucht, dass Vertrauen oder gar Gewissheit im Geist auftaucht. Dass wir auch diese Anschauungen nicht zu verteidigen haben, dass sich insgesamt eine große innere Befreiung breit macht aufgrund einer Sichtweise oder Erfahrung des Lebens, die schon deutlich näher an der Wirklichkeit ist, die an sich jenseits aller Sichtweisen ist. Wenn unser Geist enger wird, wenn wir merken, dass wir Sichtweisen verteidigen oder angreifen, wenn wir schwerer im Geist werden, wenn unser Geist blockiert und die Freude weggeht, dann sind wir auf dem Holzweg. Das sind die Anzeichen dafür, dass die Gesamtentwicklung in eine Richtung geht, wo wir dabei sind, wieder festzuhalten an was auch immer an Sichtweisen sich da gerade aufgebaut hat.

Aufwühlende –nicht aufwühlende Empfindungen Eine Frage zum 2. Aggregat, den Empfindungen: Da war die Rede von aufwühlend, nicht aufwühlend, weder aufwühlend noch nicht aufwühlend. Ich frage mich, ob das die erste Spannung im Geist ist, die man wahrnehmen kann, denn das hat ja nicht mit einer emotionalen Aufgewühltheit zu tun, das wäre in den Skandhas viel, viel später – oder doch? Es hat mit Emotionen ja eigentlich nichts zu tun. Ich habe es so verstanden, dass eine Spannung im Geist dukkha ist. Aber wie kann eine Spannung, die ich wahrnehme, nicht nicht aufwühlend sein? Ich verstehe das nicht ganz. Da hat es eine kleine Verständnislücke gegeben. Wenn etwas Spannung im Geist verursacht, dann ist es aufwühlend. Etwas, was Anspannung ist, ist etwas, das den Geist aufwühlt, nicht beruhigt, nicht frei macht. Ja, aber wenn vorher die Unterteilung ist in angenehm, unangenehm und neutral … Das ist aber eine andere Unterteilung, diese Unterteilungen ersetzen sich nicht. Wir sprechen von etwas anderem. Es ist nicht so, dass die angenehmen Empfindungen nicht aufwühlend wären. Das ist nicht gemeint, auch angenehme Empfindungen werden so interpretiert augrund von aufwühlenden Emotionen wie z.B. Anhaftung. Der Geist ist aufgewühlt, weil ich etwas gerne mag. Das Nicht-Aufwühlen ist keineswegs ein Pendant zum Angenehmen und das Aufwühlende zum Unangenehmen, das kann man so nicht sehen. Angenehm und unangenehm gehören beide in den Bereich der aufwühlenden Empfindungen. Aber das hat mit Emotionen nichts zu tun? Doch! Das ist der Beginn der Emotion. Das ist der Beginn der drei Geistesgifte von Begierde, Abneigung und Unwissenheit. Aber die Emotionen setzen sich ja erst da drauf, die können sich daraus entwickeln. Ja, das hängt davon ab, wie du Emotionen definierst. Ihre Wurzeln sind in diesen ganz rudimentären Reaktionen, wie „Mag ich!“ – „Mag ich nicht!“ – „Will ich nichts davon wissen!“ Das sind die Wurzeln der dann immer stärker anwachsenden Emotionen, die die ausgewachsenen, aufgeblähten Formen der Emotionen ergeben. Es kommt drauf an, wie du das Wort Emotion einsetzt. Aber was die Geistesgifte angeht, die kleshas, die beginnen bereits hier bei diesem ersten Unterscheiden. Aber warum gibt es dann in der Unterscheidung die „nicht aufwühlenden Empfindungen“? Das sind die Erfahrungen z.B. von Arhats, von voll erwachten Bodhisattvas, die auch Empfindungen im Körper haben. Aber nicht eine einzige dieser Empfindungen geht mit Ich-Bezogenheit einher und sie kommen deswegen nicht in diese Muster des Anhaftens und Ablehnens. Diese nicht aufwühlenden Empfindungen tauchen nur bei erwachten Lebewesen auf. Du hast vielleicht gedacht, dass mit dieser Kategorie ein Feld beschrieben wird, das in der Reichweite von unseren Erfahrungen liegt, das sind aber nur neutrale Empfindungen. Nicht aufwühlende Empfindungen sind immer verbunden mit einer Seins-Erkenntnis, mit dem Gewahrsein der wahren Natur der Empfindung. Aber immer noch verbunden mit einer Ich-Anhaftung? Nein! Eben nicht mehr. Das sind Empfindungen ohne Ich-Anhaftung. Die nicht aufwühlenden Empfindungen sind Empfindungen ohne Ich-Anhaftung.

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– Ich habe das heute Morgen sehr schnell behandelt und bin nicht ins Detail gegangen. Deswegen bin ich froh, dass wir das jetzt klären konnten. Selbstvertrauen und Krankheit aus buddhistischer Sicht Wie wird auf dem buddhistischen Weg das Selbstvertrauen gesehen? Wir stärken das Selbstvertrauen in die Qualitäten, die sich natürlicherweise zeigen, wenn der Geist sich öffnet und entspannt. Wenn wir uns entspannen, wenn sich der Zugriff der Ich-Bezogenheit lockert, dann kommen natürlicherweise Qualitäten zum Vorschein, wie Freigebigkeit, Freude, Liebe, klarer Geist, Verständnis, Geduld usw. Diese Qualitäten erscheinen von selbst, sie sind unser Erbe einfach aufgrund dessen, dass wir einen Geist haben. Man nennt das das Vertrauen in die Qualitäten der Buddhanatur. Dieses Vertrauen stärken wir auf dem Weg der Dharma-Praxis. Wir vermeiden, Vertrauen in vorübergehende äußere Qualitäten zu stärken. Wir vermeiden es, jemanden darin zu bestärken, Vertrauen in sich zu haben aufgrund von Schönheit, Stärke oder weil man viel gelernt hat, viele Dinge tun kann, erfolgreich oder anerkannt ist. Wir vermeiden es, das Vertrauen in diese Qualitäten, die in der Welt eine Rolle spielen, aufzubauen, denn sobald Krankheit auftritt, sobald es zu Unfällen kommt, sobald sich die Lebens-Situation ändert, wir schwerem Karma begegnen, bricht all das in sich zusammen. Wir sind nicht mehr schön; wir sind nicht mehr stark; wir schaffen es nicht mehr, unsere Dinge zu regeln, aber die innewohnenden Qualitäten des Geistes bleiben. Darauf kann man tatsächlich bauen, auch im Übergang vom Leben in das, was danach kommt. Wie sieht man Krankheit auf dem buddhistischen Weg? Ich werde die Frage möglichst grundlegend beantworten, sodass ich für alle Buddhisten sprechen kann: Alle sind sich einig darin, dass Krankheit ein Ungleichgewicht ist, das durch ungeschicktes Denken, ungeschicktes Sprechen und ungeschicktes Handeln hervorgerufen wird. Ein Denken, das von starkem Anhaften geprägt ist, von starker Ich-Bezogenheit; ein Sprechen, das von Negativität und IchBezogenheit geprägt ist und die entsprechenden Handlungen, die auch einen Mangel an Respekt, einen Mangel an Offenheit und Gewahrsein ausdrücken. Diese Stress-Muster auf den drei Ebenen von Körper, Rede und Geist produzieren ein Ungleichgewicht in den subtilen Energien; das ist der Zwischenschritt. Und das Ungleichgewicht in den subtilen Energien, im Strömen dieser Energien in uns, produziert die strukturellen Veränderungen, was wir dann als körperliche Krankheit wahrnehmen oder es produziert so feste, so starke geistige Muster, was dann als geistiges Kranksein erfahren wird. Im buddhistischen Ansatz verfolgen wir alles zurück auf den Umgang mit unserem Geist, und je mehr Anspannung, je mehr Blockaden da vorhanden sind, desto stärker wirkt sich das auf des Energiesystem und dann auf den Körper aus. So erklären wir alle Krankheiten. Wie ist es dann möglich, dass hoch verwirklichte Lamas z.B. an Krebs sterben? Sie sterben an einem Ungleichgewicht in ihrem Organismus, und man kann sich fragen: Kommt dieses Ungleichgewicht von ihrem persönlichen Karma, das reif wird, oder ist es möglich, dass sie dank ihrer Herzenspraxis Ungleichgewichte auf sich nehmen, dass sie tatsächlich in der Lage sind, etwas aufzunehmen, was sonst andere belasten würde. Diese Frage kann man sich stellen. Es gibt diese Möglichkeit. Es gibt natürlich auch Krankheiten, die entstehen, weil dieser Körper einfach alt wird, weil er ohnehin einmal auseinander fallen wird, alle sterben ja irgendwann einmal. Ein früher Krebs ist natürlich eine besondere Situation, wie z.B. beim 16. Karmapa, der ja drei verschiedene Formen von Krebs in sich hatte, als er starb. Man behauptet – ich kann das ja auch nicht überprüfen – dass er tatsächlich Wünsche gemacht hat, die immense Kraft des Krebses in dieser Welt zu transformieren in seiner eigenen Praxis, um es anderen zu erleichtern, mit dieser Krankheit umzugehen. – Aber das kann ich nicht beurteilen, das wird so gesagt. Karmapa brauchte keinerlei Schmerzmittel, er war bis zur Zeit seines Todes stets freudig gelaunt und nahm in seinem Zimmer stets jeden offen auf. Es war eine Freude für die Krankenschwestern und Ärzte, zu ihm zu kommen und ein absolutes Wunder für sie, wie jemand innerlich zerfressen werden

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konnte, ohne Schmerzmittel zu brauchen. Das war also offenbar ein Praktizierender höchster Güte, der vielleicht nicht dabei war, ein persönliches Karma auszuleben. Das lassen wir einmal offen. Jedenfalls war er nicht in dukkha, er war in diesem Prozess nicht in Schmerz und Leid gefangen. Gendün Rinpoche – dessen Arzt ich ja war – sagte immer: „Ich hatte keinerlei Krankheit, ich kannte nicht einmal Fieber, bis ich nach Indien kam. Als ich von einem Leben in fünf- sechstausend Metern runterkam in das feuchte Klima von Nordindien auf tausend oder fünfhundert Meter Höhe. Da habe ich Malaria bekommen und zum ersten Mal in meinem Leben Fieber. Von da an ging es mit meiner Gesundheit abwärts, weil mein Organismus einfach nicht gewohnt war, in diesen Breitengraden zu leben.“ Gendün Rinpoche hatte von sich selber gesagt – ich bin mir nicht sicher, ob er es genau so gesagt hat – dass er dabei war, Reste von seinem Karma aufzuarbeiten.

Entspannung Zur Bedeutung der Entspannung, um den Durchbruch zu dieser direkten Wahrnehmung zu bekommen: Du hast gesagt, man sollte entspannt dessen gewahr sein, was sich vollzieht. Ich kann mir vorstellen, dass man gerade am Lebensende nicht unbedingt so entspannt ist. Ich frage mich, ob es trotz dieser Angst, die man aufgrund von körperlichen Symptomen wie Atemnot oder Herzklopfen hat, möglich ist, zu dieser reinen Erfahrung durchzubrechen? Ich glaube, da vermischen sich zwei Fragen: die eine nach der Wichtigkeit der Entspannung und die andere, ob man noch entspannt bleiben kann, wenn körperliche Symptome auftreten. – Das Thema Angst müssen wir noch extra ansprechen. Ich muss es kurz halten. Entspannung ist entscheidend, um zu einer Erkenntnis zu kommen, aber man kann sie nicht erzeugen. D.h. eine gewollte Entspannung wird nie diese Wirkung haben, dass sich der Geist wirklich in ein non-duales Bewusstsein hinein öffnet. Es geht darum, sich so zu vergessen wie wir uns vergessen beim Einschlafen – allerdings bei vollem Gewahrsein. Das ist mit letztendlicher Entspannung gemeint, die Kontrollmechanismen werden so wie beim Einschlafen völlig losgelassen, aber eben bei vollem Gewahrsein. Zur Frage mit den starken Körpersymptomen: Für jemanden, der geübt ist, ist es tatsächlich möglich im Geist entspannt zu bleiben, obwohl der Körper verrückt spielt. Das geht, man muss nur wirklich geübt sein, es lernen, Körper und Geist nicht miteinander zu identifizieren, sodass der Geist andere Wege gehen kann als der Körper. Man lernt das mit etwas einfacheren Dingen, z.B. sich nicht von einem Kopfschmerz beeinflussen zu lassen oder von Hungergefühlen oder von Schmerzen im Rücken oder in den Beinen. Man lernt damit zu leben, der Geist befreit sich aus der Fixierung auf die Körpersymptome und wird frei, obwohl der Körper Schmerzen hat. Das muss man lernen, damit es dann auch bei schwierigen Symptomen wie Atembeklemmungen und Herzrasen möglich ist. Das geht nicht einfach so, aber wenn man es bei anderen Symptomen bereits gelernt hat, ist es möglich, auch bei Atembeklemmungen entspannt zu bleiben. Es ist sehr schwierig, aber es ist möglich. Und zu Entspannung, Offenheit, wenn Angst da ist: Das ist ein Widerspruch in sich. Wenn Angst da ist, können wir nicht entspannt sein. Angst ist Anspannung, ist Enge des Geistes. Wenn Entspannung kommt, löst sich die Angst auf. Es ist nicht möglich, mit Angst entspannt zu sein. Man kann mit den körperlichen Symptomen von Angst entspannt umgehen und in die Angst hinein entspannen. Dann wird sich die Angst auflösen. Sie wird nicht bestehen bleiben. Eine Koexistenz von Angst und Entspannung ist unmöglich. Die Angst wird sich auflösen, obwohl äußerlich eine Gefahr droht oder etwas Wichtiges bevorsteht wie z.B. der Tod. Man kann angesichts des Todes entspannt bleiben und wird dann auch keine Angst haben. ***

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Das Aggregat der Gestaltungen Samskara Skandha

Ab hier werde ich den Text Wort für Wort durchgehen. Der Text stammt von Yu Mipham Rinpoche, dem ersten Mipham, einem großen Gelehrten der Nyingma-Tradition, und enthält eine Zusammenfassung des Abhidharma. Es ist das Standardwerk des 19. Jahrhunderts und gilt als Referenz in allen Linien des tibetischen Buddhismus, eine einfach gehaltene, sehr schöne Zusammenfassung. Das Kapitel über die Skandhas ist der Anfang dieses Textes. Es ist das erste der zehn großen Kapitel, die Mipham Rinpoche in den vier Bänden behandelt. Es heißt hier: Tatsächliches Gestalten kennzeichnet das Aggregat der Gestaltungen. Der Ausdruck für Gestaltungen auf Sanskrit ist samskara. Kara ist dasselbe Verb wie für Karma. Es bedeutet tun, handeln, gestalten, hervorbringen, und sam bedeutet umfassendes Gestalten, Gestalten in jeder Hinsicht, in jedem Aspekt. Es geht hier um das Gestalten unseres Lebens. Diese Geistesfaktoren sind die Gestaltungen, die tatsächlich unser Leben ausgestalten. Sie sind die Ursachen, die dazu führen, dass wir bestimmte Erfahrungen in unserem Leben machen. Sie sind die Faktoren, die Karma bewirken, die Ursache-Wirkungsketten in Bewegung setzen. Hierzu zählt alles Zusammengesetzte – alles Bedingte –, das nicht zu den vier anderen Aggregaten gehört. Wenn wir aber genauer hinschauen, dann sehen wir, dass in der Liste der Gestaltungen das 2. und 3. Aggregat wieder aufgeführt werden, so dass die Definition eigentlich lauten müsste: Alles was nicht Form ist – nicht zum 1. Skandha gehört – und alles was nicht zum 5. Skandha, den verschiedenen Bewusstseinsformen gehört, wird unter Gestaltungen zusammengefasst. Das Aggregat der Gestaltungen beinhaltet: -

die mit Geist [kognitiven Prozessen] einhergehenden Gestaltungen d.h. alle Geistesaktivitäten, sowie

-

die nicht mit Geist [kognitiven Prozessen] einhergehenden Gestaltungen, wie „Erlangthaben“ usw.

Gestaltungen, die nicht mit kognitiven Prozessen einhergehen, sind seltene Bewusstseinszustände bei Erwachten. – Kognitive Prozesse, sind Prozesse, wo einem etwas bewusst wird, wo etwas wahrgenommen wird. Wir werden uns im Folgenden mit den Geistesfaktoren beschäftigen, die mit kognitiven Prozessen, also mit Bewusstwerden, einhergehen und nicht mit den Ausnahmezuständen von erwachten Lebewesen, von speziellen Samadhi-Zuständen. Es gibt 51 Geistesaktivitäten – oder 55, wenn die fünf [irrigen] Anschauungen einzeln aufgezählt werden. Es gibt auch Listen mit 53 oder mit 50 Geistesfaktoren. Die Zahl hängt davon ab, wie die Unterpunkte – speziell jene, die mit Anschauungen und mit Unwissenheit zu tun haben – im Einzelnen erläutert werden. Aber ansonsten handelt es sich stets um dieselben Geistesfaktoren. Bevor wir die Geistesfaktoren besprechen, möchte ich euch kurz erzählen, wie diese Liste überhaupt zustande gekommen ist. Es gibt kein Sutra, in dem der Buddha die 51 oder 55 Geistesfaktoren aufzählt. Es gibt Stellen, an denen der Buddha sagt: „Diese fünf Geistesaktivitäten sind stets vorhanden.“

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oder: „Um ein Objekt genau zu bestimmen, braucht es diese fünf objekt-vergewissernden Faktoren.“ oder: „Diese Faktoren, dieser, dieser und dieser sind z.B. heilsame Faktoren.“ An einem anderen Ort spricht er über noch weitere heilsame Faktoren. An anderen Orten spricht er über nicht-heilsame Faktoren. Der Buddha lehrte aber nicht die komplette Liste aller heilsamen und nicht-heilsamen Faktoren in einem. Seine Schüler haben sie später zusammengestellt. Sie haben sich alle seine Unterweisungen in Erinnerung gerufen und dann die heilsamen Faktoren, die der Buddha erwähnt hat, in einer Liste zusammengefasst, dann die nicht-heilsamen Faktoren. Und schließlich auch diejenigen, von denen der Buddha gesagt hat: „Ja, das kommt drauf an. Mal ist es heilsam, mal ist es nicht heilsam.“ – Es gibt vier Faktoren, wo es keine eindeutige Zuordnung gibt. Die Auflistung dieser Geistesfaktoren war also die Arbeit von späteren Generationen. Ich möchte euch noch eine ganz wichtige Bemerkung von unseren Khenpos weitergeben. Auch Khenpo Ngedön hat das kürzlich wieder angesprochen: Wir sollen nicht unserem Bedürfnis nachgehen, alles genau verstauen zu wollen wie in Schubladen. Es geht bei diesen Beschreibungen nicht darum, einen Geistesfaktor klar von anderen abzutrennen. Es geht darum, zu verstehen, wie sie alle miteinander in einem ständigen Prozess zusammenspielen, wo es nicht um einzelne Schauspieler geht, sondern um Qualitäten des Geistes, die verschiedene Färbungen, verschiedene Stimmungen annehmen, Unterschiede in der Klarheit, in der Ausrichtung auf bestimmte Objekte. Es geht darum, das Zusammenspiel zu verstehen und nicht sich ein Wissen aufzubauen, wo die Ich-Bezogenheit dann meint, sie hätte so etwas wie eine klare Landkarte für den Geist erstellt – „Das gehört hierzu und nicht dazu.“, „Das ist z.B. das zweite Aggregat und nicht das vierte!“ oder „Das ist das dritte und nicht das vierte.“ – und wir dann miteinander diskutieren: „Ja ist es denn nun dieser Geistesfaktor oder der?“ Es kann gut eine Verbindung von beiden sein oder von dreien oder von vieren. Es geht nicht um die Abgrenzung, sondern darum, zu verstehen, welche unterschiedlichen Kräfte in unserem Geist aktiv sind. Wir finden nie einen einzigen dieser Faktoren allein aktiv wie einen einzelnen Schauspieler, der gerade seine Show abzieht. Es ist immer ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Die ersten fünf Geistesaktivitäten sind in unserem Geist ständig vorhanden, sie spielen immer zusammen, wenn es zu einem kognitiven Akt der Wahrnehmung kommt, wenn etwas bewusst wird.

Die fünf stets vorhandenen Geistesaktivitäten sind: Interesse, Empfinden, Unterscheiden, Bewussthalten und Kontakt. Empfinden und Unterscheiden wurden bereits erklärt – sie sind zwar Geistesaktivitäten, zählen aber nicht zum Aggregat der Gestaltungen, da sie getrennt behandelt werden.

1) Interesse ist das geistige Hinbewegen zu einem Objekt und mit ihm beschäftigt sein. Seinen Stützen entsprechend – dem Zusammenkommen der Augen usw. [mit ihrem entsprechenden Objekt und Bewusstsein] – gibt es sechs Arten von Interesse. Dieser Faktor Interesse (Skr.: cetana) oder Anziehung, wie Lama Tenzin auf Französisch übersetzt, ist ein ganz rudimentäres Aktiviert-Haben des Sinnesfeldes. Z.B. Hören: Wir sind entspannt und hören eigentlich nirgendwo hin. Aber ein plötzlich auftauchendes Geräusch zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Wir lenken unsere Aufmerksamkeit in Richtung auf dieses Geräusch, und das geht dem eigentlichen Erkennen des Geräusches voraus. Diese grundsätzliche Bereitschaft zu hören muss gegeben sein, damit es zu einem Akt des Hörens kommt. Und das Gleiche gilt für die anderen Sinnesfelder. Es muss eine grundlegende Aktivierung des Sehsinns vorhanden sein, damit es zu Seh-Erfahrungen kommt. Eine grundlegende Aktivierung des jeweiligen Sinnes muss da sein, damit es in diesem Bereich zu Bewusstwerdung kommen kann.

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Es gibt Samadhis, in denen z.B. der Hörsinn oder der Körpersinn nicht mehr aktiviert sind. Man kann tatsächlich neben jemandem, der sich in tiefer Versenkung befindet, einen Sprengsatz loslassen und er hört das nicht, weil sein Hörsinn nicht aktiviert ist. – Das ist in geringem Maße vielleicht schon bei unserem Sohn, bei unserer Tochter der Fall, wenn sie auf ihrem Gameboy spielen und wir sie zum Mittagessen rufen. Die hören nichts, der Hörsinn ist nicht ausreichend aktiviert, dass es zu einer Hörwahrnehmung kommen würde. Da muss man schon auf die Schulter klopfen und noch andere Sinne aktivieren, dass es da zur Aufnahme des Impulses kommt. Es heißt dann: Seinen Stützen entsprechend – dem Zusammenkommen der Augen usw. [mit ihrem entsprechenden Objekt und Bewusstsein] – gibt es sechs Arten von Interesse. – das Interesse für visuelle Objekte, das Interesse für auditive Objekte usw., die sechs Sinne. Es muss also das Sinnesfeld aktiviert sein. Wenn der Faktor Interesse in einem Sinnesfeld aktiviert ist und der Geist sich auf eine Wahrnehmung ausrichtet, kommt es als nächstes zum Kontakt. Kontakt ist in der Liste hier erst an fünfter Stelle aufgezählt, in anderen Listen kommt er an zweiter Stelle. Das spielt keine Rolle, weil diese fünf so beschrieben werden, dass sie zusammenarbeiten. Es geht nicht darum, sie auseinander zu dividieren, sondern das gemeinsame Funktionieren zu verstehen, das dazu führt, dass es zu einer kompletten Sinneswahrnehmung kommt, zu einem kognitiven Akt, zu einem Bewusstwerden. Ihr könnt den fünften Faktor Kontakt gut an seinem Ort lassen. Wenn wir die anderen Faktoren durchgehen, werdet ihr merken, dass es auch einen Grund gibt, dass er am Ende dieser Fünfer-Liste auftaucht.

2) Empfinden Aufgrund von Kontakt entsteht ein Empfinden. Empfinden haben wir bereits als 2. Skandha kennen gelernt. Das Wichtige war, dass mit dem Empfinden bereits eine Qualität einhergeht, dass die Empfindung als angenehm, als unangenehm oder als weder noch wahrgenommen wird.

3) Unterscheiden In einem nächsten Schritt kommt es zum Unterscheiden. Dabei geht es nicht mehr um diese affektive Komponente, sondern um die kognitive Komponente, um das Unterscheiden einer Sinneswahrnehmung von anderen, ähnlichen Sinneswahrnehmungen – z.B. das Unterscheiden von Vogelgesang und dem Klang einer Flöte oder einer Geige oder noch feinere Unterscheidungen. Diese Unterscheidungen wurden auch bereits erklärt – das war das 3. Skandha. In einem kognitiven Akt sind all diese Faktoren zugleich aktiv, und es gibt da noch einen Faktor, der ganz wichtig ist:

4) Bewussthalten ist das geistige Festhalten eines Bezugspunktes. Mit Bewussthalten (Skr.: manaskara) – manas ist der Geist und kara bedeutet handeln – ist das Handeln des unterscheidenden Geistes gemeint, eine Aktivität, die das Objekt so lange bewusst hält, bis es tatsächlich genau erkannt wurde. Es wird hier beschrieben als das geistige Festhalten eines Bezugspunktes, d.h. wir halten den Klang so lange im Bewusstsein, bis wir ihn deutlich gehört haben. Wenn wir dieses Bewussthalten nicht hätten, dann würde es nicht zu einem klaren Empfinden kommen und auch nicht zu einem klaren Unterscheiden. Die Zeitdauer des Kontaktes wäre nicht ausreichend, damit es zu einem vollständigen kognitiven Akt kommt. Damit es zu einer klaren Wahrnehmung kommt, muss der Geist ausreichend lange beim Objekt gehalten werden. Was meint ihr wohl, wie lange es braucht, bis ein Objekt erkannt wird? Das ist unterschiedlich. Manchmal nur Bruchteile von Sekunden, manchmal eine halbe Minute. Sehr unterschiedlich. Es könnte sehr viel länger sein, natürlich auch Bruchteile von Sekunden im Normalfall, aber eventuell auch sehr viel länger. Es kommt drauf an, wie klar der Geist ist.

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Ich habe das Gefühl, dass die Faktoren Interesse und Empfinden zusammengehen wie ein Paar und dass die anderen drei notwendig sind, um zu diesen beiden zu führen, dass das Unterscheiden mit dem Bewussthalten zusammenarbeitet. Es braucht ein Interesse, das zu einem ausreichend langen Bewussthalten führt, damit der Kontakt von einer solchen Klarheit und Intensität ist, dass es zu Empfinden und Unterscheiden kommen kann. Ich nehme an, deine Annahme, dass diese beiden ersten Faktoren stärker zusammengehören, hat damit zu tun, dass der erste Faktor auf Französisch attraction genannt wird. Das bedeutet nämlich ein Hingezogen-Sein, und das setzt eigentlich schon voraus, dass man etwas als angenehm empfindet, was hier aber gar nicht gemeint ist. Es ist nur eine Aktivierung des Sinnesfeldes gemeint, mit einem ausreichenden Interesse, um irgendetwas wahrzunehmen, nicht eine spezielle Empfindung, sondern um in dem Bereich überhaupt wahrzunehmen. Wenn damit gerade schon die Frage der Begrifflichkeit dran ist, wie passt unser deutsches Wort Neugier dazu? Neugier ist ein sehr viel komplexeres Phänomen, sie ist kein allgegenwärtiger Faktor. Hier ist dieses Grundinteresse an der Wahrnehmung gemeint, die Neugier ist schon ein weiter gehendes Verstehenund Erforschen-Wollen. Das kommt dann später. Ist dieses Bewussthalten das, was so lange dauert, bis wir das, was wir jetzt z.B. sehen, eingeordnet haben, bis wir kapiert haben, was es nun ist? Geht das so lange? Als Beispiel die berühmte Kordel in der Dämmerung. Gut, dass du nachfragst, denn ich war ja gar nicht auf die einzelnen Antworten eingegangen, wie eine halbe Minute oder sogar noch länger. Das ist nämlich gar nicht gemeint. Es ist nur der Moment gemeint, dass ein klarer Geisteseindruck entsteht, d.h. dass ein mentales Abbild entsteht, das dann zur Verfügung steht für weitere Prozesse. Dieser weitere Prozess des Verarbeitens kann dann dauern wie lange er auch immer will, denn das innere Bild der Wahrnehmung ist bereits als mentales Abbild entstanden. Lama Irene: Wie ich das jetzt verstehe, wird ja eben ausgedrückt, dass diese fünf Faktoren immer präsent sind. Von daher habe ich nicht das Gefühl, dass man die so auseinanderdefinieren kann, weil das in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit geht. Aber diese Momente, die aufeinander abfolgen, die haben einen gewissen Bezug zum vorhergehenden Moment und somit gestaltet sich das dann immer mehr aus. Danke! Jetzt kommt das Mikrophon zu Heiko, und während Heiko spricht, beobachten wir innerlich, wie die fünf Faktoren jetzt gerade aktiv sind, um jede einzelne Silbe von dem, was er sagt, zu hören, klar wahrzunehmen, zu unterscheiden und ihnen Bedeutung zu geben. Lama Heiko: Es geht eigentlich ein bisschen in die Richtung von dem, was Dorje Drölma auch schon angedeutet hatte. Hier sprechen wir wirklich über ganz grundlegende Eigenschaften des Geistes. Dort wo ein Geist ist – ein dualistischer Geist, kann man vielleicht sagen – sind diese Faktoren einfach da. Wenn diese Faktoren nicht da wären, dann gäbe es überhaupt keine Wahrnehmung. Der Geist erzeugt ja – hier geht’s ja auch um die mentale Dimension – ständig Bilder, ständig Objekte. Wenn man genau hinschaut, sind diese fünf Faktoren ständig präsent. Ansonsten hätten wir überhaupt keine Wahrnehmung im Geist. Wenn man genau hinschaut, macht der Geist selbst in Geisteszuständen, wo wir vielleicht ganz dumpf sind oder kaum etwas wahrnehmen, immer Objekte. Es ist also immer ein Objekt da, das dem Geist erscheint. Hier wurde ja nicht gesagt, dass wir mit dem Objekt bleiben. Wenn wir z.B. den Eindruck haben, dass das Bewussthalten vielleicht eine halbe Minute dauert oder eine Minute, dann sprechen wir schon über etwas anderes, dann sprechen wir schon über die Tatsache, dass wir uns ein Objekt vornehmen und geistig immer wieder zu dem Objekt zurückkehren, es mehr und mehr analysieren oder uns im Geiste Klarheit verschaffen. Das ist hier aber gar nicht gemeint. Hier geht’s einfach nur um die grundlegende Qualität des Geistes. Da, wo ein dualistischer Geist ist, sind diese fünf Faktoren da. Danke Heiko. Wenn wir uns über ein Objekt Klarheit verschaffen wollen, dann sind wir bereits in der nächsten Fünfer-Gruppe.

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Ich nehme noch einmal auf, was Dorje Drölma und Heiko gesagt haben, um es zu unterstreichen. Ich war ja noch nicht darauf eingegangen, wie lange so etwas dauert. Man kann nämlich nicht einmal sagen, dass es von Moment zu Moment geht. Wir können ja nicht einmal die Dauer eines Momentes definieren. Es ist eine Kontinuität. Immer wenn Bewusstsein vorhanden ist, wenn es Geist gibt, dann werden diese Faktoren aktiv sein, selbst wenn es sich um eine völlig ungenaue, neblige Wahrnehmung handelt. Dann ist diese Wahrnehmung einfach neblig. Das Vergewissern der Wahrnehmung wird dann schon in der nächsten Gruppe behandelt. Wenn wir etwas genauer erfahren wollen, dann müssen die nächsten fünf Faktoren aktiv werden. Die einzige Möglichkeit, dass die ersten fünf nicht mehr aktiv sind, wäre, keinen Geist mehr zu haben. Immer wenn es ein aktives Bewusstsein gibt, sind die ersten fünf Faktoren aktiviert. Sie sind da – auch in einem nebeligen Zustand, auch im Traumzustand, auch im ganz rudimentären Schlafzustand. Solange man noch aufgeweckt werden kann, solange es da noch jemanden gibt, der lebt, der in seinen Sinnen ansprechbar ist, sind diese Faktoren aktiv. Ich habe noch eine Frage zu dem vorherigen Punkt. Gehören die so genannten drei grundlegenden Triebflüsse zu diesen fünf stets vorhandenen Geistesaktivitäten, dass ich sozusagen irgendetwas will, was ich noch nicht weiß? Ist das damit gemeint? Ich verstehe deine Frage. Sie ist schwierig für mich und ich brauche einen Moment, um nachzudenken. Aus den Erklärungen, die ich bekommen habe, kann ich es mir folgendermaßen zusammenfügen: Die drei Triebflüsse werden immer als völlig unbewusst beschrieben. Das grundlegende, unbewusste Haften an Existenz und Sinneserfahrungen würde dazu führen, dass wir Empfindungen als angenehm und unangenehm wahrnehmen und in Unterscheidungen verfallen in ‚Es existiert’ und ‚Es existiert nicht’, aufgrund dieses grundlegenden Impulses, immer allen Dingen eine Existenz zu geben oder halt eine Nicht-Existenz. Die mangelnde Klarheit und Nachlässigkeit, nicht wirklich hinzuschauen, das mangelnde Gewahrsein, was da zum Ausdruck kommt, entspricht dem Trieb zur Unwissenheit. Ich würde diese Triebflüsse nicht als getrennt von diesen fünf allgegenwärtigen Faktoren beschreiben. Sie sind genau das, was sich dann auflöst, wenn wir ins Empfinden und Unterscheiden größeres Gewahrsein hineinbringen, bis zum vollen Gewahrsein, damit diese Faktoren nicht mehr aufgrund der Kleshas, der emotionalen Verblendung operieren, sondern aufgrund eines wirklichen Seinsverständnisses. So würde ich es versuchen zu erklären. Das wäre eine gute Frage für den Khenpo.

5) Kontakt ist das Zusammenkommen der drei Faktoren [Sinnesfähigkeit, -inhalt und – bewusstsein], was die Sinneserfahrung mit einschließendem Entscheiden hervorruft. Er bildet die Stütze des Empfindens. Empfinden war der 2. Faktor, und normalerweise kommt Kontakt vor dem Empfinden. Hier aber steht er als 5. Faktor in der Liste, weil eigentlich diese fünf Faktoren das Erleben beschreiben. Wo es Bewusstsein gibt, gibt es Erleben und wo Erleben erfahren wird, sind diese fünf Faktoren aktiv. Was die Sinneserfahrung mit einschließendem Entscheiden hervorruft, wird in der Fußnote erklärt: Das einschließende Entscheiden ist das Herausfinden, um was für ein Objekt es sich handelt. Der 2. Schritt ist dann das Vergleichen mit anderen bereits gemachten Sinneserfahrungen, wobei Ungleiches ausgeschlossen wird. Das nennt man ausschließendes Entscheiden. – Das ist dann ein weiterer Schritt im Bewusstsein. Hier ist es einfach das Wahrnehmen des Objektes an sich. Diese fünf Geistesaktivitäten werden die „stets vorhandenen“ genannt, weil sie alle Arten von geistiger Wahrnehmung begleiten. Wenn diese fünf Faktoren aktiv sind, spricht man von einem Lebewesen; einem Lebewesen mit einem citta auf Sanskrit, sem auf Tibetisch. Lebewesen (Tib. sem tschen) sind diejenigen, die einen Geist haben. Was man mit sem tschen meint, sind genau die fünf allgegenwärtigen Faktoren. Wenn wir also wissen wollen, ob eine Blume oder ein Baum ein Lebewesen mit einem solchen Geist ist, dann müssen wir schauen, ob diese fünf Faktoren in einer Blume aktiv sind, ob die Blume wahrnimmt, unterscheidet, Aufmerksamkeit hat usw. Das ist eine Definitionsfrage.

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Es gibt andere Formen des Lebens, vielleicht auch des bewussten Lebens, wo aber diese fünf Faktoren nicht aktiv sind. Habe ich richtig gesehen, dass die Arbeit des Nachdenkens, des Reflektierens, nicht in den fünf allgegenwärtigen Geistesfaktoren enthalten ist? Da hast du völlig Recht, das Nachdenken, das Reflektieren findet in den Objekt-vergewissernden Faktoren statt.

Meditation: Habt ihr das Gefühl, dass die sechs Sinne lebendig sind in dem Sinne, dass ein ausreichendes Grundinteresse, eine Grundaktivität da ist, die eine Sinneserfahrung ermöglichen würde? – In welchen der sechs Sinnesfelder finden zurzeit gerade Wahrnehmungen statt? Wo findet ein Erleben statt? – Was sind die Empfindungen, die in den verschiedenen Sinnesfeldern gerade stattfinden? – Findet zugleich mit den Empfindungen auch ein Unterscheiden statt oder lassen die beiden sich voneinander trennen? – Es gibt ein grundlegendes Interesse mit einem gewissen rudimentären Bewussthalten, das zu Kontakt führt – Kontakt ist begleitet von Empfindungen und Unterscheidungen. – *** Heiko hat dafür gesorgt, dass hier eine schöne Fußnote zum Empfinden und Unterscheiden im Text steht, Nr. 54, die euer Erforschen unterstützen soll. Empfinden und Unterscheiden wurden vom Buddha gesondert erklärt, da sie wichtige Schlüssel sind, das Festhalten an der Vorstellung eines Ichs zu verstehen und aufzulösen. Die folgende Erklärung stammt von Khenpo Ngedön: Sie werden gesondert als Aggregate behandelt, weil sie (1) die Ursachen der Wurzeln des Streites sind, weil sie (2) die Ursachen der Fortdauer der Existenz sind und (3) aufgrund der Ursachen, die die Reihenfolge der Aggregate bestimmen. Empfinden ist eine Hauptursache der Wurzeln des Streites, hauptsächlich unter Mönchen, aufgrund der Anhaftung an (Sinnes)Freuden. Unterscheiden ist eine Hauptursache der Wurzeln des Streites, hauptsächlich unter Laienpraktizierenden, aufgrund der Anhaftung an (irrige) Anschauungen. Die Existenz setzt sich fort für diejenigen, die an Empfindungen anhaften und deren Unterscheidungen irrig sind. Darin wird beschrieben, wie das Anhaften an angenehmen Sinneserfahrungen – natürlich auch als Gegenstück das Ablehnen von unangenehmen Sinneserfahrungen – dazu führt, die Begierde-Tendenzen zu verstärken, was zu einer Wiedergeburt, einem weiteren „Kreisen“ im Begierdebereich führt. Das Unterscheiden führt dazu, dass wir mit Begriffen, mit Konzepten die so genannte Wirklichkeit benennen und dabei den Boden bereiten für immense Irrtümer, letztendlich für verkehrte Anschauungen. Jedes Benennen von Erfahrungen ist bereits Ausdruck der Tendenz zu glauben, die Erfahrung wäre wirklich. Je mehr wir die Erfahrungen benennen und beschreiben, für desto wirklicher halten wir sie. Seid euch dieses Prozesses bewusst: Im Erfahren und Benennen von Dingen meinen wir plötzlich, sie wären umso wirklicher. Da Empfinden und Unterscheiden zwei verschiedene Faktoren sind – der eine führt zum Anhaften an Sinneserfahrungen, der andere führt zum Anhaften an Anschauungen – werden sie als zwei getrennte Aggregate erklärt. Lasst uns also dieser Mechanismen, die in uns die ganze Zeit aktiv sind, etwas mehr gewahr sein.

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Jetzt kommen die fünf Geistesfaktoren oder Gestaltungen, die ein Objekt genau erfassen, die sich des Objektes vergewissern. Diese fünf Objekt-vergewissernden Faktoren beantworten die Frage, wie man denn zu einem genauen Erfassen eines Objektes kommt. Was vorhin angedeutet wurde – solch ein Prozess des Erfassens kann längere Zeit dauern. Zeit, die es braucht, um sich wirklich mit den verschiedenen Aspekten zu befassen, bis es zu einem genauen Objekt-Erfassen kommt.

Die fünf Objekt-vergewissernden Faktoren sind: Streben, Entschlossenheit, Vergegenwärtigen, stabiles Verweilen und völliges Verstehen.

6) Streben ist das Bemühen, gewünschte Dinge zu besitzen und bildet die Stütze, um dies mit freudiger Ausdauer in die Tat umzusetzen. Streben, könnte auch als Intention oder Wollen/Willen übersetzt werden. Dieses Streben, gewünschte Dinge zu besitzen, klingt erst einmal so, als würde es sich um äußere Dinge handeln, wie z.B. dass ich diese Uhr an mich nehmen oder irgendein Objekt besitzen möchte. Das Streben kann sich aber auch auf Geistesobjekte ausrichten, als der Wunsch, ein geistiges Objekt so zu erfassen, dass es mein Eigen wird. Wir sehen mit den nächsten Faktoren noch genauer, was damit alles gemeint ist. Auf der Basis dieses Strebens kommt es zu einem Eintreten in die Handlung, in ein weiteres Agieren mit Körper, Rede und Geist. Streben ist also der initiale Impuls, der das Handeln auslöst. Ob dieser Impuls weiter aufrechterhalten wird, hängt von den folgenden Faktoren ab. Es ist dieser Wunsch, sich auf etwas auszurichten und etwas damit zu machen. Der Faktor, der dieses Streben stabilisiert ist:

7) Entschlossenheit ist das Festhalten gewisser Dinge und bewirkt, dass diese nicht verloren gehen. Streben und Entschlossenheit lassen sich mit Beispielen veranschaulichen. Streben ist der initiale Impuls z.B. zum Stupa zu gehen. Ich fühle mich inspiriert, zum Stupa zu gehen. Entschlossenheit ist auf dem Streben aufbauend der Entschluss, es tatsächlich zu tun, tatsächlich an dieser Idee festzuhalten und sie weiter zu verfolgen und umzusetzen. Das ist genauso auch mit rein mentalen Prozessen. Z.B. der Vorsatz, einen Buddha zu visualisieren und dann die Entschlossenheit, es tatsächlich zu tun. Entschlossenheit bewirkt, dass das, wofür wir uns entschlossen haben, nicht verloren geht, dass es uns quasi nicht aus dem Visier entschlüpft, dass wir es weiter im Blickfeld behalten, weiter verfolgen und in die Tat umsetzen können.

8) Vergegenwärtigen ist, ein Objekt von Interesse nicht zu vergessen. Es bewirkt Unabgelenktheit. Der Weg von hier bis zum Stupa ist ja doch mehr als hundert Schritte lang. Da kann eine Menge passieren, was mich vom Weg abbringt, und der Faktor, der mich dranhält, meinen Entschluss umzusetzen, heißt hier Vergegenwärtigen. Es ist das achtsame Gewahrsein, sich immer wieder daran zu erinnern, was das Objekt meines Interesses ist und dieses nicht zu vergessen. Dieser Faktor bewirkt also Unabgelenktheit. Egal wer mich auf dem Weg anspricht und was es für Verzögerungen gibt, ich werde meinen Weg weiter fortsetzen, bis ich dort ankomme. Genauso ist es auch bei den mentalen Aktivitäten: Ich habe mich entschlossen, auf den Buddha zu meditieren und – egal welche anderen Gedanken auftauchen – ich bleibe achtsam dabei. Ich vergegenwärtige mir immer wieder das, wofür ich mich entschlossen habe, ich komme immer wieder darauf zurück. Das ist die Funktion der Achtsamkeit.

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Diese Unabgelenktheit kann natürlich stark oder schwächer sein. Je nachdem ob ich ständig bei der Sache bleibe oder zumindest immer wieder dahin zurückkomme.

9) Stabiles Verweilen ist Einsgerichtetheit in Bezug auf ein beobachtetes Objekt und unterstützt Verstehen. Wenn die Unabgelenktheit stark wird, dann sprechen wir von stabilem Verweilen. Die Funktion von stabilem Verweilen ist, dass dadurch Verständnis entstehen kann. Wir verstehen das untersuchte Objekt tiefer. Wenn dieser Faktor des stabilen Verweilens – auch samadhi genannt – aktiv ist, dann bringt uns nichts mehr davon ab. Das Objekt ist das Einzige, was im Geist gegenwärtig ist. Es ist eine kontinuierliche Ausrichtung auf das Objekt, das wir uns ausgesucht haben. Mit Objekt ist also einfach der Geistesinhalt gemeint, auf den wir uns ausgerichtet haben.

10) Verstehen bedeutet, die beobachteten Dharmas vollständig zu untersuchen und bewirkt das Auflösen von Unsicherheit. Wenn dieses stabile Verweilen zu einer tiefen Konzentration führt, dann entsteht Verstehen. Verstehen oder Weisheit bedeutet, dass die beobachteten Dharmas, die beobachteten Phänomene mit ihren Qualitäten vollständig untersucht werden und sich dadurch alle Unsicherheit auflöst, d.h. wir haben das untersuchte Phänomen voll erfasst. Wir sind am Ziel des ursprünglichen Interesses angelangt. Das ursprüngliche Streben hat – unterstützt von Entschlossenheit und ständigem Vergegenwärtigen – zu dem stabilen Verweilen geführt, das zu einem klaren Verstehen, zu einer umfassenden Kenntnis des Objektes geführt hat. Diese fünf Faktoren können sowohl auf der ganz alltäglichen Ebene erklärt werden als auch als die Faktoren, die zum Erwachen führen mit allen Zwischenstufen. Es gibt viele Möglichkeiten, wie diese fünf Schritte in unserem Geist aktiv sein können. Ein Beispiel aus dem alltäglichen Leben: Wir haben ein Projekt, z.B. eine Prüfung zu bestehen, wie eine unserer Teilnehmerinnen hier, die sich gerade mehrere Stunden pro Tag auf eine Mathematikprüfung vorbereitet. Da braucht es zunächst Streben, es braucht Entschlossenheit, dann muss man sich immer wieder daran erinnern und sich zu dieser Aufgabe zurückholen. Es braucht tiefe Konzentration, die ein Verständnis der Thematik ermöglicht. So sind diese fünf Faktoren in einem alltäglichen Projekt aktiv. Dieselben fünf Faktoren sind aber auch aktiv, wenn ich – zurückkommend auf das Beispiel – in der Ferne etwas sehe, was ich nicht genau erkennen kann. Ich habe die Motivation es erkennen zu wollen. Ich entschließe mich, wirklich dabei zu verweilen. Ich bleibe unabgelenkt dabei, bis ich diesen sich bewegenden Schatten mit stabiler Konzentration so genau erfasse, dass ich genau erkennen kann, was es ist. Es ist also eine ganz kleine Handlung, eigentlich nur das Erkennen von etwas, was da in der Ferne sichtbar ist – oder das Erkennen von einem Geräusch, mit dem ich einsgerichtet verweile und unterscheide bis klar wird, worum es sich handelt. Selbst bei ganz kleinen Handlungen sind diese fünf Faktoren aktiv. Es braucht ein unabgelenktes Dabei-Sein auf der Basis von Streben und Entschlossenheit, bis es zu diesem Verständnis kommt. Wie wirken diese fünf Faktoren auf unserem spirituellen Weg? Ich nehme als Beispiel das Erwachen, die Erkenntnis der Natur des Geistes, Befreiung. Ich höre davon und die Vorstellung, dass es so etwas gibt, manifestiert sich im Geist. Es entsteht ein Streben, ein Wunsch, dies zu verstehen. Dann verdichtet sich der Wunsch zu einer Entschlossenheit: „Doch! Tatsächlich, ich habe mich umgeschaut, das scheint es zu sein, worauf es ankommt! Da möchte ich hingehen.“ Diese Entschlossenheit ist die Ausrichtung auf das Erwachen, auf die Natur des Geistes. Es ist wie das tiefe innere Zufluchtnehmen – da geht es für mich lang. Dann geht es darum, dass ich mir das immer wieder vergegenwärtige und eine Unabgelenktheit entwickle in der Ausrichtung auf diese Erkenntnis, von der ich gehört habe, dass es sie gibt, die ich aber noch nicht kenne. Es braucht eine unabgelenkte Ausrichtung, die dann so weit führt, dass ich völlig unabgelenkt, stabil, im Gewahrsein des Geistes verweilen kann, bis ganz offenkundig wird, ohne jeden Zweifel, ohne jede Unsicherheit, was die Natur des Geistes ist.

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Diese fünf Faktoren beschreiben also unter Umständen den gesamten Weg bis zum Erwachen. Sie können aber auch in einer einzigen Meditationssitzung aktiv sein: Man setzt sich hin, nimmt Zuflucht, erinnert sich daran, worum es geht, lässt die Ablenkungen sich auflösen, bis der Geist in tiefe Stabilität eintritt, in der sich die Schau der Natur des Geistes offenbart. Es ist nicht programmiert, wie lange es dauert, aber diese Faktoren müssen zusammenkommen, bis es zu einem vollständigen Verstehen kommt. Diese zehn bisher genannten Geistesaktivitäten werden die „zehn geistigen Grundlagen“ (mahabhumika) genannt. Warum? Weil man mit ihnen alles andere macht. Alles geschieht mit Hilfe dieser zehn Faktoren. Diese zehn Faktoren sind ständig aktiv. Wenn ich mich verliebe, kommt es zu einem Streben, zu einer Entschlossenheit, ich möchte die Person kennen lernen, meine Energien richten sich auf sie aus, bis es zu einem Erleben, einem Erfahren dieses angestrebten Objektes kommt. Mit Ablehnung geht es genauso: Ich möchte etwas absolut vermeiden, das ist mein Wunsch. Ich bin entschlossen, meine Energien richten sich darauf aus, alle Anstrengung geht in die Richtung, bis ich es vielleicht irgendwann schaffe, das zu vermeiden. Diese letzten fünf Faktoren können schwach oder mangelhaft ausgeprägt sein. Was passiert, wenn diese Faktoren nicht ausreichend ausgeprägt sind? In einer psychotherapeutischen Praxis z.B. kommen Menschen zu uns, die zum Teil gar nicht wissen, was sie wollen. Ihnen ist nicht klar, was ihr Anliegen in ihrem Leben, in verschiedenen Lebensbereichen ist. Sie können deswegen auch gar keine gezielte Aktivität entwickeln, weil sie gar nicht wissen, wohin die gehen soll. Wir werden ihnen helfen, ihr Anliegen zu klären. Wir werden ihnen helfen, dieses Anliegen so klar zu machen, dass es zu einer inneren Entschlossenheit kommt, dieses Anliegen auch umzusetzen. Beim Umsetzen dieses Anliegens kann es dann sein, dass sie völlig abgelenkt sind, dass sie nie die Kräfte zusammenkriegen, konstant bei der Sache zu bleiben. Wir müssen ihnen also helfen, Einsgerichtetheit, Unabgelenktheit, stabiles Verweilen, Konzentration zu entwickeln. Wir müssen ihnen helfen, dieses stabile Verweilen so zu stabilisieren, dass ihr Anliegen tatsächlich zu Ende geführt werden kann, sodass Klarheit entsteht; dass ein Punkt im Leben abgehakt ist; dass etwas verstanden wurde; dass der Geist bei der Sache, bei dem Objekt des Interesses bleiben kann bis ein inneres Verstehen entsteht oder bis äußerlich etwas klar geworden ist. Wenn diese Faktoren in einer Person sehr stark ausgeprägt und sehr stabil sind, dann kann man solch einen Menschen sehr schnell fortschreiten sehen. Es kommt ganz schnell zu Verständnis, weil der Geist unabgelenkt bei der Sache ist – unabgelenkt beim Zuhören, unabgelenkt beim Beobachten, unabgelenkt beim Lesen, beim Studieren, unabgelenkt im Erfahren der eigenen Emotionen. Die Möglichkeit, unabgelenkt etwas zu tun oder zu untersuchen, führt dazu, dass sich ganz schnell Verständnis aufbaut, dass ganz schnell Zusammenhänge erkannt werden, ganz schnell die wirklichen Merkmale von Dingen und von Situationen von Menschen erkannt werden. Wir können bei Menschen, bei denen diese Faktoren schwach ausgebildet sind, beobachten, dass sie nur ganz zögerliche Fortschritte machen; ganz langsam, weil sie kaum ausreichend bei der Sache bleiben können, um wirklich zu einem Verständnis zu kommen, um den Nebel aufzulösen. Ihnen ist nur selten möglich, das Interesse so zu stabilisieren und bei der Sache zu bleiben, damit sie etwas verstehen. Sie machen immer wieder die gleichen Fehler, weil sie gar nicht sehen können, woran es liegt. Ihre Aufmerksamkeit reicht nicht aus, um zu dem Verständnis zu gelangen, das notwendig wäre, ihr ungeschicktes Verhalten oder Denken aufzulösen. Wenn wir uns also untereinander unterstützen wollen, dann sollten wir uns helfen, diese fünf Faktoren zu stabilisieren, denn die bewirken wirklich Klärung im Geist. Über diese fünf Faktoren könnte man sicherlich mehr sagen, aber das reicht für einen Überblick.

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Fragen: Die fünf Objekt-vergewissernden Faktoren in der Therapie Bei der zweiten Gruppe von fünf Faktoren wurde erwähnt, dass sie in einer Therapie auch zu stärken seien. Ich habe beobachtet, dass es bei bestimmten Menschen mit psychologischen Ausfällen – z.B. bei Abhängigen – zwar gelingt, diese Faktoren manchmal für eine Aufgabe zu stimulieren. Aber für die nächste Aufgabe scheint diese Form der Konzentration und Ausdauer nicht mehr zur Verfügung zu stehen, als würde man wieder von neuem anfangen. Bei Alkoholabhängigkeit kann es so sein, dass manchmal die Entschlusskraft ausreicht, um den Menschen zu stabilisieren und er der Versuchung widerstehen kann. Das heißt aber nicht, dass es für alle Situationen ausreicht, weil die Kraft der gewohnheitsmäßigen Tendenzen noch nicht ausreichend geschwächt ist. Da muss man noch arbeiten, sodass die verführerischen Bilder – wie schön es wäre wieder einmal eine Flasche zu trinken – nicht stärker werden als die heilsame Entschlusskraft dem Trinken zu entsagen. Man muss daran arbeiten, dass das, was diese Gewohnheitstendenzen nährt, geschwächt wird. Noch ein anderes Beispiel dazu: Es gibt Menschen, denen Dinge so hervorragend gelingen, denen es aber auch gelingt, immer wieder nach einer Phase des großen Gelingens ein völliges Versagen zu produzieren, die ihre eigenen Schlappen hervorragend vorprogrammieren. Dass man sich selber den Misserfolg vorprogrammiert, ist auch wieder eine Frage der gewohnheitsmäßigen Tendenzen. Warum? Da muss man reinschauen und genau diese Tendenzen, diese emotionalen Muster müssen geschwächt bzw. aufgelöst werden. Was wir eine gewohnheitsmäßige Tendenz nennen, ist ein Zusammenwirken mehrerer emotionaler Aspekte. Das ist nicht eine einzelne, leicht zu identifizierende Emotion, sondern ein Zusammenwirken von Emotionen, die uns immer wieder in diese Richtung treiben. Zusammenhang von Empfindungen, Emotionen und Transmittern Wie ist das mit den Neuro-Transmittern und Hormonen, wo es bei jeder Emotion zu einem Ausstoß von diesen Stoffen kommt? Verschiedene Emotionen bewirken dadurch verschiedene Erfahrungen. Man ist wie unter Drogen gesetzt, wenn es zu solch einem neurohormonalen Ausstoß kommt, im Gehirn oder im ganzen System. Wie kann man damit umgehen? In der Klassifikation, die wir hier kennen gelernt haben, würden wir das unter Empfindungen einreihen, denn was diese Transmitter-Hormone bewirken, sind besondere Empfindungen, die mit den einzelnen Emotionen einhergehen. Jede Emotion hat ihre Empfindungen. Wenn wir unseren Organismus gut kennen, dann können wir oft schon anhand der Empfindungen identifizieren, was für eine Emotion wir haben, und dann geht es darum, die Bahnung, die durch wiederholtes Empfinden dieser Art stattgefunden hat, allmählich aufzulösen. – Es sind ja vertraute Bahnen, in denen wir immer wieder funktioniert haben und uns die Gewohnheit auch immer wieder darin funktionieren lässt. – Es geht darum zu lernen, an Empfindungen nicht zu haften, Empfindungen nicht wiederholen zu wollen, aber auch andere Empfindungen zu entdecken. Andere Lösungen zu entdecken, die mindestens ebenso befriedigend sind. Ärger führt z.B. aufgrund des Adrenalinausstoßes und der vielen anderen Transmitter, die damit verbunden sind, zu einem sehr lebendigen Gefühl. Es kann wie eine Droge sein, sich immer schön in Ärger zu halten, um sich lebendig zu fühlen, wirklich da zu fühlen. Es müssen andere Wege entdeckt werden, um sich ebenso lebendig und wach zu fühlen, Wege die nicht so schädlich sind. Ich muss also, um mich zu motivieren und mehr Gleichmut zu erlangen, zum einen darüber nachdenken und sehen, dass das Wiederholen-Wollen dieser Empfindungen durch Ärger sehr viel Schaden bewirkt, sehr viel Nichtheilsames. Zum anderen muss ich entdecken, wie ich mit einer geistigen Frische leben kann, mich lebendig fühlen kann, ohne dass es dafür Ärger braucht. Das sind die Entdeckungen, die wir in tiefer Entspannung mit klarem Geist machen, wenn wir meditieren, oder wir können all die verschiedenen Formen von Lebendigkeit entdecken, wenn wir den Weg des Herzens gehen, wenn wir Herzensaustausch pflegen.

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Wenn wir den Weg des Herzens gehen, die Offenheit des Geistes entdecken, dann entdecken wir so viel befriedigende Erfahrung, dass wir den Geschmack an den Erfahrungen, die mit den Emotionen einhergehen, völlig verlieren. Wir sind nicht mehr angezogen von diesen Emotionen. Sie sind enge, aufgewühlte Geisteszustände, in denen wir unsere Klarheit verlieren und wir haben gar keine Lust mehr darauf, in solche Geisteszustände einzutreten. Aber es braucht den Kontrast, es braucht das Vergleichen. Wir müssen andere Erfahrungen haben, die uns einen Vergleich ermöglichen, damit wir sehen können, dass das eigentlich nicht so anziehend ist. Es gibt Menschen, die genau das Gegenteil als inneren Prozess haben. Sie suchen also keine befriedigenden Lösungen, sondern sind in einer Destruktivität und in einem Triumph fixiert, mit dem sie den Therapeuten, den Lama, wen auch immer, außer Schach setzen, lahm legen. Dabei hilft schon, das zu benennen, weil es eine fehlende Spiegelung ist, wo frühe Affekte in der Kindheit nie ausreichend gespiegelt wurden. Es gibt aber auch Leute, die ein Stück da drin bleiben. Da kann man aber auch versuchen zu unterscheiden – heilsame und nichtheilsame Handlungen, Grenzen zu setzen – oder unter Umständen sich vielleicht auch zurückziehen und die Destruktivität nicht mitmachen. Ich habe mich gerade gefragt, wie es für so eine Person ist, sich selbst auf die Schliche zu kommen. Da braucht es ja ein Gegenüber. Wie kann das in einem selbstanalytischen Prozess gehen oder was braucht es an Gegenüber, Annahme oder sonst was? Das ist tatsächlich ein schwieriger Prozess, solche Menschen werden sich auch in der Meditation oft nicht bewusst, was an Spielen abläuft. Sie brauchen tatsächlich – wie du das sagst – oft ein Gegenüber. Ein wirklicher Meister steigt normalerweise nicht auf diese Tendenzen ein, weil es bei ihm nicht mehr die Angelpunkte gibt, man kann ihn nicht mehr an seinem Stolz, an seinem Bedürfnis nach Anerkennung und dergleichen ins Spiel bringen, aushebeln. In solchen Dingen völlig untrainierte Meister wirken von daher wie ein fantastischer Spiegel, wenn so etwas versucht wird, weil sie gar nicht darauf einsteigen und gar nicht auf dieser Wellenlänge reagieren. Lamas wie ich und andere, wir fallen darauf schon rein und es kann dann gut passieren, dass auch wertvolle Zeit verloren wird. Der Prozess der Selbstanalyse, selber in den Spiegel zu schauen, erfordert ein hohes Maß an Achtsamkeit, was die eigenen Motivationen und die damit zusammenhängenden Gedanken, die im Geist aufsteigen, angeht. Da bin ich mir nicht sicher, ob Meditation für Menschen mit solch stark ausgeprägten Tendenzen noch wirklich ausreichend ist. Ich habe erlebt, dass Praktizierende sich jahrelang was vormachen und immer wieder bei den Meistern auflaufen, zurückkehren, dann frustriert sind, meditieren, sich wieder ein gewisses Ego aufbauen, eine Identifikation mit ihrer tollen Praxis – z.B. wie sie besser sind als die Lehrer, dann wieder frustriert sind, dass sie keine Anerkennung bekommen bis sie irgendwann das Handtuch werfen. Dann gehen sie woanders hin, weil sie hier nicht die Bestätigung bekommen, die sie eigentlich möchten. Der Heilungsprozess hat aber auch nicht stattgefunden. Das ist eine klassische Situation, wo eine Kombination gut wäre – Schulungen in Achtsamkeit und therapeutische Begleitung. Ein Idealfall ist auch, wenn so etwas in einer Retreatgruppe passiert. Wir haben das in Langzeitgruppen erlebt, wo die Retreatgruppe als eine Vielfalt von Spiegeln wirkt, wo der andere eine Chance hat, sich darin zu sehen. Da ist das Leben in der Gemeinschaft der Ersatz für die therapeutische Behandlung. Deiner Beschreibung nach würde ich sagen, diese Person ist in einer narzisstischen Störung. Solche Menschen haben es am schwersten, den Weg zu finden, weil sie auch am wenigsten bereit sind, hilfreiche Unterstützung, Korrekturen anzunehmen. Da braucht es eine geballte Dosis von Spiegeln um sie herum. Es braucht Lebenssituationen, wo Schwierigkeiten auftauchen, wo sie alleine nicht mehr weiterkommen, wo sie ihre Schwäche eingestehen müssen. Es braucht eine Summe solcher Bedingungen, um diesen Menschen zu helfen, da heraus zu finden.

Ursache des Interesses Wir sind heute diese Sachen mit dem Willen und dem Erkennen dieser fünf Zustände durchgegangen. Da fiel mir auf, wenn ich etwas will, dann ist es ja etwas Bestimmtes, was mit mir zu tun hat, es ist ja

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nichts, was irgendwie aus der Luft gegriffen wäre, sonst kann ich mich ja nicht dran halten. Ich habe mich dann gefragt, wo kommt das her? Wo kommt die Tendenz her, sich mit diesem Speziellen, was auch immer das ist, zu beschäftigen? Was meinst du, wo das herkommt? Spontan habe ich gedacht, dass da wieder dieser sogenannte Karmagedanke eine Rolle spielt, oder das was wir an Anhaftungsmustern mitbringen. Das schien mir dann aber ein bisschen dumm. Es gibt ganz viele Möglichkeiten, warum sich unser Interesse auf etwas ausrichtet: Es kann sein, dass einfach eine Notwendigkeit entsteht, dass eine Situation etwas braucht. Es kann sein, dass starke ichbezogene Motivationen dabei eine Rolle spielen, dass Gewohnheitstendenzen eine Rolle spielen, oder es kann sein, dass Bodhicitta eine Rolle spielt und den Geist auf etwas ausrichtet. Es gibt da ganz viele Möglichkeiten. Tatsache ist, dass eine Ausrichtung entsteht, und da beginnt die Beschreibung. Woher sie kommt, bleibt erst einmal offen. Es gibt etwas, worauf sich der Geist ausrichtet, was wichtig erscheint. Was die Gründe sind, wird hier nicht beschrieben. Dieser Prozess hier beschreibt ganz einfach, was Lebewesen – hier am Beispiel der Menschen – tun, um sich eines Objektes zu vergewissern oder eine Aufgabe zu bewerkstelligen. Was sie dazu bewegt, was für eine Art von Aufgabe und was für eine Art von Objekt das ist, wird hier auf der Seite gelassen, denn das ist die Vielfalt des Lebens aller Lebewesen mit unzähligen Möglichkeiten.

Karma als Ursache der Skandhas oder umgekehrt? I would like to continue Angelika’s question, I was wondering before: If one can say that karma lays underneath of the five aggregates, is karma the reason of the five aggregates or is it the opposite, that because of the five aggregates we have such karma? This is an interesting question. What do you think? Of coarse they are interdependent, but in details I don’t know. Good answer! Right, they are interdependent. Let’s take the forms as an example: the perception of forms is different according to different people, is different from humans to animals – to insects, fish, horses, birds… We know that different beings have different faculties of hearing, of smell, vision and so on. And that has a big influence on what form is perceived, for example these night birds which perceive ultrasound which we cannot perceive. So, forms already depend on the karma that makes us being born in a certain existence. The same goes on for the sensations. The karmic tendencies we have created will lead to judging certain sensations as agreeable, desirable, others as not desirable and so on. So, karmic predisposition enters fully into the game, the same with the distinctions. We make the distinctions according to our karmic tendencies, our viewpoint, as if we were looking at the world with our karmic glasses. And then of coarse it is the same thing with the mental processes, the mental formations we will go through now; they arise in accordance to our karma. This is the first half of the answer. And now, every time if there is identification with this kind of perception, this kind of sensation, this kind of distinguishing things and entering certain emotional states, mental states we are creating forces; we are creating karmic forces by the acts of body, speech and mind; we are creating different effects. So, definitely getting engaged in the aggregates is producing effects, producing karma. Your question is correct in both ways.

Unzulänglichkeiten der Faktoren des Vergewisserns Du hast gesagt, dass die fünf letzten Faktoren Mängel aufweisen könnten. Aber es ist doch offenkundig, dass da Mängel sind.

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Da sind Mängel. Nicht nur, dass es so sein könnte, da sind auf jeden Fall welche, speziell wenn ich an die Konzentrationsfähigkeit denke und an die Weisheit. Ich war auch nur nett und höflich, als ich sagte, „Da könnten ja gewisse Schwächen sein“. Natürlich sind da Schwächen und diese Faktoren sind erst dann völlig präsent, wenn wir das vollständige Erwachen erlangen. Erst dann ist die Ich-Bezogenheit, die der destabilisierende Faktor für diese Faktoren ist, völlig aufgelöst. Um es ganz konkret zu sagen, der vierte und entscheidende Faktor, der Faktor des Samadhis, des stabilen Verweilens, wird völlig stabil mit dem Vajra-Samadhi, mit dem unzerstörbaren Samadhi, der den Eintritt in die Buddhaschaft beschreibt. Ich hätte auch noch eine Frage zu den fünf Objekt-vergewissernden Faktoren. Ich hatte so die Phantasie, dass es eine Hierarchie darin gibt. Wenn ich unabgelenkt bin und mich mehr in so ein Gewahrsein entspannen kann, stell ich mir vor, dass dann das Streben und die Entschlossenheit, Vergegenwärtigung gar nicht mehr so ein Akt sind, dass es mehr so fast von selbst entsteht, und dass ich umgekehrt auch, wenn ich viel mit diesen ersten Faktoren arbeite, irgendwann in so ein tieferes Verweilen usw. komme. Ja, das hast du völlig richtig verstanden oder erahnt. Es ist sogar so, dass jemand, dessen Geist sehr stabil ist, eigentlich gar keinen Entschluss aufzubringen hat. Der Geist richtet sich auf etwas aus was sinnvoll ist, und bleibt dabei. So einfach ist das. Es braucht keinerlei Anstrengung dafür. Man nennt das die anstrengungslose Aktivität. Geistesfaktoren in Wach- und Traumbewusstsein Vorhin in der Gruppe kam mir die Frage, ob man die Geistesfaktoren vielleicht wohl besser verstehen könnte, wenn man sie dem Traumgeschehen gegenüberstellt. Inwiefern unterscheiden sich die Geistesfaktoren im Traum von denen im Wachbewusstsein? Um es kurz zu sagen, die fünf allgegenwärtigen Faktoren sind auch im Traum aktiv. Aber für jemanden, der des Traumes nicht bewusst ist, fallen die anderen Faktoren weg im Sinne eines bewussten Gestaltens. Es kann aber aufgrund einer Emotion zu einem Gestalten kommen, z.B. in einem Albtraum in völliger Verzweiflung nach einem Ausweg zu suchen, und dieses verzweifelte Suchen aktiviert natürlich auch Faktoren des Bei-der-Sache-Bleibens, Interesse und dergleichen, genauso wie auch ein Begierde-Traum zu einer Ausrichtung auf das Objekt führt und dergleichen. Das ist dann ein emotionales Sich-Ausrichten, was in einem geringen Grade diese Faktoren stimuliert. Im Traum ist das Ganze sehr instabil. Wenn man absieht von Praktizierenden, die einen sehr stabilen Traumjoga entwickelt haben, ist im Traum keiner dieser Faktoren wirklich stabil. Die letzten beiden – stabiles Verweilen und Weisheit – sind im Traum normalerweise nicht vorhanden und die anderen sind ganz schwach. So kann man es grob sagen. Das ändert sich, wenn der Traum wirklich gemeistert und zu einer Praxissituation wird. Dann ist es genauso wie im täglichen Leben. Ist das, was du eben für den Traum beschrieben hast, so ähnlich im Bardo? Ja, es ist tatsächlich so. Wenn wir den Bardo meistern, dann sind alle Faktoren stabil so wie in der Meditationspraxis. Wenn wir aber von diesen traumgleichen Bildern im Bardo mitgerissen werden, dann ist alles genauso instabil wie in einem normalen Traum. ***

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Zusammenfassung Wir haben bereits die drei ersten Skandhas kennen gelernt und auch den Anfang des vierten. Bisher ist es um eine Beschreibung der Wahrnehmungsprozesse gegangen bis hin zu den Faktoren, die notwendig sind, um diese Wahrnehmung zu stabilisieren, sodass man zu einem tiefen Verständnis kommt. Bereits in der Beschreibung des 1. Skandhas, dem Skandha der Formen ging es dem Buddha darum, unsere Identifikationen aufzulösen, die Identifikation mit meiner Form und mit den Formen, die ich wahrnehme, mit all dem Wahrnehmbaren. In all dem Wahrnehmbaren in den sechs Sinnesbereichen gibt es nichts, was stabil ist. Es ist eine unaufhörliche Folge von Wahrnehmung verschiedener Objekte, wo sowohl die Wahrnehmung als auch das Wahrgenommene keinerlei Stabilität aufweisen. Es gibt nichts in dieser Form – z.B. in meinem Körper – was es rechtfertigen würde, von einem Ich, von einem stabilen Selbst zu sprechen. Genauso geht es mit dem 2. Skandha, dem Skandha der Empfindungen. Im Prozess des Empfindens findet automatisch eine Einstufung statt in angenehm, unangenehm und im Moment irrelevant oder nicht von Interesse, was wir auch neutral nennen. Diese Empfindungsnuancen zeichnen sich ständig in unserem Geist ab, aber sie wandeln sich auch ständig. Sie sind auch keineswegs fest etabliert, es ist nicht so, dass dasselbe Objekt immer dieselben Empfindungen auslösen würde. Es gibt in diesem ganzen Prozess des Empfindens mit seinen affektiven Bewertungen nichts, was konstant wäre. Es gibt darin nichts, was man ein stabiles Selbst, ein Individuum nennen könnte. Das gilt auch für das 3. Skandha, das Skandha des Unterscheidens. Der Prozess des Unterscheidens von Merkmalen verschiedener Objekte, der Sehwahrnehmung, der Hörwahrnehmung, usw. bis hin zur mentalen Wahrnehmung findet ständig statt. Wir sind ständig dabei, uns aufgrund von Unterscheidungen zwischen wahrgenommenen Objekten zu orientieren. Es gibt aber in diesem Prozess des Unterscheidens und Bemerkens von Merkmalen und Benennens von Merkmalen nichts Stabiles, keine Konstante, die wir Ich nennen können. Im 4. Skandha, dem Skandha der gestaltenden Faktoren, werden zuerst die fünf allgegenwärtigen Faktoren behandelt. Diese fünf Faktoren sind bei jedem Wahrnehmungsakt vorhanden. Sobald Bewusstsein, ein Geist da ist, sind diese fünf Faktoren aktiv, ganz von selbst, ohne dass es da jemanden braucht, der das stimuliert, der sich sagt: „Jetzt muss ich aber!“ – völlig überflüssig. Immer wenn Geist aktiv ist, sind diese fünf Faktoren vorhanden und aktiv. Sie sind tagsüber aktiv und auch im Traum. Die nächsten fünf Faktoren des 4. Skandhas sind jene, die sich des Objektes vergewissern. Angefangen vom Interesse über das Stabilisieren des Geistes bis hin zum Faktor des tiefen Verstehens oder Erkennens sind fünf Faktoren aktiv, die bewirken, dass wir ein Objekt genau erfassen und tief verstehen können, worum es sich dabei handelt. Diese fünf beschreiben aber auch den ganzen Prozess vom ursprünglichen Entwickeln der Motivation, die Natur des Geistes zu verstehen oder zu erwachen, bis hin zu der Erkenntnis, die tatsächlich die Erkenntnis der Natur des Geistes ist. Bei diesen Faktoren fragt man sich natürlich: Braucht es ein Ich, um den Geist auf ein Objekt auszurichten? Braucht es ein Ich, ein Selbst, um den Weg des Erwachens zu gehen, oder funktionieren auch diese Faktoren ohne Bezug auf ein Ich und Selbst zu nehmen? – Da will ich jetzt nicht vorgreifen. Das wird mit den anderen Faktoren des 4. Skandhas und mit den verschiedenen Bewusstseinsformen noch klarer werden. Die Frage aber, an der wir ab jetzt arbeiten werden, ist: Braucht es, damit die eben beschriebenen Faktoren in einem Geistesstrom aktiv sind, ein Ich? Sind diese Faktoren eventuell das Ich? ***

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Von jetzt an werden wir einer anderen Form der Darstellung begegnen. Es geht in der Folge darum, welche Faktoren auf dem Weg des Erwachens tatsächlich heilsam und welche nicht heilsam sind. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass der gesamte Abhidharma als die Wissenschaft des Geistes in der buddhistischen Lehre ohnehin keine neutrale Wissenschaft ist sondern eine zielorientierte Beschreibung dieser Phänomene. Es geht immer darum herauszufinden, was zum Erwachen beiträgt und was es verhindert, was aus dem Leiden herausführt und was das Leiden vermehrt. Es ist also nicht einfach ein Beschreiben der Phänomene und wie sie erfassbar werden, sondern eine Beschreibung im Hinblick auf ein Ziel – eine Ontologie.

Die elf heilsamen Geistesaktivitäten Heilsam bedeutet hier: das, was den Geist im Heilsamen verweilen lässt und schlussendlich zum Erwachen führt; das, was die Anspannung verringert, was aus dem Leiden heraus und in das Erwachen hinein führt.

11) Vertrauen ist inspiriertes, strebendes und überzeugtes Vertrauen in Bezug auf das Wahre. Es unterstützt Streben. Was wir inspiriertes Vertrauen nennen, ist die Inspiration, die Herzensöffnung, die Freude. Lama Tenzin nennt es heitere Freude oder ausgeglichene Freude, die wir erfahren, wenn wir Unterweisungen, Lehrern oder anderen Aspekten des spirituellen Weges begegnen, die uns inspirieren. Sie lassen unser Herz aufgehen, wir sind berührt von der Tiefe, von der Klarheit, von der Herzensgüte, von den verschiedenen Aspekten des Dharma. Das ist die Inspiration. Das erste Erwachen des Vertrauens geht meistens über diese Inspiration. In dem Moment, wo wir diese Inspiration erfahren, weil wir bestimmten Qualitäten begegnen, löst sich Spannung in unserem Geist auf. Es fühlt sich heilsam an in dem Sinne, dass dieser Geistesstrom nicht im Leid verfangen ist. In dem Moment, wo das inspirierte Vertrauen präsent ist, sind wir nicht in großer Besorgtheit, wir spüren dieses Vertrauen in uns. Die zweite Art von Vertrauen ist das strebende Vertrauen. Aufgrund der Inspiration entsteht ein Streben, eine Hinwendung zu diesen Qualitäten mit dem Wunsch, dass sich diese Qualitäten in uns einstellen mögen, dass wir dorthin kommen, wo sich diese Qualitäten finden. Es entsteht eine Ausrichtung auf das Erwachen, es entsteht ein Elan, eine Herzenskraft, die uns bewegt, die uns zieht, die uns schiebt, die uns in die Richtung dieser Qualitäten, die uns inspirieren, führt. Wenn wir in diesem Streben den Weg gehen, dann werden sich immer mehr Erfahrungen einstellen, die eine Überzeugung, eine Gewissheit entstehen lassen. Das nennen wir das überzeugte Vertrauen. Es beruht auf der persönlich gemachten Erfahrung, die Gewissheit hinterlässt. Es ist ein Kennen, ein Wissen um die Kraft dieser Qualitäten aus eigener Erfahrung. Wir sehen, dass sie zutiefst heilsam sind, wir kennen ihre Kraft, wir wissen wie man dahin kommt, wir wissen was es aufzugeben gilt, um dahin zu kommen. Es entsteht eine totale Gewissheit. Es ist dann also nicht mehr ein Vertrauen, das wir in etwas investieren, das wir nicht kennen, sondern es ist eine Gewissheit, die aus der tiefen, inneren Kenntnis, dem tiefen, inneren Erfahren dessen entsteht, worauf sich unser Streben ausgerichtet hat. Streben und Inspiration, die beiden ersten Formen des Vertrauens, stellen sich eigentlich nur deswegen ein, weil diese Qualitäten schon in uns vorhanden sind. Sie sind in uns vorhanden, wir haben ein Gefühl für sie, wir nehmen sie intuitiv wahr, obwohl unser Geist oft noch recht verschleiert ist und wir noch keine sehr präzise Wahrnehmung dieser Qualitäten haben. Aber sie wohnen unserem Geist inne. Da klingt etwas in uns an, da vibriert etwas mit, da schwingt etwas mit, wenn wir diesen Qualitäten

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begegnen. Es ist von Beginn des Prozesses an zutiefst heilsam, mit diesen Qualitäten in Berührung zu kommen. Wir sind inspiriert, weil wir das Heilsame von Anfang an schon spüren. Und dann streben wir nach Qualitäten, die vermeintlich außen sind. Wir richten uns auf die Buddhaschaft, auf das Erwachen, auf die Befreiung aus. – Vermeintlich ein Zustand, der woanders zu finden ist oder den wir zumindest in anderen meinen zu sehen, aber nicht in uns. Und doch geht der gesamte Weg dann so vor sich, dass diese Qualitäten im Streben nach dem Erwachen immer mehr in uns frei werden. Sie werden freigelegt, sie werden hervorgerufen, sie kommen unter den Schleiern hervor. Sie werden entdeckt, enthüllt und zeigen sich immer mehr, bis es zu einer völligen Gewissheit um diese erwachten Qualitäten kommt. Das war eine erste Darstellung dieser drei Formen des Vertrauens, die wir nicht für getrennt voneinander halten sollten. Auch hier ist es nicht möglich, sie in getrennte Schubladen zu tun und zu denken, sie könnten unabhängig voneinander auftreten. Bereits in der ersten Inspiration sind ein gewisses Streben und eine gewisse Gewissheit enthalten. Es wird sich immer stärker zeigen, dass diese drei Formen des Vertrauens untrennbar miteinander verbunden sind. Jigme Rinpoche beschrieb das inspirierte Vertrauen als vergleichbar mit dem Erlebnis eines Kindes, das in einen wunderschönen Tempel tritt und mit offenem, staunendem Mund dasteht, gar nicht fassen kann, was da alles ist, aber total berührt ist. Es ist total berührt, inspiriert, versteht nichts von all dem, was da los ist, aber innere Qualitäten kommen zum Schwingen. Dieses in Schwingung-Kommen der inneren Qualitäten ist mit Inspiration gemeint, und obwohl dort noch kein Verständnis vorhanden ist, obwohl es auch noch gar nicht zu einem klaren Streben kommt, kann man doch sagen, eigentlich ist alles schon da. Eigentlich ist alles schon angelegt, nur muss es jetzt noch freigelegt werden. Es muss noch seinen Weg der Integration finden, es muss zu einer vollen Präsenz kommen. Der Buddha hat diesen Faktor des Vertrauens an den ersten Platz in der Liste gestellt, weil Vertrauen – es gibt sogar Sutras, die nur davon handeln – vermutlich die wichtigste Qualität ist, die es auf dem Weg des Erwachens zu nutzen gilt. Vertrauen beendet Zweifel, weil Vertrauen zur Gewissheit führt. Gewissheit ist das Ende aller Zweifel, das Ende des Nicht-Wissens. Vertrauen ist das, was uns jeden Schritt gehen lässt. Vertrauen ist das, was das Streben unterstützt, Vertrauen bewirkt, dass wir an der Praxis dran bleiben und den Weg weiter gehen in Richtung auf diese Qualitäten. Wenn dieses Vertrauen verloren geht, dann geht unser spiritueller Weg verloren.

Wenn das Vertrauen verloren geht, dann war doch keine Erkenntnis da, sonst kann ich mir nicht vorstellen, wie das Vertrauen verloren gehen kann. Ich dachte immer, dieses überzeugte Vertrauen kommt erst durch Erkenntnis zustande. Du hast völlig Recht. Diese dritte Form des Vertrauens entsteht durch direktes Erkennen, direktes Erleben und wird nicht mehr durch anderes in Frage zu stellen sein. Das kann einem niemand mehr wegnehmen, egal was die äußeren Umstände sind. Wie ist der Zusammenhang von Vertrauen und Praxis? Wenn wir inspiriert sind und dieses Streben auf bestimmte Qualitäten hin entwickeln, dann beginnt ein Weg. Wir beginnen uns auf diese Qualitäten auszurichten. Wenn es dann in dem Bereich, wo wir unser Vertrauen investieren, etwas gibt, das dieses Vertrauen stört, es blockiert, es zusammenbrechen lässt, dann schwindet auch im gleichen Maße unsere Kraft, in diese Richtung zu gehen. In dem Moment, wo das Vertrauen zusammenbricht, gibt es keinen Weg mehr, der in diese Richtung geht. Es ist natürlich so, dass das Vertrauen nie vollständig zusammenbricht. Im Dharma gibt es immer Aspekte, wo wir uns sicher sind – „Das zählt weiterhin für mich, darauf möchte ich mich weiterhin ausrichten.“ Bei anderem, wo wir unser Vertrauen in Äußeres oder in Ideen, in Konzepte, in Strukturen, die nicht unserer unmittelbaren Erfahrung entspringen, investiert haben, kann natürlich alles zusammenbrechen. Das hängt von anderen Faktoren ab, als nur der eigenen inneren Erfahrung, und wenn das zusammenbricht, dann gibt es keinen Weg mehr, der sich darauf ausrichtet. Dann geht der Weg nur noch dort weiter, wo man immer noch Vertrauen hat. Man wird nur das praktizieren, sich nur darin üben, wo man tatsächlich noch Vertrauen hat.

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Wir haben alle schon in verschiedensten Situationen erlebt, dass unser Vertrauen in Menschen erschüttert wurde, dass unser Vertrauen in Gruppen erschüttert wurde, in Institutionen, in Strukturen, in Ideen, in Ideologien. Und wir haben jedes Mal versucht, heraus zu finden, wo wir denn noch Vertrauen haben können, wo es wirklich Sinn hat und verlässlich ist, Vertrauen zu investieren, worauf wir uns eigentlich wirklich ausrichten möchten. Man kann diesen Prozess als ein Suchen nach der Zuflucht beschreiben. Wir bemühen uns, im Leben herauszufinden, was eine verlässliche Zuflucht ist. Wo wir die Zuflucht finden, dort sind die Qualitäten, die uns inspirieren. Die Qualitäten, die uns inspirieren, und die Zuflucht sind eins. Wir haben auf unserem Lebensweg unverlässliche Zufluchten hinter uns gelassen und sind dabei, immer klarer darüber zu werden, was eine verlässliche Ausrichtung im Leben ist. So sind viele z.B. zum Schluss gekommen, dass man sich nicht auf Menschen ausrichten kann, die noch selber in Emotionen stecken – das ist keine verlässliche Ausrichtung. Es geht darum, sich auf die Qualitäten des Erwachens auszurichten, auf das Erwachen selbst, nicht auf die Menschen, die es mehr oder weniger klar, Vertrauen erweckend vermitteln. So sind wir also alle in einem Prozess, herauszufinden was uns wirklich inspiriert, wohin wir tatsächlich gehen wollen und was wir verwirklichen wollen, worin wir Gewissheit erlangen wollen. Wenn wir darauf klare Antworten haben, haben wir mit der Kraft des Vertrauens unsere Zuflucht definiert. Deswegen steht dieser Faktor des Vertrauens an erster Stelle der Liste, weil es der Faktor Zuflucht ist, das, was eigentlich eine aktive Zuflucht ausmacht. Wenn das Vertrauen, diese Gewissheit, einmal erlangt ist, ist das dann ein fixes Vertrauen, entspricht es dann nicht einem beginnenden Tod? Diese Gewissheit, die da entsteht, ist keineswegs das Ende von Lebendigkeit, sondern ist so einfach wie das Wissen darum, wie die Dinge funktionieren. Wenn ich weiß, wie ich Zement anmischen muss, dann stoppt mich das nicht darin, immer wieder Zement anzumischen, sondern ich weiß es und niemand kann es mir ausreden. Jedes Wissen, jede Klarheit, jede Gewissheit, die wir finden, ist nicht per se Ende von etwas, sondern gibt einfach eine Klarheit, einen Frieden. Und so ist es auch mit dieser Gewissheit gemeint. Wenn ich euch die Frage stellen würde, wie eben gerade Christian: „Was meinst du: Ist wahre Liebe heilsam?“ Dann wäre die Antwort: „Na klar, selbstverständlich!“, weil wir das schon erfahren haben. Diese Gewissheit, dass Liebe heilsam ist, wird uns dann nicht davon abhalten, Liebe zu leben und zu teilen mit anderen, in keiner Weise. Sie macht es sogar noch leichter. Und so ist es auch mit dem spirituellen Weg. Da kann man vielleicht einen Unterschied sehen zu Menschen, die sich als ewige Sucher beschreiben und es wie eine Qualität hinstellen, dass die spirituelle Suche ewig weiter geht und dass es nur deswegen ein lebenswerter spiritueller Weg ist. Das stellen wir im Dharma anders dar. Im Dharma ist es tatsächlich so, dass man zu klarem, definitivem Verständnis kommen kann, wo sich Frieden einstellt, wo diese Suche zur Ruhe kommt. Wo wir nicht mehr unruhig auf der Suche sind, sondern in völliger Gelassenheit, im klaren Wissen um die Natur der Dinge einfach im Austausch mit der Welt sind, im Teilen, im Austauschen mit anderen. Das ist tatsächlich ein Merkmal des buddhistischen Weges: Frieden stellt sich durch tiefe Seinserkenntnis ein. Von dieser Erfahrung, von diesem Frieden hat der Buddha gesprochen, als er vom Frieden, vom Erwachen, von bodhi gesprochen hat. Ist Vertrauen ein Geistesfaktor, der ständig anwesend ist oder ist er nur kurz einmal da und dann nicht mehr? Normalerweise haben wir den Eindruck, dass sich Vertrauen durch das Leben zieht so wie eine Grundströmung im Leben – was auch sein mag. Aber gleichzeitig gibt es auch Vertrauen als etwas, das momentan, jetzt gerade im Geist vorhanden ist, was bedeutet, dass z.B. nicht gleichzeitig Zweifel vorhanden ist. Aber zu anderen Zeiten in unserem Leben, am selben Tag, sogar sehr kurz danach, kann wieder Zweifel auftauchen. Wenn Vertrauen da ist, gibt es keinen Zweifel, wenn Zweifel da ist, gibt es kein Vertrauen, diese beiden Geisteszustände schließen sich gegenseitig aus, sie sind Gegenspieler. Man kann also diese Geistesaktivitäten als etwas sehen, was immer wieder auftaucht und sich entwickelt oder was einfach in einem Moment da ist und in dem Moment seine Kraft entfaltet. Das sagt nichts darüber aus, was im nächsten Moment ist. Aber natürlich ermöglicht das Vorhandensein von

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Vertrauen, dass im nächsten Geistesmoment ein anderer heilsamer Faktor auftaucht, weil Vertrauen die ideale Voraussetzung für weitere heilsame Geistesfaktoren ist. Man kann sagen, immer wenn Vertrauen im Geist auftaucht, erleichtert es die Präsenz von anderen heilsamen Geistesfaktoren in den nachfolgenden Momenten des Bewusstseins. Es heißt im Text, dass Vertrauen das Streben unterstützt, also die Funktionen der inneren Ausrichtung auf etwas, das wir anstreben. Um den Weg zu gehen, der zum Angestrebten führt, brauchen wir den nächsten Faktor in dieser Liste, den zwölften insgesamt: Gewissenhaftigkeit, Sorgfalt.

12) Gewissenhaftigkeit ist, sich aufrichtig und achtsam in dem zu bemühen, was zu tun und zu lassen ist. Sie bewirkt das Verwirklichen von allem Vortrefflichen in Existenz [Samsara] und Frieden [Nirwana]. Dieser Faktor bringt unser Vertrauen in die Anwendung hinein. Wir bemühen uns gewissenhaft, aufrichtig und achtsam in dem, was zu tun und zu lassen ist, d.h. in dem, was zu tun ist, um zum Erwachen zu gelangen und in dem, was zu unterlassen ist, weil es zu Leid führt. Anders ausgedrückt: Wir bemühen uns in dem, was zu tun ist, um Qualitäten, das Heilsame zu nähren und in dem, was zu unterlassen ist, weil es nicht heilsam ist, weil es Leid, Spannung, Schaden bewirkt. Basierend auf Vertrauen entwickeln wir also Gewissenhaftigkeit in der Ausführung. Gewissenhaftigkeit bedeutet, dass wir uns darum bemühen, ganz fein hinzuspüren, was denn tatsächlich heilsam ist und was nicht heilsam ist, und dass wir versuchen herauszufinden, was denn im Sinne des Erwachens dieser Qualitäten förderlich ist und was für das Erwachen dieser Qualitäten hinderlich ist. Ohne diese Gewissenhaftigkeit in der Ausführung werden wir nicht im Erwachen ankommen. Wir müssen dabei aufrichtig sein, d.h. wir müssen ganz klar hinschauen, uns nicht täuschen über das, was zu tun und zu lassen ist und es dann achtsam umsetzen. Wenn wir unser Leben anschauen, können wir sicher sein, dass wir Leid erzeugende, Stress und Spannung erzeugende Verhaltensweisen, Denkweisen bemerken werden. Da müssen wir aufrichtig mit uns sein und wirklich entschlossen sein, nicht mehr so weiter zu funktionieren und auch daran arbeiten, nicht weiter so zu denken, zu sprechen und zu handeln. Das ist diese Gewissenhaftigkeit, es ist ein inneres Wissen um das, was heilsam ist, was aber erst noch entwickelt werden muss. Wir müssen einen inneren Kompass entwickeln, der uns ermöglicht, den Weg zu finden. Der Kompass richtet sich natürlich auf das, worin wir Vertrauen haben, das ist der vorherige Faktor. Der bestimmt, in welche Richtung wir gehen wollen. Wir müssen immer wieder schauen, ob denn die Richtung, die wir einschlagen, wirklich dazu führt, ob sie wirklich näher an das heranführt, wohin wir wollen. Das Umsetzen dessen, was uns unser immer feiner werdender Kompass sagt, ist das Anwenden dieser Gewissenhaftigkeit. Wenn wir diesen Kompass einsetzen, dann werden wir alles Vortreffliche, Heilsame in der Existenz – im samsarischen Sein – verwirklichen und darüber hinaus in den Frieden – was jenseits von Samsara ist – hineinfinden. In diesem Streben nach dem Erwachen ist der erste Schritt zu verstehen, dass sich Erwachen oder das eigentliche wahre Glück nicht auf Leid aufbauen lässt. Wir verstehen, dass wir in unserem Streben nach Glück Handlungen unterlassen müssen, die für uns und andere Leid erzeugen. Zunächst haben wir vielleicht noch gedacht, dass wir irgendwie damit durchkämen, dass es für andere Leid gibt, aber für uns Glück. Jetzt aber verstehen wir, dass das nicht geht. Das ist auch der Maßstab: Alle Handlungen, die Spannungen erzeugen, die Stress für uns selbst und für andere erzeugen, diese Handlungen unterlassen wir – langfristig. Kurzfristig kann ruhig einmal Anspannung da sein – kein Problem, aber langfristig sind das die Handlungen, die wir unterlassen. Und das, was für alle heilsam ist, was alle öffnet, was die erwachten Qualitäten in allen fördert, das sind die Handlungen, die wir ausführen.

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Genau das ist es, was unsere Kompassnadel dann jeweils zum Ausschlagen bringt. Wenn wir das tun, machen wir das natürlich zunächst einmal mit unserem ich-bezogenen Geist. Wir sind zwar noch in einem dualistischen Bewusstsein, es kommt dadurch aber zu einer enormen Verbesserung in unserer samsarischen Existenz – samsarisch nennt man die Welt der Ich-Bezogenheit. Wir sind noch ich-bezogen, aber es wird schon besser, wir verwirklichen alles, was vortrefflich ist in dem, was man Samsara nennt, samsarisches Glück. Wir können natürlich dann aus diesem Bereich des dualistischen Bewusstseins heraus weiter gehen in den Bereich wahrer Verwirklichung hinein, in den non-dualen Bereich, frei von Ich-Bezogenheit. Um in den Frieden Nirwanas, in diesen Frieden des Herzens eintreten zu können, müssen wir herausfinden, was denn die Denkweisen und Verhaltensweisen sind, die immer wieder diese dualistische Spannung im Geist erzeugen. Wir lernen, auch diese Denk- und Verhaltensweisen aufzugeben und Weisen des Seins zu ermöglichen – vielleicht kann man auch sagen zu kultivieren –, die es zu dieser völligen Offenheit kommen lassen, die wir das non-duale Bewusstsein nennen, Nirwana oder Frieden. Dieses wirklich in den Frieden des Herzens Hineinfinden bedeutet das Ende aller Aufgewühltheit. Bei all diesen Schritten ist die Sorgfalt, diese Gewissenhaftigkeit beim Hinschauen und Ausführen der entsprechenden Handlungen, der entscheidende Faktor. Das ist es, was den Weg weiter fortsetzt.

Fragen: Den inneren Kompass justieren Wie können wir denn unsere Kompassnadel, was das weltliche Glück angeht, noch besser einstellen? Man nennt da so manches weltliches Glück, wie z.B. eine Flasche Wein zu trinken oder gar Drogen zu nehmen. Man nennt so vieles Glück, was vielleicht gar nicht Glück ist. Wie können wir den Kompass besser justieren? Dieses Einstellen des Kompasses geht über die eigene Lebenserfahrung. Wir merken doch schnell, dass das Trinken eines guten Roten oder eines Whiskeys nur für sehr kurze Zeit Glück bringt, eine sehr kurze Offenheit, gerade so lange wie es dauert, bis der Geist sich zuzieht. Meistens ist am nächsten Morgen nicht mehr viel von dieser Offenheit, von dieser kurzen Entspannung, die wir da erlebt haben, zu finden. So geht es mit allen Dingen. Was hier weltliches Glück genannt wird, sind eigentlich die wirklich anstrebenswerten Zustände inneren Friedens, innerer Ausgeglichenheit, von Freude, Liebe, Mitgefühl, von meditativer Versenkung – all das, was ein Praktizierender, ein Mensch dessen Herz, dessen Geist sich öffnet, auf dem Weg erlebt, solange er noch nicht verwirklicht ist. All das wird hier weltliches Glück genannt. Da gehören all die Erfahrungen hinzu, die wir im Bereich von Geistesruhe – shine oder samatha – machen. Da gehören die Erfahrungen hinzu, die wir in der Welt aufgrund von sehr gutem Karma, von sehr heilsamen Handlungen der Vergangenheit, die jetzt ihre Früchte zeigen, machen. Da gehören Qualitäten hinzu wie Liebe, Mitgefühl, Freigebigkeit, Geduld usw., die erlebt und praktiziert werden, aber noch mit einem ich-bezogenen Geist. Das ist das, was den weltlichen Qualitäten quasi einen Rahmen gibt. Es sind all die wunderbaren Geisteszustände, die man erfahren kann, die noch mit Ich-Bezogenheit verbunden sind. Und wenn es keine Ich-Bezogenheit mehr gibt, so sind das dann die erwachten Qualitäten – dieselben Qualitäten, um die es vorher ging, aber völlig frei von aller Ich-Bezogenheit. Wir sprechen also von Freuden und von Glück in der Welt und von der großen Freude, dem wahren Glück jenseits der Welt, was bedeutet jenseits von Ich-Bezogenheit.

Indikatoren für hilfreiches, heilsames Handeln Ich würde gerne noch genauer verstehen, welche Indikatoren uns denn zeigen können, welche Handlungen tatsächlich hilfreich sind? Darin finden wir uns alle wieder. Wir sind alle in dieser Mischung von ich-bezogenen Impulsen und dem Wunsch, tatsächlich Bodhicitta zu praktizieren, also zum Wohle aller zu wirken. Deswegen sitzen

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wir hier. Wenn wir handeln, müssen wir uns dieser Mischung bewusst sein, d.h. wir dürfen uns nichts vormachen, nicht denken wir wären nur schlecht oder nur gut, wir würden z.B. jemandem aus reinem Bodhicitta helfen und sind dann erstaunt, dass es nicht recht ankommt. Da haben wir nicht gemerkt, dass wir in unserem Helfen voll von ich-bezogenen Impulsen waren und dass das natürlich auch seine Auswirkungen hat. Wenn wir jemandem etwas schenken voller Erwartungen etwas zurück zu bekommen, dann ist das für denjenigen, der es erhält, keine Quelle von Glück und auch nicht für uns. Das zeigt uns unsere Lebenserfahrung, und so verfeinern wir unseren inneren Kompass. Wir sind uns zu Beginn der Handlung unserer Motivation und dieser Mischung voll bewusst. Wir sind bewusst während wir die Handlung ausführen, und wenn die Handlung abgeschlossen ist, nehmen wir uns Zeit zu schauen, was sie denn tatsächlich für Auswirkungen gehabt hat. Das hilft uns beim nächsten Mal, wenn eine ähnliche Situation auftaucht, weiser zu handeln und sich z.B. erst einmal Zeit zu nehmen die Motivation zu klären, die ich-bezogenen Impulse etwas zur Ruhe kommen zu lassen. Wir schauen aufrichtig, wo wir uns dabei um uns selbst kümmern, was die Notwendigkeit für die anderen ist, wie man das vielleicht sogar vereinbaren kann. Wir werden weiser, aufrichtiger, weiser und sorgfältiger im Umsetzten dessen, was wir da erkannt haben. Das wichtigste Mittel, um diese Klärung zu bewirken, ist Meditation. Meditation bedeutet ja ein Raum des Nichtstuns, wo wir nicht unter Zugzwang stehen, wo wir einfach nur sein können, beobachten und hinfühlen können, das Ganze sich setzen zu lassen. Es ist ganz wichtig, solche Räume zu haben. Trinken von Alkohol – schlechtes Gewissen Ich komme noch einmal auf das Trinken von Alkohol zu sprechen. Du hast vorhin ein Beispiel vom exzessiven Trinken gebracht. Aber ich trinke jeden Abend zwei Gläser guten Rotwein zusammen mit einer guten Mahlzeit und ich genieße den Wein, ich kann auch dank des Weines gut schlafen. Gestern habe ich versucht nicht zu trinken, weil ich sonst ein schlechtes Gewissen gehabt hätte. Aber immer, wenn ich versuche, ein guter Buddhist zu sein, dann verklemmt sich alles in mir. Ich fühle mich speziell in einer schwierigen Situation, wenn ich dann von anderen Menschen – von einem Dharmalehrer – höre, dass es vielleicht nicht gut wäre, Alkohol zu trinken. Ich werde dann unsicher und bekomme Schuldgefühle. Du vertrittst damit den Großteil der Franzosen, die gerne ihren täglichen Roten trinken und du hast wahrscheinlich auch mehr als die Hälfte der französischen Ärzte hinter dir. Egal, was man sonst über die Auswirkungen des Alkohols weiß, der Rotwein wird vertreten. – Es geht nicht darum, den eigenen Kompass nach den Meinungen anderer auszurichten, sondern selber zu spüren, was denn tatsächlich gut tut und da einfach so genau wie es geht hinzuspüren. Und du sagst ja, dass es dir tatsächlich gut tut um dich zu entspannen, und dass du im Einklang mit deinem inneren Kompass bist. Das können wir immer so halten. Wir nehmen das, was uns andere vorschlagen oder sagen – auch Dharmalehrer – als eine Möglichkeit, unseren Kompass noch einmal zu überprüfen. Wir schauen, und dann müssen wir selbst entscheiden, was wir tun und was wir lassen. Es geht nicht anders. Wir können nicht das Lebensprogramm von anderen leben. Die Spielregel dabei ist einfach. Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir selbst die Früchte unserer Handlungen ernten werden und Verantwortung dafür übernehmen, was wir tun und was wir lassen. Schädliches Verhalten um eigenen Nutzen daraus zu ziehen Wenn ich ein Verhalten pflege, das anderen oder eventuell sogar mir vorübergehend einen gewissen Schaden zufügt, so tue ich das aller Wahrscheinlichkeit nach, weil ich doch einen Nutzen daraus ziehe. Ich ziehe also einen Nutzen daraus, wie ich mich verhalte. Was wird mich denn dann bewegen, dieses Verhalten zu ändern? Ich müsste dann ja meinen eigenen Nutzen aufgeben. Diesen persönlichen Nutzen werden wir erst aufgeben – und nur dann –, wenn wir sehen, dass es sich gar nicht um den wahren erstrebten Nutzen handelt, den wir im Leben anstreben. Ich nehme ein etwas grobes Beispiel: Wir können recht glücklich sein und recht wohlhabend werden, weil wir andere betrü-

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gen, weil wir unseren Profit auf dem Rücken anderer machen. Dieses Profitstreben wird uns ganz normal vorkommen, wir leben damit, es funktioniert gut. Erst wenn wir durch feineres Gewahrsein merken, dass wir uns selbst in diesem Profitstreben verheddern; dass unser Denken immer auf den persönlichen Vorteil ausgerichtet ist; dass wir gar nicht entspannen können; dass wir anderen gar nicht mehr offen und ehrlich begegnen können; dass wir immer etwas zu verheimlichen haben. Erst wenn wir all das bemerken, wird es dazu kommen, dass wir motiviert sind, diese Art des Handelns aufzugeben. Es braucht eine ganze Menge an Einsicht, an feiner Wahrnehmung, um solche eingeschliffenen Muster der Ich-Bezogenheit aufzugeben. Solange wir nicht bemerken, was wirklich los ist, haben wir immer noch das Gefühl: „Das ist der beste Weg für mich, um glücklich zu sein.“ Erst wenn wir die Grenzen dieses Verhaltens entdecken, all die Begleiterscheinungen, die Spannungen, die damit einhergehen, sind wir wirklich motiviert es aufzugeben. Solange wir das nicht sind, werden wir weiterhin so handeln, selbst wenn wir von außen sogar bestraft werden und gewisse Einschränkungen in Kauf nehmen müssen. Wir haben dadurch vermeintlich einen so großen inneren, emotionalen, affektiven Gewinn, dass wir weiter machen, weil wir noch nicht klarer geworden sind. Wir haben noch nicht genauer hingeschaut. Deswegen werden wir auch alle mit einer guten Dosis Ich-Bezogenheit weiter funktionieren, weil wir noch gar nicht gesehen haben, in welchem Ausmaß das Spannungen in unserm Geist erzeugt und zum Leiden von uns selbst und von anderen beiträgt. In dem Maße, mit dem wir das mehr und mehr sehen, werden wir motiviert sein, das loszulassen. Ist es dann tatsächlich so, dass man erst unzufrieden sein muss, dass man erst eine innere Leere erfahren muss, dass die bisherigen Muster nicht wirklich glücklich machen, bevor man sich ändert? Ja, normalerweise braucht es eine klare Erfahrung von Unzufriedenheit, um sich zu ändern. Es ist selten, dass Menschen sich einfach aus Mitgefühl ändern. Der Buddha nannte das die Erfahrung von dukkha, die Erfahrung von Leid oder Nicht-befriedigt-Sein, die uns zu Veränderung antreibt.

Einordnung des Gleichgewichts-Sinnes Die fünf Sinne gibt es ja auch im klassischen europäischen Denken, nur gibt es da ein paar mehr als nur die fünf. Die Körperempfindungen kann man ja unterscheiden in Tastempfindung, Berührung, Temperatur, Schmerz und alles Mögliche. Das kann ich alles in die Körperempfindungen reihen, aber wo bringe ich den Gleichgewichtssinn unter? Er gehört auch zu den Körperempfindungen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Asiaten das Organ für den Gleichgewichtssinn im Ohr angesiedelt haben, aber er wird beschrieben als die Fähigkeit, die eigene Körperhaltung wahrzunehmen. Gibt es einen Zeitsinn? Solange wir in der dualistischen Wahrnehmung funktionieren, vergleichen wir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn wir im nondualen Gewahrsein sind, gibt es keine Zeit, wobei aber beides dem Geistes-Sinn zugeordnet wird, das ist mentales Empfinden.

Unterschied zwischen Konzepten der 11. Ergebnisform und dem 3. Skandha Es gibt beim Skandha der Formen diesen elften Faktor der Geistesobjekte. Wo ist der Unterschied zu all dem, was wir im dritten Skandha besprochen haben – Merkmale zur Unterscheidung, Konzepte. Du hattest auch da von mentalen Objekten wie Altruismus, Kommunismus usw. gesprochen. Wo ist da genau der Unterschied. Es ist kein Unterschied. Im ersten Aggregat sind wir mehr beschäftigt mit dem Objekt, mit dem Wahrgenommenen, und im dritten Aggregat mit dem Prozess des Wahrnehmens und Unterscheidens. Das ist der einzige Unterschied. Das eine sind die Formen, die wahrgenommen werden, alles Wahrnehmbare, und dann geht es ins Empfinden, Unterscheiden, Gestalten, das sind dann die Aktivitäten des Geistes.

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Wenn wir von Empfindungen wie angenehm, unangenehm und neutral und all den Unterscheidungen – dem 3. Skandha – sprechen, so sind das so was wie Zutaten zu dem, was durch den Prozess des Unterscheidens, des Bewertens und dann des Gestaltens wahrgenommen wird. Es kommen immer mehr Prozesse hinzu.

Zum Bild des Holzhaufens Wenn ich dann zu diesem Bild des Holzhaufens, von dem der Begriff Skandha kommt, zurückgehe, ist es dann so, dass wir uns aus dem Holzhaufen ein Stück Holz herausgreifen und die folgenden Skandhas sich eigentlich aus der genaueren Betrachtung dieses beliebigen Holzstückes entwickeln, oder sind die gleichwertig mit dem ganzen Holzstück? Der Buddha wollte anhand dieses Bildes zeigen, dass die Gesamtheit des Holzstoßes aus der Entfernung als Einheit wahrgenommen wird und dass all die vielen Aspekte – die Holzscheite – bei näherem Hinschauen dann diesen Holzstoß ausmachen, der sich dadurch als ein Konstrukt entpuppt. Den Holzstoß als solchen gibt es gar nicht. Und dann gibt es die Holzscheite, auch die sind wiederum zusammengesetzt, sie sind auch Aggregate. Man könnte also sagen, dass der Holzhaufen zumindest aus fünf Scheiten zusammengesetzt ist, die dann weiter unterschieden werden, aber dem Buddha kam es nicht darauf an. Ich bin überzeugt, dass man auch andere Klassifikationen als diese fünf hätte wählen können. Es braucht ein Beschreiben der Vielfältigkeit des Erlebens, wobei diese Vielfältigkeit dann eigentlich das ausmacht, was wir normalerweise Individuum nennen. Es geht darum, dass es nichts Konstantes gibt, nichts Gleichbleibendes. Kann man Buddhist sein, auch wenn man nicht praktiziert? Ja, man ist einfach Buddhist aufgrund dessen, dass man in die Unterweisungen des Buddha Vertrauen hat. Man braucht auch nicht unbedingt auf dem Kissen zu sitzen, es reicht, dass wir die Unterweisungen im Herzen bewegen und wach halten. Das macht uns zu Dharma-Praktizierenden. Der innere Kompass – Ratschläge der Meister Könntest du bitte noch einmal über das Einstellen des inneren Kompass’ sprechen? Ich hab mir von Anfang an angewöhnt, das zu tun, was die Lehrer sagen. Welchen Rat kannst du dazu geben? Dazu gibt es eine Grundregel: Wenn man sich auf einen Lehrer ganz einlässt – das gilt für einen Vajra-Meister, einen sehr weisen Menschen, den man auch getestet hat –, dann kann man ihm zwei Mal widersprechen. Wenn er beim dritten Mal immer noch darauf besteht, dann sollte man nachgeben. Wenn du in diesem Prozess sagst: „Nein! Kann ich nicht, mag ich nicht, versteh ich nicht! Will ich nicht!“, dann folgst du deinem Kompass. Die Lehrer wünschen sich, dass du ausdrückst, was du im Herzen hast, dass du nicht einfach nur tust, was gesagt wird, sondern dass da eine Rückmeldung kommt. In den meisten Fällen wird dann die Instruktion an deine Situation angepasst und lautet dann schon anders. Vermutlich ist nach dem ersten Mal, wo du Einspruch einlegst, die Instruktion schon so, dass du sehr viel mehr damit anfangen kannst, weil es nur den Austausch gebraucht hat. Der erste Prozess ist also hinzuhören: „Stimmt das mit mir überein? Bin ich in völligem Einklang mit dem, was mir da vorgeschlagen wird oder sind da unklare Fragen?“ Und dann klärt man die Unklarheiten. Wenn du dann immer noch Zweifel hast, dann sagst du es noch einmal: „Es stimmt immer noch nicht! Das geht so nicht für mich!“ Und dann hat der Lehrer ein zweites Mal die Gelegenheit, auf deine Bedenken und Schwierigkeiten einzugehen, es kommt zu einer noch feineren Anpassung. Danach darfst du immer noch sagen, dass du Schwierigkeiten hast, und dann wird er unter Umständen seine letzte Karte ziehen und sagen: „Mach es aber jetzt so!“, ohne es weiter anzupassen oder er passt es noch ein drittes Mal an. Und dann kann man sagen: „Mach ich!“ oder „Mach ich nicht!“ Das darf man sagen, auch beim dritten Mal. Aber das ist dann schon intensiv, weil ja ein Austausch stattgefunden hat. Man muss sich überlegen, ob man fähig ist, die Situation richtig einzuschätzen. Es ist ziemlich intensiv, wenn man nein sagt.

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Wenn ein Vajra-Meister zum dritten Mal dieselbe Instruktion gibt, dann ist er sich sicher, dann hat er drei Mal geschaut und ist sich sicher. Wir haben ja den Wunsch, in die erwachte Dimension einzutreten, und in dem Fall ist es normalerweise schon geraten, das dann auch auszuprobieren. Ich war in so einer Situation mit der Übersetzung des ‚Kostbaren Schmuckes der Befreiung’, wo ich zwei Mal gesagt habe: „Nein, das geht nicht, das kann ich nicht, es ist jenseits meiner Möglichkeiten!“ Gendün Rinpoche hat nicht einmal seinen Auftrag angepasst. Er hat drei Mal dasselbe wiederholt. Beim dritten Mal habe ich dann zugestimmt und das war eine riesige Lern-Erfahrung. Es war dann wunderbar, mit dem Segen des Lamas eine so schwierige Aufgabe anzugehen. Da ich jetzt die Beziehung zum Vajra-Meister angesprochen habe, muss ich auch sagen, dass bei allen anderen Dharmalehrern, Khenpos und dergleichen keinerlei Verpflichtung besteht, so zu tun, wie sie sagen. Es ist eine sehr spezielle Beziehung zu einem Vajra-Meister, den ich vorher getestet habe. Es kann Jahre dauern, bis ich einen Vajra-Meister als meinen Wurzellama annehme und so praktiziere. Alle anderen sind spirituelle Freunde, sie geben mir Rat. Sie kennen den Dharma gut und ich habe tiefen Respekt für sie. Ich respektiere dies als Rat eines wirklich guten Freundes, werde mit diesem Rat in mein Herz gehen und meinen Kompass damit abgleichen. Ich werde schauen, was das mit mir macht. Dabei kann ich immer wieder nachfragen und sie geben immer wieder Rat als gute spirituelle Freunde. Im tibetischen Buddhismus hat eine Vermischung stattgefunden. Der Begriff des Vajra-Meisters wurde übertragen auf spirituelle Freunde, die nicht unsere Vajra-Meister und Wurzellamas sind. Das was über die Beziehung zum Wurzellama gesagt wurde, der ein Vajra-Meister ist, wurde plötzlich angewendet auf alle, die Lamas heißen, weil in den Texten von Lamas gesprochen wird. Damit ist der Vajra-Meister gemeint, und diese Vermischung müssen wir absolut beenden, das muss vorbei sein. Diese Vermischung ist sehr gefährlich, sie führt dazu, dass man Schuldgefühle hat, wenn man dem gut gemeinten Rat eines geschätzten Dharmalehrers nicht folgt, weil man anderer Anschauung ist. Andere kritisieren einen, wenn man anderer Ansicht ist und es anders im Herzen fühlt. Das war alles nicht Sinn der Sache. Beim Wurzellama geht es um die Beziehung zu einem Menschen, in den man außerordentliches Vertrauen hat, den man getestet hat und der außerdem ein verwirklichter Vajrameister ist. Das muss klar sein, alles andere sind weitere Gelegenheiten, unseren Kompass zu schärfen. Das gilt auch für Lamas, die den Titel ‚Rinpoche’ tragen. Nur weil jemand einen Titel hat, hat er nicht die Möglichkeit, einfach in unser Leben hinein zu wirken, und wir dürfen auch nicht denken, dass das von ihrer Seite aus so gemeint wäre. Sie geben uns einen Rat und gehen auch gar nicht davon aus, dass wir den zu Hundert Prozent annehmen und denken, das wäre dann unsere Geschichte. Sie gehen meistens davon aus, dass wir noch damit arbeiten, dass wir innerlich noch diese Kompass-Arbeit machen. Wurzellama – Vajrameister Was genau macht den Wurzellama aus? Wir brauchen gar keinen Wurzellama. Den Wurzellama brauchen wir erst, wenn wir anfangen, intensiv Vajrayana zu praktizieren. Wenn wir intensiv Yidam-Praktiken ausführen, brauchen wir eine klare Ausrichtung auf einen Vajrameister. Auch das ist eine Inflation dieses Begriffes, von der du vielleicht gar nichts mitbekommen hast: In tibetischen Kreisen meint jeder, er bräuchte einen Wurzellama. Das ist gar nicht notwendig, man hat Lamas, die einem Rat geben und das reicht aus. Der gemeinsame Wurzellama, der alle anderen vertritt oder in sich vereint, wird Vajradhara oder Dorje Tschang genannt. Er ist die Essenz des Erwachens, es ist keine Person. Den Wurzellama entdeckt man erst nach Jahren einer vertrauensvollen Beziehung zu einem Vajrameister, wo man aufgrund des Herzenskontaktes ein solch klares Vertrauen spürt, dass man diese intensive Beziehung mit dem Vajrameister eingeht. Das gilt wirklich nur für die, die den Vajrayana intensiv praktizieren. Alle anderen bleiben unsere normalen Lamas.

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Ich hab das vorhin so verstanden, dass der Wurzellama durchaus eine lebende Person sein kann, weil die einem ja auch diese Instruktionen gibt, wo man zwei Mal widersprechen kann. Woran erkennt man, ob es sich um einen Vajrameister handelt? Wird der ernannt oder ist das eine reine Angelegenheit zwischen einem Meister und einem Schüler? Ein Vajrameister, der einem solche Instruktionen gibt, ist immer ein lebender Meister, das ist für diejenigen, die tatsächlich die Ermächtigung und die Instruktionen zur Vajrayana-Praxis bei ihm nehmen. Von einem Vajrayana-Meister werden die drei Aspekte wang, lung und tri übertragen. Er muss also ermächtigt sein, Ermächtigungen zu geben. Das allein reicht aber noch nicht aus, er sollte auch verwirklicht sein. Er sollte weitere Qualitäten haben, und er wird erst dann zu meinem Wurzellama, wenn von meiner Seite dieses Band auch wirklich hergestellt wird, sonst bleibt er einfach der Vajrameister, der einem diese Ermächtigung gegeben hat. Ein Vajrameister – da gibt es auch eine Liste von Qualifikationen – sollte ein hoch entwickelter, spiritueller Freund sein. In Gampopas ‚Kostbarer Schmuck der Befreiung’ werden die Merkmale eines spirituellen Freundes aufgeführt: acht Merkmale für einen hoch verwirklichten Lehrer, in der nächsten Gruppe vier und dann zwei Merkmale. Von diesen Merkmalen sollten viele vorhanden sein, zudem noch eine volle Qualifikation in der Vajrayana-Praxis. In allen vier Linien des Tibetischen Buddhismus sollte eine Erlaubnis und Unterstützung von einem oder den Hauptlinienhaltern gegeben sein, tatsächlich diese Aktivität eines Vajrameisters auszuüben. Das ist also keine Privatsache zwischen Schüler und Lehrer, es ist öffentlich. Ein Vajrameister ist von den anderen Linienhaltern als solcher anerkannt. Ist es in unserer Linie so, dass es ganz bestimmte Vajrameister gibt, die von Karmapa als solche ernannt sind. Wenn ja, wer ist das? Ja, Karmapa selbst, Shamar Rinpoche, Beru Khyentse Rinpoche, Sherab Gyaltsen Rinpoche, Khandro Rinpoche. Ich mag jetzt nicht alle aufzählen, ich würde auf jeden Fall welche vergessen, aber das sind Meister, Meisterinnen, die tatsächlich diese Übertragung haben, wobei Khandro Rinpoche mehr noch zur Nyjingma-Linie gehört, aber auch bei uns unterrichtet. Da gibt es solche Lehrer, die ganz klar diese Aufgabe haben. Es scheinen aber wenige zu sein, die das praktizieren. Ja, das stimmt. Es sind tatsächlich ganz wenige, die diese Art von Beziehung eingehen, und die es auch notwendig haben, diese Beziehung einzugehen. Es besteht so was wie eine spirituelle Gier, einen Vajrameister als Wurzellama zu haben, obwohl man gar nicht in einer Form der Praxis ist, die das notwendig macht. Es sind wirklich nur wenige, und man muss sich selber gut überlegen, dass man nicht einfach anderen folgt, wo das so gang und gäbe ist, dass man einen Vajrameister als Wurzellama haben muss. Ist jemand, der ein Tulku ist, dann automatisch auch ein Rinpoche? Ja, normalerweise ist das einfach so, dass diejenigen, die als Tulku anerkannt werden, später dann auch den Titel Rinpoche bekommen. Man muss sich dabei aber klar sein, dass weder der eine Titel noch der andere notwendigerweise das Vorhandensein von Qualitäten beschreibt. Man kann als Wiedergeburt eines großen Praktizierenden anerkannt sein, aber in diesem Leben nicht die Qualitäten entwickelt haben, Menschen tatsächlich in ihrer Praxis so zu führen, wie das von einem Vajrameister erwartet wird. Deswegen aufgepasst: nicht den Titel mit den Qualitäten verwechseln. Es gibt Rinpoches, die diesen Titel tragen, wo man besser ein bisschen vorsichtig ist und es gibt andere, die diesen Titel tragen und in vollem Umfang vertrauenswürdig sind. Aber da muss man eben auch dem eigenen Kompass folgen.

Was sind Yidam-Praktiken? Ein einfaches Beispiel ist, wenn du dich selber als Tschenresig visualisierst und damit intensiv praktizierst. Es gibt Praktiken mit Buddha-Aspekten, wo man sich selber als solcher visualisiert und das den ganzen Tag über, vier Sitzungen zu drei Stunden mit wirklich intensiver Praxis über Wochen, Monate sogar Jahre. Da das eine intensive Praxis mit den eigenen Emotionen, Identifikationen, der eigenen

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Sichtweise ist, braucht man jemanden, der so ein bisschen die Leitplanke, die Sicherung darstellt für unseren Weg. Chakren Wird im Buddhismus auch von den verschiedenen Körpern wie physischer, energetischer, ätherischer Körper, von Chakren gesprochen. Ich bin nicht in der Lage, für Theravada und Zen-Buddhismus zu sprechen, aber ich kann für den tibetischen Buddhismus antworten. Im tibetischen Buddhismus sprechen wir nicht nur vom physischen Körper sondern auch vom Energiekörper, wobei es verschiedene Stufen der Subtilität gibt. Wir sprechen auch von Chakren, von fünf, sechs oder sieben Chakren, die mehr oder weniger an denselben Orten sind wie auch im hinduistischen System. Wir arbeiten mit den Chakren, aber ohne sie normalerweise zu erwähnen. Das heißt, man braucht nichts von den Chakren zu wissen, damit sie sich harmonisieren, öffnen, ausgleichen, entwickeln. Es reicht, wenn wir mit den mit ihnen verbundenen Qualitäten arbeiten, z.B. ist es ganz natürlich, dass ein Großteil der Arbeit, wo wir uns auf Liebe und Mitgefühl ausrichten, mit dem Herzchakra stattfindet. So ist es auch mit vielen anderen Qualitäten. Ganz automatisch wird unser Energiesystem angesprochen und die Praktiken führen zu einem harmonischeren Fließen der Energien. Wir sprechen ganz selten über die Chakren, einfach auch deswegen, weil die meisten – auch ich – die Chakren nicht sehen können, und dann macht es keinen Sinn, darüber zu sprechen, weil es nicht im Bereich der persönlichen Erfahrung liegt. Es ist dann nicht unbedingt förderlich, damit so viel Zeit zu verbringen. Man arbeitet damit ja bei jeder Niederwerfung, wo man die 3 Chakren berührt oder wenn man sie mit OM AH HUNG, anspricht. Wir brauchen also nichts weiter zu tun, als es einfach so auszuführen, so zu üben und die Stimulation der Chakren findet von selbst statt. Wir brauchen dazu kein zusätzliches Wissen. Vertrauen in Buddha –Vertrauen in Gott Ist es inkompatibel, gleichzeitig Vertrauen in Gott und in Buddha zu haben? Ich fühle mich zu beiden hingezogen und damals, als ich im Algerienkrieg im Einsatz war, habe ich zwei ganz starke Erfahrungen gehabt. Ich habe durch meine Gebete an Gott Gnade erfahren. Ich habe selber keinen Schuss abgeben müssen und wurde auch nicht verletzt. Ich habe vor dreißig Jahren in der Nacht eine LichtErfahrung gehabt, und es ist nicht dieser persönliche Gott. Mitten in der Nacht, als ich in tiefster Verzweiflung war, hat mich dieses Licht aus dem Bett auf den Bretterboden geworfen und ich war von unermesslicher Liebe erfüllt. Es hat nicht lange gedauert, aber da war ein totales Akzeptieren. Einerseits war da diese Neurose – ich selbst mit meinem neurotischen Gesicht – und eine Sicht voller Liebe, wo es immer nur dieses annehmende Ja gesagt hat. Das hat vielleicht 20 Sekunden gedauert, vielleicht auch eine Minute. Ein Jahr später hat sich das noch einmal wiederholt. Aus dieser Erfahrung, die ich mitten im Krieg hatte, ziehe ich Inspiration für meine Tschenresig-Praxis. Ich kann dich nur darin unterstützen, diese Inspiration weiter für deine Praxis zu nützen. Möge dir das als Inspiration dienen. Diese grenzenlose, bedingungslose Liebe ist tatsächlich das, was die Liebe von Tschenresig ist, die Liebe aller Buddhas, die Liebe aller erwachten Meister und diese Meister bzw. diese Dimension hat nichts dagegen, wenn man sie auch mit dem Namen ‚Gott’ bezeichnet. Namen spielen dabei keine Rolle. ***

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Wir haben bereits die ersten beiden heilsamen Faktoren gesehen: Vertrauen und Gewissenhaftigkeit. Vertrauen entspricht der Kraft, die hinter der Zuflucht steht, Vertrauen gibt unserem Leben die innere Ausrichtung. Gewissenhaftigkeit und diese feine Achtsamkeit, mit der die Handlung begonnen wird, die diese begleitet und mit der sie nachher betrachtet wird, bewirken, dass wir alles Vortreffliche in der Welt und jenseits der Welt der Ich-Bezogenheit verwirklichen können.

13) Flexibilität ist, Körper und Geist arbeitsfähig zu machen, um sie für Heilsames anspornen zu können. Sie überwindet das Eintreten in negative Zustände. Diese Flexibilität macht Körper und Geist arbeitsfähig, macht sie geschmeidig, anpassungsfähig, einsatzbereit. Natürlich geht es in erster Linie um den Geist, und Flexibilität bedeutet hier das Gegenteil von Widerständen, von Blockaden. Wir haben das Vertrauen, d.h. wir kennen die Richtung, in die wir wollen. Wir haben die Gewissenhaftigkeit, alles umsetzen zu wollen, was in diese Richtung führt. Was könnte uns jetzt aufhalten? Das sind Widerstände und Blockaden, die das verhindern. Da braucht es Flexibilität, die sich mit Gewissenhaftigkeit verbindet, sodass wir mit dem was ist, sinnvoll, hilfreich umgehen können und die auftauchenden Schwierigkeiten tatsächlich bewältigen können. Ein rigider Geist ist dazu nicht in der Lage, er wird an den auftauchenden Schwierigkeiten, Widerständen, Hindernissen hängen bleiben. Dieser Faktor Flexibilität, der sich darauf ausrichtet, das Heilsame umsetzen zu können, immer wieder zum Heilsamen zurückzufinden, das Heilsame zu stimulieren und im Geist leben zu lassen, bewirkt, dass wir nicht in negative Geisteszustände eintreten und uns nicht von ihnen gefangen nehmen lassen. Flexibilität überwindet die negativen Geisteszustände. – Negativ bedeutet hier all das, was unsere Widerstände sind, unsere emotionalen Verhaftungen, alles was in Richtung Nicht-Heilsames geht. Wenn wir Flexibilität hören, dann haben wir auch sein Gegenstück Starrheit oder Sturheit im Geist. Jemand, der in Samsara ist, in den Mustern von Ich-Bezogenheit mit all den vielen, vielen einhergehenden Anhaftungen und Identifikationen lebt, ist wie auf Gleisen. Er ist in seinen Reaktionsmustern vorhersehbar, wir brauchen nur die richtigen Knöpfe zu finden. Wir drücken auf die Knöpfe und die vorhersehbare emotionale Reaktion wird eintreten, weil die inneren Mechanismen anspringen. Es ist keine Flexibilität da, die ein anderes Reagieren ermöglichen würde. Dieser Mensch kann nicht ausweichen, er schafft es nicht, sich nicht zu identifizieren. Wenn wir die Identifikation berühren, kommt es zu einer vorhersehbaren emotionalen Reaktion. Dieser Mensch ist wie gefangen in seinen Mustern. Das nennt man den Mangel an Flexibilität oder die Starrheit der emotionalen Muster. Wenn wir von Flexibilität sprechen, bedeutet das, dass der Druck auf die alten Knöpfe keine Reaktion mehr auslöst, da ist keine Identifikation mehr dahinter. Der Knopfdruck geht ins Leere, weil das Anhaften sehr viel schwächer geworden ist. Es besteht die Möglichkeit auszuweichen, eine andere Sichtweise einzunehmen, eine andere Haltung oder einfach die Dinge so sein zu lassen wie sie sind, ohne zu reagieren. Das ist die Flexibilität oder Geschmeidigkeit des Geistes, und damit können wir natürlich Unglaubliches vollbringen. Wir hätten nie gedacht, dass es uns möglich wäre, diese oder jene Aufgabe zu vollbringen. Mit der Geschmeidigkeit, der Flexibilität des Geistes passen wir uns immer wieder an die neuen Situationen an, finden Lösungen und verlieren unsere Ausrichtung nicht. Im Deutschen gibt es das Sprichwort: „Ein steter Tropfen höhlt den Stein“. Damit wird auf die Qualität des Wassers hingewiesen, das – obwohl so weich, so flexibel, im Grunde genommen stärker ist als Stein durch die kontinuierliche Ausrichtung. Wasser, das vom Berg herunter fließt, wird immer seinen Weg finden – um Felsen herum, über Felsen oder sogar unten drunter, selbst wenn wir Deiche bauen, wird es irgendwann überfließen und die Deiche mit der Zeit wieder einreißen. Das ist die Kraft des Wassers, ein gutes Beispiel für diesen Faktor der Geschmeidigkeit oder Flexibilität des Geistes. Eine kleine Aufgabe: Bitte visualisiert jetzt einen rosa Elefanten im Raum vor euch. – Geht das? Gut, das war die Flexibilität des Geistes, die das möglich gemacht hat.

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Zweite Aufgabe: Habt bitte für eine Minute keinen Gedanken. – O.k., ich glaube, da waren einige Gedanken… Diese Aufgabe, mit dem Geist für einen Moment nichts zu tun, zeigt, was eigentlich auch mit Flexibilität gemeint ist. Der Geist ist so geschmeidig, dass er auch aufhören kann, etwas zu tun. Er ist nicht zwanghaft. Jede Zwanghaftigkeit des Geistes ist Mangel an Flexibilität. Wenn ich zwanghaft denken muss und immer denken muss, dann ist das schon ein Mangel an Flexibilität. Es geht nicht nur darum, den Strom der Gedanken immer auf etwas Intelligentes auszurichten, sondern es geht auch darum, einfach mal aufhören zu können. Genauso wie es mit dem Körper darum geht, auch einfach mal still sitzen zu können, ohne sich immer bewegen zu müssen. Diese vollständige Flexibilität des Geistes ist schlussendlich für das Erwachen so wichtig. Es ist wichtig, dass wir nach eigenem Erwägen tun können und lassen können, dem folgend, was uns Weisheit, Liebe und Mitgefühl für sinnvoll erscheinen lassen. Ausgeprägte, große Flexibilität ist zu finden, wenn jemand – obwohl von jemand anderem, der wütend ist, persönlich angegriffen – in Gleichmut bleiben kann, oder Liebe und Mitgefühl meditieren kann, oder das praktizieren kann, was am sinnvollsten erscheint, in völliger innerer Freiheit. Das ist Geschmeidigkeit des Geistes, und da kann man nicht mehr davon sprechen, dass auf Knopfdruck etwas Vorhersehbares passiert. Speziell mit den Methoden des Vajrayana – mit den Methoden der Visualisation, des Rezitierens von Gebeten, dem Aussprechen von Wünschen – üben wir ganz gezielt diese Flexibilität. Wir würden normalerweise über alles Mögliche Ich-Bezogene nachdenken, aber wir lenken den Geist bewusst in die Visualisation hinein, in die reine Sichtweise. Wir nutzen die Rede, die normalerweise ich-bezogen sein würde, für das Sprechen von Gebeten, von Mantras. Genauso auch mit dem Körper: Wir machen Verbeugungen, wo eigentlich unser Körper in Ich-Bezogenheit verharren würde. Jede Dharma-Praxis führt zu Flexibilität des Geistes, zu Geschmeidigkeit. Auch die stille Meditation übt uns in Geschmeidigkeit des Geistes, z.B. nicht auf körperliches Unwohlsein zu reagieren. Wir haben kleine Schmerzen hier und dort, reagieren aber nicht sofort mit dem Körper. Oder wir steigen mit dem Geist nicht auf Gedanken ein, die uns normalerweise interessieren und zu Gedankenketten führen würden, und entspannen. Auch diese Fähigkeit zum Entspannen ist Teil des Übens in Flexibilität des Geistes. Man kann jedes Beispiel nehmen, jede Form der DharmaPraxis übt diesen Faktor Flexibilität. Wenn wir unsere Lehrer anschauen, die großen Meister, dann können wir dieses außergewöhnliche Ausmaß an Flexibilität, an Geschmeidigkeit des Geistes, an Anpassungsfähigkeit wahrnehmen. Trotz aller Schwierigkeiten, die ihnen zugetragen werden, bleiben sie stets mit einer enormen Geschmeidigkeit im Heilsamen und sind ganz stabil darin. Denn diese Flexibilität, von der wir hier sprechen, ist nicht etwa eine Flexibilität um den eigenen, persönlichen Interessen möglichst gerecht zu werden und persönliche Vorteile zu ergattern. Es ist die Flexibilität des Geistes, der sich auf das Heilsame ausgerichtet hat und im Heilsamen verweilt, ohne sich davon abbringen zu lassen. In dieser Flexibilität, Geschmeidigkeit, wird der nächste Faktor, der vierte Faktor aufscheinen: großer Gleichmut. Wir finden diesen Faktor des Gleichmutes bereits in der Flexibilität, denn was uns so flexibel macht, ist, dass wir diesem kleinen Ich mit seinen Wünschen und den Hindernissen, die auftauchen, nicht solche Wichtigkeit beimessen. Wir bleiben unbeeindruckt von den Herausforderungen des Lebens, und das macht den Geist flexibel. Wenn wir den Dingen eine große Wichtigkeit beimessen würden, wären wir wieder im Starrsinn, wären wir wieder in der Rigidität. Es ist also eine innere Ausgeglichenheit, die beibehalten wird.

14) Gleichmut ist, den Geist frei von Anhaftung, Abneigung und Verblendung natürlich ruhen zu lassen. Er bewirkt, nicht aus emotionaler Verblendung zu handeln. Im Gleichmut bleibt der Geist frei von Anhaftung, frei von Abneigung und frei von Verblendung – von diesem Mangel an Gewahrsein. Dieses Freisein von den drei grundlegenden Geistesgiften macht den Geist auch so flexibel. Es ist der Geist, der frei von diesen drei Geistesgiften natürlich ruht, d.h. er wird nicht aufgewühlt von diesen dreien.

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Wenn wir in den Unterweisungen des Buddha von Gleichmut hören – von dieser Fähigkeit ruhig, unaufgewühlt zu bleiben – dann sollten wir damit immer auch Weisheit assoziieren. Denn was bewirkt, dass wir nicht anhaften, ablehnen und in Verblendung leben, ist Weisheit, ist das Verständnis, dass es nur Spannung bringt, am Angenehmen zu haften und das Unangenehme wegstoßen zu wollen. Und es ist auch die Weisheit, die uns nicht in Verblendung über die wahre Natur der Dinge sein lässt. Weisheit, das Gewahr-Sein dessen, wie die Dinge sind, bewirkt die Fähigkeit loslassen zu können. Weises Loslassen von dem, was Leid erzeugt, bewirkt genau die Flexibilität, von der wir gesprochen haben und diesen Gleichmut. Das ist die Fähigkeit, die hinter beiden steht. Nicht zu verstehen, dass Anhaften, Ablehnung und Verblendung Anspannung erzeugen, bewirkt einen starren Geist, einen vorhersehbaren, oft gefangenen Geist. Es zu verstehen und dadurch loslassen zu können, bewirkt zugleich Flexibilität und Gleichmut. Dieser Faktor des Gleichmutes bewirkt, nicht aus emotionaler Verblendung zu handeln. Wenn emotionale Regungen auftauchen, dann folgen wir ihnen im Gleichmut nicht, weil wir dem Ich und den Inhalten dieser Emotionen, den Objekten dieser Emotionen nicht diese Bedeutung beimessen. Dadurch bleibt es bei der Entspannung. Wenn wir uns genau anschauen, was denn nun diesen Gleichmut ausmacht, so ist das unser Funktionieren mit dem 2. und 3. Skandha. Wenn wir Empfindungen – was wir hören oder sehen, was uns gesagt wird, was wir erfahren, was wir am Körper spüren – als zutiefst unangenehm einschätzen oder wenn wir unterscheiden: „Das darf so nicht sein, es sollte anders sein.“ oder „Das ist eine Gemeinheit.“ Wenn solche starken Bewertungen stattfinden, dann wird auch unsere Emotion stark sein. Wenn wir diese Bewertungen entspannen können und Empfindungen als Empfindungen wahrnehmen und nicht als meine Empfindungen, und wenn wir Unterscheidungen zwar wahrnehmen, ihnen aber nicht diese Bedeutung beimessen, dann können wir gleichmütig bleiben. Dann bleibt unser Geist entspannt. Emotionale Verblendung bedeutet das Denken in Ich und mein. Der wesentliche Faktor an emotionaler Verblendung ist Ich-Bezogenheit. Wenn wir die Situationen unseres Lebens aus der Perspektive der Ich-Bezogenheit erleben und bewerten, dann sind wir in Identifikationen gefangen und werden unseren Gleichmut verlieren. Wir haben gesehen, dass Flexibilität und Gleichmut recht eng zusammen gehören. Und das macht auch den Unterschied aus zwischen dem Faktor Flexibilität hier und der Flexibilität, die wir bei Menschen feststellen, die sich recht geschickt auf neue Situationen einstellen können, aber trotzdem emotional aufgewühlt sind. Der Faktor Flexibilität ist mit einem ruhigen, ausgeglichenen Geist verbunden. Es ist nicht die Flexibilität, die von einer Situation zur anderen springen kann. Tiefe Ruhe im Geist ist die eigentliche Flexibilität. Die nächsten beiden Faktoren gehören wieder zusammen, Respekt auf sich selbst bezogen und Rücksichtnahme, die sich auf andere bezieht, allgemein menschlicher Respekt.

15) Selbstrespekt bewirkt, aus sich selbst heraus oder aufgrund des Dharmas selbst geringe schädliche Handlungen zu unterlassen. Er ist die Stütze für Gelübde in Bezug auf fehlerhaftes Verhalten. Ein Beispiel für Selbstrespekt: Jemand kommt in ein Zimmer, in dem ein 50-Euroschein liegt, und obwohl er ganz alleine ist, nimmt er diesen 50-Euroschein nicht an sich, sondern kümmert sich darum herauszufinden, wem der wohl gehören könnte, so dass ihn die Person, die ihn verloren hat, wieder bekommen kann. Dieses Handeln geschieht aus Respekt vor sich selbst, es ist der innere Anstand, eine innere Verpflichtung der grundlegenden menschlichen Ethik gegenüber und dem Dharma gegenüber. Dharma hier im Sinne von dem, was wir als zur Befreiung führend erkannt haben. Selbstrespekt unterstützt das Unterlassen von schädlichen Handlungen. Das kann sich auch durch Gelübde ausdrücken. Er bewirkt, dass wir schädliches Handeln auch unterlassen, wenn wir ganz alleine sind und es nie jemand anders erfahren würde. Wir sind z.B. ganz allein irgendwo in der Natur, im

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Wald, wo auch immer, und handeln entsprechend unserer eigenen inneren Ethik, wir bleiben bei dem, wozu wir uns entschlossen haben.

16) Rücksichtnahme bewirkt, aufgrund von weltlichen oder anderen[Personen] – verwirklichten, edlen Personen, die uns kritisieren könnten – selbst geringe schädliche Handlungen zu unterlassen. Es ist also ein Unterlassen von schädlichen Handlungen mit Rücksicht auf die Gruppe, auf die Gemeinschaft, mit Rücksicht auf den Blick und die berechtigte Kritik von Meistern – von Menschen, die für uns eine wirkliche Referenz darstellen. Oder es ist das Unterlassen von schädlichen Handlungen mit Rücksicht auf so genannte weltliche Menschen, die betroffen sein könnten. Das bezieht sich darauf, schädliches Handeln zu unterlassen, das beobachtet wird, wenn man in einer Gruppe ist, oder zu zweit, bzw. in einer ganz kleinen Gruppe. Manchmal bezieht es sich auch auf Handlungen, die man alleine ausführt, die aber anderen zur Kenntnis kommen könnten und dann entsprechend zu berechtigter Kritik führen. Anders ausgedrückt: Im ersten Fall wird das Handeln unterlassen aufgrund von Respekt für die eigenen Werte, aus Respekt für sich selbst und im zweiten Fall aus Respekt für die Gemeinschaft, aus Respekt für die Werte, die allgemein anerkannt werden. Bei diesen beiden Faktoren ist wirklich wichtig, sie so wie hier zu übersetzen, als Respekt und Rücksichtnahme, denn es handelt sich nicht um Scham oder Schuldgefühle, wie es in früheren Übersetzungen hieß. In unserer Gesellschaft sind wir vielen Formen von Schuldgefühlen und Gefühlen von Scham, die nichts mit dem zu tun haben, was hier mit den beiden Formen von Respekt gemeint ist, ausgesetzt und tragen sie mit uns herum. Es ist klar, dass wir uns aus Respekt für andere, für die Normen unserer Gesellschaft in der Öffentlichkeit nicht ausziehen. Aber das ist aus Respekt anderen gegenüber und nicht, weil wir uns etwa unseres Körpers zu schämen hätten. Wir brauchen uns auch nicht zu schämen, dass wir uns vielleicht nicht so gut ausdrücken können, dass wir die Worte nicht so gut wählen können. Wir brauchen uns nicht zu schämen für Dinge, die wir vielleicht nicht so perfekt tun können. All das hat überhaupt nichts mit dem Punkt hier zu tun. Es handelt sich um ganz grundlegende Formen des Respekts für Werte. Wichtige Werte, die ein Zusammenleben unter Menschen und auch mit anderen Lebewesen möglich machen. Die vielen Schuldgefühle, die wir mit uns tragen und die gar nicht mit schädlichem Handeln zu tun haben, sondern wo wir uns fast schuldig fühlen zu existieren, einfach so zu sein wie wir sind oder uns schuldig fühlen, dass wir jemanden nicht verstehen können, dass wir anderen nicht helfen können, all diese Formen von Schuldgefühlen sind hier nicht gemeint. Die würden als neurotische Scham und als neurotische Schuldgefühle unter den nicht-heilsamen Geistesfaktoren eingeordnet werden, weil sie den Weg des Erwachens blockieren. Dieser grundlegende menschliche Respekt erstreckt sich auch auf Tiere und unsichtbare Lebewesen. Er beinhaltet diese ganz grundlegende Form von Respekt des Lebens des anderen, des Rechts auf Leben – also nicht das Leben zu nehmen. Es ist auch Respekt vor der Identifikation des anderen gemeint, z.B. respektieren wir den Besitz anderer. Wir haben Respekt vor aufrichtiger Rede, dass man Aussagen vertrauen kann. Wir haben Respekt vor bestehenden Beziehungen. Es geht um diese vielen Formen von Respekt, die notwendig sind, damit in einer Gemeinschaft ein heilsames Klima herrscht. Darum geht es, und das ist absolut notwendig dafür, dass wir alle den Weg des Erwachens gehen können. Diesen grundlegenden Respekt brauchen wir, damit der Geist überhaupt Frieden finden kann, dass er sich entspannen kann, dass er nicht in Sorge ist, dass er nichts zu verheimlichen hat. Auf dieser Basis entsteht geistige Ruhe, und auf der Basis von geistiger Ruhe entsteht tiefe Einsicht. Rücksichtnahme und Respekt sind also notwendige Voraussetzungen, um den Weg des Erwachens zu gehen.

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Fragen und Bemerkungen der Teilnehmer Ich bemerke an mir emotionale Reaktionen Menschen gegenüber, die Tiere töten. Meine erste Reaktion ist immer Ablehnung, auch wenn ich weiß, dass das nicht richtig ist. Ich sollte die Person gleichmütig akzeptieren wie sie ist, ich kann sie durch mein Verhalten ja doch nicht ändern. Ich wollte das einfach mit euch teilen, weil ich so starke Emotionen habe, wenn jemand ein Tier tötet. Bezüglich tugendhaftem Verhalten habe ich oft beobachtet, dass man sich mit so einem tugendhaften Verhalten einkleidet und nach außen so völlig tugendhaft auftritt, aber unten drunter irgendwo alles ziemlich faul ist. Diese Fäule, die da untendrunter steckt, gibt dieser Tugendhaftigkeit eine ganz eigenartige Farbe, die letztlich sichtbar ist, die aber von der Person selber – da sie eben ein total tugendhaftes Verhalten nach außen anlegt – nicht wahr genommen wird. Da besteht eine große Gefahr. Ich ermutige jeden, sich das zu Herzen zu nehmen.

Schuldgefühle über Entspannung Ich sehne mich mein ganzes Leben lang nach Momenten des Nichtstuns, der Entspannung und habe immer wieder Schuldgefühle, mir diese Entspannung zu gönnen, weil ich eigentlich doch was anderes machen müsste, um mein Leben zu verdienen. Ich kann dich nur ermutigen, dass du dir jetzt, wo du in Rente bist, einfach wirklich diese Momente gönnst. Aus der Entspannung heraus kannst du dann OM MANI PEME HUNG rezitieren und einfach den Menschen hilfreich sein, die dir begegnen.

Respektieren – Einverständnis? Wie sieht es denn mit den Grenzen von Flexibilität, Respekt und Annehmen aus? Z.B. ich bekomme mit, dass Nachbarn ihre Kinder misshandeln. Wie sieht es da mit Akzeptanz und Respekt für die anderen aus? Dieses Missverstehen der Begriffe des Annehmens und Respektierens passiert recht häufig. Damit geht so oft eine Assoziation einher, als würden wir mit dem Handeln und Verhalten des anderen einverstanden sein. Den anderen anzunehmen und zu respektieren bedeutet aber nicht, gleichzeitig mit seinen emotionalen, verblendeten Verhaltensweisen einverstanden zu sein, wie z.B. wenn im Nachbarhaus Kinder misshandelt werden. Ich respektiere den anderen als Menschen und weiß, dass auch ich so wie der andere starke Emotionen in mir trage und dass es Situationen gibt, die ich nicht bewältige, wo ich ein schwerer Fall bin, könnte man sagen. Ich bin selber auch ein samsarischer Fall, um den man sich kümmern muss. Von daher sitzen wir alle im gleichen Boot. Wir suchen alle nach Glück und sind mehr oder weniger geschickt darin, diese Suche nach Glück umzusetzen. Ich behalte mir also bei allem Respekt und Akzeptieren des anderen und der Situation vor, mit offensichtlich nicht heilsamem Verhalten nicht einverstanden zu sein und alles zu tun, um die Situation zu verbessern. Was z.B. geschlagene Kinder in der Nachbarschaft angeht, behalte ich mir vor, tatsächlich die Polizei zu rufen, um die Kinder zu schützen oder aber – viele Schritte vorher – ein persönliches Gespräch zu suchen. Ich kann z.B. fragen, ob ich die Kinder nicht einmal zu mir nehmen kann, um eine gewisse Entlastung zu schaffen, und, und, und … Es sind viele Schritte möglich, um eine Situation zu entschärfen, um sie zu verbessern. Annehmen, akzeptieren und respektieren bedeuten nicht nichts zu tun, sondern sie sind die notwendige Voraussetzung für ein heilsames Intervenieren, für geschicktes Handeln.

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Heilen und Karma Zum Behandeln von Kranken, von Leuten die Symptome haben. Es gibt Heiler, die möchten die Person um jeden Preis heilen und andere sagen, dass die Person erst noch was lernen muss und man noch nicht eingreifen dürfe, es müsse erst noch ein Lernprozess stattfinden. Oder sie sagen, dass es ohnehin das Karma der Person ist, man soll besser gar nicht eingreifen, das Karma macht schon von selber seine Arbeit. Die Antwort ist eigentlich recht einfach. Es gehört zum Karma einer Person, dass sie krank wird, aber auch, dass sie in einem Umfeld krank wird, wo Heilung möglich ist, wo es Behandlungen gibt. Das gehört auch zum Karma. Deswegen sollten wir ganz einfach vorgehen: Wenn jemand krank wird, bieten wir alle Unterstützung an. Wir tun alles, was möglich ist, um zur Heilung beizutragen und brauchen uns keinen Kopf darum zu machen, ob die Person auch genügend aus dem Krankheitsgeschehen lernt, denn wenn das Karma sich noch nicht auflösen kann, dann wird es sich auch nicht auflösen – auch mit der besten Behandlung nicht – bis es innerlich verarbeitet wird. Diese Heiler, die um jeden Preis heilen wollen, sind meistens junge Heiler, die ihre Talente frisch entdecken und relativ viele, schnelle Erfolge haben. Da gilt es einfach abzuwarten, bis sie auf den Patienten stoßen, wo sie nichts ausrichten können, der quasi für sie unheilbar ist. Das wird sie eine gute Lehre lehren, sie werden bescheiden und merken, dass sie auch nicht allmächtig sind, dass sie nicht um jeden Preis jemanden heilen können. Jeder erfahrene Heiler geht mit relativ viel Rücksicht vor und weiß, dass man nichts forcieren kann. Man kann Prozesse unterstützen, man kann sie lenken, aber man kann niemanden einfach mit dem schieren Heilungswillen aus einer Krankheit herausholen. So einfach ist das! Ich denke, das ist einfach gesunder Menschenverstand.

Spiel mit Emotionen der anderen Wenn ich bei jemandem auf die emotionalen Knöpfe drücke und damit bei ihm gewisse Reaktionen auslöse: Kann das hilfreich sein oder ist das etwas, was man unterlassen sollte. Mit welcher Motivation machst du das? Wenn es mit der richtigen Motivation und auf geschickte Weise gemacht wird, kann es hilfreich sein. Aber das normale emotionale Spiel, aus der eigenen emotionalen Beteiligung heraus jemand anderen in Emotionen zu versetzen, das bringt überhaupt nichts. Das können wir sein lassen. Schlechte Arbeit – Mangel an Respekt Ist es mangelnder Respekt, wenn wir in der Lage sind, eine gute Arbeit zu machen aber die Arbeit dann nicht in der Qualität ausführen, zu der wir eigentlich in der Lage sind? Wir werden z.B. gebeten, eine Mauer zu bauen und bauen die Mauer soso lala und wissen, dass sie in nicht allzu langer Zeit wieder zusammenfallen wird. Dabei handelt es sich nicht um einen guten Dienst, deshalb ist das Mangel an Respekt für sich selbst und für andere. Wir brauchen auch nicht immer hundert Prozent perfekt zu arbeiten. Der wesentliche Punkt ist wohl, dass wir die Person, die uns bittet oder einen Auftrag gibt, fragen, wie die Arbeit ausgeführt werden soll, was sie bereit ist dafür zu geben und ob wir in der Lage sind, den Anforderungen der Person zu entsprechen. Es ist auch durchaus möglich, dass man einmal einfach nur ganz flott etwas hinstellt, weil es nur kurzfristig einen Zweck erfüllen muss und dafür keine gute Qualität nötig ist. Aber ansonsten sind wir es uns aus Selbstrespekt und aus Respekt für andere zumindest schuldig, klar zu kommunizieren, worum es geht, welche Qualität von Arbeit gewünscht wird und was von unserer Seite aus möglich ist, so dass es für alle Seiten klar ist. * * *

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Von den heilsamen Geistesfaktoren, die wir bisher gesehen haben, beschreiben die ersten vier – Vertrauen, Gewissenhaftigkeit, Flexibilität und Gleichmut – Qualitäten des Geistes, die uns ermöglichen, tatsächlich zum Erwachen zu gehen. Sie beschreiben, warum es möglich ist, dass dieser Geist erwachen kann. Die beiden folgenden Faktoren – Selbstrespekt und Rücksichtnahme auf andere – beschreiben die Grundlage einer klaren, inneren Basis von Respekt; Respekt für alles was lebt, für den Dharma, Respekt auch für die Anstandsregeln in der Gesellschaft, für das, was allgemeine Übereinkunft ist. Wir wollen mit unserem Verhalten nicht schockieren, sondern im Gegenteil den Weg finden, ohne dass das Ich aus Mangel an Respekt andere verletzt oder schockiert. Die Faktoren der nun folgenden Dreiergruppe werden mit Verneinungen ausgedrückt: Nicht-Begehren, Nicht-Hassen, Nicht-Verwirrtsein. Damit wird nicht direkt eine Qualität beschrieben, sondern die Abwesenheit der drei hauptsächlichen Geistesgifte, die für alles Leid, für alle Spannung, für alle Anspannung verantwortlich sind.

17) Nicht-Begehren ist, weder Existenz noch weltliche, materielle Dinge zu begehren. Es verhindert fehlerhaftes Verhalten. Nicht-Begehren ist die Abwesenheit von Anhaftung an Existenz und auch die Abwesenheit von Anhaftung an weltlichen, materiellen Dingen, die diese Existenz unterstützen oder auszeichnen. Anhaftung an Existenz ist hier sehr umfassend zu verstehen. Mit Existenz sind alle Existenzformen im Daseinskreislauf gemeint, alle samsarischen Existenzformen, angefangen von den Höllenwesen über die Hungergeister, die Tiere bis zu den Menschen und dann auch die Existenzformen der Halbgötter und Götter. Dieser Faktor beinhaltet, keinerlei Anhaftung an solche Existenzen, an solches Dasein zu haben. Dahinter steht aber noch mehr, und zwar den Wunsch losgelassen zu haben, sich seine Existenz zu beweisen, immer wieder die eigene Existenz zu bestätigen und neue Daseinsformen anzunehmen, sobald sich Körper und Geist getrennt haben, um wiederum auf jeden Fall klar als jemand Konkretes zu existieren. Es ist also im tiefsten Sinn ein Loslassen der Bestätigung eines Ichs durch Existenz, ein Loslassen unserer eigenen Existenzbestätigung. Wie tief das geht und wie unglaublich tief wir auch noch daran arbeiten müssen, wird uns klar, sobald wir in unserer Existenz gefährdet sind. Wenn ein Beinahe-Unfall, ein Angriff oder Verlust unser Leben bedroht, wehren wir uns aus dem Bauch heraus und kämpfen ums Überleben. Der Ausdruck von Nicht-Anhaften, von Nicht-Begehren bezieht sich auf diesen Impuls des Haftens an Existenz, auf den Wunsch, aus ich-bezogenen Gründen wiedergeboren zu werden. Dazu gehört als Vorbereitung und auch als Begleiterscheinung, dass sich auch das Haften an den Dingen, die zu diesen Existenzformen gehören, aufgelöst hat – das Haften am eigenen Körper, an Besitz, an Freunden und Familie, an unserer Umgebung, an bestimmten Daseinsformen, das Haften an Sinneserfahrungen, sich durch Sinneserfahrungen die eigene Existenz zu bestätigen. Es ist ein völliges Freisein von Haften an Dasein, da sein zu wollen, jemand sein zu wollen. Wir können es vielleicht so ausdrücken: Der Wunsch, jemand sein zu wollen, hat sich aufgelöst und die Identifikation mit all dem, was uns definiert, was für ein Jemand wir sind, auch das hat sich aufgelöst. Wenn der Geistesstrom frei ist von dem Wunsch, eine Existenz anzunehmen bzw. eine Existenz aufrecht zu erhalten und zu verteidigen, tut sich eine unglaubliche Freiheit auf. All diese Impulse, die auf Identifikation beruhen, sind erloschen, wenn dieses Nicht-Begehren vorhanden ist. Der Text sagt, dass dieser Faktor des Nicht-Begehrens fehlerhaftes Verhalten verhindert. Handlungen, die auf Ich-Bezogenheit aufbauen, führen zu Leid. Aus dem Haften an einem Ich und seiner Existenz entstehen alle anderen Geistesgifte. Wenn sich dieses tiefe Anhaften aufgelöst hat, dann ist wirkliche Freiheit da, dann ist es nicht mehr möglich, in nicht-heilsames Handeln zu gleiten.

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Unsere Praxis wird nicht notwendigerweise mit dem allertiefsten Punkt dieser Anhaftung, mit dem Auflösen des Haftens an Existenz an sich, beginnen. Sie beginnt eher in den Bereichen, wo uns schon ganz deutlich wird, dass Anhaften zu Leid, zu Stress, zu Spannung führt. Wir bemerken z.B., dass wir bei bestimmten Situationen an unserem Ansehen haften, daran, wie andere über uns denken; dass wir an Freunden und nahe stehenden Menschen haften, an Besitz, am Körper. Das merken wir. Vermutlich wird es uns aber dadurch noch nicht möglich sein, gleich loszulassen. Wir überlegen dann noch etwas genauer, wir schauen hin. Wir schauen uns die vergängliche Natur all dieser Objekte des Anhaftens an. Wir schauen uns an, wie sinnlos es ist, an ihnen festhalten zu wollen; wie unmöglich es ist, sie festzuhalten. Wir sehen, dass es sich tatsächlich um geistige Prozesse handelt, um Prozesse, in denen wir eine Identifikation aufbauen, die in der Wirklichkeit gar nicht besteht. Wenn sich Körper und Geist im Tod trennen, werden wir weder unseren Körper mitnehmen können, noch unseren Besitz, noch unsere Nächsten, noch unser Ansehen. All diese Dinge, mit denen wir meinten eins zu sein, mit denen wir uns identifiziert haben, sind gar nicht das Ich. Wir klären so unsere Beziehung zu diesen zeitweiligen Attributen unserer Existenz, unseres Daseins. Wir reduzieren aufgrund eines immer tiefer werdenden Verständnisses das Haften daran und damit auch die Spannung, die daraus entsteht, wenn in diesen Bereichen Schwierigkeiten auftauchen, wenn Veränderungen auftauchen, wenn Verluste und Gefahren entstehen. Auf diese Weise reduziert sich das Ausmaß unseres Anhaftens schon ganz enorm. Wenn wir auf diese Weise die Dinge richtig einschätzen, so bewirkt das natürlich, dass unser Gleichmut zunimmt. – Wir schätzen schöne Beziehungen so lange sie dauern, wir schätzen unseren Körper so lange er uns dient, wir schätzen es, wenn angenehm über uns gesprochen wird, aber wir wissen genau: „Das bin nicht ich. Das ist nicht das, was wirklich die Essenz meines Wesens ausmacht, das alles sind zeitweilige Attribute.“ Wenn wir da Entspannung hineinbringen, dann verstärken wir unseren Gleichmut. Nicht-Begehren, Nicht-Anhaften verstärkt den Gleichmut und befreit den Geist in eine sehr viel realistischere Sicht der Dinge. Nicht-Anhaften verstärkt Weisheit, verstärkt Einsicht. Wir werden freier und können die wirklichen Prioritäten dieses Lebens viel deutlicher erkennen. Wenn ihr diese Unterweisungen hört, kann es gut sein, dass ihr hie und da Stiche im Herzen verspürt, dass es eng wird und sich alles zusammenzieht. Wenn ich z.B. davon spreche, nicht so an geliebten Menschen anzuhaften oder sich nicht so mit seinem Körper zu identifizieren oder gar den Wunsch zu existieren loszulassen, da mag es sich ganz schön zusammenziehen. Und wenn wir dann daran denken, dass wir uns – selbst wenn das eigene Leben in Gefahr ist – aus Nicht-Anhaften am Leben nicht verteidigen sollten, dann steht uns das Wasser bis zum Hals. Das ist eine direkte Konfrontation mit dem, worauf unser ganzes Leben aufbaut. Ich bin mir dessen bewusst! Aber entspannt euch, der Weg der Praxis geht in kleinen Schritten. Wir fangen da an, wo wir selber ganz konkret merken, dass uns etwas nicht gut tut. Und dort lassen wir jeweils los, immer nur dort, wo wir selber merken, dass es uns nicht gut tut – es wird ohnehin nur dort Loslassen auftreten. Wo wir selber nicht überzeugt sind, besteht gar keine Gefahr, das Loslassen aufzugeben. Es besteht nicht die geringste Gefahr. Ihr seid durch euer Anhaften geschützt, das ist eine klare Barriere gegen allzu schnelles Erwachen. Wir könnten glauben, dass da jetzt ein unglaublicher Weg auf uns zukommt, wo wir anfangen mit ein bisschen loslassen hier und etwas weniger Anhaftung dort, dann da noch ein bisschen Entsagung, immer mehr Entsagung, bis wir uns irgendwann einmal mit unserer gewaltigen Entsagung ins Erwachen hochgestemmt haben. Aber das ist absolut nicht der Fall, es geht überhaupt nicht darum. Wir lassen die Ursachen des Leidens fallen, wie wir heiße Kartoffeln fallen lassen, weil wir uns sonst die Hände verbrennen. Es ist das Sehen, wie jedes Anhaften zu Leid führt, was unmittelbar zum Loslassen führt. Damit ist keine Anstrengung verbunden. Ihr braucht mir doch nicht zu sagen, dass es anstrengend ist, eine heiße Kartoffel fallen zu lassen. Das macht man doch automatisch, es ist das Loslassen von einer Anstrengung, die Kartoffel zu halten.

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Wir sind immer dabei, diese illusorischen Kartoffeln zu halten. Die größte Kartoffel, die wir halten, ist dieses Ich. Wir halten an diesem Ich fest, als ob es das geben würde. Aber wir brauchen gar kein Ich loszulassen, denn das hat es nie gegeben. Dieses stabile Ich hat es nie gegeben! Es ist Weisheit, zu sehen, dass da gar nichts ist, mit dem man sich identifizieren könnte, was eine Identifikation ermöglichen würde. Diese Weisheit führt zu jedem Schritt des Loslassens auf dem Weg. Das nennt man Nicht-Anhaften. Wenn wir erkennen, dass das, wo wir vorher dachten, dass da ein Ich wäre, dieses zeitlose Gewahrsein ist – was in einem ständigen Prozess spontanen Erkennens agiert, sich manifestiert, gerade wie es die Situation braucht – und dass es da gar kein Ich gibt: Ja, wer will sich denn da noch in einer Existenz als ein Ich manifestieren? Wir lassen einfach das zeitlose Gewahrsein sozusagen seine Arbeit machen. Wir lassen es unbehindert funktionieren, agieren, wie es ist. Man nennt das spontane Buddha-Aktivität. Wir brauchen uns da nicht mit unserem Anhaften einzumischen, um daraus eine beschränkte Existenz zu machen. Wenn man das wirklich sieht, so ist das Weisheit. Da gilt es nicht, Tausende von Anhaftungen loszulassen und auch noch dem Leben als Gott zu entsagen und dem Leben mit Menschen und lieben Freunden und Freundinnen zu entsagen. Nein! Es geht einfach darum zu erkennen, was ist. Das ist der Weg der Befreiung! Es geht darum, diese Klarheit des Geistes zuzulassen, aus der Klarheit wird verstanden, und wer versteht, haftet nicht mehr an. Die Buddhas sind also keineswegs die großen Helden der Entsagung, sondern sie sind Helden des Gewahr-Seins. Aus unserer Sicht, aus der Sicht derjenigen, die nicht loslassen wollen, kommt es uns vor wie eine Reihenfolge unglaublicher Taten, die dazu führen in solches Loslassen hineinzukommen. Aber aus der Sicht der Buddhas ist es ganz einfach, dessen gewahr zu sein, was Leid erzeugt und daran nicht mehr festzuhalten. Sie sind einfach nicht so dumm, an dem, was Leid erzeugt, festzuhalten. Wir jedoch sind noch so dumm. Das ist der Unterschied. Der Unterschied liegt zwischen dem Sehen, was die Ursachen des Leides sind und sie nicht mehr zu erzeugen und die Ursachen nicht zu sehen, sie weiterhin zu erzeugen und zu meinen, das wäre der Weg zum Glück. – Ist es aber nicht. Wenn also hier im letzten Satz dieser Definition gesagt wird, dass Nicht-Begehren, Nicht-Anhaften fehlerhaftes Verhalten verhindert, dann bedeutet das Verhalten, das zu Leid führt. Genau das ist damit gemeint, dass man nur noch das denkt, spricht, tut, was aus dem Leid heraus und in die Befreiung führt, in wirkliches Glück, in den Zustand des Erwachens.

18) Nicht-Hassen ist die Abwesenheit einer feindseligen Geisteshaltung gegenüber fühlenden Wesen oder schmerzlichen Dharmas (Erfahrungen). Es verhindert fehlerhaftes Verhalten. Mit Hassen, Ablehnen ist die Geisteshaltung gemeint, ein Lebewesen oder irgendeine Erfahrung im Leben nicht haben zu wollen. Am liebsten wäre uns, es würde überhaupt nicht mehr in unserer Erfahrung auftauchen, dieses Lebewesen wäre ausgeschaltet, aus unserer Erfahrungswelt vertrieben oder gar vernichtet, und das Objekt einer leidvollen Erfahrung wäre ebenfalls vernichtet, wäre einfach nicht mehr vorhanden. Das ist ein zerstörerischer, aggressiver Impuls in der Ablehnung, wir sind ärgerlich. Wenn wir ehrlich sind, würden wir dann am liebsten nichts damit zu tun haben: „Raus damit, am besten erledigen, damit es ja nie wieder auftaucht.“ Das wäre unsere „Idealvorstellung“, wenn wir ärgerlich sind. In kleinen Situationen des Lebens – z.B. es gibt Geräusche im Haus – zeigt sich sehr schnell, was für ein Potential an Aggressivität in uns steckt. Es wird sehr schnell aggressiv in uns, wenn andere nicht schweigen wollen, wenn wir unseren Mittagsschlaf oder Ruhe haben wollen, oder wenn wir es nicht schaffen, störende Geräuschquellen im Haus abzustellen. Dann kommen wir unter Spannung, und diese Spannung ist dieses aggressive Potenzial. Deswegen hat der Buddha diesen starken Ausdruck von Hass oder von Aggressivität gebraucht.

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Wo Nicht-Hassen, Nicht-Ablehnen oder Freisein von Aggressivität ist, da ist Akzeptanz, Toleranz von dem was ist, ein Annehmen der Tatsache, dass da leidvolle, schmerzhafte Erfahrungen im Leben sind. Auch bei diesen Faktoren des Nicht-Hassens, der Nicht-Aggressivität könnte man denken, dass es um unglaubliche Anstrengungen geht, um zu solcher Akzeptanz und Toleranz zu finden. Eigentlich ist es aber dasselbe wie mit dem Faktor zuvor: Es geht um Identifikation. Wir identifizieren uns mit einem Leben so wie wir es uns vorstellen, dann passiert jedoch etwas, was anders ist. Das provoziert die Anschauung, wie mein Leben zu sein hat, wie meine Erfahrung sein soll. Innerlich haben wir das Gefühl: „Und das mir! Das passiert mir!“. Das zeigt, mit welch starken Identifikationen wir leben, in Hinblick auf angenehme wie auch auf unangenehme Erfahrungen. Es ist absolut dieselbe Identifikation. Wenn wir dann merken, dass die Objekte unserer Ablehnung von zeitweiliger Natur sind, dass sie einfach nur für gewisse Zeiten in diesem Leben auftauchen und sich auch wieder auflösen; dass sie an sich keine Substanz haben, dass sie auch nicht diese außerordentliche Wichtigkeit im eigenen Leben haben, dann relativiert das schon einmal die Objekte. Wenn wir darüber hinaus noch erkennen, dass es auch das Subjekt gar nicht gibt, das sich da aufregen muss, das sich verteidigen muss, das um seine Existenz besorgt sein muss. Wenn wir wiederum dieses zeitlose Gewahrsein erkennen, dann lösen sich Subjekt und Objekt als Illusionen auf. Sie werden erkannt als das, was sie wirklich sind, als vorübergehende Projektionen des Geistes. Wieso dann noch kämpfen, wieso im Kampf eines Ich gegen die Erscheinungen sein? Die Erscheinungen der Welt werden nie so sein, wie wir uns das in unseren Wünschen, Hoffnungen, Anhaftungen, Identifikationen vorstellen. Wir sind, wenn wir nicht anhaften und nicht ablehnen, frei von Kampf. Der Geistesstrom ist nicht mehr im Kampf mit der Welt und damit in Freiheit. Wer kämpft, wer sich auflehnt gegen die Erscheinungen, ist unfrei. Wenn wir aus einer entspannten Perspektive, d.h. ohne Anhaftung und Ablehnung, in der Welt sein können, dann erst wird es uns möglich, die Natur der Dinge wirklich zu erkennen – zum einen die Natur der Erfahrungen und dann auch die anderen Merkmale dieser Erfahrungen, die uns entgehen, wenn wir in der Vision der Ablehnung sind. Beim Ablehnen werden ja die unangenehmen Erfahrungsanteile aufgebläht, sie werden viel, viel stärker, sie werden vergrößert und alles andere verschwindet. Um in einer Situation wirklich weise hilfreich sein zu können, braucht es eine gleichmütige Betrachtung, die zugleich auch noch die Natur der Erscheinungen kennt. Das ist dann das Gewahrsein der Erwachten, das dynamisch ist, aus sich heraus tut was notwendig ist, um in einer Situation hilfreich zu sein. Diejenigen also, die nicht im Hassen, in der Aggressivität, in Ablehnung sind, werden sich nicht auf fehlerhaftes Verhalten einlassen. Sie werden keine weiteren Ursachen von Spannung und Leid erzeugen und damit aussteigen aus dem Kreislauf, in dem Leid erneutes Leid erzeugt. – Ablehnung von Leid erzeugt weitere Anspannung und weitere angespannte Gedanken, Worte und physische Handlungen.

19) Nicht-Verwirrtsein ist, durch eingehendes Untersuchen in Bezug auf die wahre Bedeutung nicht verblendet zu sein. Es verhindert Fehler. Der dritte Faktor dieser Serie ist das Nicht-Verwirrtsein, die Abwesenheit von Täuschung. Wenn wir dieses Nicht-Verwirrtsein untersuchen, dann geht es um eine Klarheit des Verständnisses im Hinblick auf die Wahrheit an sich, die wahre Natur aller Erscheinungen, all dessen, was es zu erleben gibt. Es wird erkannt, dass – was auch immer für Objekte der Wahrnehmung auftauchen, was für Erfahrungen auftauchen – es sich immer um einen Prozess handelt. Immer handelt es sich um Phänomene, die im Wandel sind, die keine fixe Identität haben, keinen stabilen Wesenskern. Wir sehen, dass jede Erfahrung im Geist stattfindet und dass die Art, wie das Bewusstsein mit Erfahrung umgeht, die Wirklichkeit gestaltet. Wir sehen, dass die Wirklichkeit davon abhängt, wie mit ihr umgegangen wird; dass sie immer in ihrer Natur leer, d.h. illusorisch ist, ohne Wesenskern; dass auch der Erfahrende, die Erfahrende selbst ohne Wesenskern ist, ein dynamischer Prozess.

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So ist der Geistesstrom in der Wirklichkeit selbst, es gibt keine Diskrepanz mehr zwischen dem, was ist, und dem, was man darüber denkt, oder was angenommen wird. Anschauung und Wirklichkeit sind eins geworden, und deswegen kommt es nicht mehr zu Fehlern. Es kommt nicht mehr zu Fehlern in Annahmen über die Wirklichkeit, es kommt nicht zu Fehlern im Sprechen, es kommt nicht zu Fehlern im Handeln. Das ist das Ende der Diskrepanz von Vorstellung und Wirklichkeit. Das ist das Ende der drei Geistesgifte. Wenn diese drei Faktoren abwesend sind, dann sind zur gleichen Zeit alle anderen Faktoren anwesend, die durch diese drei ausgebremst werden. Wenn wir uns vorstellen, was alles zum Vorschein kommt, wenn Anhaften, Ablehnen und Verblendung – Begehren, Hass und Dummheit, Täuschung – abwesend sind, dann ist das die gesamte Liste von erwachten Qualitäten: Liebe, Mitgefühl, Freude, Dankbarkeit, Geduld, Freigebigkeit, Weisheit, … was auch immer. Solange euch Qualitäten einfallen, sie können dieser Liste angefügt werden. Es ist sehr viel einfacher zu sagen „Abwesenheit dieser drei grundlegenden Geistesgifte“, der Rest ergibt sich daraus von selbst. Das zum Vorschein-Kommen der verdeckten, verhinderten Qualitäten unseres Geistes ist ein natürlicher Prozess, wenn die blockierenden Faktoren abwesend sind. Dann wird das aktiv, was natürlicher Ausdruck eines entspannten Geistes ist. Ein einfaches Beispiel aus der eigenen Erfahrung macht uns klar, wie es mit diesen Qualitäten ist: Wenn wir entspannt sind – und das sind wir ja, wenn die Faktoren Anhaften, Ablehnen und Täuschung aufgelöst, nicht vorhanden sind – dann sind wir frei von Stress, frei von Anspannung. Dann kommt Freude auf, der Geist wird leicht. Dieser leichte Geist, das leichte Herz teilt mit anderen ohne anzuhaften, ohne was zu wollen. Es entsteht Vertrauen, wir sind angstfrei, alles kommt ganz von selbst. Man braucht es gar nicht extra zu erzeugen, es ist einfach da. Respekt ist natürlicherweise auch da, alle natürlichen Qualitäten des Geistes kommen von selbst zum Vorschein.

Meditation: Meditieren frei von Anhaften. – Wie fühlt sich das innerlich an? – Ohne Identifikation. – Ohne Anstrengung. – In den Meditationsunterweisungen, nennt man das manchmal Nichtmeditation. – Da ist niemand, der meditiert; kein Meditierender und keine Meditation, ungekünstelt. – Man nennt es auch natürliches Sein. – Wir nennen es auch selbst-gewahres Bewusstsein. – Frei von Hoffnung und Furcht. – *** Das ist ganz einfach: Abwesenheit von Begierde, Abwesenheit von Hass bzw. Abneigung und Abwesenheit von Verwirrung, Täuschung. Wenn der Buddha von Nicht-Begehren, Nicht-Hassen, Nicht-Verwirrtsein sprach, dann hat er uns all das gezeigt, was nicht ist – das ist es nicht, das fällt auch weg, das fällt weg, keine Identifikation, keine Hoffnung, keine Furcht, keine Anstrengung. Damit hat der Buddha alles weggefegt, und so entsteht ein nicht näher beschriebener Raum, der sich auch der normalen Beschreibung entzieht. – Und das ist es, worum es geht. Buddha lädt uns ein, in diesen Raum hineinzufinden. Diesen Raum nicht zu beschreiben, nicht zu benennen, ist das größte Geschenk, das man machen kann, denn er ist eigentlich nicht benennbar. Es gab Praktizierende, die diese Dimension für ein Nichts hielten, weil sie durch nicht dies und nicht jenes beschrieben wird. Sie dachten, dass das, was übrig bleibt, dann wohl ein Nichts ist. Aber es ist

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eine Fülle, und daraus ergeben sich dann doch die Beschreibungen dieses Zustandes mit Begriffen, wodurch diese Dimension aber nicht zu etwas Dinglichem wird, bloß weil z.B. der Begriff zeitloses Gewahrsein benutzt wird. So ein Begriff ist eigentlich ein Nichtbegriff. Die Begriffe, die benutzt werden, um diese Dimension zu beschreiben, sollen über die Begrifflichkeit hinaus weisen. Wenn man sie z.B. transzendente oder befreiende Weisheit nennt, dann ist das ein Begriff, der über normale Vorstellungen von Weisheit hinaus weist. Die Beschreibungen oder Benennungen dieser Dimension sollten uns nicht dazu verleiten, zu denken, dass diese Dimension erfassbar wäre; fassbar mit Worten, oder erfassbar in dem Sinn, dass ein Subjekt eine Erfahrung beschreiben kann. Es gibt in der Beschreibung des Erwachens keine Trennung von Subjekt und Objekt, Erfahrender und Erfahrenes sind eins, sie sind nicht getrennt. Darum gibt es auch keine Möglichkeit, das zu beschreiben. Beschreibung findet aus einer Distanz statt, das ist eine Spaltung. Diese Spaltung ist aufgehoben in der Erfahrung des Erwachens. Deswegen gibt es auch keine Begriffe, die das korrekt beschreiben können. Dieses Vorgehen – es ist nicht das, nicht jenes und auch nicht dieses – finde ich sehr hilfreich. Natürlich auch deshalb, weil wir in einer Tradition sind, wo dann doch die Fülle der Qualitäten, die sich da auftut, beschrieben wird. Aber ich sage es noch einmal: Eigentlich, ist es ein Geschenk unserer Lehrer, dass sie diesen Raum, der sich da auftut, nicht weiter beschreiben, weil sie uns sonst auf eine falsche Fährte setzten würden. Es bleibt eine Entdeckung, es bleibt das Sehen von etwas, was nicht zu entdecken oder nicht zu sehen ist. Es gibt dann auch niemanden, der es entdeckt. Es ist ganz wichtig, sich klar zu machen: Es gibt dann auch niemanden, der erwacht. Es gibt niemanden, der in der Erleuchtung ankommt. Das Ende allen Irrtums, das Ende eines gewaltigen Irrtums, nennt man das Erwachen. Es ist nicht so, dass irgendwas noch aus dem Irrtum ins Erwachen hinein käme und sich als erleuchtet erkennt. *** Lasst uns zu unserer Liste der heilsamen Faktoren zurückkehren. Die Faktoren dieser Liste beschreiben uns, was es braucht, um in dieser nicht beschreibbaren Dimension aufzugehen.

20) Nicht-Schaden-Wollen ist eine mitfühlende Geisteshaltung, die Teil von Nicht-Hassen ist. Sie bewirkt, anderen kein Leid zuzufügen. Nicht-Schaden-Wollen ist ein Unterpunkt von Nicht-Hassen und bräuchte eigentlich nicht separat aufgezählt werden. Es ist ein sekundärer Punkt, der in dem Faktor, den wir schon besprochen haben, voll enthalten ist. Nicht-Schaden-Wollen wird hier aber nochmals aufgezählt, weil es die Grundhaltung ist, die den Weg des Erwachens ermöglicht: sich und anderen keine Gewalt anzutun, eine mitfühlende Geisteshaltung. Es ist wichtig, sich selbst einzubeziehen. Das scheint zwar völlig logisch zu sein, aber manchmal vergessen wir, dass es auch darum geht, uns selbst keine Gewalt anzutun. In diesem Nicht-Schaden-Wollen finden wir nicht nur Mitgefühl sondern auch die eigentliche Quelle des Mitgefühls: Verständnis. Wir verstehen, was alles zu Leid beiträgt und inwiefern Gewalt den Kreislauf des Leidens immer weiter unterhält. Dieses Nicht-Schaden-Wollen, keine Gewalt anzuwenden, bedeutet im weitesten Sinne dann auch, nicht zu manipulieren. Manipulation enthält einen Faktor von Gewalt, Gewalt antun. Wenn wir unser Leben ganz und gar auf dem Fundament aufbauen, uns selbst und anderen kein Leid zuzufügen, nicht schaden zu wollen, dann haben wir eine total solide Basis für unsere innere Entwicklung, mit der wir ganz, ganz weit gehen können. Wenn wir alle Ursachen des Leidens für uns selbst und andere ausschließen können, wenn wir alle Gedanken, Worte und Handlungen, die Leid bewirken, unterlassen können, dann führt dies zu einer Verfeinerung unseres inneren Wahrnehmens,

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unserer Empfindsamkeit. Wir spüren dann auch, was gut tut – das ist ja das Pendant dazu – sodass allein dieser Faktor schon eine Revolution in unserem Leben bewirken kann. Indem wir so ganz fein hinschauen und dabei immer weiter untersuchen was eigentlich schadet, was zu Leid beiträgt, werden wir ganz empfindsam. Wir bekommen ganz empfindsame innere Antennen für all das, was Anspannung erzeugt. Wie wir durch unsere Gedanken, durch unsere Worte und unsere physischen Handlungen, Spannung um uns herum und in uns erzeugen und im Grunde genommen schaden, weil wir in Leid hineinführen. Das führt zu einer großen Verfeinerung in unserer Wahrnehmung und in unserem Verhalten. Das ist die Geburt von wirklichem Mitgefühl. Und wo Mitgefühl stark wird, entstehen all die anderen Qualitäten des Erwachens. Es gibt ein Sutra, in dem der Buddha dann fragt: „Wenn ich nur eine Qualität in meiner Handfläche hätte und diese Qualität wäre die Quelle aller anderen erwachten Qualitäten, welche wäre das?“ Die Antwort ist: Mitgefühl!

21) Freudige Ausdauer ist, sich mit freudvollem Geist für das Heilsame einzusetzen. Sie bewirkt, dass alles Heilsame in vollem Umfang verwirklicht wird. Freudige Ausdauer können wir auch gut mit Energie übersetzen. Es ist die Energie, heilsame Handlungen mit freudvollem Geist auszuführen. Es ist also eine geistige Haltung der Entschlossenheit, die freudig alle heilsamen Aktivitäten unterstützt. Diese freudige Ausdauer führt alle heilsamen Projekte, Anliegen bis zum Ende. Sie überwindet Faulheit, sie überwindet Entmutigung auf dem Weg. Wenn wir so enttäuscht oder entmutigt sind, dass wir heilsame Aktivitäten einstellen wollen, dann ist es dieser Faktor der freudigen Ausdauer, der bewirkt, dass wir diese Schwierigkeiten überwinden können. Es heißt, dass dieser Faktor der freudigen Ausdauer alle anderen erwachten Qualitäten unterstützt, dass freudige Ausdauer die Freundin all dieser Qualitäten ist. Wir können das einmal durchspielen: Freudige Ausdauer verbindet sich mit Mitgefühl, mit Liebe, mit Freigebigkeit, mit Geduld, mit der meditativen Stabilität und bewirkt, dass wir in unserem Untersuchen der Natur der Phänomene nicht aufgeben, dass wir weitermachen bis alles Früchte trägt. Es ist der entscheidende Faktor, der Hindernisse auflöst. ***

In der buddhistischen Tradition beschränken wir uns auf diese elf Faktoren und fügen dieser Liste keine weiteren hinzu, damit sie überschaubar bleibt. Sie gibt einen guten Überblick über die wesentlichen Qualitäten, die auf dem Weg des Erwachens freigesetzt werden. In dieser Liste ist Liebe nicht enthalten, Mitgefühl taucht als Definition, als Unterpunkt von NichtSchaden-Wollen auf. Weisheit wird nicht erwähnt, Freigebigkeit und Geduld fehlen, ganz wichtige Qualitäten fehlen scheinbar. Wo würdet ihr z.B. die Liebe finden, ist euch aufgefallen wo die Liebe hingehören würde? Im Nicht-Hassen. – Liebe ist Anteil von all den genannten Faktoren. – Geduld. – Es ist ganz einfach: Wenn es Gleichmut gibt, dann ist auch Geduld da. Wenn es kein Anhaften und kein Ablehnen gibt, dann ist Geduld da.

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Wo ist die Freigebigkeit? Gleichmut ist eine Form von Freigebigkeit. – Es gibt in Frankreich eine Aufschrift an Bahnübergängen: „Achtung! Ein Zug kann einen anderen verdecken.“ Genauso ist es auch hier. Wenn ihr eine Qualität sucht, sucht sie doch einfach hinter diesen Qualitäten, die hier aufgezählt sind. Sie sind eigentlich alle enthalten. Es gibt keine Qualität, die wirklich fehlt. Wo finden wir die Bescheidenheit, Demut? Sie findet sich in der Nicht-Anhaftung, im Nicht-Verwirrtsein, in der Flexibilität des Geistes, im Nicht-Begehren. Ich glaube, wir können mit dieser kleinen Übung schon zeigen, dass die Kombination dieser verschiedenen Qualitäten, die hier angesprochen werden, ausreicht, um die vielen anderen, die jetzt nicht aufgeführt sind, doch auch zu erfassen. Wenn es nur eine Qualität gäbe, die die ganze Liste zusammenfassen sollte, welche würdet ihr nehmen? Mitgefühl, …Weisheit, …Entspannung, …Sorgfalt, …Gewissenhaftigkeit, …Gleichmut… Das sind viele Vorschläge, und jeder Vorschlag hätte seine gute Begründung, warum er zutreffend ist. Aber eigentlich ist doch die Flexibilität das Wichtigste. Und was sagst du zu Gleichmut? Gleichmut beinhaltet doch schon die Flexibilität. Werden diese Faktoren mit dem Willen so ausgeführt? Der Wille besteht nur darin, was wir als Zusammenfassung der Liste aussuchen wollen, aber die einzelnen Faktoren haben nicht so viel mit Wollen zu tun, z.B. der Gleichmut oder das Nicht-Anhaften. Das ist nicht etwas, das wir mit Wollen erzeugen können. Wenn ich das genauer anschaue, dann ist doch dahinter eigentlich immer eine große Wachsamkeit, die zu dem Erkennen führt. Du willst damit sagen, dass das der gemeinsame grundlegende Faktor sein kann? Bei diesem Spiel, das wir hier gemacht haben, ist wichtig zu erkennen, dass jede dieser Qualitäten andere Qualitäten in sich trägt. Wenn man ganz fein analysiert, dann kann man eigentlich aus jeder Qualität alle anderen ableiten. Sie beinhalten sich gegenseitig, so als wären es verschiedene Aspekte einer einzigen Qualität, der des freien Geistes, des erwachten Geistes. Der Ausdruck Bodhicitta – citta bedeutet Geist und bodhi erwacht –, die erwachte Geisteshaltung zeigt uns, dass all diese Qualitäten im Grunde genommen eine Geisteshaltung sind, und hilft uns zu erkennen, dass es sich nicht um separate Qualitäten handelt, die wir eine nach der anderen zu entwickeln hätten. Sie greifen alle ineinander wie die verschieden Facetten eines Juwels. Warum spricht man von Mitgefühl und nicht von Liebe? Liebe kommt mir viel umfassender vor als Mitgefühl. Jeder hält für sich eine Qualität für die vielleicht wichtigste im Leben. So kann man durchaus Liebe für wichtiger oder umfassender halten als Mitgefühl. Deine Nachbarin wollte ja auch, dass Flexibilität als die umfassendste Qualität erkannt wird, und so kann man sich auf eine Qualität stärker einlassen und für einen selber als wichtigste Qualität mehr in den Vordergrund heben. Aber es geht darum zu erkennen, dass sie sich alle gegenseitig beinhalten. Natürlich könnte das Zitat des Buddha auch auf die Liebe gelautet haben. Es war eben mit karuna, dem Sanskrit-Ausdruck für Mitgefühl, und darin meint man eigentlich eine ganz empfindsame Geisteshaltung, die die Bedürfnisse aller Wesen erkennt und erspürt. Es ist nicht das Mitleid von compassion, sondern es ist dieses feine Gefühl für das, was die Bedürfnisse anderer sind, was ihre Spannungen sind und wie man ihnen da heraushelfen kann.

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Mitgefühl bezieht sich in der Definition der buddhistischen Lehre auf den Wunsch, alle Wesen aus ihren Spannungen, ihrem Leid zu befreien. Liebe ist der Wunsch, sie ins Glück hineinzuführen, bzw. alle Ursachen und Bedingungen zur Verfügung zu stellen, dass Glück möglich ist. Es sind eigentlich die beiden Seiten derselben Münze, immer und immer miteinander verbunden.

Übung zum Verständnis der heilsamen Faktoren: Nehmt euch eine Qualität, die eurer Ansicht nach die meisten anderen mit in sich trägt und kontempliert tief darüber, wie sie die anderen in sich trägt, wie eins zum anderen führt. Bringt es eventuell sogar auch zu Papier, wie ein Faktor mit dem anderen verbunden ist. Man nimmt z.B. das Nicht-Begehren, Nicht-Anhaften als Ausgangspunkt und schaut, wie das mit dem Faktor Flexibilität zusammen hängt und dann überlegt man die Querbeziehung zu den anderen Faktoren. Damit das Spiel auch noch interessanter wird, nehmt dann noch einen anderen Faktor und macht dasselbe für diesen anderen Faktor, damit sich das Gefühl auflöst, als würde nur dieser eine Faktor die anderen mit einbeziehen. Dadurch lernt ihr die einzelnen Faktoren besser kennen und ihr habt auch die Möglichkeit, herauszufinden aus dem Schubladen-Denken, dass das getrennte Faktoren wären. ***

Fragen: Manipulation Wenn ein Medium oder auch eine Regierung eine Information weitergibt, die verfälscht ist, ist das dann auch Gewalt oder Manipulation? In dem Fall, wo es sich um eine bewusste Absicht handelt, muss man das als Manipulation sehen. Es führt zu Schaden, wenn Informationen verdreht werden. Die Informationen, die gegeben werden, sollten korrekt sein, sie sollten nicht verdreht sein. Das gilt auch für geschriebene Informationen, das gehört auch zu dem Respekt vor anderen. Sometimes we do some manipulation for example with children. We don’t do it for ourselves, but just to help them. Is this still manipulation? This is manipulation based on love. This is a delicate question, because we always manipulate in a way, we always influence the situation. But with this factor here the intention is to harm.

Widmung – verschiedene Ebenen Wenn ich spirituellen Fortschritt mache, widme ich ihn allen fühlenden Wesen. Aber ich denke auch an die Wesen der Vergangenheit und der Zukunft, die auch meine Ahnen und auch meine Nachkommen, die noch nicht geboren sind, einschließen. Meine Frage dazu: Kann mein spiritueller Fortschritt all diesen Wesen helfen, die Möglichkeit zu erhalten, ebenfalls einen Weg zu gehen? Die Widmung spricht sich immer für die Lebewesen von jetzt aus. Denn diejenigen, die früher waren, sind jetzt irgendwo in den sechs Daseinsbereichen oder sind befreit. Eine ‚Rückwärtswidmung’ für die Wesen aus der Vergangenheit braucht es also nicht. Eine Widmung für die Wesen, die noch kommen werden, braucht es auch nicht, weil sie auch jetzt in irgendeinem Daseinsbereich inkarniert sind. Wenn wir für alle Lebewesen der sechs Daseinsbereiche widmen, dann sind damit alle erfasst.

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Karmische Bänder in der Familie Meine Frage ist mehr noch auf die Familie bezogen. Ich möchte gerne diese karmischen Beziehungen mit der Familie etwas klären, erleichtern und ins Familienkarma hinein wirken. Wo Beziehungen, Bänder bestehen, wirken Widmungen besonders stark. Mit Familienangehörigen, speziell mit Eltern und Geschwistern, hat man starke karmische Bänder, das geht weit zurück. Und es sind diese Bänder, die bewirken, dass eine Widmung relativ starke Auswirkungen haben kann. Die karmische Beziehung zu den noch nicht geborenen Enkeln besteht noch nicht, da hat sich noch keine solche karmische Beziehung eingestellt, und darum ist ein Widmen entlang dieser Verbindungslinie einfach nur nettes Wunschdenken und beruht höchstens auf karmischen Bändern aus früheren Leben. But it is possible for us to dedicate our own merit from past, future and present. Yes, all of it, whatever positive may ever arise. You talked about children in the future. The merit in the future we can dedicate? Well, well, well! It is preparing us not to get identified in the future as well. It is forward dedication like saying: “May all my future lives also serve the benefit of all sentient beings!” It is a wish, you cannot yet dedicate anything because it is not done, but you can prepare yourself like this. And then, of coarse there is something about the dedication of merit which goes beyond time. So, actually the true force of merit is not to be found in past, present and future, it is timeless. So, there is also this dimension. When one dedicates merit, it becomes without a self, without identification and the comparison of time – present, past and future – drops away as well. So, dedication helps us also to enter the timeless dimension and that’s why we often find this mention of past, present and future because actually it is timeless. Time is dualistic, is comparison of an observing mind and then you enter into this real spirit of dedication you leave that comparative mind behind.

Mangel an meditativer Stabilität Eine Frage zu einer Bemerkung aus dem Kurs des letzten Jahres. Da hast Du gesagt, dass es den so genannten Mahamudra-Praktizierenden oft an Stabilität in ihrer Meditation mangelt. Ich würde gerne mehr darüber erfahren, wie es sich mit dieser Meditation mit dem Bild des Raumes verhält im Vergleich zu Anweisungen, wo man von Einsgerichtetheit, von Konzentration spricht. Der Fehler in der Praxis, den ich damals ansprach, war der, dass wir uns Mahamudra-Praktizierende nennen, im weiten Raum der Entspannung praktizieren, aber in Wirklichkeit dabei sind, eine Gedankenkette nach der anderen zu verfolgen und nicht die Energie aufbringen, das zu schneiden und loszulassen. Wir verwickeln uns immer wieder und nennen das Mahamudra-Praxis, obwohl es eigentlich nur Praxis der Anhaftung ist. Das hat mit dem Raum des Loslassens, der Nicht-Identifikation nichts zu tun. Der zweite Aspekt der Frage war zu Einsgerichtetheit. Einsgerichtetheit ist in Tibetisch tse tschig, es richtet sich auf einen Gipfel aus, nicht auf einen Punkt, es ist eine Bewegung hin zu einem immer höheren Punkt der meditativen Sammlung. Zunächst kann der Punkt der meditativen Sammlung ein äußeres Objekt sein, das man vor sich stellt und auf das man seinen Geist völlig unabgelenkt sammelt. Von da kann man dann z.B. zu einer Visualisation übergehen, wo es keinen äußeren Bezugspunkt mehr gibt, aber einen inneren. In der Visualisation, z.B. von Tschenresi, kann man dann auch weiter gehen und direkt auf die Qualitäten meditieren, z.B. auf die Qualität von grenzenloser Liebe. Und wieder: In dieser Meditation auf grenzenlose Liebe kann man den Bezugspunkt – die Lebewesen, die wie die Empfänger unserer Liebe und unseres Mitgefühls sind – lassen und nur in der Qualität von Liebe und Mitgefühl sein ohne äußere Bezugspunkte. So geht der ‚Gipfel’, die Ausrichtung unserer Praxis, in immer subtilere Ebenen hinein, bis wir es lernen, sogar ohne Bezugspunkte völlig unabgelenkt zu verweilen. Und dieses völlig Unabgelenkte nennt man dann auch Einsgerichtetheit, obwohl in dieser Form von Präsenz kein Bezugspunkt mehr da ist. Es gibt nichts, worauf man sich ausrichtet, aber man ist völlig unabgelenkt in dieser raumgleichen Offenheit, und das lernen wir mit den vorhergehenden Übungen, wo wir ganz konzentriert dabei bleiben und die Verwicklungen in Gedankenketten auflösen.

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Geistesgifte Ich habe noch eine Frage zum Ende der Geistesgifte – Begehren, Hass und Dummheit. Ich hab auf dem Tangkha hinter Dir diese Juwelen betrachtet und mir gedacht, vielleicht sind die drei Geistesgifte einfach nur Täuschungen dieser drei Juwelen. Zunächst einmal: Ich bin mir nicht bewusst, dass es eine solche Verbindung gibt. Ich bin gerade einmal dabei, da hinein zu spüren. … Ich kann diese Verbindung erst einmal so nicht sehen, das hat auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Man könnte da was konstruieren. – Also keine weitere Antwort. Loslassen Mich hat heute Morgen das Bild von der heißen Kartoffel beeindruckt, die man dann automatisch loslässt. Ich frage mich, ob es bei uns auch so weit kommen muss, d.h. dass es so unangenehm wird und wir nicht mehr anders können, als loszulassen, oder ob es nicht auch moderater geht? Es gibt schon eine andere Möglichkeit: Man kann anderen zuschauen, wie sie sich an ihren heißen Kartoffeln verbrennen und dann daraus lernen, was die Erfahrung der anderen ist. Das ist fortgeschrittene Weisheit. Wenn man es schafft, aus den Erfahrungen anderer zu lernen, kann man sich unglaublich viel ersparen. Das wäre der Ausweg, die Erfahrung anderer steht uns zur Verfügung, das ist Dharma. Dharma stellt uns die Erfahrungen von Jahrtausenden zur Verfügung, wenn wir daraus lernen können. Wir brauchen uns dann nur noch mit anderen auszutauschen, um vielleicht noch einmal bestätigt zu haben, dass es tatsächlich so ist. Dann könnten wir auch viel schneller loslassen, ohne es zu katastrophalen Erfahrungen kommen zu lassen. Wir versuchen in den Dharma-Unterweisungen zu beschleunigen, dass eine heiße Kartoffel als solche erkannt wird, bevor sie einen verbrennt. Entsagung Kann Entsagung als eine Form der Befreiung betrachtet werden? Entsagung ist nicht nur eine Form der Befreiung, wahre Entsagung ist wirklich Befreiung. Die wahre Entsagung ist, dem Ichanhaften zu entsagen und allen anderen Formen des Anhaftens, die Leid verursachen, und das ist wahre Befreiung. Authentische Widmung Wenn wir eine Praxis mit starken Emotionen ausgeführt haben und selbst dann, wenn wir bei der Widmung ankommen, die Emotion immer noch nachwirkt. Hat dann die Widmung trotzdem heilsame Auswirkungen für andere? Wenn wir beim Widmen authentisch sind und innerlich z.B. das kleine Bisschen Geduld mit den eigenen Emotionen in der Praxis oder die Ausdauer im Ausführen der Praxis trotz der Emotionen widmen, dann hat es tatsächlich gute Folgen. ***

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Heute Morgen haben wir einige Momente in der Meditation des Nicht-Anhaftens verbracht. Jetzt werden wir dasselbe mit dem Nicht-Ablehnen versuchen. Die Meditations-Anweisung ist ganz einfach: Wir lehnen für eine Weile einmal nichts ab.

Meditation: Wir üben uns darin, nichts abzulehnen, nichts zurückzuweisen. – Übung zu Gleichmut: Nehmt euch doch jetzt noch ein Viertelstündchen oder mehr, setzt euch draußen irgendwo hin und praktiziert völligen Gleichmut, frei von anhaften und ablehnen. Gleichmut bei ganz wachem Geist. Versucht den Gleichmut einmal als Erfahrung im eigenen Geist zu finden! Macht es nicht zu lang, sodass ihr wirklich einen inneren Kontakt mit Gleichmut erfahren könnt, darin ein bisschen aufgehen könnt. Wenn es zu lang wird, dann verlieren wir vielleicht die Frische des Geistes, die damit einhergeht. *** Bis jetzt haben wir das Funktionieren des Geistes mittels der allgegenwärtigen Geistesfaktoren, der Faktoren, die sich der Objekte vergewissern und den heilsamen Faktoren, die zum Erwachen führen, untersucht. Im Folgenden geht es natürlich darum, was das Erwachen, was diese völlige Offenheit des Geistes verhindert.

Die nicht heilsamen Geistesaktivitäten Diese blockierenden, hindernden Geistesfaktoren werden nichtheilsame – oft auch nichttugendhafte – Geistesfaktoren genannt, und sie werden auch die Faktoren emotionaler Verblendung genannt. Das tibetische Wort, das immer mit emotionaler Verblendung übersetzt wird, ist nyönmong. Nyön heißt verrückt, außer Sinnen und mong heißt verdunkelt oder verblendet. Es ist also eine emotionale Verblendung, die uns nicht mehr klaren Geistes sein lässt und den Geist verdunkelt. Auf Sanskrit heißen diese Faktoren kleshas. Klesha bedeutet soviel wie ein Gebrechen, ein Leiden; etwas, das schwer auf uns lastet und uns behindert; eine Einschränkung, Behinderung, Belastung des Geistes. Wenn wir jetzt über emotionale Geisteszustände sprechen, dann ist es – wie wir anhand dieser Definitionen gesehen haben – nicht zutreffend, einfach von Emotionen zu sprechen, wenn wir die belastenden Geisteszustände meinen. Die Bedeutung von Emotion ist einfach Geist in Bewegung, und wir nennen in unserer Sprache auch Freude eine Emotion. Dabei sind Freude, Liebe oder Dankbarkeit heilsame Geistesfaktoren, sie öffnen den Geist und sind keine Belastungen. Wir müssen also vorsichtig sein, dass wir nicht meinen, der Dharmaweg sei bestimmt, uns in einen Zustand ohne Emotionen, ohne geistige Bewegung zu führen, ohne Gemütsbewegungen. In Französisch sagt man in so einem Fall, „jemand ist wie ein Gemüse“, bei uns würde man vielleicht sagen „wie so ein Kohlkopf“. Das ist keineswegs gemeint, wir sind frei von Belastungen, wir sind befreit von Belastungen. Darum geht es und nicht um das Auflösen von Emotionen. Wenn wir mit anderen sprechen, müssen wir also gut aufpassen, dass wir nicht einfach von Emotionen sprechen. Wir müssen zumindest von Störgefühlen sprechen oder von emotionaler Verblendung, von belastenden Emotionen, denn darum geht es. Das ist es, wovon wir uns zu befreien haben. Der Rest ist die Dynamik des Geistes.

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Die nichtheilsamen Geistesaktivitäten bestehen aus sechs primären emotionalen Belastungen und zwanzig sekundären emotionalen Belastungen.

Die sechs primären Belastungen kurz Hauptemotionen (klesá). – eigentlich bleiben wir lieber beim Begriff ‚emotionale Belastung’. Der erste Faktor, der das Erwachen verhindert und uns belastet, ist Unwissenheit.

22) Unwissenheit ist, Handlungen und ihre Folgen, die Wahrheiten, sowie die Fähigkeiten – die Qualitäten – der drei Juwelen nicht zu verstehen. Sie bewirkt das Entstehen aller Erscheinungen völliger emotionaler Verblendung. Unwissenheit (tib. marigpa) bedeutet mangelndes Gewahrsein, Abwesenheit von rigpa, Abwesenheit von wirklichem Gewahrsein. Avidya im Sanskrit hat die gleiche Bedeutung, das Nichterkennen, das Nichtsehen. Es geht also nicht um das Wissen. Es ist nicht so, dass uns ein Wissen fehlt, was wir leicht aufstocken könnten um dann zu wissen, weil wir erfahren haben. Es geht um ein tiefes inneres Wissen, um ein Gewahrsein. Die erste Form von Unwissenheit, von mangelndem Gewahrsein, ist nicht gewahr zu sein, welche Beziehung besteht zwischen unseren Gedanken, Worten und Handlungen und dem was wir jetzt und in Zukunft erleben. Wir sind nicht gewahr, welche Gesetzmäßigkeiten zwischen den Handlungen auf diesen drei Ebenen und ihren Folgen eine Rolle spielen. Wir kriegen nicht recht mit, dass wir selber die Ursachen für unser Erleben schaffen. Das ist eine schwerwiegende Form von Nichtgewahrsein, weil wir in dem Glauben leben, dass z.B. das was uns geschieht unfair ist. „Warum muss ich das erleben und nicht jemand anders?“, „Wieso hört mir keiner zu?“, „Warum vertraut mir keiner?“, „Warum geht’s dem so gut und mir nicht?“ All diese Fragen, die sich stellen, sind darin begründet, dass wir die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nicht durchschauen, nicht überblicken. Das ist diese Form der Unwissenheit auf der relativen Ebene dieser jetzigen Existenz. Es ist, als würden wir die Spielregeln des Lebens nicht kennen, als wüssten wir nicht, nach welchen Gesetzen sich ein Leben entfaltet und als würden wir glauben, alles wäre irgendwie Zufall oder ungerechte Zuteilung. Wenn wir achtsamer und wirklich voller Bewusstheit aufmerksam sind in Hinblick auf das was wir denken, sagen und physisch tun, dann bemerken wir, dass diese Geisteshaltung, diese Form von Gedanken solche Folgen haben, dass diese Art zu sprechen zu dieser Art von Spiegel im Leben führt, dass diese Art zu handeln solche Konsequenzen nach sich zieht. – Wir können das natürlich nur in der Spanne unseres jetzigen Lebens beobachten, aber diese Zusammenhänge bestehen auch in größeren Zeiträumen, sie gehen zurück in frühere Leben und sie gehen weiter über diesen Tod hinaus ins nächste Leben in Form karmischer Muster. Aber es ist schon einmal viel wert, wenn wir das mangelnde Gewahrsein beheben und wirklich mitbekommen was unser Handeln mit Körper, Rede, Geist ist und was die nachvollziehbaren Auswirkungen dieses Handelns sind. Wir wachen auf zu den inneren Kausalketten, die sich in unserem Leben abzeichnen. Es handelt sich bei dieser Kenntnis um gar nichts Mysteriöses. Es ist eine ganz feine Beobachtung so wie wir sie auch in Psychologie, Soziologie, Politologie usw. finden und in den Geisteswissenschaften, die sich mit diesen Ursache-Wirkungsketten, mit den Wechselwirkungen der verschiedenen Faktoren befassen: Bestimmte Geisteshaltungen, bestimmte Arten Eindrücke zu verarbeiten führen zu klar erkennbaren Folgen. Diese Beobachtung kann jeder auch an sich selbst vornehmen. Als zweites Beispiel wird hier aufgeführt, die Wahrheiten zu kennen. Damit sind zunächst die vier edlen Wahrheiten, die der Buddha gelehrt hat, gemeint. Man kann es aber auch einfacher ausdrücken und sagen, das Leben gut zu kennen – das Leben mit den Wurzeln des Leidens und der Möglichkeit Befreiung zu erfahren.

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1. Wahrheit: Der Buddha beschreibt als guter Arzt erst einmal ganz klar, um was für ein Leid es sich hier handelt. Er hat beobachtet, dass überall, im Geist aller Lebewesen, Spannung vorherrscht. Alle Wesen sind zwar auf der Suche nach Glück, aber sie erfahren alle vielfältigen Formen von Leid und selbst in so genannten entspannten Geisteszuständen ist noch ein ziemliches Maß an Spannung im Geist vorhanden. Das ist die dualistische Spannung, die sich erst auflöst, wenn man die Ich-Bezogenheit loslässt, wenn man sie ganz auflöst. Der Buddha beschreibt also mit der Wahrheit des Leides die allgegenwärtige Spannung aller Lebewesen in allen Daseinsbereichen. 2. Wahrheit: Dann schaut der Buddha als guter Arzt: Was sind die Ursachen dieser Anspannung? Er beschreibt, dass all diese Anspannung aus der Ich-Bezogenheit resultiert, aus einem mangelnden Gewahrsein von dem was tatsächlich ist. Aus der irrigen Annahme eines Ich resultieren Greifen, Festhalten, ungeschicktes Handeln mit Körper, Rede und Geist, was zu weiteren Anspannungen führt und zu all den vielfältigen Erfahrungen von Leid. Es ist ein Teufelskreis, ein ständiger Kreislauf, der genährt wird von mangelndem Gewahrsein, von Greifen und ungeschicktem Handeln, was wieder das mangelnde Gewahrsein verstärkt. 3. Wahrheit: Wie ein guter Arzt es tun sollte, sucht der Buddha nach der Lösung. Nach Jahren des persönlichen Erforschens, der Suche, erfährt er den Zustand völlig frei von jeglicher Anspannung, das nonduale Gewahrsein, das Erwachen – frei von allem Leid. Und er weiß damit, dass es möglich ist, völlig frei zu werden, dass das Herz, der Geist völlig frei von allen Belastungen wird. Er kennt jetzt den gesunden Zustand. Man nennt das die Wahrheit der Freiheit, der Freiheit von allem Leid. Es ist möglich. 4. Wahrheit: Da der Buddha diese Dimension erfahren hat und auch genau weiß, wie er dahin gekommen ist, verkündet er die 4. Wahrheit, die der Therapie entspricht. Das ist die Beschreibung des Weges zur Befreiung, welchen Weg es einzuschlagen gilt um diese vollkommene Offenheit zu erfahren und sich aus dem Teufelskreis zu befreien. Man nennt dies auch die Wahrheit vom Achtfachen Weg der Edlen. Man kann also sagen, die Vier edlen Wahrheiten zu kennen, zu verstehen, bedeutet das Leben zu verstehen mit seiner Seite der Leidhaftigkeit und der Seite der Befreiung, und zu wissen wie man von der einen Seite zur anderen gelangen kann, wie das Leben so oder so erfahren werden kann. Es ist das Ende von Unwissenheit, das Ende von mangelndem Gewahrsein. Aufgrund dieser Kenntnis der Vier edlen Wahrheiten aus tiefer eigener Erfahrung kennt jemand, bei dem sich die Unwissenheit aufgelöst hat, auch die Qualitäten oder Fähigkeiten der drei Juwelen – Buddha, Dharma, Sangha. Die letzte Unwissenheit hat ein Ende, wenn wir aus eigener Erfahrung wissen was Buddha bedeutet, was ein Buddha mit all den Fähigkeiten und Qualitäten, die sich aus dem vollkommenen Erwachen ergeben, ist. So jemand versteht auch, weshalb Erwachte die Dinge so erklären wie sie im Dharma eben erklärt werden. Er versteht die äußere Übertragung des Dharma und was mit dem Dharma eigentlich wirklich gemeint ist, die innere Ebene, d.h. die Wirklichkeit selbst, die Natur der Dinge. Zugleich wissen solche Personen auch was mit Sangha gemeint ist, d.h. welche Hilfe, welche Unterstützung auf dem Weg notwendig ist um Fragen zu klären, um Zweifel aufzulösen, um die richtige Unterstützung in Studium, Meditation und Kontemplation zu bekommen. Sie wissen, was es für inspirierende Qualitäten braucht, um den Weg der Befreiung anzuspornen, um zu stimulieren, zu inspirieren. Wenn dieses Verständnis vorhanden ist, sprechen wir von Gewahrsein, von tiefem Wissen, von Seinserkenntnis. Wenn dieses Gewahrsein nicht vorhanden ist, sprechen wir von Unwissenheit, von mangelndem Gewahrseins und nicht vorhandener Seinserkenntnis. Auf der Basis solch mangelnden Gewahrseins entstehen alle Erscheinungen emotionaler Verblendung. Man macht alle nur möglichen Fehler, weil man sich nicht auskennt. Wir sind wie Kranke, die noch nicht erkannt haben, was die Ursachen ihrer Krankheit sind und immer noch einen nachlegen und immer kränker werden, weil wir nicht verstehen was es zu unterlassen und was es zu tun gilt.

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Wenn wir zu verstehen beginnen, wenn wir den hilfreichen Unterweisungen zuhören und sie allmählich umsetzen, dann sind wir wie Patienten, die beginnen auf den Rat ihres Arztes zu hören, die die Arzneien anwenden und allmählich aus ihrer Krankheit herausfinden. Wir verstehen besser, wir sind weniger in emotionale Verblendung verwickelt, wir sind weniger belastet, der Geist wird freier und wir verstehen mehr und mehr. Das war jetzt der erste dieser unheilsamen Faktoren, Unwissenheit. Eigentlich könnte ich hier mit der Beschreibung der nichtheilsamen Faktoren aufhören, denn damit ist ja eigentlich schon alles gesagt.

Fragen: Das große Spektrum an belastenden und heilsamen Geisteszuständen Ich würde gerne noch einmal etwas hören zu Gedanken, belastenden Emotionen, weil ich merke, dass ich es gar nicht mehr klar kriege. Freude z.B.: da gibt es Freude, grundlose Freude, von der ich jetzt nicht aus Erfahrung sprechen kann. Vielleicht kannst Du dazu noch einmal was sagen. Meinst du die Abgrenzung zwischen diesen emotionalen Belastungen und den heilsamen Geisteszuständen? Ist das nicht ein Kontinuum? So verstehe ich es jetzt. Eigentlich ist es ja nur verstandesmäßig eine Dualität. Ja, jetzt verstehe ich deine Frage. Was diese fließenden Übergänge angeht, so ist es genauso wie du sagst. Es gibt die Zustände ganz engen Herzens, ganz dichte Geisteszustände, wo starkes Anhaften da ist, und es gibt dann wirklich in jeder Schattierung Geisteszustände wo das leichter wird. Wenn sich das ganze Spektrum von tiefer Trauer und Verzweiflung allmählich entspannt, merkt man deutlich, wie der Geist allmählich leichter wird, wie ein gewisses Freudengefühl auftaucht – immer noch mit einer guten Menge Ich-Anhaftung – wie dann die Freude noch leichter wird, man entspannt sich noch weiter, aber auch bei sehr weiter Freude im Herzen ist einfach noch eine Spur Dualität drin. Obwohl wir schon auf einem Weg der Befreiung, des Freiwerdens von Belastungen sind, muss man sagen, dass die Freude, mit der noch eine Identifikation einhergeht, immer noch ein Klesha ist, Spuren der Verblendung in sich trägt. Nur die Geisteszustände, die wirklich vollkommen frei sind von jeder Form der Identifikation, sind erwachte Geisteszustände. Aber die Geisteszustände, wo die Leichtigkeit dominiert, wo der Geist oder das Herz leichter ist, wird im Vergleich zu dem was vorher war als heilsam betrachtet. Wir gehen also ins immer Heilsamere hinein, bis wir uns sogar selbst vergessen können, bis die Identifikation sich auflöst und wir in einem vollkommen freien Geisteszustand sind. Das ist dieses Riesenspektrum, und in jeder emotionalen Schattierung können wir solche Spektren wahrnehmen. Das geht also auch mit einer ganz heftigen Unwissenheit, einem ganz heftigen mangelnden Gewahrsein bis hin zu feineren Gewahrseinszuständen mit Anhaftung bis wir ins zeitlose Gewahrsein eintreten, das völlig frei von Anhaftung ist. Das relativiert die Definition von Emotion, wie wir sie auch früher gehört haben, dass es eine geistige Bewegung aus einer Ich-Bezogenheit heraus ist. Ja, das trifft doch weiterhin zu. Ja, aber es ist eben nicht so scharf abgegrenzt. Die Intensität der Ich-Bezogenheit macht dann aus, ob es sich im Vergleich zu dem, was man sonst erlebt, um ein Zurückgleiten in wirklich hinderliche, belastende Geisteszustände oder um heilsame Geisteszustände handelt. Für jemand, dessen Geist sich schon sehr weit in heilsame Geisteszustände geöffnet hat, werden Geisteszustände, die von anderen als heilsam erlebt werden, als eng oder belastend erfahren, weil innerlich ein anderer Vergleich stattfindet. Hier ist die Einteilung der Faktoren ganz klar in das was zu Leid führt und in das was zur Befreiung und zu Glück führt. Da achten wir immer drauf. Die Faktoren werden eingeteilt aufgrund dessen was sie an Folgen auslösen oder was sie unmittelbar auch an Geistesenge oder Geistesweite bewirken.

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Ich bekomme den Begriff der Unwissenheit, auch so wie Du ihn jetzt noch einmal erläutert hast, nicht mit der Qualität von Emotion als Geist in Bewegung auf die Reihe. Für mich ist es eher eine NichtBewegung. Zunächst muss man schon einmal sagen, dass ‚Emotion’ ein westlicher Begriff ist, der sich eingebürgert hat. Das ist aber hier nicht damit gemeint. Hier sind Geisteszustände gemeint, die die geistige Klarheit untergraben – also quasi verrückt machen – und verdunkeln, die belasten. Zum Wort Emotion gibt es in den asiatischen Sprachen kein Pendant. Die unterscheiden da ganz anders, sie unterscheiden hier zwischen heilsamen und nichtheilsamen Geisteszuständen. Aber wenn du dir anschaust, was Unwissenheit tatsächlich ist, so ist das etwas sehr Aktives. Es ist die Aktivität von Zweifeln, von Ängsten, von „Ich will – ich will nicht!“, von „Lass mich in Ruhe!“. Was wir Unwissenheit nennen, ist nicht etwa ein Loch sondern ein sehr aktiver Zustand, der so viel Aufgewühltsein im Geist produziert, dass der Geist total verdunkelt ist, so wie der Himmel von der Aktivität von Gewitterwolken. Dabei ist der Himmel verdunkelt, er ist aufgewühlt, und so ist das auch mit der Kraft der Unwissenheit. Sie ist nicht etwa ein statischer Geisteszustand, sondern da ist eine Menge los, da sind eine Menge Momente der Ich-Bezogenheit, die ganz schöne Wirbel auslösen, und diese Wirbel schaffen Unklarheit im Geist. Man kann das also durchaus als Emotionen beschreiben, man muss nur weg von diesen Begriffen Unwissenheit und mangelndes Gewahrsein und zu diesem Verständnis kommen, dass es sich um aufwühlende, von Angst besetzte, identifizierende Muster handelt, die unglaublich aktiv sind. Wir müssen auch berücksichtigen, dass in dieser Liste hier der Faktor Angst nicht auftaucht. Angst ist die affektive Komponente von dem, was wir kognitiv als Unwissenheit beschreiben. Unwissenheit beschreibt dieses mangelnde Verständnis, beschreibt also den kognitiven Aspekt des Nichtwissens, und wenn wir uns nicht auskennen, wenn wir nicht verstehen, tritt sofort Unsicherheit mit Angst auf. Das ist die allgegenwärtige Angst. Sie steht hier nicht auf der Liste, weil sie eigentlich in Unwissenheit enthalten ist und auch in allen anderen Faktoren. Unwissenheit durchzieht alles. Der Faktor Angst wird deshalb nicht extra aufgeführt, weil er in allen anderen Faktoren allgegenwärtig ist.

Wechselspiel des eigenen Karmas und dem Karma der anderen Ich lebe in der Nähe des Bahnhofes. Da treiben sich immer wieder unheimliche Gruppen herum, vor denen ich auch Angst habe. Ich kann nicht ganz glauben, dass es meine völlig alleinige Verantwortung ist, was passiert, wenn ich diesen Leuten begegne. Das ist ein Missverständnis von Karma. Es ist ein Wechselspiel zwischen dem Karma anderer und dem eigenen Karma, d.h. im Moment der Begegnung kommst du mit deiner ganzen karmischen Geschichte bis zu dem Punkt, wo du den anderen begegnest und sie kommen mit ihrer Geschichte bis zu dem Punkt, wo sie dir begegnen. Es findet Austausch, eine Wechselbeziehung statt. In dieser Wechselbeziehung können sehr starke Dinge geschehen. Die anderen werden das Ganze mit ihrer karmischen Brille erleben und du mit deiner und so geht die Geschichte dann weiter. Wir sind so ständig in einem Austausch, wo das Karma des einen dem Karma des anderen begegnet, daraus ergeben sich die Lebenssituationen, und die sind sehr komplex. Es ist das Wechselspiel enorm vieler Kräfte. Und weil so unglaublich viele Kräfte in diesem Wechselspiel mitwirken, ist es auch sehr schwer präzise zu erleben, welchen Anteil wir daran haben. Es ist ein ständiges Spiel, wir reagieren ständig, tunen uns neu ein. Es ist ein ständiger Prozess von Ursache und Wirkung. Mit Karma ist die Dynamik unseres Lebens gemeint. Ursache-Wirkungs-Beziehungen im ständigen Wechselspiel mit anderen Ursache-Wirkungs-Beziehungen beschreiben das, was in unserem Leben passiert. Karma kann abgeschwächt werden, kann verstärkt werden. Es kann sein, dass bestimmte karmische Tendenzen zeitweilig gar keine Folgen zeigen können, sie können nicht zur Wirkung kommen, die Wirkung ist ausgesetzt. Ein Karma kann auch völlig aufgelöst werden. Der Buddha hat ganz energisch korrigiert, als jemand meinte, eine Handlung würde zu einem bestimmten Ergebnis führen, z.B. einen Menschen zu töten würde auf jeden Fall in die Höllenbereiche führen. Der Buddha hat da protestiert, weil vom Zeitpunkt des Tötens bis zum vollen Reifen der Frucht auf dem Weg unglaublich viel

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passieren kann was die Geisteshaltung des Menschen ändert, z.B. zu Reue führt oder auch zu einer Verstärkung, zu einer Freude über das Getane. Es können Handlungen stattfinden wie das Leben anderer zu retten usw. Es kann so viel stattfinden, dass es im schlimmsten Fall zur vollen Reifung in den Höllenbereichen kommt aber auch zu einem gar nicht Manifestieren dieser Auswirkung, weil die Handlung so auf diesen Menschen gewirkt hat, dass er in sich gegangen ist, dass er voll bereut hat und dieses Karma aufgelöst hat. Es braucht also gar nicht auf die nächste Geburt zu wirken. Es gab ja sogar einen Massenmörder, der zur Zeit Buddhas die Arhat-Stufe erlangt hat, der also als Schüler Buddhas völlige Befreiung erlangte. Das muss man verstehen. Der Geist, das Leben ist dynamisch und Karma beschreibt die Regeln, nach denen sich diese Dynamik vollzieht. Vielleicht irre ich mich, aber beschreibt nicht Gampopa oder auch Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye die bestimmten Auswirkungen von bestimmten Handlungen? Dass z.B. Töten Leben verkürzend wirkt etc. Ja genau! Lies diese Passage noch einmal ganz genau. Da hast du z.B. beim völligen zur Reife-Kommen als Resultat die Höllenbereiche oder bei abgeschwächtem zur Reife Kommen eine menschliche Geburt mit Krankheiten usw. Lies es noch einmal genau, dann siehst du die Nuancen. Die Dynamik wird darin beschrieben. ***

Der zweite Faktor in dieser Liste der sechs primären emotionalen Belastungen ist Begierde, Anhaftung. Begierde ist die Folge der Unwissenheit, des mangelnden Gewahrseins. Wenn wir uns der Natur des Objektes wie auch des Subjektes klar bewusst wären, würde es nicht zu einem Anhaften kommen.

23) Begierde ist, die von den Triebflüssen geprägten Aggregate der drei Daseinsbereiche zu begehren. Sie bewirkt das Entstehen der Leiden der Existenzen. Man spricht von zwei Arten von Begierde: der „begehrenden Begierde“ des Bereiches der Sinnesbegierden und der „Begierde zu existieren“ der beiden höheren Bereiche. Begierde wird hier definiert als das Anhaften an den Skandhas. Dieses Anhaften an oder Begehren der Skandhas drückt sich so aus, dass es da, wo es Formen gibt, mein Körper heißt statt einfach Körper. Wo es Empfindungen gibt, heißt es meine Empfindungen. Wo es Unterscheidungen gibt, sind es meine Unterscheidungen, meine Überzeugungen, meine Emotionen. „Ich will!“, „Ich will nicht!“ Das ist diese grundlegende Form des Anhaftens an die Aggregate, mein Bewusstsein, mein Geist. Es gibt nun die etwas genauere Erklärung, dass wir an den von Triebflüssen geprägten Aggregaten anhaften. Man spricht entweder von drei oder vier Samsara zugrunde liegenden Impulsen – hier wird in vier unterteilt. Das sind die tiefsten Tendenzen oder Neigungen, die samsarische Existenz bestimmen. Der 1. Triebfluss, diese erste impulsive Strömung, ist das Verlangen nach Sinnlichkeit, nach Sinneseindrücken, ein subtiles aber ganz kräftiges Begehren zu riechen, zu schmecken, zu hören, zu fühlen, zu denken, zu sehen. Das ist der grundlegende Wunsch, Sinneserfahrungen zu machen und sich natürlich darüber zu identifizieren. Wenn sich dieses Sinnesverlangen stärker ausgestaltet, dann wird es zum Verlangen nach angenehmen Sinneseindrücken, nach all den guten Gerüchen, dem guten Geschmack, dem schönen Aussehen, den erhebenden Gedanken usw. Es verfeinert sich, das Verlangen gestaltet sich immer mehr aus und wird immer stärker in der Präzision seiner Objekte. Der 2. Triebfluss ist das Verlangen nach Dasein, Existenz oder Werden. Das ist der Wunsch, Geburt anzunehmen, in eine Existenz einzutreten. Normalerweise sind wir uns dieser Bestrebungen gar nicht bewusst. Wir sind uns nicht bewusst, dass in uns das subtile Verlangen zu existieren besteht. Wir sind uns auch nicht bewusst, dass dieses subtile Verlangen, Sinneserfahrungen zu machen, in uns aktiv ist. Es taucht nicht in unserem Bewusstsein auf, dass wir im Grunde genommen von diesen Impulsen getrieben sind.

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Der 3. Triebfluss ist das Festhalten an Standpunkten und Ansichten, das Bedürfnis, eine Meinung zu haben, etwas, womit ich mich identifiziere als meine Sichtweise. Wir sind uns normalerweise dieses Bedürfnisses, Standpunkte einzunehmen, gar nicht bewusst. Wir fragen uns immer nur, welchen Standpunkt wir einnehmen wollen – ob wir nun dieser Meinung folgen oder einer anderen Meinung; ob wir dieser Ansicht sind oder einer anderen. Und selbst wenn wir jede Ansicht verweigern, ist das eine weitere Ansicht, ein weiterer Standpunkt. Dass dahinter ständig dieses Streben nach Positionierung aktiv ist, einen Standpunkt, einen Bezugspunkt zu haben, ist uns gar nicht bewusst. Und das – meinte der Buddha – ist der grundlegende Impuls, sich mit einer Sichtweise zu identifizieren. Dieser dritte Punkt wird in manchen Listen der Triebflüsse gar nicht erwähnt, weil er im nächsten enthalten ist. Der 4. Triebfluss ist Unwissenheit oder mangelnde Bewusstheit, also das, was uns eigentlich immer wieder auch Zustände mangelnder Klarheit bevorzugen lässt, was uns in mangelndem Gewahrsein kreisen und leben lässt. Wir sind uns dessen gar nicht bewusst, aber diese Tendenz ist sehr stark. Wir haben nicht nur den Wunsch zu erwachen, sondern auch einen Wunsch, möglichst nicht zu erwachen, möglichst nicht gewahr zu sein. Dieser Wunsch ist auch in uns aktiv. Normalerweise ist uns das nicht bewusst, aber in vielen Situationen ziehen wir den Schlaf dem Wachzustand vor, das unschärfere Bewusstsein dem klareren Bewusstsein. Es ist diese grundlegende Tendenz zum Nicht-Wissen. Wir haben diesen starken Wunsch zum Nicht-Wissen, zur Unwissenheit, zu weniger Klarheit, ein innerliches Sich-Abwenden von einer weniger Ich-bezogenen Präsenz. Erwachen, Erleuchtung wird definiert als das völlige Aufgelöst-Haben dieser vier Triebflüsse, und da wird uns vielleicht bewusst, wie tiefgreifend, wie umfassend Erleuchtung ist. Bis diese vier Tendenzen aufgelöst sind, das ist eine Revolution im Sein. Alle vier sind ja unbewusste Strömungen in unserem Geist, ein unbewusstes Hingezogen- oder Getrieben-Sein, und es braucht eine Menge Arbeit, all diese Tendenzen ins Bewusstsein hoch zu holen und tatsächlich sich auflösen zu lassen. Diese Triebflüsse sind in unterschiedlichem Maße in den drei Daseinsbereichen aktiv. Im Bereich der Sinnesbegierden, in dem wir leben, ist das Anhaften an Sinneserfahrung besonders stark ausgeprägt. Im Bereich der Götter der Form ist das Haften an Existenz das Dominierende und im Bereich der Formlosigkeit ist die Tendenz zum mangelnden Gewahrsein dominant. Aber in unserem jetzigen Zustand können wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass in uns jetzt – während wir hier im Saal sitzen – alle vier Tendenzen aktiv sind. – Über die Götterbereiche mag ich nicht zu viel sagen, ich habe nicht ausreichend studiert, wie es sich da genau verhält. Auf der Basis dieser grundlegenden Anhaftungen und Identifikationen zeigen sich all die verschiedenen Formen des Leides sämtlicher Leben, sämtlicher Existenzen in Samsara. Um nun eine grobe Unterteilung der verschiedenen Arten von Anhaftungen zu geben, so gibt es die Lebewesen, die wie wir an Sinneserfahrungen anhaften und dann jene, die nicht mehr an Sinneserfahrungen anhaften, aber noch an Existenz. Das sind die Bereiche der Form und der Formlosigkeit. Die anderen Arten der Formen von Begierde sind einfach Ausgestaltungen dieser grundlegenden Formen von Anhaftung und Identifikation – ein Eis essen zu wollen, gestreichelt werden zu wollen, oder streicheln zu wollen – jede Form von Anhaftung und Identifikation ist einfach eine Ausgestaltung dieser grundlegenden Tendenzen und braucht nicht weiter aufgezählt zu werden. Das ist dann einfach die Verlängerung. Warum ist das eigentlich ein Problem? Weil wir anhaften. – Oh! Anhaften ist angenehm! Weil wir uns identifizieren. – Identifikation ist angenehm! Weil wir aus Begierde so viele negative Handlungen ausführen! – Was ist das Problem bei negativen Handlungen? Leiden! – Leiden! Das ist der springende Punkt, weil dadurch so viel Anspannung, so viel Leid entsteht.

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Es gibt keinen Frieden mit Anhaftung, mit Begehren. Wo Begehren ist, geht der Frieden verloren; wo Standpunkte sind, entsteht Spannung. Der Geist wird eng, er verliert seine Offenheit. Er kennt sie gar nicht. Das ist das Problem. Das Problem ist ja nicht, die Frau, den Mann zu begehren, sondern dass in dem Moment, in dem Begehren da ist, der Geist aufgewühlt ist. Sich zu sagen: „Begehren ist nicht gut!“, „Anhaften ist nicht gut!“, hilft uns auch nicht weiter. Es geht darum, so weit zu kommen, dass wir sehen, wie tief dieser Wunsch ist, zu haben, erleben zu wollen, der Wunsch anzuhaften, dieser Durst. Der Buddha nannte das Durst. Da ist ein grundlegender existenzieller Durst in uns, Durst nach Sinneserfahrung, Durst nach Bestätigung des eigenen Lebens, der eigenen Existenz; der Wunsch, einfach Bestätigung zu erfahren durch Sinneskontakt, durch Existenz; durch Erfahrungen von Existenz, die beweisen, dass es uns gibt. Dieser Durst muss gestillt werden. Erst wenn sich dieser Durst auflöst, stellt sich Frieden ein. Solange diese existenzielle Ebene von diesem Durst nicht berührt ist, werden wir immer weiter neue Facetten der Anhaftung produzieren. Daraus ergibt sich für mich der logische Schluss: So lange ich anhafte, ist wohl offenkundig, dass ich nicht davon überzeugt bin, dass Anhaften zu Leid führt. Der nächste Schritt muss dann doch sein, genau hinzuschauen, um zu entdecken, auf welche Weise Leid entsteht und dass tatsächlich in jedem Moment des Anhaftens Leid entsteht. Das muss man klarkriegen. Wie stellt man das an? Man sollte sich viel damit befassen. Studieren hilft natürlich, aber es braucht Kontrast-Erfahrung. Es braucht Erfahrungen, mit denen wir vergleichen können, Erfahrungen von sehr viel geringerer Angespanntheit oder von kompletter Offenheit, mit denen wir vergleichen können, was denn die Geisteszustände sind, in denen wir unter Anspannung stehen. Das geschieht durch Meditation, durch diese Momente des tiefen Loslassens. Es ist vielleicht übertrieben, zu sagen, nur das wird uns stimulieren, aber das wird uns auf lange Sicht stimulieren, weil wir den Unterschied kennen. Das ist wie bei jemandem, der krank ist. Jemand, der immer krank ist und den Zustand der Gesundheit gar nicht kennt, richtet es sich ein in seiner Krankheit. Er hat keinen inneren Vergleich, hört vielleicht, dass es anders sein könnte und wird vielleicht ein bisschen in diese Richtung versuchen. Aber erst wenn sich überzeugende Erfahrungen einstellen, die zeigen, wie frei Körper und Geist sein können, entsteht die starke Motivation, die Ursachen des Krankseins auszuräumen. Wir brauchen diese befreienden, motivierenden Erfahrungen. Aus meiner Erfahrung als Dharmalehrer sehe ich recht deutlich, dass man sich auf dem Weg eine ganze Weile aufgrund der intellektuellen Überzeugung stimulieren kann. Es ist schon überzeugend, was man im Dharma hört, es ist auch in Resonanz mit unseren inneren, intuitiven Erfahrungen und wir sind motiviert, an uns zu arbeiten. Aber solange es nicht zu überzeugenden, tiefen Erfahrungen in der Meditation kommt, die uns wirklich den Kontrast aufzeigen, ist unser Weg instabil, wir müssen uns immer wieder motivieren, immer wieder über den Intellekt, über das Verständnis überzeugen statt einem „Ja, da möchte ich hin!“ Deswegen ist es wichtig, sich die Möglichkeit zu geben, Erfahrungen tiefer Offenheit zu machen – egal wie. Diese Erfahrungen werden unseren spirituellen Weg dann auch stabilisieren. Nur die persönliche Erfahrung stabilisiert uns auf dem Weg. ***

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Fragen: Durst stillen Du hast vorhin gesagt, es hört nur auf, wenn der Durst gestillt ist. Ich frage mich, was ist stillen und was heißt sich auflösen? Es bedeutet eigentlich dasselbe. Der Durst ist gestillt, wenn wir das zeitlose Gewahrsein erfahren. Wenn wir das wiederholt erfahren, dann löst sich dieser grundlegende Durst auf. In der Erfahrung des erwachten Gewahrseins gibt es keinen solchen Durst mehr, der ist dann für diesen Moment aufgelöst. Die Tendenz zu diesem Durst braucht wiederholte Erfahrung des zeitlosen Gewahrseins, um sich aufzulösen.

Sinneserfahrung ohne Anhaftung Wenn ich eine tiefe innere Entspannung habe, kann ich doch Sinneseindrücke genießen, oder ist das auch Anhaften? Das musst du noch herausfinden. Es gibt eine Möglichkeit, zu erfahren, zu erleben, sich zu erfreuen ohne anzuhaften, ohne sich zu identifizieren. Das müssen wir entdecken. Die Lösung des Rätsels wird sein: Wie sieht Erfahrung frei von Ich-Bezogenheit aus? Wenn wir das innerlich wissen, klar kriegen, dann haben wir die Lösung zu dieser Frage gefunden. Kannst Du dafür Beispiele geben? Beispiele für Anhaften sind das Sehen von schönen Formen, das Hören von schöner Musik, das Riechen angenehmer Düfte, das Schmecken von wohlschmeckenden Gerichten, das Fühlen angenehmer Körper-Erfahrung und das Erfahren angenehmer Geistes-Erfahrung. In all diesen sechs Bereichen kommt es normalerweise zu einer Identifikation – ‚Ich erfahre das.’, ‚Ich habe das erfahren.’ – mit einem Anhaften – „Ich existiere.“ „Das existiert.“, „Ich möchte, dass es länger dauert.“, „Ich möchte, dass es sich wiederholt.“– Wir kleben an der Erfahrung; Subjekt und Objekt kleben aneinander. Das ist Anhaften. Wenn die Erfahrungen ohne Mittelpunkt gemacht werden, frei von einem Ich, das eine Erfahrung hat, dann entsteht nicht mehr das Verlangen, sie zu verlängern, sie wieder zu machen, sie wieder zu finden. Es gibt kein Ich, das sagt: „Ich hab diese Erfahrung.“ oder „Ich will diese Erfahrung wieder haben.“ oder „Ich will diese Erfahrung nicht haben.“ Ein offener Geist wie der Himmelsraum ohne Mitte und ohne Grenzen. Ist es möglich, an Meditation anzuhaften? Selbstverständlich! Meditation führt zu angenehmen Sinneserfahrungen, mit denen sich ein Ich identifiziert und anhaftet und darum auch der ganze Weg des Lernens zu meditieren ohne anzuhaften, zu sein, ohne anzuhaften. Das ist das, worum es überhaupt in der Meditation geht: Zu sein ohne festzuhalten und ohne wegzustoßen. Wie ist es, wenn dieser Durst ganz und gar wegfallen würde? Dieser Durst scheint ja etwas zu sein, das unser Leben zutiefst bestimmt. Wir müssen ja jeden Tag überlegen, was wir so machen den ganzen Tag über. Das ist ja dieser Antrieb für all unsere Aktivitäten und unsere Erlebnisse. Wenn der Durst jetzt ganz weg fällt, was ist dann der Antrieb, um irgendetwas zu machen, um aufzustehen, sich zu beteiligen, sich auszutauschen? Ich hab mir das lebendig vorgestellt, und wenn ich mir das so überlege, dann bleibt eigentlich nur mehr das, was wir als Bodhicitta bezeichnen, diese liebevolle, freudige Hinwendung – auch wenn sie nicht immer ganz gelingt und dieser Durst sich wieder vermischt mit dem Sich-Hinwenden-Wollen. Siehst Du das auch so? Das ist auch die Antwort der Meister. Und daran anschließend: Dieser Begriff ‚Durst’ wird ja vor allem im Kontext des Theravada verwendet und dort zum Ausdruck gebracht. In diesem Zusammenhang wird der Begriff ‚Bodhicitta’ eigentlich nicht verwendet. Was wird denn dann aufgezeigt als richtunggebende Kraft im Leben, wenn dieser Durst wegfällt?

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Zuerst einmal: Die Hypothese, die in dieser Darstellung mitgeschwungen hat, wäre ja, dass der grundlegende Lebensdurst jetzt unser Leben lenkt und bestimmt, dass es das Ichanhaften ist, was unser Leben kontrolliert, lenkt, leitet, entscheidet usw. Das ist unsere Annahme. Im Grunde genommen ist es gar nicht so. Die beschriebenen Geistesfaktoren wie Einsicht, Sorgfalt, Achtsamkeit, Weisheit, auch Liebe und Mitgefühl usw. funktionieren auch jetzt gerade. Sie wirken in einem ganz feinen Zusammenspiel, wo die Ich-Bezogenheit meint, sie wäre der Chef, aber im Grunde genommen meistens einfach störend wirkt. Wenn diese Störung wegfällt, dann ist es nicht so, dass das Leben zusammenbricht. Das Leben geht – das kann man schon bei einer gewissen Entspannung sehen – eigentlich besser weiter als zuvor. Die Idee, dass es der Lebensdurst mit seiner starken Ich-Bezogenheit ist, der unser Leben auf eine gute oder sinnvolle Art in der Hand hätte, ist eigentlich eine zu kurze Analyse, die nicht genau hinschaut, wie die geistigen Prozesse tatsächlich ablaufen. Wenn z.B. eine Handlung erforderlich ist, wie kommt es eigentlich zu dieser Extraschlaufe über ein Ich, das meint, diese Handlung auszuführen? All diese Komplikationen fallen weg und das Leben kann unbeschwerter weiterlaufen. Jetzt ist es aber tatsächlich so: Wenn wir im Theravada-Buddhismus schauen, dann würde jemand, der völlig befreit ist von diesem Lebensdurst, ein Arhat, einfach dieses Leben zu Ende leben und da der Lebensdurst erlöscht ist, nicht wieder Geburt annehmen. Das Verlangen nach Existenz ist erloschen, und da spielt das Bodhicitta die große Rolle. Wenn wir zum Wohle der Wesen wieder kommen wollen, muss ein anderer Antrieb aktiv werden, der es ermöglicht, eine neue Existenz anzunehmen. Da spielt das Bodhicitta eine große Rolle. Schaut in eurem Leben selber nach, ob es die Funktionen von Weisheit, Gewahrsein und dergleichen sind, die die guten Entscheidungen treffen oder ob es der Lebensdurst, die Ich-Bezogenheit ist. Und schaut, ob es der Lebensdurst ist, der uns am Leben erhält oder ob Existenz nicht einfach so weiter geht, solange die Existenz-Kräfte zusammen sind; ob es den Durst dafür braucht oder ob es auch ohne geht. Untersucht das mal, schaut nach, bevor es da zu voreiligen Rückschlüssen kommt. Wenn wir motiviert sind zu leben, einen Lebenssinn haben oder den Sinn etwas auszuführen, ist das dann auch Anhaftung? In den Unterweisungen wird das durchaus unterschieden. Man spricht von der Möglichkeit, sich auszurichten, etwas anzustreben, eine Ausrichtung im Leben zu haben, einen Lebenssinn zu verfolgen, ohne dass das Anhaftung ist. Die Anhaftung vermischt sich natürlich oft damit, aber es ist möglich, Handlungen auszuführen, eine klare Richtung in den Handlungen zu haben, ohne identifiziert zu sein, ohne anzuhaften. Das sieht man gut daran, wenn Hindernisse, Schwierigkeiten bei den Handlungen auftauchen und es dann innerlich zu keinerlei emotionalen Reaktionen kommt. Das ist dank dieser Abwesenheit von Anhaftung und Identifikation. Wir beobachten dieses Ausgerichtet-Sein, diese Zielgerichtetheit ohne Anhaftung durchaus auch bei Meistern, bei erwachten Lehrern, wie sie Dinge umsetzen und dabei nicht identifiziert sind und nicht anhaften. Da merkt man, dass es möglich ist, zielgerichtet zu handeln, ohne Ursachen des Leidens zu erzeugen. In dem Moment, wo wir zum Zufluchtnehmen die Hände zusammenlegen, denken wir daran: „Diese Situation ist dem Erwachen gewidmet! Sie dient dem Erwachen, dem eigenen und dem der anderen.“ Die Worte sind gar nicht wichtig, einfach nur, dass das passiert. Es gibt keine Routine! Wenn das Herz dabei ist, dann ist es immer gut, egal wie viele Rezitationen wir machen – eine, drei oder gar keine. Wenn das Herz dabei ist, dann ist das egal.

Reinigung von Karma Was ist der Unterschied zwischen einer psychosomatischen Reaktion und Reinigung? Wenn ich im Körper Symptome erlebe, wie kann ich herausfinden, ob ich gerade dabei bin, Emotionen im Körper zu erleben oder ob es sich um eine Reinigung handelt?

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Wir erleben die Dinge im Körper und wenn wir sie annehmen und nicht gegen sie ankämpfen, kann sich Karma reinigen. Wir erleben immer was im Körper. Jeder Gedanke, jede Emotion geht mit körperlichen Veränderungen einher. Das lässt sich gar nicht stoppen, weil Körper und Geist so eng zusammen sind in diesem Leben. Und was wir im Körper erleben, ist erst einmal Körper-Erfahrung. Wenn wir sie verdrängen und nicht haben wollen, dann kommt es zu einem Kreislauf von Nicht-Haben-Wollen und das Karma kann sich nicht völlig auflösen. Wenn wir es als solches akzeptieren und Gleichmut frei von Bewertungen empfinden, dann sind wir tatsächlich auf einem richtigen Weg der Reinigung. Das, was sich da manifestiert, steigt ins Bewusstsein auf, wird nicht verdrängt, und angenommen kann es seinen Weg gehen, den Weg des Wandels, der in Auflösung endet.

Praxis aus ich-bezogener Motivation Zur Verwechslung zwischen Enthusiasmus in der Meditation und der Präsenz von Störfaktoren, emotionaler Verblendung: Es ist oft so, dass wir hoch motiviert sind für die Meditation, wenn wir aber genauer hinschauen, sehen wir darin einen großen Anteil von Ich-Bezogenheit. Auch hier gilt dasselbe: Einfach annehmen und möglichst entspannt, möglichst gleichmütig weiter praktizieren, im klaren Bewusstsein dieser Vermischung von Inspiration und ich-bezogenen Tendenzen. Man hört deswegen nicht auf. Man macht weiter, und zwar so entspannt wie es geht, und hat immer wieder auch ein Auge auf diese ich-bezogenen Tendenzen, um sich nicht zu täuschen; um das nicht für Hingabe oder wahre Inspiration zu halten. Es ist im Grunde genommen nur die Entdeckung, dass die Ich-Bezogenheit wieder einmal versucht, sich etwas einzuverleiben.

Karma und Zufall Ich habe eine Frage zu Karma. Du hast letzten Winter in Freiburg Khenpo Tschödrag zitiert, der gesagt hat, dass nur fünfzig Prozent unseres Erlebens Karma sind. Du hast mich damit tief erschreckt, all meine Konzepte durcheinander geworfen. Die Frage ist, ob der Rest Zufall ist, ob es planetarische Einflüsse sind, unsere Freiheit zwischen Achtsamkeit und Unachtsamkeit? Du hast ja damals gesagt: „Wer auf den Schlossring geht und nicht schaut, wird überfahren.“ Das wäre der Bereich der Achtsamkeit. Aber fünfzig Prozent ist nicht sehr viel, wir haben uns ja daran gewöhnt, dass alles Karma ist. Was machen wir jetzt damit? Wenn Khenpo Tschödrag sagt, maximal fünfzig Prozent sind Karma, dann meint er damit, dass nur vielleicht die Hälfte unserer Erfahrungen wirklich mit Kräften aus früheren Leben zu tun hat und der Rest ist das Spiel der Kräfte im Augenblick und geht nicht direkt auf frühere Leben zurück. Er nimmt den Begriff Karma im engeren Sinn als etwas, das auf frühere Leben zurückgeht. Und der Rest – Okay, wir sind geboren, männlich, in Deutschland, in einer Stadt und dann gibt es in dieser gesamten karmischen Situation ein Spiel von Bedingungen, es hat bestimmte Formen von Wetter, Verkehrslagen, man fährt mit dem Auto oder mit einem Fahrrad, und dem entsprechend setzt man sich Risiken aus, und dem entsprechend werden auch Situationen auftreten. Das nennt Khenpo Tschödrag dann das Spiel des Zufalls, es sind andere Ursache-Wirkungs-Ketten, die da eine Rolle spielen. Das sind nicht die Ursache-Wirkungs-Ketten, die durch frühere Handlungen in unseren früheren Leben ausgelöst wurden. In dem Sinn benutzt er dann den Begriff Karma. Gendün Rinpoche sagt, alles ist Karma. Damit meint er, dass genau deswegen, weil wir aufgrund früherer Existenzen dieses Leben in dem Land, in dieser Familie haben usw., sich als Folge Einstellungen herausbilden, Situationen ergeben, die eigentlich alle verstanden werden können als die Konsequenz der Kräfte, die aus früheren Leben in Bewegung gesetzt wurden. Er sieht also dann alles, was dann weiter passiert, als Ausdruck dieses Karmas – in diesem Umfeld geboren geworden zu sein, mit einer Disposition, dass dieses oder jenes passieren könnte. Was dann genau passiert, ist das Spiel anderer Ursache-Wirkungs-Kräfte, das ist klar. Aber er sieht alles unter dem Blickwinkel, dass es durch unsere früheren Tendenzen mitbestimmt wird, auch z.B. die Entscheidung, ob ich jetzt bei Sonnenschein spazieren gehe oder mit dem Fahrrad fahre oder jemanden besuchen gehe.

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Gendün Rinpoche würde sagen, dass auch das mitbestimmt wird durch den ganzen Strom der Prägungen, denen wir ausgesetzt sind. Es ist also eine etwas andere Definition des Begriffes Karma, wobei die Definition von Khenpo Tschödrag insofern ganz gut ist, als sie dieses verkehrte Denken entschärft, es würde alles schon aus früheren Leben direkt vorprogrammiert sein und man müsste auch jeden Unfall, jeden Flugzeugabsturz, jedes Geschehen immer mit Karma aus früheren Leben erklären. Z.B. ob eine Frau vergewaltigt wird oder nicht, muss man nicht mit Karma aus früheren Leben erklären. Es reicht einfach, Frau zu sein in einer bestimmten Situation, man zieht bestimmte Männer an und dann kann das passieren. Es ist nicht unbedingt ein vorprogrammiertes Karma. Das entschärft deutlich die ganze Karmafrage, wenn es dann um die Details geht. Es ist sehr wichtig, diese Entschärfung vorzunehmen, dass wir nicht denken, alles wäre vorprogrammiert. Das meinte nämlich auch Gendün Rinpoche nicht. Es ist also wichtig zu verstehen, dass im Grunde genommen die Ausnahme der Regel der karmisch interessante Fall ist. Wenn ein Flugzeug abstürzt und es einen oder zwei Überlebende gibt, dann ist interessant, wie es denn möglich war, dass die überleben konnten, wo alle anderen tot sind. Oder wenn jemand in einer Situation, wo alle anderen umgebracht wurden, nicht umgebracht wurde, dann ist diese Ausnahme signifikant, aber nicht der Regelfall. Der Regelfall beruht auf den Ursachen und Bedingungen, die in der Gesellschaft zu dieser Zeit einfach spielen. Wenn man sich auf solche Situationen einlässt, dann muss man damit einfach rechnen. Ist die Geburt als Mann oder Frau karmisch? Ja, es wird erklärt, dass das tatsächlich mit den Tendenzen zu tun hat, die im Moment der Empfängnis oder schon vorher dominiert haben. Bei einer Frau war in dem Moment stärkere Anziehung zur Männerseite, sie hat sich dualistisch als Frau, als das entsprechende Pendant positioniert. Dadurch kommt es für die nächste Existenz zu dieser Manifestation. – Das kann ich selber nicht nachvollziehen, so wird es erklärt. Was ich aber aus den Erklärungen weiß, ist, dass das keineswegs für die nächste Existenz festgelegt ist, da kann man sich wieder anders positionieren. Es hängt von den Kräften der Anziehung und Ablehnung in dem einen Moment ab, und wenn die karmischen Kräfte sehr stark sind, wird man sich immer wieder so positionieren, wenn sie weniger stark sind, kann man abwechselnd als Mann oder als Frau kommen und natürlich auch in anderen Daseinsbereichen. Der edle achtfache Pfad Würdest Du bitte die vierte Wahrheit, den achtfachen Weg der Edlen erklären? Der edle achtfache Weg beginnt mit der rechten Anschauung. Rechte Anschauung bedeutet, dass man versteht, worum es auf dem Weg des Erwachens geht. Danach kommt die rechte Gesinnung, die unser Handeln leitet, das ist unsere Motivation. Diese ersten beiden Glieder bilden die Grundlage für unsere Praxis, wenn die nicht stimmen, werden wir in die Irre gehen und mit ich-bezogener Motivation praktizieren. Die nächsten drei Faktoren bilden den Rahmen für unsere Praxis: rechte Rede, rechtes Verhalten und rechte Lebensführung. Wir geben also schädliches Verhalten auf und kultivieren Heilsames. Diese Glieder nähren wiederum die nächsten: rechtes Streben, rechte Achtsamkeit und rechte meditative Versenkung. Der letzte Faktor, rechte Sammlung oder Vertiefung, stärkt wiederum den ersten Faktor, rechte Anschauung, den Faktor des Verständnisses. So beeinflussen und nähren sich die Faktoren des achtfachen Pfades untereinander. Wir folgen in unserer Schule meist der Erklärung der sechs Paramitas, deswegen wird der edle achtfache Pfad nicht so häufig erklärt. Man kann darüber nachlesen, z.B. in der Abschrift des Kurses vom letzen Jahr. Durst – Tendenzen – Kleshas Du hast heute Vormittag davon gesprochen, dass Wunsch oder Durst auf einer unbewussten Ebene abläuft. Das sind aber keine gewohnheitsmäßigen Tendenzen, denn derer kann man sich ja bewusst

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sein. Wenn ich an Mangel an Bewusstheit oder Ablenkung denke, dann kann ich mir dessen bewusst werden. Wunsch und Durst der Unbewusstheit liegt tiefer. Ja, das hast du völlig richtig erkannt, der Durst ist noch einmal eine Schicht tiefer. Man kann drei Ebenen der Analyse beobachten. Die oberste, die unmittelbar wahrnehmbare Ebene, ist das Auftauchen eines Kleshas, Störfaktors, einer emotionalen Belastung – Ich bin ärgerlich, hab Anhaftung, hab Begierde. – Das kann man relativ leicht mitkriegen. Wenn man genauer schaut, sieht man auf der nächsten Ebene, dass dort die gewohnheitsmäßigen Tendenzen eine Riesenrolle spielen, die immer wieder zu diesen Kleshas, zu den Störgefühlen führen. Und wenn man sich die Gewohnheitstendenzen anschaut, entdeckt man darunter noch eine Schicht, die des impulsiven Anhaftens an Existenz oder des instinktiven Anhaftens an Sinneserfahrung. Das ist diese tiefste Schicht, von der es in den Kommentaren heißt, dass sie für normale Wesen völlig unbewusst ist. Normale Wesen haben dazu keinen Zugang, sie können sich dieser Schicht erst allmählich bewusst werden durch fortgesetzte Meditationspraxis und natürlich auch durch Instruktionen dazu. Damit diese unterste Ebene zum Vorschein kommt, muss man erst in den oberen Ebenen ein bisschen aufgeräumt haben, um das zugrunde Liegende besser sehen zu können. Die dritte Ebene wäre dieser Durst? Ja, das ist dieser existentielle Durst: das Verlangen nach Existenz, das Verlangen nach Sinneserfahrung, das tiefe Bedürfnis nach Standpunkten und der Hang zur Unwissenheit. Der Hang zu den Standpunkten, das sind dann die oberen Etagen, aber das Bedürfnis danach, sich immer wieder damit identifizieren zu wollen, das ist auf dieser tiefsten Ebene. Es scheint, dass ihr mit dieser Beschreibung was anfangen könnt. Sie ist zweieinhalbtausend Jahre alt. Es ist schon unglaublich, wie fein da erklärt wurde, wie fein da hingeschaut wurde.

Verlangen nach Nicht-Existenz Mir war aufgefallen, dass das Verlangen nach Nicht-Existenz jetzt nicht vorgekommen ist. Fällt das unter Verlangen nach Existenz oder ist das doch ein eigener Punkt? Ja, das wird manchmal noch separat gezählt, ist aber hier im Bereich des Verlangens nach Existenz enthalten. Es wird so erklärt, dass die Existenz zu schwierig wird, sie wird einem zu einer Bürde und man möchte dann nicht mehr existieren. Das ist also eine Reaktion auf Existenz. Störgefühle als Ursachen vermeintlichen Gewinns Ich überlege mir, warum wir diese heiße Kartoffel dann doch nicht so schnell loslassen können. Wenn ich diese Analyse anschaue, muss ich zugeben, dass ich die Kartoffel ganz schön lange in der Hand halte. Ich auch! Darf ich dich bitten, da noch ein bisschen weiter zu schauen? Warum meinst du, dass du diese heißen Kartoffeln so lange in der Hand hältst? Was ist es denn? Nach dem, was Du gerade erklärt hast, komme ich an das impulsive Anhaften nicht heran, obwohl ich vielleicht in den ersten beiden Ebenen schon ein bisschen sortiere und ich enorme Blockaden feststellen kann, Widerstände, und ich immer wieder an diese Unwissenheit komme. Aber dann plättet es mich ganz weg und dann versuch ich das Weggeplättet-Werden anzuschauen, atme wieder ein bisschen… Ich spür einfach, dass es ein großes Feld gibt, wo ich nicht an diese dritte Ebene komme und ich lass die Kartoffel in der Hand. Heute Morgen hab ich mir gedacht, dann musst du halt die Verbrennung loslassen. Aber dann ist man schon verbrannt, das kann ja auch keine Alternative sein. Weiter geht es gerade nicht… Ich möchte dazu noch was beisteuern: Ich glaube, wir haben immer noch das Gefühl, dass diese heiße Kartoffel uns glücklich machen könnte. Ich glaube, deswegen lassen wir sie noch nicht los. Wir versuchen, sie irgendwie noch genussfertig zu bekommen, wir haben noch eine Hoffnung dabei. Unsere Einsicht hat noch nicht aufgeräumt mit dem Gefühl: „Das könnte doch wirklich glücklich machen!“

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und schon gar nicht wollen wir loslassen, bevor nicht was anderes da ist, an dem wir uns festhalten können – lieber mich verbrennen, aber das hab ich sicher in der Hand. Um es noch klarer zu sagen: Ich habe die Überzeugung, dass ich aus diesen Geisteszuständen von Begierde, Ärger, Stolz noch einen Nutzen für mich ziehen kann. Ich habe das Gefühl, es bringt was, wenn ich mich aufrege; es bringt was, wenn ich meinen Begierden folge; es hat was, wenn ich stolz bin – und das für alle anderen Emotionen genauso. Ich hab einen vermeintlichen Gewinn daraus, und solange ich nicht in voller Klarheit entdecke, dass ich eigentlich auf der ganzen Linie Verlierer bin, lasse ich nicht los. Ich möchte zumindest den sekundären Gewinn aus dem Ärger z.B. haben – mir was vom Hals schaffen können. Da gibt es Gründe, warum wir mit bestimmten Mustern nicht aufhören, und diese Gründe gilt es zu sehen. Die müssen wir entdecken, Stückchen für Stückchen. Warum ich mit bestimmtem Verhalten nicht aufhöre, hängt mit bestimmten Mustern zusammen, weil mir ein Gewinn daraus zuzukommen scheint. Da muss ich hineinschauen, ob es denn tatsächlich so ist, wie es zu sein verspricht. Wir werden z.B. wütend, weil wir denken, wir könnten die Situation verbessern. Diesen naiven Glauben müssen wir erst einmal auflösen. Wir denken, Begierde, Besitzergreifen wäre der beste Weg, um uns etwas zu sichern. Das denken wir. Wir müssen das untersuchen: Ist es so oder ist es nicht so? Nur wenn wir herausfinden, dass es nicht so ist, erst dann sind wir bereit loszulassen. Dann werden wir vielleicht einen besseren Weg finden. Diese achtsame Arbeit im Detail, erst hinschauen und dann merken: „Ach ja! Das führt zu Leid … für mich und andere!“, das bewirkt, dass ich bereit bin, schnell loszulassen und schnell nach anderen Wegen zu suchen, in dieser Welt glücklich zu sein. Diese Arbeit müssen wir machen. Im Grunde genommen müssen wir jede heiße Kartoffel neu anschauen. Gerade wurde sehr deutlich, wie sehr dieses genaue Hinschauen gegen die Gesetze der Konditionierung läuft, denen wir ja unterworfen sind – als Pawlowsche Hunde. Meistens ist ja der Erfolg kurzfristig einmal da. Kurzfristig erlebe ich ja, dass ich mich z.B. habe durchsetzen können, ich habe ein Erfolgserlebnis und das wirkt als Konditionierung. Um es mit diesem Bild der Kartoffel zu sagen: Ich kann die heiße Kartoffel so lange zwischen meinen Händen hin und her balancieren, bis sie sich etwas abgekühlt hat, und dann schmeckt sie ja gut. Die Erfahrung hab ich gemacht. Das sind die Grenzen des Beispiels. Wenn die Kartoffel einmal kalt geworden ist, dann ist das Störgefühl auch kein Störgefühl mehr, das ist nur störend, wenn es heiß ist, dann brennt es.

Arhats - Mitgefühl Ich habe eine Frage zu dem Arhat von heute Morgen. Das hatte ich schon vorgestern mit dem Gleichmut. Bisher hatte ich verstanden, dass wir mit Gleichmut jenseits von Anhaftung, von Abneigung und Unwissenheit sind. Das war für mich immer der Punkt, wo Weisheit kam und Weisheit war für mich immer mit Mitgefühl gekoppelt. Meine Frage: Ein Arhat hat doch Gleichmut verwirklicht. Warum kommt nicht spontan, dass er zum Wohle aller Wesen wieder kommt und diese Aktivität weiterführt, sondern sich nach dem Tod in tiefe Versenkung begibt und dann für Kalpas nicht aktiv ist zum Wohl der Wesen? Das musst du einmal einen Arhat fragen. Darüber haben sich schon viele Gedanken gemacht. Eine mögliche Erklärung aus meiner Sicht wäre, dass die Ich-Bezogenheit aufgelöst ist, es aber nicht unbedingt zu einem aktiven Mitgefühl kommen muss, es sei denn man hat Wünsche in diese Richtung gemacht, dass es so sein möge; dass das Auflösen der Ich-Bezogenheit zu einem aktiven Mitgefühl wird. Arhats haben enormes Mitgefühl, Liebe und Mitgefühl ist in enormem Ausmaß vorhanden, aber in der Form, dass sie allen anderen ebenfalls den Weg der Befreiung wünschen und frei von Eigeninteressen dann in der großen Weite aufgehen. Darüber wird viel gesprochen – auch in den Kommentaren – wie weit denn aktives Mitgefühl tatsächlich Teil der Buddhanatur ist oder inwieweit es die Folge der vielen Wünsche ist, bis es zu diesem Erwachen kommt. Da kann ich weiter wirklich nicht darauf antworten. Es ist die Frage, ob es die Rahmenbedingungen sind oder ob es zur Natur des Geistes gehört.

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Unter den Arhats zur Zeit Buddhas gab es ziemliche Unterschiede. Da waren einige unaufhörlich zum Wohle der Wesen aktiv. Der aktivste Schüler war sicherlich Ananda – Shariputra und Maudgalyana waren auch ständig aktiv, aber Ananda hat nach Buddhas Tod noch vierzig Jahre weiter gemacht und war der zweite Regent. Von ihm heißt es sogar, er habe sich wieder inkarniert. Kalu Rinpoche soll eine Ausstrahlung von Ananda gewesen sein. Andere haben ein völlig zurückgezogenes Leben als Arhat geführt und haben sich reihenweise dazu entschlossen, den Körper zu verlassen, als der Buddha auch seinen Körper verlassen hat. Sie waren offenbar nicht mehr motiviert, weiter zu bleiben. Kassyapa hat sogar einen Aufruf starten und die restlichen Arhats bitten müssen, da zu bleiben und doch die Lehre weiter fortzusetzen. Er war stark motiviert, was für andere zu tun. Es scheint also schon da Unterschiede gegeben zu haben. Das ist eine Beschreibung von Fakten, ich kann sie nicht erklären, aber es kann was mit Wünschen zu tun haben, die auf dem Weg der Schulung gemacht worden sind. Es gab in der Theravada-Tradition immer wieder – bis heute – sehr aktive Arhats, unglaublich aktiv zum Wohl der Wesen. Es gibt in der Welt gut 400 Millionen aktiv praktizierende Buddhisten, die Hälfte sind Theravada- und die Hälfte Mahayana-Praktizierende. Es scheint nicht so zu sein, dass sich die Angehörigen der Bodhisattva-Schar stärker vermehrt hätten als die Angehörigen des Theravada. Es hat im Theravada immer genug Lehrer gegeben, um die Lehre vorzutragen. Das Mitgefühl hat immer ausgereicht. Ärger als Ausdruck von Weisheit? Kann Ärger nicht auch eine Form von Weisheit sein? Oft stellt sich ja Ärger ein, wenn andere unsere Grenzen massiv überschreiten. Dann Grenzen aufzuzeigen, finde ich eigentlich weise und deswegen denke ich, dass Ärger eine positive Funktion haben kann. Oder kann man das nicht so sagen? Wenn wir diese Grenzen ziehen könnten mit Weisheit, mit Energie, aber ohne aufgewühlt zu sein, das wäre sicherlich noch weiser. Der Ärger, der die Grenzen zieht, ist zwar weise, weil damit etwas Wichtiges bewirkt werden möchte, aber begleitet von innerem Aufgewühlt-Sein und da ist Anspannung dabei. Oft ist das auch nicht so besonders effektiv. Der Ärger schafft zusätzliche Probleme, er zieht nicht nur Grenzen, er schafft Missverständnisse usw., er hat viele Nachteile und hat aber auch die erwähnten Vorteile. Ein weises, gleichmütiges Verhalten wäre in der Lage, die Grenzen zu zeigen, ohne ärgerlich zu werden – die Grenzen klar zu benennen und sich dem entsprechend zu verhalten. Diese Fähigkeit lässt sich entwickeln, es ist eine Zunahme von Weisheit, die sich immer geschickter ausdrückt, ohne dabei ärgerlich werden zu müssen. Dieses Beispiel kannst du jetzt auf alle Emotionen anwenden. Alle Emotionen haben eine gewisse Weisheit enthalten, aber man verhält sich ziemlich ungeschickt, um das zu bewirken, was dieser weise Anteil eigentlich möchte oder was er repräsentiert. Man verwickelt sich in Anspannung. Gibt es tatsächlich einen gleichmütigen Ärger? Das scheint doch ein bisschen paradox. Ja, man nennt das zornvolles Mitgefühl oder erwachten Zorn. Es ist paradox, aber man kann es bei Meistern sehen, die das manifestieren können. Sie haben z.B. diese starke Energie manifestiert, können dadurch auch bei anderen eine Emotion zum Innehalten bringen und sind selber im nächsten Moment wieder lachend und völlig frei. Da sieht man, dass keinerlei innere Anspannung dabei war. Sie haben nur die kraftvolle Erscheinung genutzt, um etwas zu beenden, was in eine schädliche Richtung geht. Diese Fähigkeit ist wunderbar, das ist eine enorme Flexibilität des Geistes. Da ist nichts, was sie im nächsten Moment belastet, da ist kein echter Ärger, da ist kein Übelwollen, keine persönliche Betroffenheit. Da ist nur: „Stopp! Das geht zu weit!“ ***

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24) Ärger ist eine feindselige Geisteshaltung entweder fühlenden Wesen gegenüber, dem Leiden selbst oder gegenüber der Basis des Leidens, also dem Objekt gegenüber, auf das wir uns beziehen. Er bewirkt, dass glückliche Zustände nicht erfahren werden und unterstützt fehlerhaftes Verhalten. Ärger, Wut, Zorn beabsichtigt das was unseren Ärger auslöst zu beseitigen, zu vernichten oder zumindest auf Abstand zu halten. Zunächst einmal kommen als Objekt unseres Ärgers Lebewesen in Frage, natürlich an erster Stelle Menschen, aber dann auch Tiere. Sogar kleinste Insekten wie Mücken schaffen es, uns ärgerlich zu machen. Oder Ärger hat als Objekt nicht so sehr das was das Leid auslöst sondern das Leiden selbst, unangenehme Empfindungen. Ich ärgere mich z.B. darüber, dass ich schon wieder leide, dass es mir schon wieder schlecht geht, dass ich schon wieder unangenehme Empfindungen erleben muss. Dann kann man sich über die Bedingungen des Leidens ärgern, z.B. über Gesellschaftsstrukturen, die zu bestimmten Formen des Leides führen oder über Familienstrukturen, über verschiedene physische und emotionale Bedingungen. Das ist so der offenkundige Sinn. Man kann sich sogar darüber ärgern, dass man lebt. Man kann seine Existenz, seinen eigenen Geist, sein Ichanhaften so fürchterlich finden, dass man sich total ärgert überhaupt zu leben mit so einem Geist, mit so einem unbrauchbaren Instrument, das es nicht schafft Frieden zu finden. Man ärgert sich im Grunde genommen über die eigenen Skandhas, über all das was unser Dasein ausmacht. So weit kann das gehen, man kann all das auch noch als Objekt des Ärgers nehmen. Ich denke ihr kennt das, wenn jemand in solch einem Ärger ist, in einem Ärger über das ganze Leben und sich dann auch noch darüber ärgert, dass einen die Eltern in die Welt gesetzt haben – die sind doch schließlich dafür verantwortlich, dass man jetzt hier ist und leidet und in diesem Körper sein muss. Der Ärger richtet sich gegen alles. Ich bin solchen Menschen wirklich begegnet, sie sind in einer furchtbaren Situation, weil ihnen der eigene Geist zum Feind wird. Die ganze Existenz wird ihnen zum Feind und sie finden keinerlei Ausweg mehr, es wird unerträglich. Diese Form des Leidens ist nicht auszuhalten, und dieser Ärger infiltriert wirklich in alles, nichts ist mehr eine Basis für ein entspanntes Leben, alles wird mit großer Ablehnung bedacht. Es ist offenkundig, dass dieser Ärger dann zu solcher Verzweiflung führt, dass es zu Selbstmordgedanken kommt. Die eigenen Skandhas werden zum Feind. Der Körper, die Wahrnehmungen, die Empfindungen, die Unterscheidungen, die eigenen Gedanken, die Bewusstseinszustände, all das wird als ein unglaubliches Gefängnis erlebt. Es ist also eine feindselige, übel wollende Geisteshaltung dem eigenen Körper gegenüber, sich selbst gegenüber, anderen gegenüber, den Ursachen und Bedingungen gegenüber, die zu bestimmten Situationen geführt haben. Es gibt keine Grenzen für Ärger, er kann sich auf alles ausbreiten. Ganz offenkundig kann man in solch einem Geisteszustand kein Glück erfahren. Es gibt keinen Frieden und Ärger ist die Ursache für unglückliche Geisteszustände. Man wird durch Ärger nicht glücklich. Ärger und Glück schließen einander gegenseitig aus. Wo wirklich ein glücklicher, friedvoller Geist ist, ist kein Ärger und wo Ärger ist, ist kein Frieden, kein glücklicher Geist. Selbstverständlich bereitet Ärger den Weg für nicht heilsames, schädliches Handeln sich selbst und anderen gegenüber, was man fehlerhaftes Verhalten nennt. Man ist im Ärger ja auch wie blind, man meint zwar die Dinge ganz scharf zu erkennen, hat aber eine Scheuklappensicht der Wirklichkeit. Wir sehen in einem Bereich nur das, und das sehen wir ganz groß, ganz stark, besonders das was uns aufregt, was nicht angenehm ist. Das sehen wir mit einer solchen Klarheit, mit solch einer Präzision, dass wir denken, wir hätten einen scharfen Geist. Aber wir sehen nicht den Rest, die panoramische Sicht geht verloren. Es ist ein Filter, unter dem sich unsere gesamte Aufmerksamkeit auf nur einige wenige Merkmale ausrichtet, und bei ganz starker Wut wird der Tunnel immer enger. Menschen haben mir sogar beschrieben, dass sie bei ganz starker Wut gar nichts mehr sehen, d.h. visuell auch gar nichts mehr wahrnehmen. Es wird alles dunkel, schwarz, sie schlagen dann nur noch drauf ein, es besteht dann nicht einmal mehr die klare Tunnelwahrnehmung, auch die zieht sich noch vollkommen zu. Es ist total erschütternd, wenn Menschen ehrlich darüber sprechen, was mit ihnen

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passiert, wenn sie völlig die Kontrolle über sich verlieren. Dann geht auch der letzte Rest von Klarheit noch verloren. Wenn wir uns das anschauen, dann bemerken wir natürlich wie hilflos und gefangen jemand in diesem Ärger ist. Wenn wir noch tiefer hinschauen, sehen wir was für enorme Ängste da eine Rolle spielen – Mangel an Selbstvertrauen, Verlust des inneren Gleichgewichts jeder Art – ausgelöst natürlich durch verschiedene Formen der Ich-Bezogenheit. Im Ärger, in der Wut selber ist man nicht mehr im Kontakt mit den Ängsten. Der Ärger hilft, die Ängste zu vergessen, darüber hinauszugehen und sie quasi nach außen zu wenden in der Absicht zu zerstören, Grenzen zu ziehen. Man will das was vermeintlich Leid erzeugt aus der eigenen Erfahrung entfernen, zerstören. Von leichten Emotionen angefangen bis zum stärksten Zorn sind es einfach nur Stufen, man wird immer enger und entfernt sich immer mehr von sich selbst. Die nicht heilsamen Handlungen sind vorprogrammiert, sie sind ganz offenkundig da. Man beginnt zu schimpfen, ärgerlich zu sprechen. Man sagt Worte, die man später dann bereut, man beginnt zu schlagen, Objekte zu zerstören, man zerstört Dinge, die einem besonders am Herzen liegen. Man ist so außer Rand und Band, dass man Verwünschungen ausspricht, man sagt z.B.: „Nie, nie im Leben werde ich dir jemals wieder die Hand reichen!“ Man versucht, Menschen aus dem eigenen Leben raus zu werfen, nur ja kein Kontakt mehr. „Wenn du jemals meine Hilfe brauchen würdest, ich würde dir nie wieder helfen!“ Man sagt solche Dinge, man ist völlig überzeugt davon, dass das genau die richtige Haltung sei. Von daher kommt es zu Handlungen mit Körper, Rede und Geist, die wir später oftmals bereuen. Wir haben alles zerstört und es braucht lange, bis das wieder repariert werden kann, wenn überhaupt. Es braucht dazu eine innere Kehrtwendung, einen großen Prozess – auch mit den anderen Menschen – um wieder zu einer tragfähigen Beziehung zu kommen. Da steht dann ein langer Prozess der Heilung an. Ihr seht deutlich, dass mit Ärger nichts zu gewinnen ist. Ärger ist eine sehr zerstörerische Emotion. Drum ist es sehr wichtig mit Ärger aufzuräumen, sich nicht davon überrollen zu lassen. Zunächst die physischen Handlungen zu kontrollieren und dann auch die verbalen Handlungen und schließlich auch die eigenen Gedanken im Zaum zu halten und sich möglichst schnell wieder zu beruhigen. Wir müssen also lernen, auf diesen drei Ebenen von Körper, Rede und Geist zerstörerisches Verhalten aufzugeben. Ich denke, wir brauchen nicht viel über diesen Faktor zu sprechen, was darüber gesagt wird ist offenkundig. Aber es gibt einen Bereich, der vielleicht wichtig ist anzusprechen: der verdrängte Ärger, der sich nach innen richtet und uns innerlich als Gift auffrisst. Wenn verdrängter Ärger wieder aufsteigt, dann geht es darum, ihn ins Bewusstsein kommen zu lassen und ihn nicht so auszudrücken, dass er zerstörerisch wird. Wir müssen lernen ihn so auszudrücken, dass er nicht zerstörerisch ist und dass wir unsere Scham vor diesem starken Gefühl verlieren. Wir müssen die Bewertungen, die dazu geführt haben, dass dieser Ärger verdrängt wurde, auflösen und Wege finden, die wir damals, als wir ihn verdrängt haben noch nicht kannten, um mit ihm umzugehen. Wir müssen neue, intelligente Wege finden. Um diesen starken Gefühlen Luft zu machen, braucht es oft eine Übergangsphase, in der wir uns erlauben sie auszudrücken. Aber dabei geht es darum niemanden anzugreifen – weder sich selbst noch andere, noch Objekte. Z.B. zu schreien: „Mir stinkt’s! Ich kann nicht mehr!“ und in einen Riesenschrei ausbrechen, der aber niemanden angreift. Es ist sehr befreiend, wenn man dem einfach Luft geben kann. Danach kann man dann normal weiter machen. Dieser Kraft einmal Ausdruck zu geben ist total hilfreich. Danach findet man dann noch intelligentere, noch weisere Wege damit umzugehen, aber zunächst hilft einmal die Ventile zu öffnen, damit das raus kommen kann ohne zerstörerisch zu wirken. Jeder von uns kann ja beim anderen akzeptieren, dass der einmal ärgerlich wird, wenn kein Angriff stattfindet. Es ist gar nicht so schwer, dem anderen zu erlauben, einmal sauer zu sein. Was so schwierig ist, sind diese verletzenden Worte, verletzende Handlungen, wenn Menschen oder Dinge angegriffen oder zerstört werden. Das macht es total schwierig.

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Bei den weiseren Wegen mit Ärger umzugehen, geht es natürlich um die Kenntnis der Prozesse, die sich da abspielen. Es geht um das Entwickeln von Liebe und Mitgefühl, es geht um Verständnis von karmischen Situationen. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch all das im Kapitel über Geduld im ‚Kostbaren Schmuck der Befreiung’ von Gampopa genauer anschauen. Da werden ungefähr 14 verschiedene Methoden aufgezählt mit Ärger zu arbeiten. Es gibt aber auch die Transkripte von den früheren Kursen hier über Emotionen, wo wir sie auch ziemlich detailliert durchgenommen haben. Das ist nicht die Aufgabe dieses Kurses hier. Als Buddha die nicht heilsamen Faktoren benannte, ging es ihm in erster Linie darum, uns zu motivieren mit diesen Faktoren aufzuräumen, uns nicht von ihnen hinreißen zu lassen. Diese Motivation gibt uns die Energie für die Suche nach heilsamerem Umgang mit schwierigen Situationen, und diese Suche wird uns die Arzneien, die Heilmittel finden lassen, die tatsächlich hilfreich sind.

25) Stolz ist arrogante Überheblichkeit, die sich auf die „Anschauung in Bezug auf die vergängliche Ansammlung“ stützt. – Das ist eine Identifikation mit diesen Skandhas. – Er bewirkt, keine Rücksicht auf andere zu nehmen und unterstützt das Entstehen von Leid. Stolz wird in sieben Arten unterteilt. Der Begriff Stolz oder Arroganz ist hier einfach als eine Sammelbezeichnung für sieben Arten von Stolz zu verstehen, die ich nachher noch erklären werde. Stolz wird erst einmal als angenehm oder neutral empfunden, weil uns zunächst die Antennen fehlen, um Stolz als etwas zu erleben was uns anspannt. Wir leben so stark im Stolz, in dieser Selbstbezogenheit, wo wir uns besser fühlen als andere oder zumindest als wichtiger als andere, dass es wie unsere eigene Haut ist. Wir haben keine Distanz zu dieser Emotion Stolz. Sie begleitet uns überall hin, sie infiltriert alle Lebensbereiche und wird nicht so oft als ein einzelner Moment des Stolzes wahrgenommen sondern läuft mehr so in Wellen und springt nicht so schnell an – es sei denn wir werden in unserem Stolz durch eine Kritik getroffen. In dem Moment kann man ihn gut spüren. Aber ansonsten begleitet er uns in allem was wir tun, ohne dass wir wahrnehmen, stolz zu sein. Stolz beginnt bereits auf der grundlegendsten Ebene wo wir sagen, „Ich bin!“, „Hier dieser Körper und Geist, das bin ich!“ Das ist der Anfang, auf dieser Ebene sind Stolz und Unwissenheit fast identisch. Man kann sagen, dort wo es mangelndes Gewahrsein über die wahre Natur der Skandhas, über die wahre Natur des Seins gibt, da sind Unwissenheit und Stolz ident. Aber Stolz geht weiter. Stolz sagt nicht nur „Hier bin ich!“, das wäre der erste Schritt, sondern auch „Ich bin das Zentrum der Welt!“ Das ist der wichtige nächste Schritt. „Ich sehe!“, „Ich höre!“, „Ich rieche!“, „Ich schmecke!“, „Ich fühle!“ und „Ich denke!“ Und das was ich rieche, fühle, schmecke und denke, das ist wichtiger als das was andere riechen, fühlen, schmecken und denken. Hier beginnt der Stolz, sich von der allgemeinen Unwissenheit abzuheben und wird eine Emotion in dem Sinne, dass er mit starken affektiven Anteilen einhergeht. Es ist dieses Gefühl im Mittelpunkt der Welt zu stehen. Wir schaffen ein Zentrum, um das sich alles dreht, und sind dann ganz erstaunt, dass sich die anderen nicht um uns drehen. Dann sehen wir deren Stolz, die drehen sich ja um sich selbst. Im Grunde genommen ist das die Frage: „Warum drehen sich die denn nicht um mich? Warum kümmern sie sich nicht um mich sondern um sich selbst?“ Wenn wir das Erleben von sich selbst als Mittelpunkt, als Zentrum der Welt mit diesem Erstaunen, dass die anderen nicht wie die Planeten um mich als Sonne kreisen, merken wir, dass auch Geisteszustände, die wir normalerweise gar nicht als Stolz identifizieren würden, tatsächlich Stolz sind: und zwar so etwas wie Depression, deprimierte Geisteszustände. In Depression leben wir nur noch in uns selber, wir drehen uns nur noch um uns selber und kriegen kaum noch was von anderen mit. Wir warten vielleicht darauf, dass andere vielleicht kommen und uns noch helfen oder aber wir haben auch das schon aufgegeben und konzentrieren uns nur noch auf uns selbst, auf unser Leid, darauf wie schlecht es uns geht, wie schwierig das Leben ist und eigentlich keinen Sinn macht. Wir sind nur noch mit den eigenen Gedanken beschäftigt. Das ist Stolz. Normalerweise würde man das nicht denken,

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aber wenn man den Mechanismus kennt wie Stolz funktioniert, dann kann man den extrovertierten und den introvertie rten Stolz und die vielen Schattierungen gut sehen. Es ist immer dieses Kreisen um sich selbst, um einen vermeintlichen Mittelpunkt. Die Hypochondrie, das Drehen um die eigenen vermeintlichen Symptome und Krankheiten, die übersteigerte Wahrnehmung des eigenen Leides sind ebenfalls ein Beispiel von diesem Geistesgift des Stolzes. Nehmen wir Personen mit schwachem Selbstbewusstsein, die ständig an sich selber zweifeln. Wenn es Dinge zu erledigen gibt, sagen sie: „Oh! Ich kann nicht! Dazu bin ich nicht in der Lage! Das trau ich mir nicht zu“. Wo andere in ihrem Stolz sagen: „Ich bin super, ich schaff das!“, da sagen sie: „Ich bin nichts! Ich bin ein Niemand, ich bin unfähig! Ich bin das Letzte überhaupt!“ Das ist eine Abwertung von sich selbst, die aber wieder Ausdruck dieser enormen Ich-Bezogenheit ist, genau wie der Stolz. Auch das ist Stolz, nur ist es der umgekehrte Stolz. Es ist die Ich-Bezogenheit in ihrer extremen Ausprägung als Herablassung sich selbst gegenüber, also als eine abwertende Beziehung sich selbst gegenüber. Mit diesen paar Bemerkungen, mit dem Erklären des eigentlichen Mechanismus des Stolzes, nämlich sich um sich selbst zu drehen und alles andere aus dem Blick zu verlieren, habt ihr eigentlich das Wesentliche in der Hand, um auch andere Verhaltensweisen, andere Lebensweisen daraufhin zu untersuchen. Ich werde euch jetzt kurz die sieben Arten von Stolz erklären, aber als Vorbemerkung: das was man allgemein Stolz nennt heißt im Tibetischen ngagyal – ‚ich König’. Gyalpo ist König, nga bedeutet ich. Hier kommt genau diese grundlegende Tendenz zum Ausdruck. Die sieben Arten von Stolz – sie stehen unter Fußnote 60 – sind: 1) In Arroganz oder Hochmut – geringere Form von Stolz – basiert der Stolz darauf, dass man sich anderen in bestimmten Fähigkeiten oder in Besitz, in bestimmten Attributen überlegen fühlt. Man bläht die tatsächlich bestehende Differenz in diesen Fähigkeiten auf, misst dem Ganzen große Bedeutung bei und verhält sich dann herablassend mit einem Mangel an Respekt anderen gegenüber. Hier geht es also um das Aufblähen tatsächlich existierender Unterschiede. 2) Bei der Herablassung – großer Stolz – geht es um die Form des Stolzes, wo wir mit Menschen zusammen sind, die eigentlich dieselben Fähigkeiten haben wie wir, wo es keinen wesentlichen Unterschied gibt. Wir sind unter Gleichwertigen, bilden uns aber ein, dass wir ihnen überlegen sind. Wir bemerken diese Form von Stolz immer dann, wenn wir mit Menschen zusammenkommen, die eigentlich unseresgleichen sind. Denjenigen, die ohnehin weniger Fähigkeiten haben und schwächer sind als wir, begegnen wir durchaus entspannt und denjenigen gegenüber, die uns überlegen sind, haben wir durchaus Respekt – z.B. spirituelle Meister oder Leute, die in der Hierarchie, in den Fähigkeiten über uns sind. Aber sobald wir mit denen zusammen sind, die eigentlich auf unserer Ebene der Kompetenz sind, zeigt sich dieses Bedürfnis, sich selbst als überlegen heraus zu streichen. 3) Bei der nächsten Form, Überheblichkeit – extremer Stolz – geht es um die Form des Stolzes, wo wir in Bezug auf andere, die uns tatsächlich überlegen sind, meinen wir seien überlegen. Wir maßen uns an besser zu sein, fähiger zu sein als Leute mit offenkundig besseren Fähigkeiten, z.B. sich zu denken wir seien dem Buddha überlegen oder wir seien den spirituellen Meistern überlegen oder z.B. unserem Chef in der Firma, der 40 Jahre Erfahrung hat und wir sind gerade dabei unsere Lehre zu machen. Das ist also krasser Stolz und wird als der extreme Stolz bezeichnet. Wir haben jetzt drei Arten von Stolz kennen gelernt: den geringeren, den großen und den extremen Stolz. Beim geringeren Stolz sind wir tatsächlich überlegen, beim großen Stolz sind wir gleichwertig und beim extremen Stolz sind wir tatsächlich weniger fähig als diejenigen, denen wir uns überlegen vorkommen. Die Selbstüberschätzung wird also immer krasser. 4) Die nächste Form von Stolz ist Anmaßung. Man bildet sich ein, nur gering weniger Fähigkeiten zu haben als jemand, der uns in seinen Fähigkeiten tatsächlich weit überlegen ist. Man begegnet z.B. ei-

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nem spirituellen Meister. Man denkt nicht, dass man ihm überlegen oder ihm gleich wäre, sondern sagt: „Ich bin nicht mehr weit davon entfernt, es fehlt nur noch ein kleines Bisschen! Ich bin schon fast so verwirklicht wie er, ich kann es fast so gut wie er!“, obwohl der Unterschied so groß ist wie zwischen einem kleinen Hügel und einem riesigen Berg. Man kriegt das nicht mit und ordnet sich in seiner Anmaßung nur noch gerade knapp unter. Das ist auch eine spezielle Spielform von Stolz. Man hat also ein Ideal, ein Idol, sieht die eigenen Fehler gar nicht und projiziert die eigene Größe so, dass eigentlich kaum noch was fehlt, um so toll zu sein wie das eigene Ideal oder Idol. Diese Form von Stolz kann sich auch als der umgekehrte Stolz manifestieren, den wir schon kennen gelernt haben. Wir machen uns selbst komplett runter und sagen z.B.: „Ich habe nicht einmal einen Bruchteil der Qualitäten meines Meisters, nicht einmal den Bruchteil der Qualitäten der anderen Person.“ Man macht sich völlig runter, hält sich für völlig unwichtig, ist aber mit diesem Selbstbild, mit dieser Selbstsicht völlig identifiziert. 5) Die nächste Form des Stolzes ist eine Art der Einbildung, in der wir ganz allein mit uns selbst sind und in unserem eigenen Denken die eigenen Qualitäten völlig überschätzen. Wir denken, dass wir viel mehr Fähigkeiten und Qualitäten haben als tatsächlich vorhanden sind. Wir können z.B. denken, dass wir sehr stark sind, wo wir tatsächlich nur ganz normale Kräfte haben. Man kann das bei Kindern manchmal sehen. Die können in ihrer Vorstellung auf einen hohen Baum klettern und von oben runterspringen. Es ist eine Fehleinschätzung der eigenen Kräfte ohne sich mit anderen zu vergleichen. Das finden wir bei Erwachsenen auch, die in ihren Tagträumen, Fantasien sich ausmalen, was sie alles Wunderbares tun könnten, tun werden und ohne direkten Vergleich zu anderen völlig daneben liegen mit dem, was sie über sich selbst denken. Man kann sich vorstellen man sei extrem intelligent, obwohl man sehr begrenzte Intelligenz hat. Man kann denken man sei ein super guter Schwimmer, ohne jemals ausprobiert zu haben längere Strecken zu schwimmen. Man kann sich alles Mögliche einreden. Man kann sich vorstellen man könnte hohe Berge erklimmen, ohne die ersten Grade des Bergsteigens kennen gelernt zu haben. Man kann alle möglichen Vorstellungen im Kopf haben darüber, was man nicht alles machen könnte. Und solange diese Fähigkeiten nicht getestet werden, den Test des Lebens nicht bestehen müssen, können wir weiter daran festhalten und denken wie toll das einmal wird, wenn wir das tun werden oder so sein werden. Man kann unendlich lang daran festhalten. 6) Dann gibt es die Form des völlig in die Irre gehenden Stolzes. Das ist der Stolz zu glauben dort Qualitäten zu haben, wo wir in Wirklichkeit größte Schwierigkeiten oder Fehler haben, z.B. zu glauben wir seien freigebig, obwohl unser Leben tatsächlich von Geiz bestimmt ist. Wir können auch stolz auf etwas sein, was tatsächlich etwas völlig Schädliches oder nicht Heilsames ist, z.B. viele Menschen getötet zu haben oder ein besonders geschickter Lügner zu sein, Menschen täuschen zu können. Damit wird deutlich, dass sich der Stolz alles als Objekt heranziehen kann. Man kann stolz sein auf die übelsten Eigenschaften und die als etwas besonders Tolles hervorheben. Um es noch einmal ganz klar zu machen: Man kann sogar auf die eigenen Fehler stolz sein und z.B. denken wie toll das ist: „Ich bin überhaupt der Faulste in der Welt!“ Man kann sogar stolz sein, wie toll man andere foltern kann. Man kann noch viel weiter gehen, man kann sogar stolz auf Fehler derer werden, mit denen wir uns identifizieren, z.B. stolz darauf sein, was für ein toller Lügner der eigene Sohn ist, oder was für ein toller Dieb. Ja, man kann denken, wie toll der eigene Sohn andere zusammen schlägt, sogar darauf kann man stolz sein. Stolz kann alles als Objekt für Selbstüberheblichkeit ergreifen – nicht nur die eigenen Fehler, sondern auch noch die Fehler derer, mit denen wir uns identifizieren. 7) Zum Abschluss kommen wir zu einer ganz anderen Form des Stolzes, der Selbstgefälligkeit, Einbildung. Man nennt diesen Stolz auch den gewöhnlichen Stolz. Er besteht darin, dass wir uns mit den fünf Skandhas von Körper und Geist als ein Ich identifizieren. Es ist der Mechanismus, den wir vorher schon gesehen haben. Wir nehmen an, da gäbe es ein Ich mit seinen Gedanken, seinem Körper usw., obwohl da in Wirklichkeit gar kein Ich zu finden ist. Das ist also die zugrunde liegende Unwissenheit, das Haften an einem Ich, auf dem man dann seine Ich-Identität aufbaut. Doch in Wirklichkeit ist dieses vermeintliche Ich einfach das Funktionieren der Skandhas von Moment zu Moment. Auf der Basis dieser Identifikation mit den Skandhas können sich dann weitere Formen von Stolz aufbauen wie Eitelkeit – Eitelkeit als starke Identifikation mit dem eigenen Äußeren oder dem Äußeren

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große Bedeutung zu geben – oder auch verschiedene Formen von Arroganz oder Herablassung, die mit dieser starken Identifikation mit dem eigenen Sein einhergehen. Stolz kennt keine Grenzen. Es ist ein Mittel um sich selbst für besonders zu halten, für das Zentrum der Welt. Sich für wichtig zu halten ist die Funktion des Stolzes. Stolz möchte etwas Besonderes sein. Und wenn wir nicht die Besten bzw. etwas Besonderes sein können, dann sind wir wenigsten die Schlimmsten, die Unwürdigsten, ein totales Nichts. Normal sein zu können, gewöhnlich, so wie andere, entspricht nicht dem Merkmal des Stolzes. Wir als Dharmapraktizierende tun gut daran, uns als gewöhnliche Dharmapraktizierende zu sehen, als nichts Außergewöhnliches. Wir können großen Nutzen daraus ziehen, was diese Unterweisungen, die schon vor zweieinhalbtausend Jahren entstanden sind und sich bewährt haben, uns zu sagen haben. Es gibt aber Leute, die zum Lama kommen und sagen: „Ich brauche spezielle Unterweisungen! Du musst mir genau sagen, was es jetzt für mich braucht!“ Es ist, als wäre man ein besonderer Fall, der in der Dharmageschichte noch nicht vorgekommen ist und der von den Dharmaunterweisungen noch nicht abgedeckt wird. „Ich brauche etwas ganz Spezifisches, ich bin ein besonderer Fall! Ich brauche auch eine besondere Beziehung zum Lama, weil ich ganz besondere Schwierigkeiten habe!“ Das ist der Mechanismus des Stolzes. Was besonders hilft um mit diesem Stolz aufzuräumen ist, sich immer wieder zu erinnern, dass es nicht das Ich ist, das die Qualitäten besitzt. Wir haben Qualitäten, wir haben viele Qualitäten, jeder von uns. Diese Qualitäten gehören aber nicht mir, dem Ich. Es sind die Qualitäten der Natur des Geistes. Es sind die Qualitäten, die sich zeigen wenn wir entspannen. Wenn das Ich nicht so präsent ist, dann kommt der Fluss in Gang, dann entsteht Freigebigkeit, dann zeigt sich Liebe, dann kommt Freude, dann kommen Klarheit des Geistes und Verständnis, dann kommen all die Qualitäten zum Vorschein, weil das Ich nicht im Wege steht. Immer wenn das Ich stark ist, blockiert es, die Qualitäten sind nicht im Fluss, sie werden eingeengt, sie werden durch den Stolz abgewürgt. Sie bekommen eine Beimengung, wo sie ihre reine Qualität verlieren. Qualitäten, die tatsächlich vorhanden sind, sind nicht meine Qualitäten, sind nicht die Qualitäten des Ichs. Es sind die Qualitäten dessen, was der Geist ganz natürlich zum Vorschein bringt, der Geist von einem jeden von uns. Das meinte Gendün Rinpoche damit, wenn er sagte, dass alle Qualitäten diejenigen des Dharma sind. Mit Qualitäten des Dharma meinte Gendün Rinpoche die Qualitäten der Natur der Dinge. Sie sind einfach da, sie manifestieren sich einfach von selbst, ohne jeglichen Eigentümer, ohne Besitzer. Was wir von unserer Seite aus tun können ist, uns einfach daran erfreuen, dass sich die Qualitäten manifestieren, dass ein Fluss entsteht, wo die Qualitäten des einen und des anderen sich gegenseitig unterstützen, dass Dinge passieren. Und wir mischen uns da möglichst nicht ein mit unserer IchBezogenheit, um den spontanen Prozess dieser Qualitäten nicht zu stören, ihn zuzulassen und uns ins Vertrauen hinein zu entspannen, damit dieser spontane Prozess tatsächlich das Bestmögliche zum Vorschein bringt. *** Damit diese Unterweisungen fruchtbar werden und nicht verloren gehen, müssen wir jetzt mit jedem einzelnen dieser Faktoren vom Hören zur Kontemplation wechseln. Es ist beeindruckend, wie genau der Buddha das Ichanhaften, den Stolz beschrieben hat. Aber es darf nicht einfach nur eine inspirierende Unterweisung bleiben, sie muss dazu führen, dass wir mit diesen Tendenzen auch tatsächlich aufräumen. Dazu müssen wir uns bewusst werden, welche dieser Tendenzen in uns vorhanden sind, welche stärker aktiv sind und welche manchmal aktiv sind. Ich selber habe durch die Beschäftigung mit diesen Unterweisungen immer wieder die verschiedenen Formen meines Stolzes entdeckt und glaube mit allen sieben Formen, die da erklärt wurden, eine klare Verbindung zu haben, eine direkte persönliche Erkenntnis dessen worum es sich da jeweils handelt. Ich könnte mir vorstellen, dass es hier fast jedem so geht, dass wir – wenn wir danach suchen – mit all diesen Formen aus der eigenen Erfahrung etwas anfangen können. Das zeigt uns, dass wir ganz normale Menschen sind, dass wir durchaus in dieses gewöhnliche Maß samsarischer Existenz hineingehören.

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Sich dessen bewusst zu werden ist der Beginn des Heilungsprozesses. Weiters geht es natürlich darum, die heilsamen Geistesfaktoren zu stärken, also das was dann tatsächlich auch aus diesen Fixierungen herausführt. Was den Stolz angeht, ist die Praxis des sich Austauschens mit anderen, also den Platz des anderen einzunehmen besonders wertvoll und hilfreich. Das ist die Praxis des Tonglen in der speziellen Anwendung des sich in den anderen Hineinversetzens, wo man das Leid und die Freuden des anderen als die eigenen praktiziert. Das ist eine Unterform der Lodjong-Praxis, des Geistestrainings. Der Prozess sieht so aus, dass wir zunächst aussteigen aus unserer Sichtweise und uns hineinversetzen in die Sichtweise des anderen oder der anderen. Wir lassen uns ganz darauf ein deren Freuden, deren Leiden zu erfahren. Schließlich gehen wir auch darüber hinaus und schauen, was denn für ein Verhalten mit Körper, Rede und Geist hilfreich wäre für alle – für uns selbst und andere, für die Gesamtsituation. Um das tun zu können, braucht es ein feines Gespür dafür was im anderen vor sich geht. Der Versuch wird sein, die Welt mit den Augen des anderen zu sehen, mit dem Herzen des anderen zu erleben, so wie die Indianer sagen: in den Mokassins des anderen zu gehen. Wir werden versuchen, die Schuhe des anderen zu tragen und die Welt wirklich aus dem Blickwinkel des anderen zu erfahren. Um diese Fähigkeit zu entwickeln, müssen wir anderen unglaublich gut zuhören, sie fragen wie sie denn die Welt erleben, sehen, spüren, sodass wir nicht nur projizieren wie denn wohl der andere die Welt sieht, sondern dass wir das tatsächlich auf der Basis guter Auskünfte intuitiv erspüren können. Dabei geht es auch darum, sich selbst mit den Augen des anderen zu sehen: Wie wirke ich auf den anderen, wie erlebt der andere mich? Wir nehmen also wirklich eine andere Perspektive ein und dies machen wir dann mit verschiedenen Personen, um zu einer anderen Sicht der Gesamtsituation zu kommen, die nicht mehr ichbezogen ist. Wir haben dann verschiedene ichbezogene Versionen ausprobiert und versuchen zu erspüren, was für alle hilfreich sein könnte. Bei der Frage was für alle hilfreich sein könnte, müssen wir ja zunächst einmal erspüren was sie denn überhaupt erfahren, damit wir uns ein Bild davon machen können was ihnen hilfreich sein könnte. Die Ideen dafür kommen natürlich aus unserer Erfahrung, weil wir bestimmte Arten und Weisen zu denken, zu sprechen an uns ausgetestet haben, an uns erfahren haben, und dann schauen wir, ob das für andere tatsächlich hilfreich sein könnte. Um diese Hilfe anzubieten zu können, gehen wir nicht gleich ins direkte Handeln, sondern wir bleiben zunächst einmal bei der Praxis des Tonglen. Wir geben unsere Unterstützung, die wir für sinnvoll halten und atmen die Blockaden ein. Mit dem Einatmen öffnen wir uns für die Schwierigkeiten und mit dem Ausatmen geben wir unsere Unterstützung, wir lassen das Bild in uns wirken, dass alle diese Unterstützung erhalten. Dieses Bild wie es sein könnte wird in uns wach gerufen und dabei ist wichtig, dass das zunächst einmal auch uns völlig öffnet und entspannt. Dann arbeiten wir weiter mit diesem Bild der Heilung, der Unterstützung, des Auflösens der Schwierigkeiten bis wir wirklich spüren, dass sich das Bodhicitta in unserem Herzen ausbreitet. Und mit dem Bodhicitta im Herzen atmen wir weiter, wir atmen ein, wir atmen aus… Bodhicitta beginnt unser ganzes Wesen zu füllen, und aus dieser Erfahrung des Bodhicitta heraus beginnen wir dann zu sprechen, machen körperliche Gesten und wir denken, wir bringen unsere Gedanken in die Situation. Bodhicitta beinhaltet alle erwachten Qualitäten. Wenn Bodhicitta in unserem Herzen aktiv ist, sind alle heilsamen Faktoren aktiviert. Wenn wir darin verweilen können, wird ganz automatisch unser Handeln, unser Sein positiv, von guter Auswirkung sein. Wir sind dann nicht mehr in Ich-Bezogenheit sondern wir sind in Öffnung, in Annahmebereitschaft und in der Bereitschaft zu teilen. Wir sind völlig raus aus dem Geist des Manipulierens, aus dem emotionalen Druck unbedingt etwas verändern zu müssen, wir sind in einer offenen Geisteshaltung. Wenn es uns möglich ist da anzukommen, ist unser Handeln spontan. Es ist Ausdruck unseres Verständnisses für uns selbst und des Verständnisses für andere. Wir erspüren die eigenen Schwierigkeiten, wir erspüren die Schwierigkeiten der anderen, wir erspüren was für uns und für andere hilfreich sein könnte ohne den impulsiven Zwang, das jetzt auch alles anwenden zu müssen und teilen zu müssen oder dass die anderen mir jetzt zuhören müssten und dass jetzt alles gut kommen muss. All dieses

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Impulsive hat sich aufgelöst, weil ein echtes Hören stattgefunden hat und weil Bodhicitta tatsächlich Eingang in unser Herz gefunden hat. Ich hab also hier ein wenig zusammengefasst, was die Praxis des Lodjong, des Geistestrainings ist. Es ist ein Loslassen der eigenen Standpunkte, ein sich Einlassen auf das Erleben der anderen um von dort hineinzufinden in die Bereitschaft, das zu sein – das zu tun, zu sagen, zu denken – was allen hilfreich ist. Es kommt zu einer Ausweitung des Herzens, zu einer panoramischen Vision auf der Basis von Mitgefühl und Weisheit. Das beendet nicht nur die verschiedenen Formen von Stolz sondern auch die anderen emotionalen Belastungen. Für diejenigen, die ganz neu sind und diese Ausdrücke zum ersten Mal hören: Die Praxis des Lodjong, des Geistestrainings wird in eigenen Kursen erklärt und übertragen. Sie kann dann in einem persönlichen Prozess über Jahre hinweg in unser Leben integriert werden. Ich kann hier nur kurz andeuten worum es dabei geht.

Fragen: Sich in jemanden hineinversetzen Hilft sich in jemand anderen hineinzuversetzen – z.B. in jemanden, der sich über uns ärgert – dieser Person auf lange Sicht? Das ist nicht der Fall, auch wenn dieses momentane sich Hineinversetzen durchaus angenehm und hilfreich ist. Dieses Eingehen aufeinander wirkt zunächst einmal sehr erleichternd, weil wir die Weltsicht oder die Sicht der Situation des anderen verstehen, erahnen können. Wir sind bemüht sie zu erfühlen, wir lassen uns ein darauf sie beschrieben zu bekommen, und wir kommen zu dem Punkt, wo wir sagen können: „Ja, es ist möglich die Welt aus dieser Sicht heraus zu erleben.“ Auch wenn es nicht meine Sicht ist. Das bedeutet nicht, dass ich die Sicht des anderen zu meiner Sicht mache. Wir kommen zu dem Schluss, dass es verschiedene Sichtweisen über die Situation gibt, und das ist schon ein großer Schritt. Wir akzeptieren, dass man dieselbe Situation auch anders erleben kann. Weil wir uns darauf eingelassen haben und spüren, können wir dem anderen auch mitteilen, dass wir eine solche andere Sicht der Situation als eine mögliche akzeptieren, dass es da zwei verschiedene Sichtweisen gibt. Man versteht sich darin, dass es eben zwei verschiedene Sichten gibt oder drei oder vier oder fünf oder sechs, so viele Sichtweisen wie es halt Menschen gibt. Wir akzeptieren das grundlegend. Die Tore des Nicht-Verstehens haben sich wieder geöffnet, es entsteht ein Verstehen darüber, dass man die Welt so sehen kann, dass man sie so erleben kann. Das hat zwar noch nichts geregelt, aber wir verfügen wieder über Brücken des Verständnisses. Wir können uns wieder miteinander austauschen und daraus werden dann möglicherweise Lösungen gefunden, oder aber es werden keine Lösungen gefunden und wir akzeptieren, dass man mit verschiedenen Sichtweisen derselben Situation leben kann. Der Prozess geht einfach so weit wie man sich tatsächlich darin hilfreich sein kann und dann akzeptieren wir, dass der Weg von einem jeden in seinem eigenen Geist zu gehen ist. Aber die Tore des Herzens sind wieder offen und damit ist die Blockade wieder aufgehoben, wir sind wieder in Fluss. Wenn wir einander zuhören, braucht es die Bereitschaft zu akzeptieren, dass die verschiedenen Teilnehmer einer Situation nicht dieselbe Vision zu haben brauchen. Es geht beim Zuhören und beim sich Austauschen nicht darum, alle zur selben Vision zu bringen. Das wäre die Diktatur der ‚einen Sichtweise’. Darum geht es nicht. Es geht darum zu akzeptieren, dass es immer, in jeder Situation zu verschiedenen Sichtweisen kommt, die so zahlreich sind wie die Erlebenden. Und es geht um die Akzeptanz, dass man in derselben Situation so krass verschieden erleben kann. Da braucht es dann eine Fairness im Zuhören, eine freundschaftliche Bereitschaft zuzuhören, wenn der andere ehrlich beschreibt was er erlebt hat. Wir akzeptieren, dass es tatsächlich so sein kann, auch wenn es uns total schwer fällt das nachzuvollziehen. Diese Bereitschaft, ein vollkommen anderes Erleben als das unsere zu akzeptieren, braucht es, damit Austausch sinnvoll ist, dabei geht es nicht um das Vereinheitlichen. Es geht darum, jedem die Unterstützung zu geben, in seiner Weltsicht Fortschritte zu machen, Unterstützung zu haben um zu einer Öffnung zu finden.

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Aufgeregtheit Ich würde gerne ansprechen was ich jetzt gerade erlebe: Jedes Mal, wenn ich etwas sagen möchte, fängt mein Herz an schneller zu schlagen. Ich werde unsicher und falle in Muster hinein, die ich früher als sehr schüchternes Kind gut kannte, wo ich mir meiner selbst nicht sicher war. Ich spreche das einfach an, weil es meine Beiträge limitiert, meinen Geist unklar macht, wenn ich spreche. Gibt es dazu einen Rat? Aus meiner Erfahrung hilft in Situationen, wo das Herz zu rasen beginnt und der Mund trocken wird, weil ich in der Öffentlichkeit etwas sagen oder ein schwieriges Thema behandeln möchte, meinen Geist bewusst auf die Gesamtsituation zu lenken und daran zu denken, was denn die Situation braucht. Ich habe gelernt, für die Zuhörer zu sprechen und gar nicht daran zu denken, dass ich es bin, der spricht, also mich wirklich einzulassen darauf, was denn die anderen brauchen oder erleben, in sie hineinzuhören. Dieses Weg-von-mir-selbst und Hin-zu-den-anderen hat mir enorm geholfen, um solche Situationen zu meistern. Was tun bei Eskalationen? Du hast beschrieben wie sich im Zorn die Sicht immer mehr einengt – Scheuklappensicht über Tunnelblick, bis man schließlich gar nichts mehr mitkriegt. Wie kann man jemanden da begleiten? Wie kann man sich verhalten, wenn es auch mit all den biochemischen Prozessen im Gehirn zu einem vollkommenen Ausagieren von Wut kommt? Auf jeder Stufe des fortschreitenden Ärgers gilt es weise zu handeln, mit großer Weisheit, mit Einfühlungsvermögen und natürlich auch mitfühlend. Wenn jemand beginnt ärgerlich zu werden, muss man wissen: Das ist nicht der Moment um zu diskutieren! Wenn ich da mit meiner Sichtweise frontal reingehe, wird das als Provokation erfahren, und es kommt zu einer Ausuferung, zu einer sehr starken Steigerung des Konfliktes. Raum geben, erst einmal ruhig bleiben und zuhören ist auf jeden Fall einmal wichtig. Was wirklich helfen könnte, wäre, wenn wir hinter den Ärger schauen und die Angst identifizieren können, die mit diesem Ärger verbunden ist. Wenn wir sehen können was für unerfüllte Bedürfnisse dahinter stecken, die zu dieser Ballung von Energie führen. Wir nehmen Kontakt mit dieser Angst auf und wirken beruhigend auf diese Angst. Wenn wir da hinein finden können, gelingt es uns eigentlich fast immer, die Situation zu entschärfen. Es bedarf aber einer großen inneren Freiheit um in einer Situation, wo wir z.B. direkt persönlich angegriffen werden, die Sicht haben zu können, dass es kein persönlicher Angriff ist sondern ein verzweifeltes um sich Schlagen von jemandem, dem es nicht gut geht und dessen Ängste, dessen Identifikationen berührt sind, und darauf dann geschickt einzuwirken. Wenn wir schon so weit sind, dass es zum Tunnelblick und zum Blackout kommt, dann geht es nur noch darum, Personen und Sachen auf die Seite zu bringen, dass nichts kaputt geht und im Zweifelsfall auch – falls genug starke Leute im Raum sind – so jemanden zu dritt, zu sechst einfach ruhig zu stellen, sodass er sich selbst und anderen nicht schaden kann. Da muss man dann ganz praktisch vorgehen. Das sind verschiedene Stufen an Eskalation im Ärger und man tut auf jeder Stufe was man kann, ohne die Dinge nach Möglichkeit persönlich zu nehmen. Du hast gesagt, wenn jemand in Wut ist, dann soll man sehen welche Angst dahinter steckt und damit Kontakt aufnehmen. Aber das ist genau das Problem, das Jean Claude angesprochen hat. Wie mach ich das, ohne dass der andere noch wütender wird oder ich anfange zu diskutieren, was ja nicht sinnvoll ist. Wie kann ich das machen? Mach nicht zu viel. Es geht einfach nur darum, dabei zu bleiben und den gesamten Menschen wahrzunehmen, nicht nur den wütenden Menschen. Das ist, wie dem eigenen Geist nicht zu erlauben sich einzuzoomen was an Ärger da ist. Wir nehmen den gesamten Menschen wahr, wir können auch darüber hinausgehen und den gesamten Menschen in seiner Buddhanatur wahrnehmen, dann geht man noch einen Schritt weiter, aber es reicht schon, wenn wir ihn in seinen Bedürfnissen und Ängsten, Hoffnungen und Wünschen und in seinem Ärger wahrnehmen; als Ganzes. Es ist nichts wirklich zu tun, nur die Wahrnehmung von dem was ist auszuweiten. Wir können dabei auch ganz ruhig bleiben,

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wir brauchen auch nichts speziell zu sagen. Die Situation wird entscheiden, ob wir wirklich was tun müssen, aber unsere Wahrnehmung soll so panoramisch bleiben wie möglich. Das ist total hilfreich. Es ist mir auch schon passiert – und euch ist es vielleicht auch schon so ergangen – dass es total hilfreich war, in so einer Situation meinen eigenen Ärger zu zeigen, nicht zurückzuhalten damit, aber den anderen nicht anzugreifen; zu sagen, dass es mir stinkt, dass es mir reicht, dass ich damit nicht mehr zurechtkomme und dem deutlich Ausdruck geben. Damit sind wir zwei, die ärgerlich sind und sind wieder auf gleicher Ebene. Dann gibt es keinen, der die Ruhe bewahrt und immer der Stärkere ist und der andere ist nicht schon wieder der Schwächere, weil er die Fassung verliert. Auch das kann hilfreich sein, es sind einfach alle Möglichkeiten offen, man muss authentisch sein und eine möglichst weite Sichtweise bewahren. Es hilft auch daran zu denken, dass diese Situation nicht die einzige in dieser Art ist, die wir noch leben werden. Es wird noch viele solche geben, auch da bewahren wir eine weite Sicht und bekommen nicht diesen Tunnelblick als würde jetzt das ganze Leben entschieden werden, sondern wir denken daran, dass wir auch nach dem Streit in der Lage sein müssen miteinander zu gehen. Auch das sollten wir nicht vergessen. Wir passen auf, uns nicht zu Verhaltensweisen oder Worten hinreißen zu lassen, die wir nachher bereuen. Auch das gehört zum Weitblick dazu.

Beschwichtigung Ich habe Situationen erlebt – wo ich selber ärgerlich war oder auch wo ich versucht habe anderen zu helfen – wo es ganz schwierig war, wenn jemand anders versucht hat den Doktor zu spielen. Wenn da jemand mildernd oder abschwächend wirken wollte, dann hat das bei mir garantiert bis ins Tunnelstadium geführt, denn die Klarheit des Geistes ist in so einem Zustand so groß, dass einen diese unauthentischen Versuche zu helfen und zu beschwichtigen noch mehr in Rage bringen. Es ist wichtig, dass wir total authentisch sind. Dieses Beschwichtigen-Wollen geht klar schief, darin ist nämlich ein Ablehnen der anderen Person zu spüren. In Situationen mit Ärger wirklich hilfreich zu sein ist nur möglich, wenn ich mir eingestehe, dass ich genauso sein kann wie der andere. Ich nehme den anderen als Menschen in dieser Situation grundlegend an und schaue dann mit ganzem Herzen, was denn da hilfreich sein könnte. Authentizität ist das was am meisten gefragt ist und das wird dann auch helfen. Die Wege, wie das genau aussieht, das muss jeder in der jeweiligen Situation neu herausfinden. Ich wollte zu Ärger und Stolz etwas mit allen teilen. Du sagtest wir sollten dahinter schauen. Mir scheint, dass hintergründig, hinter dem Erleben der beiden Faktoren irgendeine Art von Grenzverletzung ist und infolge dessen eine Art von Verletzung der Autonomie der eigenen Person. Und wenn ich bezüglich Authentizität weiter denke, dass jemand in irgendeiner Art und Weise eine Grenzverletzung erlebt hat, wo seine Autonomie in Frage gestellt worden ist, dann ist ja irgendwie seine Existenz bedroht. Für mich ist ganz schwer hier zu sein und zu hören, dass es eine Existenz – wie auch immer – von Faktoren nicht gibt. Ich erkläre warum: Ich kenne gut Situationen von Dissoziiertsein und es hat einen langen Weg gekostet zu erkennen, dass diese Zustände, die da auftauchen, nicht ich bin sondern dass sie aus dem Umfeld gekommen sind, auf das ich Bezug nehmen musste. Ich formuliere das ganz konkret: Ich war als Baby sehr oft verlassen, nicht gestillt, nicht gehalten und es ist sehr viel tiefer als irgendeine Art von Bewusstsein, weil es so früh ist. Ich habe also eine existenzielle Bedrohung erlebt ohne irgendeine kognitive Möglichkeit, das verarbeiten zu können. Es kostet mir sehr viel Mühe da heraus zu steigen und das zu sehen, weil es jetzt sehr in mir ist. Diesen Zustand zu halten, wenn er auftaucht, ist nicht so einfach und dann zu hören, dass es kein Ich gibt – womit ich nicht wirklich ein Problem hab, weil ich etwas Dynamisches, Gestaltendes sehr mag – aber es so oft zu hören triggert den Punkt, der weit unter meinem Bewusstsein liegt, nicht zu existieren. Wenn ich sehe, dass ein Niederlassen in der eigenen Existenz stattfinden kann, fällt es leichter zu erkennen, dass die Faktoren, die wir heute besprochen haben, das Ergebnis der Nicht-Autonomie und der Grenzverletzung sind und sich daraus heraus gestalten. Wenn ich das so betrachte, dann kann ich mich plötzlich auch schuldfrei annehmen und sagen, ich schau mir diese Faktoren an. Denn wenn die Faktoren so beschrieben werden wie sie beschrieben worden sind, taucht in mir aufgrund meiner Geschichte schnell das Gefühl von Schuld

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auf. Für mich ist es also ein unglaublicher Akt, gerade in diesen Momenten auch hier zu sein und zu merken, wann es zu viel ist, weil ich diese Grenzen nicht kennen lernte oder gerade dabei sind, sie zu re-etablieren und bin unglaublich dankbar darüber, dass es Menschen gibt, die das können, die das für mich tun. Und so ist schon wieder kein eigenes Ich dahinter. Und ich freu mich sehr darüber, dass das Sensorium noch da ist Menschen zu vertrauen, zu spüren, da werden Grenzen re-etabliert und meine Autonomie wird hergestellt, um mich mit dem Thema dieses Fließens wirklich beschäftigen und mich darauf einlassen zu können. Danke! Dein Erleben wirft mehrere Fragen auf, die ich mir auch schon stelle und wo ich in den Unterweisungen noch nicht den Schritt gemacht habe, sie einmal ganz anders darzustellen, nicht mehr so in dieser klassischen Form. Die Menschen, zu denen die Lehrer in Asien sprachen, haben ihre existentiellen Bedürfnisse in ihrer Säuglingszeit und frühen Kindheit recht gut erfüllt bekommen. Sie haben dadurch ein recht stabiles Selbstbewusstsein ins Erwachsenenalter mitgebracht und waren alle in einem ganz normalen existentiellen Kontakt zur Natur und auch zu ihrem Körper. In der damaligen Zeit wirkten solche Unterweisungen offenbar nicht so stark verunsichernd, aber bereits aus den tibetischen Texten und wohl auch aus den Sanskrit-Texten ist bekannt, dass Beschreibungen des Nicht-Ich oder der Abwesenheit konkreter Existenz bei Zuhörern Panik auslösen können, ohne dass leider mehr darauf eingegangen wird, warum das der Fall ist. Von daher wird auch immer wieder darauf hingewiesen: „Seid vorsichtig, wenn ihr darüber sprecht!“ Ich kann also gut nachvollziehen, was du beschreibst und frage mich manchmal auch, ob es nicht ausreichen würde einfach darzustellen wie alles im Fluss geschieht, um zu dieser Wahrnehmung des Flusses und des immer wieder Frischen zu kommen, ohne das von einigen von uns so mühsam erarbeiteten Selbstgefühl so stark zu dekonstruieren, was dann in Frage gestellt wird. Das Selbstgefühl ist gar nicht das Problem, das darf intakt bleiben. Man darf sich als gesundes, harmonisches, ganzes Wesen fühlen mit all den Möglichkeiten des Austausches, ohne das für ein stabiles, unwandelbares Ich zu halten. Diese Dekonstruktion, die durch die Skandhas ja ganz konkret vorgenommen wird, wird als ein Angriff auf das Selbstbewusstsein erlebt, weil es ein Angriff auf Vorstellungen eines Ich ist, das ist ganz klar. Aber es ist damit nicht das gesunde Selbstbewusstsein gemeint, was auf der Erfahrung einer integrierten Persönlichkeit beruht, die Entscheidungen treffen kann, die lieben kann, die geliebt werden kann. Da findet eine Verwechslung statt, weil wir in diesem Bereich empfindlich, verletzlich sind. Es findet eine Verwechslung der Zielscheibe, oder dessen was wirklich beabsichtigt ist, statt und das führt dazu, dass man manchmal am liebsten aufspringen und raus rennen möchte oder vielleicht wütend wird und sich irgendwie schützen möchte gegen diese Art von Unterweisungen. Ich möchte daran auch weiter forschen, wie man das gut darstellen kann, sodass es wirklich mehr und mehr hilfreich wird und keine unnötigen Reaktionen auslöst in Bereichen, die nicht unbedingt gemeint sind. Ich glaube der Buddha war bis zu seinem Lebensende ein Musterbeispiel eines gesunden Selbstbewusstseins ohne an die Existenz eines Ich zu glauben. In einem Umfeld, wo ich keine Übertragung gebe, erlaube ich es mir auch so zu sprechen, aber wenn ich eine Übertragung gebe, dann habe ich immer noch Mühe, solche Dinge einfach so frech zu sagen, weil das eine Um-Interpretation der Lehre ist. Aber ich bin völlig überzeugt davon, dass der Buddha ein gesundes Selbstbewusstsein hatte. Das wagt nur keiner zu sagen, weil das Wort ‚Selbst’ im Buddhismus so belegt ist, es wird so auseinander genommen. Was wir heute mit Selbstbewusstsein meinen, ist etwas ganz Gesundes, und wenn wir die Paramitas anschauen, so führen die zu einer integrierten Persönlichkeit, zum Aufbau eines gesunden Selbst, das nicht mehr auf falschen Annahmen und falschen Identifikationen beruht, ein ganz gesunder Prozess. Hiermit habe ich mir ein paar Minuten Zeit genommen, um diese andere Darstellungsweise kurz anzusprechen, um klar zu machen, dass es um das Auflösen der Vorstellung einer vermeintlichern Stabilität geht dort wo es keine hat, um die wahre Stabilität zu finden. Die besteht in der Fähigkeit, im Prozess, im Austausch zu sein ohne seine Richtung zu verlieren, ohne die Klarheit des Geistes zu verlieren, zu wissen wo dieser Prozess hingelenkt werden möchte – all die Faktoren, die zu einem dynamischen Selbst gehören. ***

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Der nächste Faktor scheint zunächst einmal nicht so emotional wie Begierde, Hass oder Stolz zu sein.

26) Zweifel ist eine mentale Zwiespältigkeit angesichts der Bedeutung der Wahrheiten. Er verhindert die Praxis des Heilsamen. Wo es Zweifel gibt, können konstruktive Handlungen nicht wirklich ausgeführt werden, Zweifel bewirkt, dass wir uns unsicher sind. Solange wir unsicher sind, können wir keine Entscheidung treffen und keine klare, stabile Handlung ausführen. Das ist die Natur des Zweifels. Zunächst einmal sei unterschieden zwischen heilsamem, gesundem Zweifel und ungesundem Zweifel. Gesunder Zweifel bewirkt, dass wir uns dem zuwenden, worüber wir uns nicht klar sind und die Klärung vorantreiben. Gesunder Zweifel ist eine Art von Neugier, eine Art von Interesse, es wirklich genau verstehen zu wollen, es genau wissen zu wollen und bewirkt Untersuchen, genaues Hinschauen, Nachfragen, Erforschen dessen, worüber wir uns noch nicht klar sind. Mit jedem Schritt des Erforschens und des Nachdenkens, Analysierens findet weitere Klärung statt. Es mögen neue Fragen auftauchen, aber wir sind im Prozess der Klärung bis Gewissheit, Klarheit über das Objekt unserer Untersuchung eintritt. Bei nicht konstruktivem Zweifel handelt es sich um eine ganz andere Geisteshaltung. Sie besteht darin, dass wir bereits gemachte Erfahrungen und gewonnene Gewissheiten, Überzeugungen unsinnigerweise wieder in Frage stellen, ohne dass neue Elemente zum Vorschein gekommen wären, die ein InFrage-Stellen bewirken könnten. Wir haben gesehen und verstanden, aber aufgrund einer neurotischen Tendenz in uns stellen wir das Ganze Stunden, Tage, Wochen später wieder in Frage und müssen wieder von vorne anfangen. Wir müssen den ganzen Weg wieder von vorne aufrollen, als ob diese Verständnisse und diese Erfahrung nie gewesen wären. Bezogen auf die vier edlen Wahrheiten haben wir durchaus verstanden, dass es sich überall da, wo Anspannung ist, um leidvolle Daseinszustände handelt. Wir haben verstanden, gesehen und erlebt, dass immer da, wo die Ich-Bezogenheit stark wird, diese Form des Leidens stärker wird, dass die Anspannungen zunehmen. Wir haben Zustände relativer Freiheit oder sogar vollständigen Freiseins von dieser Anspannung erlebt. Wir kennen also auch die Erfahrung des Freiseins von Leid und wir haben die verschiedenen Elemente des Weges zur Befreiung gut verstanden: Respekt für alle Lebewesen, Respekt für uns selbst – die Basis des heilsamen Handelns –, darauf aufbauend die Notwendigkeit wirklich achtsam, voll bewusst zu sein, um zu Erkenntnissen über die Wirklichkeit zu gelangen. Wir haben das verstanden, wir haben es sogar erfahren, und wir haben erfahren, wie wohltuend das ist. Und doch gibt es diese neurotische Tendenz in uns, die sagt: „Ja! Aber…“, „Ja, das hab ich erfahren. Aber kann ich meinen Erfahrungen trauen?“, „Ja, das wird von allen gesagt. Aber haben die auch genug hingeschaut?“, „Ja, habe ich mir denn da nichts eingebildet?“ Das ist mit Zwiespältigkeit des Geistes gemeint, sich nicht auf die gesunde Basis der eigenen Erfahrung und des Analysieren stellen zu können; und das, obwohl in der Zwischenzeit keine neuen Elemente zum Vorschein gekommen sind, die unsere Analyse noch einmal in Frage stellen würden. Das wäre ja gesund. Wenn neue Erfahrungen auftauchen, die das, was wir bereits erfahren haben, wirklich in Frage stellen, dann müssen wir neu nachschauen. Es ist die neurotische Tendenz, alles wieder in Frage zu stellen, obwohl nichts Neues aufgetaucht ist. Das unterminiert den spirituellen Weg. Wir werden zu spirituell Behinderten. Wir können nichts machen, wir können nicht fortschreiten, weil wir uns selber immer wieder den Saft abziehen. Das ist diese Zwiespältigkeit des Geistes, dieses Oszillieren, dieses Nie-Zufrieden-Sein aus einem inneren Bedürfnis heraus, immer wieder die sich aufbauende Klarheit, das sich aufbauende Vertrauen zerstören zu müssen und eigentlich ein ewiger Zweifler zu sein. Es besteht eine emotionale Tendenz, ständig alles anzuzweifeln, eine ungesunde Skepsis, die immer wieder alles in Frage stellt, als wäre man identifiziert mit der Skepsis selbst. Das ist neurotischer Zweifel. Damit lässt sich der spirituelle Weg nicht gehen, er wird selbst die kleinste heilsame Handlung untergraben. Wir erfahren z.B. von einem Projekt oder davon, dass es

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Menschen gibt, die Unterstützung brauchen und haben eigentlich schon den Wunsch, freigiebig zu sein, aber dann denken wir: „Ach nein! Wer weiß, ob das wirklich so sinnvoll ist.“ Alles wird wieder in Frage gestellt. Wir sind wieder behindert, es kommt nicht zu einer konstruktiven Handlung. Oder: Wir haben Zeit und sind voll überzeugt, ein kurzes Retreat zu machen oder für eine Woche auf einen Kurs zu gehen. Wir haben Zeit, wir haben das Geld, wir sind frei, keiner hindert uns, und kurz bevor der Kurs anfängt denken wir: „Ach nein! Was bringt das? Was soll das?“ Es kommt nicht dazu, dass man den Schritt macht. Es vergeht wieder eine Gelegenheit, und damit unterminiert man den Weg des Erwachens, man schiebt den Weg auf. Das sind die Auswirkungen von Zweifel, das kann man bei allem sehen. Diese Funktion untergräbt Freundschaften, Paarbeziehungen, das Engagement in heilsamen Projekten, in Vereinen, in Nachbarschaftshilfe, überall. Alles wird ständig nur in Zweifel gezogen. Das sind die Menschen, die es sich selbst nie Recht machen können und denen es andere auch nie Recht machen können, alles wird immer in Zweifel gezogen, und damit ist kein Fortschritt möglich. Vielleicht ist das eine etwas karikaturistische Beschreibung von Persönlichkeiten, die ständig zweifeln, mit denen man keine vernünftige Diskussion führen kann, weil sie sich nicht auf irgendeiner Basis niederlassen können. Alles muss immer wieder in Frage gestellt werden, es ist ein neurotisches Kreisen, ein neurotischer Drang, einem klaren Abschluss zu entkommen. Und diese Skeptiker werden auch genau so sterben. Sie werden nicht glücklich werden, sie werden nicht zu irgendwelchen klaren Anschauungen oder Verhaltensgrundlagen, Lebensgrundlagen kommen, sie werden sich immer in ihrer eigenen Skepsis verfangen. Wir kennen solche Menschen. Es ist sehr traurig, ihnen zuzuschauen, zuzuhören, wir geben meistens auf, mit ihnen zu diskutieren. Es ist unmöglich, man kommt nicht zu einem richtigen Austausch, sie können ihre eigene Lebenserfahrung nicht stabilisieren und nicht zu ihren Erfahrungen stehen und auch nicht zu ihren analytisch gewonnenen Überzeugungen. Alles wird immer in Frage gestellt. Nun ist es aber nicht so, dass wir hier über irgendwelche Karikaturen sprechen oder über Menschen, die sehr leiden und wir selber nicht davon betroffen wären. Auch wir funktionieren in einem gewissen Ausmaß so, auch bei uns kommt es zu einer enormen Verlangsamung des Prozesses des Erwachens, weil wir unseren Erfahrungen, unserem Verständnis nicht trauen, und weil wir es dann auch nicht konsequent anwenden. Dass wir es nicht konsequent anwenden, ist eigentlich Ausdruck davon, dass dieser Zweifel aktiv ist. Wir glauben es noch nicht! Wir haben hundertmal verstanden, tausendmal gesehen, dass Anhaftung zu Leid führt, aber wir denken: „Na ja! Ist es denn wirklich so? Bringt es nicht vielleicht doch Glück?“ So geht es mit allem. Wir haben so und so viele Male verstanden, dass dieses und jenes nicht förderlich und dass etwas anderes sehr förderlich ist. Aber dass wir das dann nicht konkret in unserem Handeln umzusetzen, zeigt, dass dazwischen Zweifel aktiv ist, etwas, das dem Verständnis seine Stärke nimmt, seine transformierende Kraft. Das ist der Faktor des Zweifels. Er bewirkt, dass wir nicht konsequent das umsetzen, was wir mit völliger Klarheit erfahren und verstanden haben. Und dieser Faktor ist in uns allen aktiv. Da schließe ich mich voll mit ein, das ist genau das, was unseren Weg des Erwachens verlangsamt. Den Faktor des Zweifels aufzulösen würde bedeuten, das umzusetzen, was wir verstanden haben. Wenn wir einfach einmal daran denken, was wir alles schon verstanden haben, bevor wir überhaupt zur ersten Dharmaunterweisung kommen…wenn wir all das schon umgesetzt hätten, wären wir in der Welt bekannt als weise Menschen. Wir sind in der Lage, anderen tollen Rat zu geben. Wir kennen uns fantastisch aus, speziell dann, wenn wir Jahre des Dharmas schon auf dem Buckel haben. Dann können wir unglaublich gut Rat geben. Aber wie sieht es aus mit unserem Handeln, mit unserem Denken? Dieser Unterschied zwischen dem, was wir schon verstanden haben und dem, was wir tun, das ist der Faktor des Zweifels. Der Zweifel bewirkt: „Ja, das hab ich ja alles schon ganz gut verstanden. Aber … vielleicht verliere ich ja … aber jetzt brauche ich das doch nicht, erst kommt einmal was anderes … statt jetzt zu meditieren, trinke ich lieber meinen Kaffee, nehme meine Dusche …“ Und dann ist die Zeit um … und so geht das Leben vorbei. Unser Verhalten und unser Verständnis sind nicht kongruent, die beiden klaffen auseinander, und dieser Faktor wird Zweifel oder Zwiespältigkeit genannt. Wir sind nicht voll und ganz dabei, selbst nicht damit verbunden, was wir uns wirklich vom Herzen

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her wünschen, was unsere tiefsten Herzenswünsche sind. Selbst das setzen wir leider nicht um. Es geht ja gar nicht um die vielen intellektuellen Verständnisse. Es geht ja drum, unsere Herzenswünsche umzusetzen, und leider setzen wir selbst die nicht um. Und das ist diese neurotische Funktion des Zweifels. Der Zweifel schwächt das Umsetzen der heilsamen Wünsche und der heilsamen Erkenntnis. Er verursacht wirklich riesiges Leid. Es führt zu innere Zerrissenheit, wenn wir nicht unsere tiefsten Herzenswünsche umsetzen. Wenn wir die nicht leben, ihnen nicht folgen, machen wir uns selber unglücklich. Zweifel oder Zwiespältigkeit ist eine unglaubliche Quelle von Leid.

Fragen: Zweifel – Mangel an Achtsamkeit Die mangelnde Konsequenz kenne ich natürlich auch gut, aber das verstehe ich mehr in konkreten Entscheidungen und nicht in dieser Lücke zwischen dem, was ich verstanden hab und dem, was ich umsetze, weil da kommt einfach die Gewohnheit ganz stark rein. Es ist ja kein aktiver Zweifel in dem Moment, sondern ich sitze z.B. wieder vorm Internet und gucke noch das und das an und weiß aber, dass ich eigentlich was wirklich Wichtiges zu tun hätte. In dem Fall ist es für mich einfach ein Mangel an Achtsamkeit und kein Zweifel, denn Zweifel ist für mich aktiver. Das hängt damit zusammen, dass wir uns der kleinen Gedanken nicht bewusst sind. Es finden ständig kleine Gedanken statt, wie „Das ist wichtig – das ist nicht wichtig. Das interessiert mich – das interessiert mich nicht.“ Und dieser Mangel an Achtsamkeit erklärt sich auch aus dem Zweifel, dass wir nicht mehr voll überzeugt von dem sind, wovon wir eigentlich schon voll überzeugt waren. Wir stellen das wieder in Frage, lassen uns doch verleiten und gleiten wieder ab in diese Nicht-Achtsamkeit, in Gewohnheiten. Es finden kleine Umbewertungen statt. Was uns als das Wichtigste erschien, wird wieder ein bisschen abgewertet: „Na, das kann ja auch warten, ist ja vielleicht doch nicht so wichtig.“ Genau das ist der Zweifel: „Ist ja vielleicht doch nicht so wichtig.“ Es sind viele kleine Gedanken. Es muss nicht immer so ein großer Hammer von Zweifel kommen, wo wirklich ganz bewusst, konkret wieder etwas in Frage gestellt wird, wo man vorher schon Gewissheit oder Vertrauen aufgebaut hatte. Es sind die vielen kleinen Gedanken, derer man sich dann schon auch bewusst sein muss. Z.B. das morgendliche Umdrehen im Bett. Wenn man sich das genau anschaut, sind da auch diese kleinen Zweifelgedanken mit im Spiel, die die Wichtigkeit von dem, was wir im klaren Bewusstsein für höchst wichtig halten, schon wieder in Frage stellen.

Zweifel bezüglich Retreat You gave us an example about going or not going into retreat, if one can. But there are as well quite a lot of possibilities to go to different kinds of a retreat for example. What about the choice we should make? Sometimes it can be quite a lot of doubts about where to go. These are just normal doubts, maybe even constructive doubts. You have to find out which form is most beneficial for you in accordance with your real priorities in life. I mean, if you go to one or the other, you will still follow your deeper heart wishes and your deeper understandings. So, this is the kind of hopefully constructive doubt. But if the doubt of not knowing which retreat you go to means that you don't go to anyone at all, then perhaps it turns to this neurotic form. The rest is just taking decisions in normal life between two things which are pretty much of a similar quality. Ich habe einen engen Freund, der viele Formen von unterschiedlichen Problemen hat, aber jedes Mal, wenn man ihm etwas vorschlägt, was ihm helfen könnte, zieht er alles in Zweifel. Gibt es eine Form von Elektroschock dagegen? Gibt es eine Form irgendwie da dieses Funktionieren aufzulösen?

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Ich denke, dass du und deine Freunde schon alles versucht haben, um dieser Person zu helfen und dass die normalen Versuche wohl kaum etwas Neues bewirken werden. Vielleicht hilft es ja, über diese Mechanismen, über gesunden und ungesunden Zweifel zu sprechen, so dass die Person sich darin erkennen und mit der Zeit aus dieser Art des Funktionieren aussteigen kann, durch die sie sich selber immer wieder im Unglück, im Nicht-Wohl-Sein festschreibt.

Zweifel und Selbstzerstörung Ich hab das Gefühl, dass unter diesem Zweifel, so wie er jetzt hier im Raum steht, eine starke Tendenz zur Selbstzerstörung liegt. Und diese Selbstzerstörung, die also untendrunter eigentlich schwingt, erlaubt es nicht, genügend Vertrauen zu haben, weil irgendwo die Erlaubnis fehlt, existieren zu dürfen. Was die Definition des Zweifels angeht, bin ich mir sicher, dass hier von einem Faktor gesprochen wird, der uns zu einer Handlungsunfähigkeit im Positiven bringt. Er unterminiert den positiven Elan, den Elan zum Heilsamen, immer wieder. Dass es von da weitergehen kann in selbst zerstörerische Tendenzen, das ist auch klar, weil sich der Zweifel noch mit bestimmten Formen von Aggressivität verbindet, mit Unwissenheit, also mit Ängsten. Diese Faktoren wirken dann in Kombination und führen zu selbst zerstörerischem Verhalten. Aber um den Faktor selber hier klar definiert zu behalten, es ist einfach nur gemeint, dass Zweifel uns zur Untätigkeit führt, nicht zu einem direkten, aktiven Zerstören unserer Lebensgrundlage. Ist es so, dass Zweifel auch zum Vergessen führt – wenn kleine Gedanken da sind… Ja, der Zweifel führt auch zum Vergessen. Zum Verhalten im Internet: Man möchte sich doch auch gerne einmal so einfach ein paar Sachen reinziehen, ein kleines Fußballspiel oder eine Reportage über Brasilien, einen Krimi, und sich einfach ein bisschen Kompott in den Geist holen, eine Mischung, die irgendwie dazu beitragen soll, dass man entspannt wird. Ist das Zweifel? Ist das schlimm, Doktor? Ja, mein Lieber, das ist schlimm! … Ich hab es im Französischen noch einmal deutlich gesagt, denn wir haben im Deutschen den Begriff der Zwiespältigkeit schon in der Definition drin. Es ist wirklich wichtig, diesen Mechanismus des Zweifels zu verstehen, dass der Geist geteilt ist. Der Geist kann nicht zu einer inneren Einheit finden. Er ist immer gespalten und das ist wohl das, was wirklich diesen Faktor ausmacht. Man kommt innerlich nie zu einer klaren Einsgerichtetheit. *** Wir sind immer noch in der Beschreibung der sechs emotionalen Belastungen, den so genannten Hauptemotionen. Wir haben uns von den sechs primären emotionalen Belastungen bereits mit Unwissenheit, Begierde, Ärger, Stolz und Zweifel befasst. Eigentlich müsste man denken, dass das reichen würde. Aber was fehlt denn da noch? – Nun, eigentlich fehlt da nichts, aber es kommt aufgrund der grundlegenden Unwissenheit zu einer Reaktion auf Zweifel. Wir spüren unsere Zweifel, d.h. wir spüren unsere Unsicherheit. Wir spüren, dass wir uns nicht sicher sind, was wahr ist, was richtig ist und wir versuchen das zu beseitigen, und zwar indem wir uns Meinungen, Sichtweisen zu Eigen machen. Wir etablieren etwas, auf das wir uns verlassen können und was uns ein Gefühl der Gewissheit gibt. Das passiert aufgrund von Unwissenheit, dem Wunsch nach Existenz, dem Haften an einer vermeintlichen Existenz des Ichs. Das Bedürfnis nach Sicherheit, die ganze Angst, nicht zu wissen, bricht durch und schafft die Grundlage dafür, dass wir uns ein System von Anschauungen, von Glaubensgrundsätzen aufbauen.

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27) Anschauungen sind alle emotional belasteten Sichtweisen. Sie sind die Grundlage aller schädlichen Anschauungen. Was sind denn Anschauungen? Anschauung ist ein Versuch, sich eine Identität aufzubauen. Dahinter können wir das Funktionieren der Kleshas, dieser emotionalen Belastungen sehen. Sie motivieren uns, ein Glaubensgerüst aufzubauen, von dem wir sagen: „Das glaube ich, das ist meine Meinung, das ist meine Anschauung!“ Und dann verteidigen wir dieses Gerüst; wir verteidigen diese Anschauung, weil wir uns damit identifiziert haben. Wir nähren sie, wir schützen sie, wir feilen sie aus, damit sie noch sicherer wird, damit es noch besser wird, und eigentlich immer nur in dem Bedürfnis, unsere etwas wacklige Existenz zu schützen. Wenn wir Meinungen, Anschauungen, Glaubenssätze angreifen, müssen wir wissen, dass wir damit direkt die Person mit ihren Ängsten konfrontieren, die dazu beigetragen haben, dieses Glaubensgerüst aufzubauen. Wir rütteln an den Grundfesten einer Existenz, in der diese Glaubenssätze, diese Überzeugungen die Unsicherheit verdecken sollen, die Ängste ‚nicht genau zu wissen’, weil man nicht genau genug hingeschaut hat. Dieser sechste Faktor ist für mich wie eine Zusammenfassung der anderen fünf – Unwissenheit, Begierde, Ärger, Stolz und Zweifel. Wenn der Buddha von Sichtweisen als sechstem belasteten Faktor spricht, dann drückt das seine tiefe Überzeugung aus, dass wir auf unserem Weg der Befreiung alle Sichtweisen, alle Meinungen hinter uns lassen müssen. Da kommt die ganze Größe dieses Weges und der Unterweisungen Buddhas zum Vorschein, dass es nicht darum geht, einen neuen Glauben, eine neue korrekte Sichtweise zu entwickeln, mit der wir uns dann wieder identifizieren. Wenn wir den buddhistischen Weg darauf untersuchen, worum es wirklich geht, so wird offenkundig, dass es um das Auflösen aller Anschauungen geht. Die Übersetzer haben diesem Faktor oft das kleine Wörtchen ‚irrig’ beigefügt, aber irrige Anschauungen ist einer der fünf Unterpunkte der Anschauungen, es ist nicht der Hauptpunkt. Es geht um das Auflösen aller Anschauungen, denn die direkte Sicht der Wirklichkeit ist frei von allen Anschauungen. Es ist ein unmittelbares Verstehen dieser nondualen Dimension, die sich den Worten und Beschreibungen der dualistischen Sprache entzieht. Man kann von einer rechten Sichtweise in dem Sinne sprechen, dass es Sichtweisen gibt, die das Tor des Verständnisses öffnen, aber auch sie beschreiben nicht wirklich, was die eigentliche befreiende Erfahrung ist, wie die Wirklichkeit tatsächlich ist. Worte können das nie beschreiben, und deswegen geht es darum, alle Identifikationen mit Konzepten aufzulösen, d.h. auch die letzte Spur von Dogmatismus hinter sich zu lassen. Die verschiedenen buddhistischen Schulen haben eine Aufeinanderfolge von Sichtweisen entwickelt, die Heilmittel sind für irrige Anschauungen, für Meinungen, die den Weg des Erwachens verstellen. Und diese Sichtweisen sind als Medizin zu verstehen, als Arzneien, die blockierende Sichtweisen auflösen sollen. Wenn die Blockade aufgelöst ist, dann dürfen wir aus dem Heilmittel nicht ein neues Dogma machen und uns damit wieder blockieren. Auch das sind nur Konzepte. Das Heilmittel muss mit der Krankheit, die dann aufgelöst ist, gleichzeitig losgelassen werden. So wie bei einer normalen Krankheit, wo wir eine Medizin nur solange einnehmen, wie wir sie brauchen, um die Krankheit aufzulösen. Dann lässt man auch die Einnahme der Arznei sein. Genau so ist es auch zu verstehen, wenn der Buddha sagte, dass der Dharma – was die Worte angeht – nicht die eigentliche Zuflucht ist. Es ist wie ein Floß, mit dem man den Strom des Leidens überquert. Wenn wir am anderen Ufer ankommen, dann werden wir doch nicht das Floß auf unserem Rücken weiter tragen. Wir lassen es da, wo es ist. Es hat geholfen, den Strom des Leidens zu überqueren, dann spricht die Realisation aus uns selbst. Dann kommen die Worte der Wahrheit aus der direkten Erfahrung selbst und passen sich immer wieder an die Situation an, an das Verständnis der Zuhörer. Wir brauchen dann nicht an den Worten zu haften. Damit wollte der Buddha sagen, dass das das Ende der Sichtweisen, der Anschauungen ist, so gut sie auch sein mögen. Der Faktor Anschauungen wird nun basierend auf den Erklärungen des großen Mahayana-Meisters Asanga aus dem 4. Jh. n. Chr. unterteilt.

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Anschauungen können in fünf Arten eingeteilt werden: -

Die „Anschauung in Bezug auf die vergängliche Ansammlung“ beinhaltet, in den völlig angenommenen fünf Aggregaten ein „Ich“ zu sehen oder sie als „meins“ zu betrachten. Sie stützt die anderen Anschauungen.

Das bedeutet, sich völlig mit diesen fünf Aggregaten, Körper und Geist, zu identifizieren. Das ist an sich nichts Neues, das haben wir bereits unter dem Faktor Unwissenheit gehört. -

Die „Anschauung, an Extremen festzuhalten“ beinhaltet, das „Ich“ oder die fünf Aggregate entweder für dauerhaft oder für nicht-existent zu halten. – Lama Tenzin hat noch als zusätzliche Ausführung angefügt, sie mit dem Auftreten des Todes für nicht mehr existent zu halten. Sie bewirkt Blockaden für wahre Befreiung durch den Mittleren Weg.

Mittlerer Weg ist der Ausdruck für die Unterweisungen des Dharma jenseits aller Extreme. Damit sind die vier extremen Standpunkte gemeint. Man glaubt, einer dieser Standpunkte würde die Wirklichkeit exakt beschreiben, man identifiziert sich damit: (1) Existenz bzw. Dauerhaftigkeit, (2) Nichtexistenz, manchmal auch Nihilismus genannt, (3) die Anschauung des ‚sowohl als auch’ – sowohl existent wie nicht-existent – und (4) die Anschauung ‚keines von beiden’. Diese Extreme halten einer Analyse nicht stand und auch nicht der direkten Erfahrung. Das sind Extreme in dem Sinn, dass sie die Sichtweise des Mittleren Weges blockieren. -

„Verkehrte Anschauung“ beinhaltet, die Ursache- und Wirkungsbeziehung von Handlungen oder anderes Wirkliches als nicht existierend anzusehen. Sie bewirkt, von den Wurzeln des Heilsamen abgeschnitten zu sein – also keine heilsame Handlung ausführen zu können.

Die erste der verkehrten Anschauungen, auf die hier Bezug genommen wird, ist, zu denken, dass Ursachen – Handlungen; was unmittelbar sichtbar ist – keine weiteren Auswirkungen haben. Die zweite wichtige verkehrte Anschauung, die hier angesprochen wird, ist, was es tatsächlich gibt – die letztendliche Wirklichkeit – für nicht-existent zu halten, zu glauben, dass es keine Befreiung gibt, kein Erwachen, dass es die none-duale Dimension nicht gibt. Man leugnet nicht nur die Wahrheiten, die sich durch Verwirklichung zeigen, sondern man wird sicherlich auch verkehrte Anschauungen über die letztendliche Dimension der Wirklichkeit aufbauen. Man pflegt verkehrte Anschauungen darüber, was Erwachen ist und blockiert dadurch ebenfalls seinen spirituellen Weg oder kommt auf einen verkehrten Weg. Durch diese Formen verkehrter Anschauung wird der Antrieb für den spirituellen Weg untergraben. Wenn wir nicht sehen, dass Handlungen Auswirkungen über das hinaus haben, was wir unmittelbar sehen, dann werden wir keinerlei Veranlassung spüren, mit unserem Geist zu arbeiten und Handlungen, die tatsächlich langfristig heilsam sind, zu kultivieren. Wenn wir verkehrte Anschauungen über das Erwachen haben oder gar denken, dass es Erwachen gar nicht gibt, dann führt auch das zum Erlahmen aller Antriebskräfte, den spirituellen Weg zu gehen, der tatsächlich zum Auflösen aller Blockaden führt. -

„Eine Anschauung für das Höchste zu halten“ – eigentlich, sich mit Meinungen zu identifizieren – (beinhaltet, die zuvor genannten drei schädlichen Anschauungen sowie ihre Grundlage – die völlig angenommenen fünf Aggregate – als das Höchste und etwas Heiliges zu betrachten. Dies bewirkt völliges Anhaften an schädlichen Anschauungen.

Die Auswirkung ist also, dass die Grundlage geschaffen wird, an jede Form von Anschauung anzuhaften und sich damit den Weg des Erwachens zu verbauen. Wir sprechen hier von Dogmatismus, und zwar von der kleinen Version – Ich mit meinen persönlichen Überzeugungen und Meinungen, die ich für das Höchste, Beste, Tollste halte – oder aber von der Gruppenmeinung – kleine Gruppen, größere Gruppen, Traditionen, Religionen, Sekten, wie auch immer wir sie nennen. Es ist die Anschauung, dass wir die Wahrheit gepachtet haben „Wir haben es! Wir haben die richtige Sichtweise!“, und die Identifikation mit dieser Sichtweise als das Höchste macht uns undurchlässig, unflexibel für neue Erkenntnisse. Das Erkennen von Aspekten der Wirklichkeit, die uns noch nicht bekannt waren, wird durch dieses Anhaften unglaublich schwer gemacht.

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Die bekannte Toleranz des Buddhismus hört sich ja erst einmal ganz nett an. Die Toleranz anderer Anschauungen ist nicht einfach etwa – wie wir hier sehen – eine nette Geste der Freundlichkeit den anderen Traditionen gegenüber, sodass man gut zusammenleben kann. Sie ist eine Notwendigkeit für den eigenen spirituellen Weg. Dass das für andere nett und tolerant ist, ist sekundär. Das ist einfach das zusätzliche Resultat dieser Einstellung, wo klar wird, dass man, um selber zu erwachen, nicht die Konzepte mit der Wirklichkeit verwechseln darf. Darstellungen oder Sichtweisen über die Wirklichkeit sind immer nur Fingerzeige. Es ist nie das, worauf gezeigt wird. Das muss uns klar sein. Die Unterweisung Buddhas, keine Dogmen aufzubauen, nicht an Anschauungen als mein festzuhalten, bewahrt die Praktizierenden selbst davor, in diese Falle zu tappen, die wir als Dogmatismus oder Dogmatik bezeichnen. Dass das dann auch zu einer sehr viel offeneren Haltung gegenüber anderen Traditionen führt, ist die Auswirkung davon, aber es geht wirklich darum, den Weg des Erwachens offen zu halten. Er wird unmöglich, wenn man an Anschauungen festhält. Denn wenn man eine feste Anschauung hat über das, was es zu verwirklichen gilt, dann wird man versuchen, diese Konzepte, diese Begriffe, diese Anschauung zu verwirklichen und ist nicht in einem wirklichen Erforschen dessen, was ist. Es ist ganz wichtig, das zu verstehen. Hier ist die eigentliche Grundlage dafür, dass der Buddha immer wieder betont: „Glaubt nicht einfach meinen Worten, sondern schaut selber.“ Dieses Zitat stammt aus der Rede an die Einwohner der Stadt Kalama, die den Buddha fragten, wie das mit all den verschiedenen Sichtweisen ist, die die verschiedenen Gurus, die in die Stadt kommen, vertreten. Der Buddha hat in diesem berühmten Kalama Sutra ganz deutlich gesagt, dass man selbst seinen eigenen Worten nur insofern Vertrauen schenken soll, als man ihnen nachspürt und selber hinschaut. -

„Disziplin oder Askese für das Höchste zu halten“ ist die Anschauung, dass eine nicht reinigende und nicht zur Befreiung führende Disziplin oder asketische Praxis – oder Ritual – sowie ihre Grundlage – die fünf Aggregate – mit Gewissheit zur Befreiung und Erlösung führen. Diese Anschauung bewirkt, dass Anstrengungen fruchtlos bleiben.

Das würde ich gerne ein bisschen auszuführen: Immer wieder werden äußere Handlungen, eine bestimmte Art sich zu verhalten, mit dem Weg der Befreiung verwechselt. Der Buddha hat großen Wert darauf gelegt, dass man das nicht tut. Nehmen wir zuerst Beispiele aus unserer Sangha: Man könnte glauben, dass das Verbeugen oder Niederwerfungen zu machen, zum Erwachen führt. Tut es aber nicht, nicht einfach so. Die körperliche Handlung allein führt nicht zum Erwachen. Was zum Erwachen führt, ist das dabei freigesetzte oder geübte Vertrauen, der Respekt, das Sich-Ausrichten auf wirklich Heilsames, Sinnvolles. Das trägt zur Befreiung bei. Der Rest ist einfach körperliche Handlung. Um es noch klarer zu machen: Es ist schon zwei, dreimal vorgekommen, dass ich von Mithelfern in Le Bost angesprochen wurde, weil jemand in der falschen Richtung um den Stupa herum gelaufen ist. Sie wollten wissen, was derjenige sich denn damit für ein Karma einhandeln würde. – Gar keins, nicht durch die äußere Handlung. Innerlich war diese Person vielleicht genauso wie andere dabei, Gebete zu machen, Vertrauen zu entwickeln, und das ist es, was zählt. Ob man linksrum oder rechtsrum um den Stupa geht, spielt überhaupt keine Rolle für das Erwachen. Das sind nur Übereinkünfte. Beispiele aus der Zeit des Buddha: Kühe werden in Indien nicht geschlachtet aber Hunde, Fische usw. werden geschlachtet und gegessen. – Es ist nicht zu verstehen, warum das eine für die Befreiung schädlich sein soll und das andere nicht. Über die Sitte, im Ganges ein Bad zu nehmen, um sich spirituell, emotional zu reinigen, sagt der Buddha in einem berühmten Sutra: „Alle Fische im Ganges müssten schon das Erwachen erlangt haben, wenn das Wasser des Ganges diese Auswirkung haben soll.“ Was tatsächlich heilsam ist für den Geist, ist, mit Hingabe, mit Vertrauen in etwas zutiefst Heilsames eine Handlung auszuführen, die sich dann auch äußerlich ausdrückt. Es ist z.B. schon eine ziemlich starke Handlung des Vertrauens, wenn heutzutage Inder in den stinkenden Ganges steigen. Das ist eine starke Handlung und da möchte ich glauben, dass das auch Auswirkungen auf ihren inneren Weg hat, dass das etwas Sinnvolles sein kann. Oder – wie ich gesehen hab – dass Inder in das eiskalte Wasser der Quellen des Ganges unterm Gletscher steigen, um sich zu baden. Das ist eine starke innere Handlung. Es ist nicht das Wasser, das reinigt. Es sind die Geistesfaktoren, die dabei aktiviert werden, die ihre Auswirkungen haben.

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Kommen wir jetzt noch einmal auf uns selber zu sprechen: Jeden Abend Tschenresig-Praxis auszuführen, führt das zum Erwachen oder nicht? Die Silben OM MANI PEME HUNG zu murmeln, führt das zum Erwachen oder nicht? Es kommt drauf an. Wenn unser Geist ausgerichtet ist auf etwas, was zutiefst heilsam ist und tatsächlich zum Erwachen beiträgt, dann wird das die Folge sein. Wenn unser Geist aber auf Meinungen, Anschauung, Fixierung ausgerichtet ist, und daran festhält, dann wird das nicht zum Erwachen beitragen. Diese beiden letzten Sichtweisen, die etwas für das Höchste halten, stehen für alle schädlichen Anschauungen, die die Wirklichkeit verkehrt sehen, wie auch für das Haften an schädlichen Wegen, die keine Methoden der Befreiung sind. Diese fünf Anschauungen sind allesamt von emotionaler Belastung behaftete Weisheit, also Weisheit, die gestört wird, die aufgewühlt wird von emotionaler Belastung. Unter diesen zehn primären emotionalen Belastungen – fünf Anschauungen und fünf, die keine Anschauungen sind – sind vier von völlig begrifflicher Natur: die beiden Anschauungen, etwas für das Höchste zu halten, verkehrte Anschauung und Zweifel. Die übrigen sechs können von völlig begrifflicher Natur oder zugleich entstehend sein. Zugleich entstehend heißt hier einfach natürlicherweise gleichzeitig vorhanden. Sie können also durch Schulung in philosophischen Gedanken durch Annahme von anderen, mit denen wir über solche Dinge sprechen, erlangt werden oder sie sind innewohnend von Geburt aus vorhanden. Das heißt, wir bringen sie mit in dieses Leben. Unter der Anschauung, an Extremen festzuhalten, steht ein Denkmodell, das ich eigentlich als das genaue Gegenteil von dualistischem Denken kennen gelernt habe. Es stammt aus der indischen Rechtssprechung, wo nicht wie in der aristotelischen Logik A nicht gleich B sein kann, sondern unter bestimmten Bedingungen A auch B sein kann oder beides nicht, was als Tetralemma bezeichnet wird. Existenz, Nichtexistenz, sowohl – als auch sowie weder – noch. Ich habe es eigentlich kennen gelernt als eine ausgesprochen hilfreiche Denkkonstruktion gegen das extreme Hängenbleiben im dualistischen Dilemma da. Warum erscheint das hier als extreme Geschichte? Mussten die sich da gegen die Inder absetzen, oder was war da los? Da liegt genau der große Beitrag des buddhistischen Weges. Eigentlich findet eine fortschreitende Analyse statt: 1) Zunächst glauben wir, die Dinge existieren. 2) Dann werden wir uns der illusorischen Natur bewusst, des nicht Greifbaren, und wir denken, die Dinge existieren nicht. Wir werden uns dann aber bewusst, dass eine Nicht-Existenz weder unser Erfahren erklären kann, noch Sinn macht im Bezug auf etwas, was noch nie existiert hat. Von einer Nicht-Existenz kann man nur sprechen, wenn etwas vorher existiert hat und dann nicht mehr existiert. 3) Und dann denkt man, unsere Lebenserfahrungen mit all den Erscheinungen des Lebens sind sowohl existent, als auch nichtexistent. Man kommt zu dem Schluss, dass es wohl die Kombination der beiden ist. Da aber weder Existenz noch Nicht-Existenz nachgewiesen werden können, verwirft man auch den Schluss, dass es die Kombination dieser beiden Unmöglichkeiten ist. 4) Man kommt zu dem Schluss, dass die Lösung wohl sein müsste: weder existent noch nichtexistent. Damit bezieht man eine Position, wo man im Grunde nichts zum Ausdruck bringt. Es ist eine Nullposition. Es ist weder das noch das, und es gibt dem, was man beschreiben will, nicht die Spur von Beschreibung. Und auch diese Position, die man für intelligent halten könnte, ist wieder nur ein Standpunkt – im Grunde genommen der, nichts verstanden zu haben. Es ist weder das eine, was man nicht beweisen kann, noch das andere, was man nicht beweisen kann. Man hat dadurch nichts bewiesen. Man muss auch diesen Standpunkt aufgeben und sehen, dass die Wirklichkeit jenseits dieser vier Extreme ist. Das war eine sehr gedrängte Darstellung, aber das ist der Grund, warum man jenseits dieser vier Extreme gehen muss, alle vier sind nicht haltbare Standpunkte.

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Wenn man diesen vierten Standpunkt hinter sich lässt, der eigentlich ziemlich intelligent ist, aber eine Nicht-Aussage – weder dies noch jenes –, dann hat man noch nichts darüber ausgesagt, was es denn wirklich ist. Man hat nur was darüber gesagt, was es nicht ist und muss das offenbar sagen, um wieder einen Standpunkt zu haben. Unbedingt einen Standpunkt haben zu wollen, ist genau das wieder Hineinfallen in den Glauben an „Es gibt da was!“ Und auch diesen Glauben „Es gibt da mich mit meinem Standpunkt, und dieser Standpunkt bezieht sich auf eine konkrete Realität.“, muss man hinter sich lassen. Damit wird man frei von den vier Extremen und akzeptiert, dass sich die Wirklichkeit nicht mit Worten einfangen lässt. Dankeschön, jetzt habe ich endlich verstanden, was die gemeint haben, dass es darum geht, die Spielregeln dieses logischen Systems fallen zu lassen, zu überwinden oder eben nicht mehr zu respektieren und zu einer fünften Möglichkeit zu kommen. Es geht darum, die Grenzen dieser Spielregeln aufzuzeigen und zu sehen, dass das alles immer noch begriffliche Konstrukte sind, mit denen die Wirklichkeit nicht erfasst wird und dann hineinzufinden in eine Verwirklichung, die keine solche Konstrukte mehr braucht. *** In den vergangenen zehn Tagen haben wir uns die verschiedenen Ausformungen der Ich-Bezogenheit angeschaut. Wir haben die verschiedenen Faktoren besprochen, mit denen wir uns normalerweise als Ich identifizieren: mein Körper, meine Form, meine Objekte der Wahrnehmung, meine Empfindungen, meine Unterscheidungen, meine Gefühle, meine Gedanken, Ich mit meinen Anschauungen. Aber wo wir auch hingeschaut haben, haben wir doch wieder nur das vorübergehende Auftauchen eines Geistesfaktors gesehen, ein Erfahren, das in sich auch nicht konstant ist, Erleben im ständigen Wandel. Damit hat unsere Ich-Bezogenheit einen Schlag nach dem anderen bekommen. Wir schaffen es nicht mehr, die alten Vorstellungen von einem Ich aufrechtzuerhalten – soweit sie überhaupt vorhanden waren. Wir können diesen Prozess des steten Wandels natürlich ‚Ich’ nennen, bloß gibt es darin nichts, was sich wirklich als solches definieren ließe, etwas, von dem man sagen könnte: „Das nun wenigstens ist das Ich!“ Es gibt nur diesen Prozess ständig wechselnder Faktoren bzw. Geistesmomente verschiedener Qualitäten und Aspekte des Geistes, die sich manifestieren, und dieses nicht greifbare immer wieder frische, immer wieder neue Erleben, könnte man Ich nennen. Aber das ist nicht ein Ich, mit dem man sich identifizieren kann als etwas Solides, als etwas Festes. Es hat die Natur steten Wandels und es ist angemessener, auf der relativen Ebene zu sagen, dass es sich um einen Geistesstrom handelt. Strom des Gewahrseins, Strom von Bewusstseinsmomenten kommt dem schon sehr viel näher, als ein Ausdruck, der eine gewisse Festigkeit, eine gewisse Stabilität vermuten lässt. Geistesstrom oder Bewusstseinsstrom ist ein Ausdruck, der auf der relativen Ebene recht gut passt. Er beschreibt uns wie einen Fluss, einen Strom, in dem das Wasser strömt. Wir sind ein Bewusstseinsstrom, ein Strom verschiedener Erfahrungen, ein Strom des Erlebens, und genau wie ein Fluss sind wir nicht für einen Augenblick dieselben. Das, was wir ein Individuum nennen, gibt es eigentlich nicht. Individuum bedeutet etwas Unteilbares, was sich nicht mehr dividieren, nicht mehr teilen lässt. Es ist die Einheit der Person. Mit diesem Konzept der unteilbaren Einheit haben wir ziemlich aufgeräumt, nicht dass es in Teile zerfallen würde, aber das, was wir bisher das Individuum genannt haben, stellt sich als ein Strom heraus, der so wie ein Fluss aus unzähligen verschiedenen Wassertröpfchen, Bewusstseinsmomenten besteht, und da ist der Ausdruck Individuum nicht mehr angemessen. Wenn wir davon sprechen, dass sich dieser Geiststrom aus Geistesmomenten zusammensetzt so wie ein Fluss aus Wassertröpfchen, so ist das leicht daher gesagt. Wenn wir genau untersuchen, dann finden wir auch im Fluss keine einzelnen Wassertropfen, die sich zusammenfügen, um dann einen Strom zu ergeben und ebenso finden wir auch im Geistesstrom keine einzelnen Geistesmomente, die unterscheidbar wären als klar definierbare Einheiten, die sich dann zu einem Ganzen zusammenfügen. Wir können gar nicht festlegen, wo ein Tropfen anfängt und wo er aufhört. Wir könnten das unendlich weiter unterteilen in immer kleinere Einheiten von Wasser, und genauso können wir auch nicht fest-

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legen, was ein Moment der Wahrnehmung ist, denn wir können die Dauer dieses Momentes nicht definieren. Es widerspricht dem Prinzip der Bewegung, die Bewegung in Teile zu zerlegen. Das ist völlig künstlich. Z.B. den Wind, der übers Land bläst, in einzelne Einheiten von Luftbewegung zu unterteilen, ist absurd, es erfasst nicht das Phänomen der Bewegung. So sind wir als Geistesströme eben auch in ständiger Bewegung, und diese Untersuchung der Geistesfaktoren, in der wir jetzt sind, soll uns auf dieses ständige Spiel der verschiedenen Elemente in unserem Bewusstsein aufmerksam machen, ohne dass irgendeiner dieser Geistesfaktoren als unabhängig von den anderen betrachtet werden würde, als eine existierende Einheit, die sich dann mit den anderen zusammenfügen würde. Wenn wir uns anschauen, was mit diesen Faktoren gemeint ist, dann wird uns klar, dass z.B. für einen Moment des Stolzes viele unheilsame Gestaltungskräfte zusammen kommen. Da gibt es den Stolz, der Grundlage der Unwissenheit, vermischt mit Formen des Anhaftens, der Begierde, und immer sind gleichzeitig die fünf allgegenwärtigen Geistesfaktoren dabei, die ohnehin bei jedem Bewusstseinsakt aktiv sind. Was ein Faktor genannt wird, ist also das Zusammenwirken einer Reihe von Aspekten des Geistes, die diese Erfahrung gestalten. Das Gestalten ist das Wichtige, es formt ein Erleben. Die Faktoren sind Gestaltungskräfte. Wir sollten uns vielleicht angewöhnen, von Gestaltungskräften zu sprechen. Das ist eigentlich damit gemeint: Das, was Erleben und damit auch Karma gestaltet; das, was handelnd wirkt mit Gedanken, Worten und auf körperlicher Ebene und das, was dann auch die Zukunft, den nächsten Moment gestaltet und formt, wo dann andere Aspekte des Geistes wieder aktiv werden. Es gibt nicht etwa Faktoren im Sinn von Einheiten, die irgendwo im Hintergrund unseres Geistes verstaut wären oder latent warten würden, um dann irgendwann einmal zu sagen: „Kuckuck, hier bin ich! Jetzt bin ich an der Reihe, und nur ich!“ Es ist immer ein Zusammenspiel der verschiedenen Aspekte des Geistes, um das Erleben im Sinne dieser Kräfte zu gestalten. Wir sprechen hier also von Gestaltungskräften, samskara. Kara ist das Wort wie Karma – das was handelt, und sam bedeutet das, was alles bewirkt, was insgesamt Erfahren bewirkt, also Gestaltungen. Wir werden uns auf dem Hintergrund dieser Erklärung jetzt den zwanzig sekundären emotionalen Belastungen zuwenden.

Die zwanzig sekundären emotionalen Belastungen stellen in sich keinerlei geschlossene Liste dar. Sie sind Verbindungen der bereits erwähnten emotionalen Belastungen und sind einfach jene belastenden Emotionen, zu denen der Buddha gefragt wurde. Die sind hier zusammengestellt, und die Liste könnte ewig lang sein, wir könnten jede Form von Klesha noch hinzufügen. Da gibt es viele, viele mehr und die hier enthaltenen sollen uns einfach einen Eindruck davon geben, wie diese Gestaltungskräfte zusammenwirken, um dann die einzelnen Blüten unserer Anhaftung hervorzubringen, damit wir auch motiviert sind, diese Blüten dann verwelken zu lassen, ihnen keine Nahrung mehr zu geben. Die ersten fünf Faktoren gehören zur Kategorie des Ärgers: Wut, Groll, Verachtung, Böswilligkeit und Eifersucht.

28) Wut ist gesteigerter Ärger und bewirkt, dass Vorbereitungen getroffen werden, um zu schlagen oder anderes Leid zuzufügen. Das ist nicht schwer zu verstehen. Wut oder Zorn ist Ärger, der sich steigert bis zu dem Punkt, wo man bereit ist, zuzuschlagen.

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29) Groll gehört zur Kategorie des Ärgers und bewirkt, unablässig die Absicht schaden zu wollen aufrechtzuerhalten und nicht verzeihen zu können. Groll ist Ärger, der in uns stecken bleibt und wo wir nachtragend sind. Wir wollen uns rächen und es dem anderen heimzahlen. Mit dieser Form des Ärgers ist also gemeint, dass es nicht zu einem Loslassen kommt, nachdem die eigentliche Situation schon vorbei ist. Auf dieser Grundlage können wir nicht verzeihen, wir warten innerlich auf den Moment, wo wir zuschlagen können. Wir haben das Ziel, dem anderen wieder eine Verletzung zuzufügen.

30) Verachtung bewirkt, aus Wut und Groll heraus nicht verzeihen zu können und verletzend zu sprechen. Verachtung ist ein totaler Mangel an Respekt, wo man dem anderen bewusst mit Worten Verletzungen zufügen möchte und dann auch ganz harte, verletzende, beschimpfende Worte ausspricht.

31) Böswilligkeit gehört zur Kategorie des Ärgers. Sie verhindert Mitgefühl und Liebe und bewirkt Streitsucht. Diese vier Faktoren gehören zur Kategorie des Ärgers und beschreiben einfach verschiedene Formen von Wut kombiniert mit Anhaften. Einmal ist es das Anhaften, das bewirkt, dass man sich im Ärger vergisst und bereit ist, zuzuschlagen und alles andere außer Acht lässt. Dann ist es der Ärger, der nach innen geht, der innen als Groll festgehalten wird und darauf wartet, es zurückzahlen zu können. Weiters Ärger, der bewirkt, dass man jeden Respekt vor anderen verliert und nie verzeihen kann, sondern nur noch respektlos handelt. Schließlich die tatsächliche Böswilligkeit, die sich bis zu Gräueltaten und wirklich grausamen Handlungen steigern kann und Kampf und Streit mit sich bringt.

32) Eifersucht gehört zur Kategorie des Ärgers und beinhaltet, aufgrund von Haften an Gewinn, Ehre usw. das Wohlergehen anderer nicht ertragen zu können und geistig zutiefst aufgewühlt zu sein. Sie unterstützt Unglücklichsein und den Fehler, den Geist nicht natürlich ruhen lassen zu können. Eifersucht ist ein wütendes Denken, man ist innerlich aufgebracht, weil man sich etwas wünscht, was man jetzt gerade nicht hat, was aber andere haben. Eifersucht kann sich zum Hass steigern, kann sich in all die eben beschriebenen Faktoren hineinsteigern und ist gekennzeichnet durch die Unfähigkeit, das Wohlergehen anderer zu ertragen. Es ist also die völlige Abwesenheit von Freude am Wohlergehen anderer. Wir haben jetzt eine Gruppe abgeschlossen, und man muss sagen, dass diese Gestaltungskräfte vielleicht für sich auftauchen können, aber miteinander so viele Wechselbeziehungen haben, dass man sie schwer voneinander abgrenzen kann. Bei genauerem Hinschauen fällt auch auf, dass sie die Faktoren Stolz, Begierde, Unwissenheit in sich tragen, dass sie auch mit den Gestaltungen des Haftens an Anschauung einhergehen, dass die fünf allgegenwärtigen Gestaltungen aktiv sind und die fünf Objektvergewissernden Faktoren ebenfalls in unterschiedlicher Ausprägung in diesem Cocktail aktiv sind. Diese Faktoren, die hier beschrieben werden, sind keine Einzelfaktoren, es ist ein Cocktail, eine Mischung aus verschiedenen Ingredienzien, die zu diesem Erleben führen.

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Fragen:

Begierde als Grundlage der Eifersucht Nach meiner Erfahrung baut Eifersucht in neunzig Prozent der Fälle auf Begierde auf, auf einem Wollen. Um noch einmal klarzustellen, was hier beschrieben wird: Auf der Basis des Wollens, der Begierde tritt eine Unzufriedenheit auf, weil man selber was nicht hat, was aber andere haben. Innerlich wird vorwiegend Unzufriedenheit und Ärger erlebt, gar nicht so sehr die Begierde. Der Ärger dominiert, und deswegen wird dieses Erlebnis eher der Ärgerfamilie zugeordnet, obwohl die Anteile von Begierde enorm stark sind in diesem Erleben. Diese Definition von Eifersucht irritiert mich sehr, denn ich habe bisher Eifersucht so verstanden – auch das franz. Wort ‚jalousie’ macht es deutlich – dass man etwas neidet, was zwischen Menschen stattfindet, dass man also auf eine Interaktion neidisch ist. Das Wort Neid taucht bisher überhaupt nicht auf. So wie es hier definiert ist, verstehe ich Eifersucht als Neid auf Gewinn, Ehre, Wohlergehen von anderen. Ja, da sollte man das Wort Neid dazuschreiben. Es ist tatsächlich so, dass wir ständig zwischen diesen beiden Worten schwanken, Neid und Eifersucht sollten hier als Synonym verstanden werden. Da gehört auch noch Rivalität dazu, diese Wettkampfhaltung. Es geht um ein Sich-Vergleichen mit anderen. Die enge Bedeutung von Eifersucht, wo es speziell um Männer-Frauengeschichten geht aber dann auch um ein Vergleichen mit Beziehungen, hat im asiatischen Denken gar nicht die Rolle gespielt. Es geht um den Mechanismus des Sich-Vergleichens. Wir ergänzen den Faktor Eifersucht also mit Neid, Rivalität, Wettstreben, Konkurrenzdenken. Das hat ja mit mangelndem Selbstvertrauen zu tun. Das ist genau auch der Grund, dass Menschen, die sehr stolz sind, die richtig dick im Stolz sind, immer sagen, sie kennen gar keine Eifersucht. Das liegt ganz einfach daran, dass das Leben ihnen noch nicht so zugesetzt hat, dass sie mit ihrem Stolz nicht mehr durchkommen würden. Wenn sie eine schwere Niederlage erleiden und es sich nicht mehr selbst weismachen können noch die Besten zu sein, noch oben drauf zu sein, dann werden sie unglaublich eifersüchtig. Dann ist diese Kränkung des Selbstwertes so enorm, dass sie sofort ihre Eifersucht erleben, die bis dahin verdeckt war durch die Brille des Stolzes. Die Brille des Stolzes interpretiert die Welt so um, dass man derjenige ist, der alles kann, der anderen was zeigt usw., man hat die Haltung des Überlegenen. Ich halte mich zurück, nicht noch mehr über diese Faktoren zu sprechen, es wäre ein sehr ausführliches Gebiet. Ihr könnt in den Abschriften der beiden Kurse über Emotionen, die wir hier gemacht haben – 1999/2000 – noch viel über Eifersucht und Stolz nachlesen. All diese Emotionen beruhen ja eigentlich auf dem Streben nach Glück. Nur der Fehler der dabei gemacht wird, ist zu meinen, man könnte das Glück auf dem Rücken der anderen erlangen. Warum machen wir diesen Fehler? Der Grund liegt in unserem Mangel an Weisheit, Mangel an Verstehen der eigentlichen Ursachen der Bedingungen, die glücklich machen. Also geht es darum, hinzuschauen und tiefer zu verstehen, was denn eigentlich zu Glück beiträgt und das dann umzusetzen. Dieser Mangel an Weisheit muss behoben werden. Sollte man denken, man könnte sich mit Ellenbogen den Weg zum Glück verschaffen können, so hat man auf dem Weg bis zur Spitze der Pyramide des Erfolges und des so genannten Glücks all seine Freunde verloren und ist ein erfolgreicher Egoist, vollkommen allein und unglücklich. Das ist mangelnde Weisheit. Weisheit, wirkliches Verständnis von Ursache und Wirkung weiß darum, dass man glücklich wird, indem man mit anderen teilt, freigebig ist, das Herz öffnet, Liebe, Mitgefühl praktiziert – all die Faktoren, von denen wir auch schon gesprochen haben. All das, was wir hier beschreiben, sind Strukturen, Verhaltensweisen, Denkweisen, die auftauchen, wenn nicht ausreichend Weisheit vorhanden ist, wenn es an Gewahrsein mangelt.

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Da hast du völlig Recht. Gehört üble Nachrede auch zur Eifersucht? Ja natürlich, sie gehört zur Eifersucht, sie gehört aber auch zur Verachtung, sie gehört zum Stolz, sie ist Ausdruck verschiedener dieser Gestaltungen. Ich erlebe ganz häufig einen Segensstrom und erfahre so etwas wie Gnade und fließe dann innerlich über von wirklicher Zuneigung und Liebe anderen gegenüber. Dann gibt es doch Momente, wo ich so intolerant werde und innerlich so starke Herablassung empfinde, dass ich fast so weit gehen könnte, über andere wirklich schlecht reden und verletzende Worte sagen zu können. Ich frage mich, wie es dazu kommt. Wie kann ich in diese Offenheit zurückfinden, die durchaus authentisch, natürlich ist, und in der ich eigentlich die meiste Zeit meines Lebens verbringe. Um es kurz zu machen, würde ich sagen, dass es hilft, sich im anderen zu erkennen: Der andere bin ich. Das, was ich im anderen nicht akzeptieren kann, kann ich in mir nicht akzeptieren. Dort, wo ich dem anderen keine Liebe entgegenbringen kann, kann ich mir selbst keine Liebe entgegenbringen. Wenn ich es lerne, den anderen dort zu akzeptieren und ihm dort Liebe entgegenzubringen, wo ich selber mit mir Schwierigkeiten habe, tut mir das zugleich gut, genauso wie es mich selbst verletzt, wenn ich den anderen verletze. Wir fallen da einfach hinein, weil wir noch Verletzungen aus der Vergangenheit mit uns tragen, wo es noch mangelndes Selbstvertrauen gibt, Bereiche in denen wir uns noch nicht angenommen haben. Wenn sich die auftun, dann ist es vorbei mit der Welt der Liebe, in der wir uns normalerweise aufhalten. Wir sind dann in diesen Verletzungen, und genau dort haben wir dann auch große Mühe, andere zu akzeptieren. Das praktiziere ich schon seit Jahren so. Gibt es nicht doch noch ein weiteres Rezept, das mir helfen könnte? Okay, zweites Rezept: Nicht versuchen perfekt zu sein; es aufgeben, einem Idealbild entsprechen zu wollen; es aufgeben immer gleich bleibend liebevoll sein zu wollen; sich mit den eigenen Fluktuationen zu akzeptieren; entspannt zu bleiben, auch wenn die Geisteszustände auftreten, die wir nicht so gerne sehen. – und noch einige Jahre weiterpraktizieren. Falls jemand solche Momente mit mir erlebt hat, wo ich etwas ablehnend, verschlossen und kritisch war, dann möchte ich mich dafür entschuldigen und wünsche mir, dass ihr mir dafür vergeben könnt. Das sollten wir eigentlich alle machen. Warum fallen wir immer wieder in diese Schwierigkeiten? Ich sage noch einmal: Es gibt da noch Bereiche in uns, die wir noch nicht integriert, noch nicht geregelt haben. Wenn diese Bereiche stimuliert werden, ist es so, als würde sich eine riesige Jauchengrube vor uns auftun – es ist unsere eigene – und wir fallen da hinein. Ich leide sehr unter diesem Vergleichen und kenne das Sich-Vergleichen mit allen und mit jedem, mit dem Bäcker, mit dem Arzt, mit demjenigen der unterrichtet, mit anderen, die im Raum sind und es ist ohne Ende. Ich glaube, was du beschreibst, kennen wir alle. Mir hilft dabei der Blick in die Natur. Ich stelle mir vor, wie das wäre, wenn der Grashalm oder das Gänseblümchen versuchen wollten, eine Eiche zu sein oder was auch immer, ein anderer Busch, ein anderes Blümchen. Es geht nicht! Vermutlich haben sie diese Gedanken auch nicht. Ich stimme mich immer wieder ein auf den Frieden, einfach so zu sein wie ich halt bin, ohne jemand anders sein zu wollen und erinnere mich daran, es so einfach zu leben, wie es in der Natur draußen ist. Das hilft mir, aus dem Vergleichen raus zu kommen und es einfach ruhen zu lassen; der zu sein, der ich bin. Manchmal fühle ich mich wie ein Sandkorn, manchmal fühle ich mich wie eine Eiche. Einfach das sein was ich bin, auch wenn es ganz unterschiedlich zu verschiedenen Zeiten ist, einfach so sein, ohne jemand anders sein zu wollen, wirkt sehr beruhigend auf meinen Geistesstrom. ***

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Die folgenden Faktoren sind auch kein schönerer Spiegel als der von vorhin.

33) Unaufrichtigkeit ist eine betrügerische Geisteshaltung, die aus Anhaftung an Dinge wie Gewinn und Ehre die eigene Negativität verheimlicht und sie so ununterbrochen aufrechterhält. Sie gehört zu den Kategorien von Anhaftung, Abneigung und Verblendung und verhindert, authentische Unterweisungen erhalten zu können. Das ist also eine Tendenz des Betrügens, des Vortäuschens, wo wir tatsächlich bestehende Negativität oder schädliche Handlungen verheimlichen. Aufgrund des Verheimlichens kommt es dazu, dass man diese Fehler, diese schädlichen Handlungen aufrechterhält und wir verhindern, dass in diesen Bereich Hilfe einfließen kann. Die Motivation hinter dieser Tendenz ist das Haften an dem Bild, das andere von uns haben. Wir haften an Anerkennung und Respekt, am guten Bild, das andere von uns haben. Zu dem Bild, was andere von uns haben, gehört dann auch der Wunsch, weiterhin Vorteile daraus zu ziehen. Das wird hier Gewinn und Ehre genannt. Eigentlich ist der Eindruck gemeint, den wir bei anderen erwecken und der für uns von Vorteil ist. Wenn wir diesen Faktor und die dahinter stehenden Motivationen näher betrachten, sehen wir, dass von den sechs grundlegenden emotionalen Belastungen, die wir schon gesehen haben, Anhaftung, Verblendung, aber auch Abneigung in diesem Cocktail mitspielen. – Mit Abneigung ist unsere Abneigung gegen das Bild gemeint, das andere von uns haben würden oder wir von uns selber haben müssten, wenn wir wahrhaftig wären. Der nächste Faktor hängt auch mit dem Faktor Unaufrichtigkeit zusammen, aber hier täuscht man Qualitäten vor.

34) Scheinheiligkeit beinhaltet, für Gewinn und Ehre eigene Qualitäten vorzutäuschen, die man nicht hat, und dadurch andere mit Unwahrheit zu betrügen. Sie gehört zu den Kategorien von Dummheit und Anhaftung. Sie verstärkt die primären und sekundären emotionalen Belastungen und unterstützt eine falsche Lebensführung. Diese beiden Faktoren unterscheiden sich dadurch, dass bei der Unaufrichtigkeit verheimlicht wird, was an schädlichen Handlungen und an negativen Tendenzen da ist, und bei der Scheinheiligkeit Qualitäten vorgetäuscht werden. Das eine ist im Bezug auf Schädliches und das andere ist im Bezug auf Qualitäten. In beiden Fällen wird getäuscht, beides ist unaufrichtig, beides ist scheinheilig. Auf der Basis dieser beiden Faktoren können alle weiteren emotionalen Belastungen aufblühen, und sie finden kräftige Unterstützung. Es ist ein reiches Feld, weil es im Grunde mit sich bringt, dass man nie in den Spiegel schaut. Man hält sich selbst den Spiegel nicht vor und zeigt auch den anderen nicht ehrlich, wie man ist. Die nächsten beiden Faktoren sind der Mangel an den beiden heilsamen Faktoren von Selbstrespekt und Rücksichtnahme, die wir bereits besprochen haben.

35) Mangelnder Selbstrespekt ist, schädliches Handeln nicht aus sich selbst heraus zu unterlassen. Er gehört zu den Kategorien der drei Geistesgifte und stärkt die primären und sekundären emotionalen Belastungen. Dazu brauche ich eigentlich nicht viel zu sagen, wir haben das im Zusammenhang mit den heilsamen Faktoren bereits besprochen. Mangelnder Selbstrespekt ist, schädliches Handeln nicht zu unterlassen, wenn wir mit uns selbst ins innere Zwiegespräch gehen. – Wir sind allein, in einer Situation, wo es darauf ankommt, seiner selbst willen schädliches Handeln zu unterlassen und stattdessen etwas Heilsa-

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mes zu tun. Wir haben nicht diesen inneren Respekt vor uns selbst, so zu handeln wie wir uns das vorgenommen haben und führen schädliches Handeln aus. Man könnte dieses Thema ausweiten und davon sprechen, dass es auch mangelnder Selbstrespekt ist, wenn man sich von allen möglichen Dingen ablenken lässt oder wenn man sich Handlungen hingibt, die man eher als neutral einstuft, die aber Zeitverschwendung sind. Das alles ist aber mit diesem Faktor hier so nicht gemeint. Es ist schädliches Handeln gemeint – zu töten, zu stehlen, zu lügen, Gewalt anzuwenden –, wenn man nicht beobachtet wird, was man nur sich selbst gegenüber zu verantworten hat und wo einem die innere ethische Richtschnur, der innere ethische Kompass sagen würde: „Nein, das möchte ich mir selbst gegenüber auch nicht verantworten, das widerspricht meinen inneren Prinzipien.“ Mangelnder Selbstrespekt würde bedeuten, nicht auf diese Stimme zu hören oder sie gar nicht mehr mitzubekommen, dass diese innere Stimme gar nicht mehr aktiv ist.

36) Rücksichtslosigkeit ist, sich ohne Rücksicht auf andere hemmungslos nichtheilsam zu verhalten. Sie gehört zu den Kategorien der drei Geistesgifte und stärkt alle Formen emotionaler Belastung. Diese Form der Rücksichtslosigkeit ist im Bezug auf andere; sei es, dass wir mit einem Menschen zusammen sind oder mit einer Gruppe. Wir sind Versprechen eingegangen, haben Gelübde genommen, uns zu ethischem Verhalten verpflichtet, auch der Gesellschaft gegenüber und verstoßen gegen diese Verpflichtungen. Das beinhaltet auch, gegen das Gesetz zu verstoßen, obwohl wir eigentlich angenommen hatten, dass wir auf dieser Grundlage stehen. Rücksichtslosigkeit bezieht sich auf all die schädlichen Handlungen, durch die andere zu Schaden kommen, übervorteilt werden und dergleichen. Es sind Handlungen, die wir normalerweise nicht tun würden, wenn wir den Respekt für andere wach halten würden. Diese beiden Faktoren gehören also zusammen, nur dass das Band, das dabei nicht berücksichtigt und zerstört wird, zum einen mit uns selber ist – die Verpflichtung uns selbst gegenüber – und im zweiten Fall das Band oder die Verpflichtung mit anderen.

37) Verstellung gehört zu den Kategorien von Verblendung und Anhaftung und beinhaltet, nicht das zu tun, was eindeutig angewiesen wurde, und dabei die eigene Negativität verbergen zu wollen. Sie unterstützt es, nicht bedauern zu können und nicht glücklich zu sein. Auf Französisch wurde dieser Faktor anders übersetzt, viel näher dran an den beiden anderen Faktoren der Scheinheiligkeit, die wir schon gesehen haben. Dort heißt es, dass man seine eigenen Fehler versteckt, wenn man zu Recht beschuldigt wird. Zu Recht beschuldigt oder angesprochen werden ist hier im Deutschen übersetzt als eindeutig angewiesen werden. Es ist gemeint, dass man bei einer eindeutigen Anweisung nicht das tut, was zu tun ist, es nachher versteckt und damit die eigene Negativität verbergen möchte. Verstellung gehört auch zur Kategorie von Anhaftung und Verblendung. Wenn man immer etwas verstecken muss, dann kommt es auch nicht zu einem Bedauern. Damit man bedauern kann, muss man es offen legen, müssen die Dinge offen angesprochen werden. Sonst ist es wie eine Eitertasche, die man nie aufmacht, und die deshalb nie heilen kann. Man muss den Abszess aufstechen und nach außen bringen. Genauso ist es auch im eigenen Bewusstsein.

38) Habgier ist, aufgrund von Begierde an Gebrauchsgegenständen und anderen Dingen, die man besitzt, energisch festzuhalten. Sie bewirkt, Besitz nicht abgeben zu können. – Nicht einfach leben zu können.

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Habgier ist eine einfache Fortsetzung, Verstärkung von Begierde und beinhaltet, dass man stark an Besitz festhält. Man möchte weit mehr noch, als was man überhaupt braucht, was man eigentlich selber zum Leben braucht, und es ist die Unfähigkeit teilen zu können.

39) Selbstüberheblichkeit ist, aus Vergnügen und Anhaftung selbstzufrieden mit Gesundheit, Jugendlichkeit und allem anderen Vortrefflichen zu prahlen, die der eigene, von Triebflüssen geprägte Geistesstrom besitzt. Sie unterstützt die primären und sekundären emotionalen Belastungen. Bei dieser Selbstüberheblichkeit handelt es sich um eine Form von Eitelkeit, wo wir z.B. mit unserer Gesundheit prahlen: „Ich bin so gesund!“, „Ich kann raus in die Kälte!“, „Ich schwimme im kalten Meer!“, „Ich klettere auf die Berge.“, „Ich kann alles verdauen, kann alles essen.“ Wenn man da zuhört, denkt man sich: „Na! Hoffen wir, dass es noch eine Weile hält!“ Das ist eine Identifikation mit den Aggregaten aus dem Zustand heraus, in dem sich der Körper gerade befindet – das kann sich natürlich auch auf den Geist beziehen – und man erkennt diesen Zustand nicht als etwas sich ständig Wandelndes, als vergänglich. Es ist eine Übertreibung. Was die Jugend angeht, ist das die Eitelkeit oder Selbstüberheblichkeit mancher Jugendlicher, die mit Herabschätzung gegenüber alten Personen einhergeht. Wieder ist es die Identifikation mit einem Zustand, der nur zeitweilig dauert und nicht zu halten ist. Die letzten Aufwallungen dieser Eitelkeit in Bezug auf Jugendlichkeit kommen dann im Alter von ungefähr Fünfzig, wo man noch einmal versucht, sich zu zeigen wie fit man ist, dass man immer noch auf alle Berge klettern kann, dass man immer noch verführen kann, hübsch aussieht. Aber irgendwann fällt dieser Kampf gegen die Realität dann auch in sich zusammen, weil man bemerkt, dass man tatsächlich ganz schön auf dem absteigenden Ast ist, dass die Frische der Jugend so nicht mehr zu finden ist. Vielleicht noch schlimmer als das Anhaften an diesen äußeren Merkmalen wie Gesundheit und Jugend ist das eitle Hervorheben-Wollen der eigenen geistigen Qualitäten. Ob es denn nun so etwas Einfaches ist, wie ein guter Schachspieler sein zu wollen oder Talente in Sprachen zu haben, alles wird aufgebläht. Diese Selbstüberheblichkeit wird am schlimmsten, wenn sie zu einer Haltung führt, wo man zu wissen meint, was andere denken, warum sie so handeln, warum das schief geht bei dem und warum das dort gut geht, dass man also derjenige ist, der sich bei allem ein Urteil anmaßt, alles zu wissen, mitzukriegen meint. Da besteht zu Anfang vielleicht eine gewisse Fähigkeit, Dinge genau unterscheiden, gut sehen zu können, die sich dann aber zu großer Selbstüberheblichkeit und Eitelkeit auswächst. Als Anteil dieser Selbstüberheblichkeit spielt das Abwerten der anderen eine Rolle, herablassend auf die zu schauen, die krank sind, wenn wir selber gesund sind: „Wie kannst du nur krank sein? Schau, wie ich das mache! Ich bin bei bester Gesundheit, du musst es genauso machen wie ich, dann geht alles bestens!“ Oder die Abwertung der Jugendlichen gegenüber den Alten: „Wie können die nur so schwach sein, so dumm, so gebrechlich? Die kriegen nichts mehr auf die Reihe!“ Das ist die Eitelkeit der Jugend. So geht es mit allen Qualitäten. Wir werten andere ab. Das ist Ausdruck des Stolzes, der da eine Rolle spielt. Nun kommen wir zu mangelndem Vertrauen, der Abwesenheit von Vertrauen, dem ersten Faktor in der Liste der heilsamen Faktoren.

40) Mangelndes Vertrauen gehört zur Kategorie der Verblendung und beinhaltet, das wahrhaft Gute und den heilsamen Dharma nicht zu schätzen. Es unterstützt Faulheit. Mangelndes Vertrauen beinhaltet, dass man keine Gewissheit, keine Sicherheit darüber hat, was heilsam ist und was das zutiefst Heilsame ist, das Erwachen. Aufgrund der Abwesenheit dieser Gewissheit

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kommt es zu einer Unfähigkeit, die eigene Energie auszurichten. Man weiß nicht, auf welches Ziel man seine Energie richten muss oder will und ist blockiert, was zu einer Inaktivität führt, zu Faulheit. – Faulheit in dem Sinne, sich nicht auf das Heilsame ausrichten zu können. Hier sind also Vertrauen und eine gewisse innere Sicherheit miteinander gekoppelt. Um sich ausrichten zu können, braucht man dieses Vertrauen, dass die Richtung stimmt. Wenn dieses Vertrauen nicht vorhanden ist, können wir in unserem Leben keine rechte Richtung bekommen. Mangelndes Vertrauen ist ein Faktor der Verblendung, der Unwissenheit, weil wir nicht klar genug darüber sind, worauf es wirklich ankommt. Wir verstehen nicht richtig, deswegen wird dieser Faktor der Verblendung zugerechnet.

Fragen: Scheinheiligkeit als Mittel der Konfliktvermeidung? Ich hatte große Mühe mit der Scheinheiligkeit, der man ja im Leben oft begegnet, und ich habe jetzt gelernt, dass es manchmal ja vielleicht sinnvoll ist, nicht aufrichtig zu sein, weil man damit Konflikte vermeidet. Manchmal ist es ja vielleicht sinnvoll, Konflikte zu vermeiden, nicht nur aus Interesse für sich selbst, sondern vielleicht auch aus Interesse für andere. Diese Aussage ist fürs Erste ein wenig schockierend, aber ein Teil davon ist auch verständlich. Es ist genau die Definition von Scheinheiligkeit, dass man damit Spannungen, Ärger vermeiden möchte, weil andere enttäuscht wären, wenn sie gewisse Dinge von uns erfahren würden. Das ist Selbstinteresse. Aber was du meinst, ist, im Interesse des Vermeidens eines größeren Konfliktes, wo andere beteiligt sind, was sie aufwühlen würde, die Wahrheit nicht zuzugeben, die Thematik nicht offen zu legen. Wir können nicht wissen, wie heilsam das auf lange Sicht ist. Es geht darum, das Interesse am eigenen Vorteil aufzugeben, dass uns das eigene Interesse nicht motiviert, etwas zu verheimlichen, etwas zu verstecken oder für etwas anderes auszugeben. Bei all diesen diplomatischen Spielen, bei der Taktik, geht es um Macht, um Einfluss, um Vorteile und nicht um das größte Wohl aller Beteiligten. Aus diesen ichbezogenen Motivationen sollten wir uns wirklich raushalten. Das ist es ja, was diesen Faktor nährt, für sich selber einen Vorteil haben zu wollen. Man kann sich vorstellen, dass dabei vielleicht Bodhicitta oder wirkliche Liebe, wirkliches Mitgefühl eine Rolle spielen könnten, wie Thartse Rinpoche das gestern erklärt hat, wo kleine Lügen manchmal notwendig sind, um jemanden vor großem Schaden zu schützen oder davor, umgebracht zu werden. Aber so etwas kommt äußerst selten vor, das ist sehr selten der Fall. Was sind die kleineren sekundären Belastungen? Das wäre eine verkehrte Übersetzung. Diese zwanzig, die wir gerade besprochen haben, sind die sekundären Belastungen und die sind in keiner Weise leichter oder weniger schlimm, weniger belastend als die ersten sechs. Sie werden bloß sekundär genannt, weil sie sich immer wieder aus den anderen in verschiedenen Mischungen zusammensetzen. Die Hauptingredienzien sind die ersten sechs Belastungen und daraus werden dann die neuen Cocktails gebraut. Cocktails, die blind und verrückt machen, das ist die Übersetzung des Tibetischen nyönmong. Man spricht von Belastungen oder von Verunreinigungen in dem Sinne, dass sie uns krank machen, uns belasten und blind machen. Behinderung wäre auch eine Möglichkeit, das Wort Klesha zu übersetzen.

Koketterie, Eifersucht Gehört Koketterie auch zu den Kleshas? Koketterie, wenn sich eine Frau hübsch macht usw., ist eine Unterform von Eitelkeit. Es ist ja nicht nur ein Schönmachen für das Spiel, sondern damit geht eine Identifikation einher. Deswegen zählt man das auch zu den Kleshas, zur Liste der belastenden Emotionen.

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Wie ist es denn mit den Auslösern für Eifersucht? Jemand ist eifersüchtig und jemand bewirkt diese Eifersucht. Was für Faktoren sind denn da auf der anderen Seite anzusiedeln? Da kommen natürlich alle Faktoren in Frage. Es kann sein, dass auf der anderen Seite Stolz vorhanden ist, der provoziert wird. Es kann aber auch sein, dass Qualitäten vorhanden sind, dass die ganz normal vorhandenen Qualitäten Eifersucht auslösen oder das einfache Dasein. Es sitzt z.B. jemand neben der Frau, mit der ich in einer Paarbeziehung bin, und ich bin sofort eifersüchtig, obwohl derjenige gar nichts im Sinn hat. Eifersucht kann sich alles als Auslöser nehmen. Wenn sie stark ist, dann kann sie jederzeit ausgelöst werden, sie braucht keinen bestimmten Auslöser. Ich hatte ein sehr schweres Leben und bemerke, dass ich in jeder Situation mit Eifersucht und Neid reagiere. Was kann ich tun? Übe dich darin, die Ursachen der Freude zu suchen. Erfreue dich an allem, was du siehst und Grund für Freude und Glück sein könnte. Mach das zu einer Praxis, die dich dann auch tatsächlich glücklich macht. Zuordnung von Emotionen Kann man die Emotionen farblich einordnen? Gibt es vielleicht emotionale Belastungen, die mehr nach innen gehen, innen bleiben, wie z.B. die Habgier, oder gibt es Emotionen, die mehr nach außen gehen wie die Eifersucht? Kann man das ein bisschen unterteilen? Ich finde das eher schwierig. Eifersucht z.B. kann sowohl innen drinnen sitzen bleiben, kann sich aber auch sehr stark nach außen hin entladen, außen zeigen. Ich kann sie also nicht so eindeutig zuordnen. Bei Habgier oder bei Geiz ist es klar, dass es mehr dieses Festhalten nach innen ist, aber auch da kann es sich nach außen hin ausdrücken. Ich wünsch dir viel Glück, dass du es für dich selber hinkriegst, diese vielen emotionalen Belastungen auf Farbe hin zu unterscheiden. Praxis mit den gestaltenden Faktoren Würdest du empfehlen, sich von Zeit zu Zeit diese Faktoren anzuschauen um zu sehen, wo man gerade steht oder nicht? Ja, doch! Das empfehle ich auf jeden Fall, zumindest solange, bis ihr die Faktoren auswendig könnt in dem Sinn, dass ihr wirklich jeden Faktor in euch selbst gefunden habt. Wenn ich über die Faktoren sprechen kann, dann deshalb, weil ich sie wirklich auch in meinem Geist gefunden habe und mir beschämend klar darüber bin, wie sie funktionieren. Ich muss dann auch immer wieder nachschauen, was jetzt gerade los ist. Wenn man darin ein bisschen geübt ist, kriegt man sehr schnell mit, welche Faktoren gerade aktiv sind. Und trotzdem tut es gut, die Liste ab und zu wieder durchzugehen. Angenommen, man sieht, dass man schon das meiste aufgelöst hat, besteht da nicht auch eine gewisse Gefahr, darüber in Stolz zu verfallen? Na, dann hättest du ja direkt den nächsten Faktor, an dem du arbeiten könntest! Dann ist noch nicht so viel aufgelöst. Wenn sich Freude einstellt, ist das ganz anders, als wenn sich Stolz einstellt, und diesen Unterschied kriegt man sehr deutlich mit.

Arbeit mit Energie - Quantenphysik Sind nicht all diese emotionalen Belastungen, die auftauchen, genau wie die anderen Geisteszustände Energien, die wir dann ausrichten? Z.B. bei Christian und Michelle arbeitet man viel mit inneren Energien. Ist nicht alles das Energie? Wenn ich einer Emotion in mir begegne und dann meinen Geist z.B. auf Tschenresi ausrichte und ihn visualisiere, bin ich dann nicht dabei, einer Energie eine andere Richtung zu geben? Gibt es da nicht eine universelle Energie, die sich so oder so ausdrückt? Daran gibt es vieles, was wahr ist, aber es gibt auch eine Falle, vor der ich euch gerne bewahren würde. Es ist wahr, dass alles Energie ist. Was auch immer wir erfahren, erleben, anfassen, die materiellen Dinge, alles ist Energie. Der Körper ist Energie. Gefühle, Gedanken sind Energie, jede Geistesbewe-

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gung ist eine Kraft, ist eine Bewegung und hat Einfluss auf andere Kräfte oder ist simultan mit anderen Kräften, hat einen Einfluss auf das Energiefeld, auf den Energiefluss im Körper usw., auf die Zellen im Körper. Also Energie, Kräfte sind überall, nichts ist davon ausgeschlossen, nichts ist nicht Teil dieses energetischen Prozesses, dieses ständigen energetischen Geschehens. Die Falle besteht nun darin, dieser Energie eine eigene Existenz zuzuschreiben, und z.B. von einer universellen Energie zu sprechen, die sich ungeschickt in einer Emotion ausdrückt und die man besser lenken könnte, damit sie sich dann als zeitloses Gewahrsein manifestiert oder als Mitgefühl, als ob diese Energie nach Ausdruck verlangen würde, und man ihr den besten Ausdruck verleihen würde. Das impliziert auch, dass es jemanden gibt, der getrennt von dieser Energie ist und diese lenkt. Worum es eigentlich geht, ist, jeden Gedanken, jede Bewegung im Geist in ihrer wahren Natur zu erkennen. Es ist also dieselbe Energie, dieselbe Bewegung, die sich als Ärger ausdrückt und in ihrer Natur erkannt wird – sie braucht nicht verändert zu werden. Und das ist die Natur des Geistes. Es ist nicht so, dass das Phänomen sich ändern müsste, damit es zur Erkenntnis der Natur des Geistes kommt, und es gibt auch niemanden, der getrennt ist von diesem Phänomen. Wir sind dieser energetische Prozess selbst, wir sind nicht jemand, der noch getrennt ist davon. Es ist sehr schwierig, darüber zu sprechen. Die Hinweise zur Behauptung, dass alles Energie sei und wie das mit dem Geist zusammenhängt, sind nicht in den normalen Dharma-Unterweisungen zu finden sondern in den sehr tiefgründigen Unterweisungen des Vajrayana, insbesondere in den sechs Dharmas von Naropa. Da geht es um die Einheit von innen und außen, wo die Praxis mit dem Bewusstsein, dem eigenen Geist, den inneren Energien sich dann im Außen manifestieren kann und man nennt das ‚die Kontrolle über die Elemente gewinnen’, also über die energetische Manifestation im Universum. Um wirklich zu zeigen, was damit gemeint ist, um diese innige Einheit von Bewusstsein und Welt aufzeigen zu können, müsste man eigentlich in der Lage sein, so wie Milarepa eine Wand eine Wand sein zu lassen und durch sie hindurch zu gehen, oder Feuer in Wasser zu verwandeln und dergleichen. Gibt es da nicht Parallelen in der Quantenphysik? Ja, darüber wird viel diskutiert, aber ich kenne die Quantenphysik nicht ausreichend, um mich da in Diskussionen einlassen zu können. Es sprechen so viele Menschen darüber, die sich eigentlich nicht richtig damit auskennen, und ich möchte nicht Teil von dieser Suppe sein, die da gebraut wird. Es gibt einen Film, der heißt ‚What the bleep do we know’. In diesem Film kommen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, auch Philosophen zu Wort, die sich zum Thema Quantenphysik äußern. Aber scheinbar – das ist auch mit Vorsicht zu genießen – sind alle, die in diesem Film zu Wort kommen, Mitglieder der gleichen Sekte. Ein Freund von mir hat das im Internet recherchiert, ich hab seine Aussagen nicht überprüft. – Ich bin voll einverstanden mit den Parallelen, die gezogen werden. Ich habe das Gefühl, dass die Quantenphysik an dem Punkt ankommt, wo auch Nagarjuna und seine Schüler, die großen Meister der damaligen Zeit, mit ihrer Analyse hingeführt haben in der Beschreibung dessen, was unser Erleben und was die Welt ist. Das war auch Teil meines Studiums, aber ich könnte nur die Berichte anderer wiederholen und dabei würde ich wahrscheinlich auch Fehler machen. Deswegen möchte ich darüber nicht weiter sprechen und nicht, um es abzublocken. Es kann sich jeder selber darüber informieren. Informiert euch einfach darüber, egal welche Filme, welche Bücher es sind. Es gibt so viele Bücher dazu, auch z.B. Buddhismus und Quantenphysik. Das hat in den Siebzigerjahren mit Fritjof Capra angefangen und die Serie der Erscheinungen zu diesem Thema ist seither nicht mehr abgerissen.

Selbstbewusstsein - Stolz Ist eine gesunde Selbsteinschätzung, Selbstbewusstsein Stolz? Könnte dieses Selbstbewusstsein Quelle von Leid sein?

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Ja, wenn ich z.B. ein gutes Selbstbewusstsein habe im Sinn, dass ich gut gehandelt habe und im Einklang mit mir selbst und meinen Werten bin, dann ist es eigentlich keine Quelle von Leid. Wenn man genauer hinschaut, wird man sehen, dass auch dort Identifikation zu finden ist und dass sich das später als Quelle von Leid herausstellen kann. Was wir im Deutschen mit göttlichem Stolz oder Stolz der Gottheit übersetzen – das ist ein Dharma-Ausdruck – bedeutet ein Selbstbewusstsein, in dem wir der Buddhanatur, der wahren Natur unseres Geistes gewahr sind. Dieses Gewahr-Sein dessen, was wir wirklich sind, ist keine Quelle von Leid. Das geht nicht mit Identifikation einher. Es ist da nicht ein Jemand, der sagt: „Ich bin der Yidam!“, sondern es ist ein Gewahr-Sein um diese ich-lose Dimension, die alle Qualitäten beinhaltet.

Tonglen Mir setzt es etwas zu, wenn ich beim Tonglen mit jedem Ein- und Ausatmen die Visualisation ändern soll und es ist auch schwierig, mit der eigenen Eifersucht umzugehen. Ich setze mir dann einfach die Gottheit, also Tschenresi, ins Herz und lasse von da aus das Tonglen geschehen. Das entspannt mich. Ja, das kann ich völlig verstehen. Es ist wirklich ziemlich anstrengend, wenn man bei jedem Ein- und Ausatem die Visualisation von schwarz und weiß und dergleichen ändern muss. Um die Praxis zu lernen, bleiben wir eine ganze Reihe von Atemzyklen bei einem Gedanken, z.B. beim Geben und wenn sich das ein bisschen abgerundet anfühlt machen wir eine Reihe von Atemzyklen mit dem nächsten Abschnitt der Praxis, dem Annehmen, wenn wir vorher beim Geben waren. Natürlich ist es völlig in Ordnung, wenn dich das entspannt, die Praxis von der Gottheit im Herzen ausgehen zu lassen.

Yidam Wir haben in der Gruppe vorhin über Yidams gesprochen. Gerd hat gemeint, dass Karmapa bei manchen Leuten sagen kann, welcher Yidam zu ihm passt. Kann man auch sagen, dass die Yidams mit diesen Faktoren zusammenhängen, dass bestimmte Yidams für bestimmte Störgefühle besonders geeignet seien oder hat das mit den Yidams noch eine andere Bewandtnis? Manchmal wird so was gesagt, wobei jeder Yidam die Kraft hat, alle Störgefühle aufzulösen. In jedem Yidam sind alle Buddhafamilien vereint. Aber die Farbe des Yidams bzw. die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Buddhafamilie lässt ein bisschen erahnen, an welchen Emotionen zunächst einmal gearbeitet wird. Es gibt tatsächlich solche Beziehungen, aber letztlich kannst du mit einem Yidam alle emotionalen Belastungen auflösen und alle Qualitäten verwirklichen. Sie wirken immer auf alle unsere Emotionen, weil sie immer direkt an die Wurzel unseres Ich-Anhaftens gehen. Yidam-Praxis bedeutet, mit der Ich-Bezogenheit zu arbeiten, und da es um die Wurzel geht, werden auch all die Blüten, die unser Ich-Anhaften treibt, zusammen mit dem Durchtrennen der Wurzel aufgelöst. Mit der Zeit ist es dann so, dass die Yidams alle beginnen, denselben Geschmack zu haben, dass man nicht mehr so wahrnimmt, dass ein Yidam mehr eine Emotion stimuliert als ein anderer. Das bedeutet, dass man mit den Yidams tatsächlich schon einen Weg gegangen ist, wo man diesen einen Geschmack sehr deutlich verspürt. Dann braucht man eigentlich nicht mehr so sehr darauf zu achten, mit welchem Yidam man arbeitet – das braucht man auch zu Anfang nicht. Man achtet dann nicht mehr so darauf, mit welchem Yidam man praktiziert. Wenn also nicht nur diese Faktoren das Kriterium für die Vergabe der Yidams sind, welche Kriterien legt Karmapa da an? Es geht offenbar um eine karmische Verbindung, ob schon eine Verbindung mit dem Yidam entstanden ist, die es ermöglicht, für lange Zeit voller Vertrauen zu praktizieren. Das ist wohl das Wichtigste. ***

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Lasst uns also die weiteren Faktoren noch anschauen, die wir die sekundären Belastungen nennen und die aus den verschiedenen Kombinationen der primären emotionalen Belastungen entstehen.

41) Faulheit ist das Verlangen nach Schlafen, Hinlegen, Anlehnen und anderen bequemen schädlichen Handlungen, wodurch es im Einsatz für das Heilsame an Begeisterung mangelt und Schlaffheit aufkommt. Sie bewirkt das Gegenteil von freudiger Ausdauer. Ihr erinnert euch, der Faktor vorher war mangelndes Vertrauen. Dieses fehlende Vertrauen, die fehlende Gewissheit, worum es im Leben wirklich geht, bewirkt, dass wir unsere Energie nicht ausrichten können und dann leicht in Faulheit, in ein Nichtstun verfallen. Faulheit ist uns ja gut bekannt, aber die Faulheit, von der hier gesprochen wird, ist nicht in dem Sinn zu verstehen, dass wir z.B. nicht das tun, was unser Chef uns bei der Arbeit sagt. Hier geht es um die Faulheit, nicht das zu tun, was zum Erwachen führt, was heilsam ist. Wenn wir im Krieg sind, ist es besser, faul zu sein, denn da geht es um nicht-heilsame, um schädliche Handlungen. Da ist es Ausdruck von Weisheit, wenn man nicht das tut, was angeordnet wird. Wenn man im Krieg übereifrig ist, schafft man noch mehr unheilsame Handlungen. Es geht also nicht um die Einschätzung der Gesellschaft, ob wir faul sind oder nicht. Es ist die Einschätzung von uns selbst, wenn wir nicht das tun, was wir schon als heilsam erkannt haben oder wenn wir es tatsächlich gar nicht erkennen. Das Schlimmste ist aber, wenn wir genau wissen, wo wir lang wollen, das aber nicht umsetzen. Es gibt z.B. den Traum-Yoga oder Yoga der erhellenden Klarheit im Tiefschlaf, wo jemand äußerlich so aussieht, als würde er schlafen, aber innerlich eine aktive Bewusstseins-Praxis ausführt. Er würde eigentlich äußerlich die Kriterien von Anhaften an Schlaf und Traum scheinbar erfüllen. Innerlich ist er aber nicht in diesem Anhaften, sondern er praktiziert die tiefen Geisteszustände des Loslassens, der völligen Offenheit. Das zeigt, dass er aktiv auf das Erwachen zugeht, aber äußerlich von anderen als faul eingeschätzt wird. Wir müssen uns also bewusst sein, dass Faulheit nicht unbedingt von außen erkennbar ist. Als Beispiel zwei Menschen hier in Croizet, die eine Person sitzt auf der Bank und schaut in die Weite und die andere Person zupft das Unkraut und schneidet die Büsche um den Stupa herum. Welche der Personen ist wohl faul? Es kommt darauf an. – Keine von beiden kann man als faul einstufen. – Mit Sicherheit die, die sich auf den Stiel der Hacke stützt. – Ihr habt es richtig erkannt. Wir können von außen nicht beurteilen, wer tatsächlich faul ist und wer im guten Sinne aktiv ist. Es kann sein, dass die Person, die eifrig um den Stupa herum säubert, tatsächlich dabei ist, innerlich spirituelle Aktivität zu praktizieren, auf ihren Geist zu achten, in sich hinein zu schauen, Freigebigkeit zu üben und dergleichen, oder aber es ist vielleicht eine Praxis der aktiven Faulheit. Es gibt eine Art der Faulheit, wo man geschäftig ist. Man ist ständig beschäftigt, hat immer etwas zu tun. Das ist eine Geschäftigkeit, die aber das Eigentliche vermeidet und nicht zum Erwachen führt. Man tut alles Mögliche, nur um sich nicht mit dem Wesentlichen beschäftigen zu müssen. So wie es uns vielleicht im Leben geht, dass wir zu Hause alles Mögliche tun, nur nicht unsere Überweisungen begleichen, nur nicht das tun, was uns unlieb ist. Wir drehen schöne Kreise drum herum, aber wir gehen nicht aufs Eigentliche zu. Das nennt man geschäftige Faulheit. Und so kann man von außen nicht am Grad der Aktivität sehen, ob jemand faul ist oder nicht. Was die Person auf der Bank angeht, können wir nicht sagen, dass sie unbedingt faul ist, obwohl es äußerlich so aussieht, dass sie nichts tut während andere was tun. Es kann sein, dass die Person sehr aktiv mit ihrem Geist arbeitet und z.B. all die Tendenzen der Geschäftigkeit auflöst und damit aus Gewohnheitsmustern aussteigt.

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Nachdem wir diese verschiedenen Beschreibungen betrachtet haben, ist aber wichtig zu verstehen, dass Faulheit normalerweise tatsächlich das Anhaften an Liegen, Sich-Ausruhen und am leichten Zeitvertreib ist, ohne dass dabei eine sinnvolle Aktivität mit Körper, Rede und Geist ausgeführt wird. Worum es für uns geht, um Faulheit aufzulösen oder um uns nicht davon überwältigen zu lassen, ist, den Geist immer auf das gerichtet zu lassen, was tatsächlich wichtig und sinnvoll ist und das umzusetzen. Im Detail betrachtet, geht es um die Situationen beim Aufwachen, wo wir uns noch nach rechts drehen und wieder nach links, noch einmal auf den Rücken, dann auf den Bauch, obwohl wir schon wach sind, und noch eine halbe Stunde oder mehr verstreichen lassen, in der wir uns eigentlich gar nicht weiter erholen sondern nur aufschieben, den Tag zu beginnen. Das ist verlorene Zeit, das sind Momente von Faulheit, mit denen wir aufräumen sollten. Um mit der geschäftigen Faulheit aufzuräumen, ist wichtig, sich Pausen des bewussten Nichtstuns zu gönnen, in denen wir mit dem Geist beschäftigt sind, d.h. mitbekommen, was mit uns los ist. Z.B. wie weit wir schon erschöpft sind oder was uns emotional innerlich beschäftigt, damit wir das auch loslassen können, damit wir vom Unwesentlichen zum Wesentlichen kommen können. Solche Pausen des Nichtstuns bewirken, dass wir eine Geschäftigkeit, die wir aufgebaut haben, unterbrechen und nach der Pause wieder viel näher am Wesentlichen sind. Das Heilmittel für geschäftige Faulheit ist genau das bewusste Nichtstun.

42) Nachlässigkeit ist, aufgrund der drei Geistesgifte und der sie begleitenden Faulheit unaufmerksam im Ausführen von heilsamen und Unterlassen von schädlichen Handlungen zu werden. Als Gegenteil von Gewissenhaftigkeit stärkt sie das Nichtheilsame und schwächt das Heilsame. Nachlässigkeit ist das Gegenstück zum Faktor zwölf, Gewissenhaftigkeit, dem zweiten in der Liste der heilsamen Faktoren. Nachlässigkeit aufgrund mangelnder Sorgfalt bezieht sich also auf das Ausführen von Handlungen. Hier geht es nicht mehr um das faule Nichtstun, es ist eine Nachlässigkeit, eine Faulheit im Tun. Wo wir schädliche Handlungen unterlassen sollten, führen wir sie aus, wir sind unachtsam, und wir führen heilsame Handlungen mit Nachlässigkeit aus, so dass sie auch fehlerhaft werden und nicht mehr die ganze Kraft des Heilsamen aufweisen. Damit wird natürlich die Gewissenhaftigkeit geschwächt, die heilsamen Handlungen werden geschwächt und die schädlichen Tendenzen und die negativen Handlungen nehmen zu und werden stärker. Der Unterschied dieser beiden Faktoren: Bei der Faulheit geht es um das Nicht-Handeln, wir vermeiden Handeln und bei der Nachlässigkeit handeln wir zwar, aber es mangelt an Sorgfalt, an Gewissenhaftigkeit.

43) Verwirrtes Gedächtnis ist, unklar in Hinsicht auf eine heilsame Absicht zu sein und diese zu vergessen. Es ist eine verwirrte, mit emotionaler Belastung einhergehende Achtsamkeit, die der Achtsamkeit zuwiderläuft. Sie unterstützt Abgelenktsein im Geist. Wir kennen diese Situation eigentlich ganz gut. Es kann uns passieren, dass wir irgendwo eine Tätigkeit beginnen, ein kleines Projekt und mitten drin gar nicht mehr wissen, warum wir das eigentlich tun und den Faden verlieren. Oder es kann passieren, dass wir im Gespräch mit anderen den Faden unseres Gesprächs verlieren. Wir wollten was zum Ausdruck bringen, hatten ein Anliegen und dann passiert etwas – wenn man genau hinschaut, sieht man, dass es emotionale Schleier sind, die sich manifestieren – das einen vergessen lässt, was eigentlich der Punkt war, den man klären wollte, was man mit dem Gespräch bewirken wollte. Das heißt, man verliert die innere Richtung. Dieser Faktor des verwirrten Gedächtnisses ist das Gegenteil der Achtsamkeit, die uns hilft, eine eingeschlagene Richtung tatsächlich unabgelenkt aufrecht zu erhalten. Natürlich geht es hier und bei all diesen Faktoren nicht einfach nur um eine Beschreibung der Landkarte unseres Geistes. Es geht darum, wie man zum Erwachen kommt und wie nicht. Dieser Faktor des

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verwirrten Gedächtnisses beschreibt das, was uns passiert, wenn wir zunächst ganz klar auf das Erwachen ausgerichtet waren mit all den Qualitäten, die es dabei zu entwickeln gilt. Wir sind richtig engagiert auf dem Weg, und auf dem Weg entstehen Situationen, die unsere Emotionalität stimulieren und wir verlieren aus dem Blick, was eigentlich unser Anliegen war. Wir vergessen ganz, dass es uns eigentlich darum ging, uns für das Erwachen einzusetzen, an uns selbst zu arbeiten, in Projekten mit diesem Anliegen mitzuarbeiten und verwickeln uns. Das kann so weit gehen, dass die Emotionen so stark werden, dass wir die ursprüngliche Absicht des Heilsamen völlig in Frage stellen: „Wie kam ich nur dazu, mich auf das Erwachen auszurichten?“ oder auf ähnliche heilsame Handlungen. Es ist also das Abgelenktsein, das sich auf unserem Weg einstellt, weil wir den roten Faden unserer Handlungen verlieren. Als Fortsetzung der eben beschriebenen Faktoren kommt es zu mangelnder Bewusstheit.

44) Mangelnde Bewusstheit ist ein abgelenktes, mit emotionaler Belastung – die emotionalen Schleier sind aktiv – einhergehendes Verstehen, das sich in übereilten, ohne Bewusstheit ausgeführten Aktivitäten der drei Tore zeigt. Sie unterstützt das Entstehen von Gelübdebrüchen. Unsere Unterscheidungsfähigkeit ist beeinträchtigt. Wir lassen uns aufgrund der aktiven emotionalen Schleier zu Handlungen hinreißen, zu Entscheidungen verleiten, die nicht ausreichend bedacht sind, wo wir nicht ausreichend genau hingeschaut haben. Und natürlich kommt es aufgrund der Verwirrtheit, der mangelnden Bewusstheit in unserem Geist zu aufgewühltem Denken, zu Gedanken, die Ausdruck dieser Emotionen sind, was sich dann in entsprechenden Handlungen mit der Rede und dem Körper ausdrückt, unachtsame Handlungen. Natürlich sind das Handlungen, die wir bedauern werden, wenn wir wieder zu einer klaren Achtsamkeit oder Bewusstheit zurückkehren. Sind diese Faktoren – speziell die mangelnde Bewusstheit – in der Meditation zu beobachten, dass ein Moment mangelnder Bewusstheit zu Ablenkung führt und wir, sobald wir das bemerken, wieder zurückkommen? Ja, da hast du vollkommen Recht. Jeder dieser Faktoren kann augenblicklich auftauchen, d.h. in Momenten des Gewahrseins, und braucht nicht lange anzuhalten. Der nächste Moment kann schon wieder ein Moment sein, wo dieser Faktor aufgelöst ist und ein heilsamer Faktor aktiv ist. Es ist nicht so, dass das immer über einen längeren Zeitraum geht so wie bei den Beispielen, die ich genommen habe, um es zu veranschaulichen. Die lassen vielleicht den Irrtum entstehen, dass es sich immer um längere Zeitspannen handelt, was aber nicht der Fall ist. Es handelt sich tatsächlich auch um die Möglichkeit, von einem Moment zum nächsten zu beobachten, wie diese Faktoren entstehen und sich wieder auflösen. Danke für diesen Einwurf. Das hilft mir, noch einmal klarzustellen, dass diese Gestaltungen einerseits einzeln auftauchen können, in einzelnen Momenten, dann aber auch über längere Zeit dominieren können oder sogar zu richtigen Persönlichkeitsmerkmalen gehören, dass also ein Charakter stark von diesen Faktoren beeinflusst ist, sodass man von einer fast ständigen Anwesenheit, Beeinflussung dieser Faktoren sprechen kann.

45) Dumpfheit gehört zur Kategorie der Verblendung und ist ein schwerfälliger Zustand von Körper und Geist der zu Introvertiertheit und mangelnder geistiger Flexibilität führt, verbunden mit der Unfähigkeit sich zu konzentrieren. Sie unterstützt emotionale Belastungen. Diese Dumpfheit ist eine Schwerfälligkeit, eine Trägheit und kann vorwiegend im Geist sein, kann aber auch stark im Körper gefühlt werden und sich von dort auf den Geist auswirken. Es ist ein Zustand, in dem es unglaublich schwer fällt, den Geist auf etwas auszurichten und tatsächlich etwas

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umzusetzen. Man ist wie innerlich gefangen und kriegt Körper und Geist nicht in Bewegung in Richtung auf das Heilsame. Es ist, als wäre der Geist festgefahren.

46) Wildheit gehört zur Kategorie der Begierde, die verlockenden Eigenschaften nachstellt – wir hängen immer wieder Angenehmem, das auftaucht, nach –; sie bewirkt mangelnde geistige Flexibilität und Unruhe, da der Geist zu den Objekten abschweift. Sie verhindert ruhiges Verweilen. Es ist interessant, sich klar zu machen, dass sowohl Dumpfheit als auch Wildheit des Geistes mangelnde geistige Flexibilität sind. In beiden Fällen handelt es sich um einen starren, rigiden, unbeweglichen Geist. Bei Dumpfheit, bei Schwere sind wir gleichsam festgefahren in diesem unbeweglichen Geist, der sich nicht ausrichten lässt. Wir können keinen klaren Gedanken fassen, Körper und Geist sind nicht in der Lage, ihre Aufgaben auszuführen. Das ist aber auch nicht der Fall, wenn der Geist wild ist. Wenn der Geist aufgewühlt ist, können wir unsere Aufgaben auch nicht ausführen. Wir sind ebenso festgefahren, allerdings bei großer Aktivität. Wir sind festgefahren in den Schienen unserer emotionalen Reaktionen. Es heißt hier, dass Wildheit Ausdruck von Begierde ist, Ausdruck des Anhaftens an angenehmen Objekten. Die Objekte der Begierde sind Gedanken, Geistesinhalte, denen wir große Bedeutung beimessen. Sie müssen nicht angenehm sein, es können auch Probleme sein. Der aufgewühlte Geist dreht sich z.B. um familiäre, berufliche, persönliche Dinge, die gar nicht angenehm sind, aber die Objekte der Anhaftung darstellen, weil wir diesem Themenkreis große Bedeutung beimessen. Es erscheint uns so wichtig, so essentiell zu sein, darüber nachzudenken. Wir können es nicht sein lassen, wir sind gefangen im Kreisen um das vermeintlich Wichtige. Das nennt man Anhaften an etwas uns wichtig Erscheinendes, es gehört zu Begierde. Wir kleben an diesen Gedanken, wir kleben in diesen Mustern, und das beschreibt unsere geistige Unbeweglichkeit. Nachdem diese Faktoren erklärt worden sind, fragt man sich, warum dann auch noch Abgelenktheit erklärt wird. Die Beschreibung ist etwas feiner:

47) Abgelenktsein gehört zu den Kategorien der drei Geistesgifte und ist geistiges Wandern und Hin- und Herbewegen in Bezug auf Objekte, wodurch ein einsgerichtetes Verweilen im Heilsamen unmöglich wird. Dieses Abgelenktsein beinhaltet also nicht nur Begierde sondern auch Abneigung und Unwissenheit. Es wird hier als unregelmäßiges Hin- und Herwandern beschrieben, immer wieder verschiedene Objekte aufzugreifen, loszulassen, immer wieder woanders zu sein, als dort, wo man eigentlich sein möchte. Man kriegt also seinen Geist nicht zusammen, damit kann man auch seine inneren Handlungen nicht auf das ausrichten, was heilsam ist. Abgelenktsein wird weiter unterschieden, je nachdem ob es sich auf Äußeres, Inneres oder auf Merkmale richtet. Lama Tenzin führt das in einer Fußnote noch genauer aus: Äußere Ablenkung ist Ablenkung in den fünf äußeren Sinnen, also angezogen zu sein von den Sinneseindrücken der fünf äußeren Sinne, außer dem mentalen Sinn. Inneres Abgelenktsein ist die Dumpfheit und Wildheit und die Erfahrungen dessen, der das Heilsame praktizieren möchte, aber innerlich, also in seinem Geist, abgelenkt ist. Die Ablenkung aufgrund von Merkmalen ist Abgelenktsein in Richtung auf das Ziel. Laut Lama Tenzin bedeutet das, dass wir in unserem Verfolgen des Heilsamen abgelenkt sind dadurch, dass sich andere Motivationen reinmischen, z.B. von anderen gepriesen zu werden. Dann gibt es noch drei weitere Formen von Abgelenktsein:

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Aufwühlendes Abgelenktsein wird erklärt als das grundlegende Abgelenktsein durch Vorstellungen von ‚Ich’ und ‚mein’, als Selbst zu existieren. Das ist die grundlegende Abgelenktheit, mit der wir es zu tun haben. Abgelenktsein durch Nachdenken kommt von Zweifeln über das, was zu tun und zu lassen ist. Das hängt mit Unklarheiten in der spirituellen Ausrichtung zusammen. Dann wird auch noch von natürlicher Ablenkung gesprochen aufgrund der Aktivität der fünf äußeren Sinnesfelder. Diese Formen der Ablenkung, die jetzt erklärt wurden, verhindern zusammen mit den vorhergehenden Faktoren, dass der Geist sich konzentrieren kann, dass er sich sammeln kann und dass er im Heilsamen aufgehen kann. Sie verhindern also den Weg des Erwachens, speziell verhindern sie das Eintreten in meditative Ausgeglichenheit, in Meditation. Allgemein verhindern diese Faktoren, dass man heilsame Handlungen ausführen kann. Mipham Rinpoche fährt mit einem kurzen erklärenden Satz fort: Diese zwanzig sind sekundäre emotionale Belastungen, weil sie Unterformen der primären Emotionen sind und diesen nahe stehen.

Fragen: Verwirrung im Alter Bei Altersdemenz können wir ja beobachten, dass der Faktor des verwirrten Gedächtnisses ganz dominant ist und diese Personen keine Handlungen durchführen können. Sie vergessen immer wieder, was sie angehen wollten. Bedeutet das, dass sie ihre ganze Praxis verlieren, dass die Praxis damit untergeht? Man kann sagen, dass die Praxis ein bisschen untertaucht – U-Bootstadium. Was schon gereinigt wurde, bleibt gereinigt. Was an heilsamen Tendenzen aufgebaut wurde, wird sich zeigen, wird auch aktiv. Was an schädlichen, negativen Tendenzen nicht bereinigt wurde, wird sich zeigen, weil die Kontrolle nachlässt. Wenn sich Körper und Geist dann im Tod trennen, ist der Geist wieder völlig frei, er ist befreit aus diesem einengenden Gefängnis des Körpers. Es sind nach dem Tod keinerlei Spuren von Demenz mehr zu finden. Dann tauchen wieder alle Zeichen, alle Früchte der Praxis auf. Wo ist das geistige Abgelenktsein zu finden? Das findet sich unter der inneren Ablenkung, das sind die Schwerfälligkeit, Wildheit und das Erleben des Geistes. Auch die anderen Aspekte, die erklärt wurden, sind natürlich geistige Ablenkung. Man kann diese Faktoren nicht voneinander trennen.

Gegenmittel zu Faulheit Was würde Dir denn als geschicktes Gegenmittel gegen Faulheit, Nachlässigkeit, verwirrtes Gedächtnis einfallen? Abgesehen von einem Tritt in den Hintern… Von mir aus ruhig auch inklusive. Eins nach dem anderen. Ich geh das noch einmal durch und versuche die Hilfsmittel, die wohl am wichtigsten erscheinen, anzusprechen. Um Faulheit allmählich aufzulösen, braucht es ein immer wieder Nachdenken über die Nachteile von Faulheit und die Vorteile davon, seine Zeit für das Heilsame zu nutzen. Man muss über die Vor- und

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Nachteile nachdenken. Das ist eine Frage der Kontemplation, und das Meditieren über Vergänglichkeit und Tod ist ganz wichtig, um sich zu motivieren, keine Zeit zu verlieren. Weiters ist hilfreich, sich eine äußere Disziplin, eine klare Struktur aufzubauen, was dann den nächsten Faktor der Nachlässigkeit auch einschränken wird. Man gibt sich einen klaren Rahmen, an den man sich hält, bis man merkt, dass das Ausführen der Praxis oder des Heilsamen immer mehr Spaß macht. Wir müssen durch das Halten an einen äußeren Rahmen, an die äußere Disziplin so weit kommen, dass die Praxis selbst zum Hauptmotor wird. Dieser äußere Rahmen beinhaltet auch, sich einen ethischen Rahmen zu setzen. Wir setzen uns also einen ethischen und einen Zeitrahmen, woran wir uns halten bis es natürlich, spontan wird, bis es ein Bedürfnis wird, so zu leben, so zu handeln, zu praktizieren. Für die nächsten Faktoren – verwirrtes Gedächtnis und mangelnde Bewusstheit – geht es drum, immer wieder inne zu halten und sich zu besinnen, viele kleine Pausen einzulegen, um die Spur zu halten. Noch bevor wir weit abgedriftet sind, ermöglichen wir uns während des Tages immer wieder, uns auf das auszurichten, an das zu erinnern, was am allerwichtigsten ist. Praktizierende machen sich oft kleine Schildchen mit den Themen, die sie wirklich im Geist behalten wollen, aber nach drei Tagen schaut man kaum noch auf diese Schildchen, man muss sie immer wieder erneuern. Das sind diese Momente des Innehaltens, wo man sich sagt: „Da möchte ich eigentlich lang! Worum geht es hier?“ Das braucht es immer wieder. ‚Mikropausen’ hat Dorje Drölma das in Laussedat genannt. Viele Mikropausen einlegen ist Heilmittel für diese Faktoren. Z.B. Hände weg von der PC-Tastatur, ein Mal durchatmen und man ist schon nicht mehr derselbe wie vorher, drei Mal tief durchatmen und schon haben wir uns wieder daran erinnert, worum es uns eigentlich geht. Wenn wir viele solcher Mikropausen – ich würde sie Minipausen nennen – einlegen, dann werden wir sehen, dass unser Handeln sehr viel effektiver wird. Diese kleinen Hinweise, die wir einbauen, um uns im Alltag an etwas zu erinnern – Schildchen usw. – funktionieren so lange, wie sie wirklich unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Man muss Wege finden, sich selber zu überraschen, damit das Wesentliche wieder ins Bewusstsein kommt.

Mini-Pausen Meine Frage bezieht sich auf diese Mikropausen. Wie lange können die sein? Mir scheint, wenn man wirklich zum ersten Mal erfährt, dass man mit diesen grundlegenden Faktoren wie Ärger, Stolz und all diesen Dingen graduell unterwegs ist, dass man das alles zutiefst gewesen ist und dieser Zustand von einer hohen inneren Erregung und das Abdriften in eine tiefe Dumpfheit irgendwie beginnt aufzuhören, dann ist meine Erfahrung, dass Pausen sehr lange dauern können. Das ist doch okay, oder? Aber ich merke immer mehr, wie wichtig es ist, dass man auf sich hört und lernt, sich selbst zu erlauben zu sagen: „Ist das jetzt die Pause, die ich brauche, um aus diesem inneren Cocktail von Spannungen und von Metabolischem, was immer da zusammenkommt, herauskomme?“ Ja, du hast dir die Antwort selbst gegeben. Die Pausen sollten eigentlich so lange sein, dass sie uns ermöglichen, aus dem Cocktail auszusteigen. Das ist die Antwort. Am besten wäre, unser ganzes Leben wird zu einer Pause. Wenn wir z.B. wie einige hier im Raum Krankenpfleger sind, dann haben wir keine wirklichen Pausen. Wir rennen, müssen uns kümmern, dann haben wir maximal Mikropausen. Aber natürlich, wenn wir insgesamt in einem offeneren Geisteszustand ankommen, dann können wir aktiv sein, obwohl der Geist selbst in einer emotionalen Pause, in emotionalen Ferien ist.

Praxis-Stress Wenn man sich eine Struktur gibt, um zu praktizieren, dann sehe ich darin die Schwierigkeit, dass das zu einem Aufgewühltsein führen kann.

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Ja, das stimmt. Wenn die Struktur nicht unseren Möglichkeiten angepasst ist, dann wird sie zu einem Korsett und beginnt, uns aufzuwühlen statt zu beruhigen und zu entspannen, weil es dann noch mehr Punkte gibt, die im Alltag abzuhaken sind. – „Ich muss das noch machen, dann noch ein paar Niederwerfungen, dann noch diese Praxis. Ein bisschen studieren….“ Da kommt man in Praktizierer-Stress. Das ist die gleiche Tendenz, die man auch im Alltag hat. Es geht natürlich darum, eine weise Struktur zu schaffen. In Gesprächen ging es auch darum, wie sich ein ‚guter Bürger’ zu sein und ein ‚guter Praktizierender’ zu sein miteinander verhalten. Für mich ist das ein und dieselbe Person, die praktiziert, Familienvater ist, einen Beruf hat. Diese Person praktiziert den ganzen Tag. Die Praxis ist die Arbeit mit dem Geist in diesen vielen verschiedenen Situationen: wie wir mit dem Geist umgehen, wie wir fließen, wie wir die Situationen nutzen, um in uns den Dharma zu vertiefen. Vergessen der Praxis Es gibt Menschen, die vergessen, dass sie vergessen haben, die auch über lange Zeit nicht bemerken, dass sie völlig von ihrem einmal eingeschlagenen Weg abgekommen sind. Welche Faktoren bewirken ein so völliges Vergessen, sind das Ängste oder mangelndes Vertrauen? Auf jeden Fall Ängste, Begierden, Abneigungen. Die Aktivität der Geistesgifte führt auf jeden Fall zu solchem Vergessen, Vertrauen eher nicht, es sei denn es wäre deplatziertes Vertrauen, das nicht heilsam ist. Aber normalerweise ist unser Vertrauen hier so definiert, dass es so ausgerichtet ist, unserem Leben eine sichere Richtung zu geben, was wir Zuflucht nennen. Das ist ausgerichtet auf die Qualitäten des Erwachens und ist als solches keine Quelle des Vergessens sondern das Heilmittel des Vergessens. Es wäre doch sehr hilfreich, wenn man in so einem Fall mit einem Begleiter auf dem spirituellen Weg Kontakt hat, der einen dann erinnern kann. Ja, das ist richtig und geht auch, aber das Erinnern ist ein recht delikater Prozess. Weil diese Hintergrund-Faktoren von Angst, Begierde und Abneigung im Spiel sind, ist das Erinnern an das, was z.B. jemand vor fünf Jahren als Weg eingeschlagen hat und jetzt nicht mehr weiter geht, eine Konfrontation mit diesen emotionalen Schleiern, die zugleich aktiv sind. Daher kann das zu starker Ablehnung führen und auch zum Konflikt, weil es sehr unangenehm ist, so in den Spiegel zu schauen. Aber wichtig wäre es schon, wenn das dann angenommen wird. ***

Wir sind die letzten zwanzig Faktoren schneller durchgegangen, weil sie eine Kombination aus den grundlegenden emotionalen Belastungen sind, die wir so wie auch die heilsamen Faktoren sehr ausführlich besprochen haben. Deswegen nehme ich mir für die letzten Faktoren nicht so viel Zeit. Die nächste Gruppe besteht aus vier Faktoren, von denen wir nicht a priori sagen können, ob sie heilsam sind oder nicht-heilsam, das hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Wir werden dann bei den einzelnen sehen, worauf es jeweils ankommt.

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Die vier veränderlichen Geistesaktivitäten

48) Schlaf beinhaltet, dass sich das Bewusstsein der fünf Sinnestore im Schlaf nach innen wendet und nicht mehr unterscheidet, ob etwas zum Beispiel heilsam oder nicht heilsam, zutreffend oder nicht zutreffend, rechtzeitig oder nicht rechtzeitig ist. Schlaf gehört zur Kategorie von Verblendung und unterstützt das Abgleiten – in unbewusstes Handeln, in schädliches Handeln inklusive GelübdeÜbertretungen. Wenn man den Schlaf beschreiben möchte, so kann man sagen, dass das Bewusstsein sich nach innen zieht. Der Geist wendet sich nach innen, die fünf Sinnestore sind nicht aktiviert. Wir nehmen nicht bewusst wahr, in welcher Haltung unser Körper ist, wir nehmen die Berührung mit der Decke nicht mehr wahr. Man kann uns sogar anfassen, und wir kriegen es nicht mit. Wir hören nicht, wir riechen nicht, wir schmecken nicht, wir sehen nicht, all das jedoch nur bis zu einer gewissen Schwelle. Wenn der Reiz diese Schwelle überschreitet, also die Berührung oder ein Geräusch usw., zu stark wird, dann wendet sich das Bewusstsein diesem Sinnestor zu, wir nehmen bewusst wahr und wachen auf. Das ist das Ende des Schlafes. Im Schlaf unterscheiden wir nicht, ob etwas heilsam oder nicht heilsam ist. Wir sind in einem Geisteszustand, in dem das unterscheidende Erkennen und Benennen und das Wissen darum, in welche Richtung wir handeln wollen, was wir tun und nicht tun wollen, außer Kraft gesetzt ist. Auch unmittelbar nach dem Schlaf sind wir noch in einer herabgesetzten Klarheit und unterscheiden nicht so recht, was sinnvoll und was nicht sinnvoll ist, wir können in Handlungen abgleiten, die wir bei voller Bewusstheit nicht machen würden. Deswegen wird Schlaf zur Kategorie der Verblendung oder Unwissenheit gezählt. Wenn man das hört, fragt man sich, warum diese Gestaltung, diese Erfahrung, nicht unter die nichtheilsamen Faktoren fällt. Das hängt damit zusammen, dass der Schlaf nur dann nicht heilsam ist, wenn diese Verblendung aktiv ist. Schlaf hat natürlich auch die Qualität, dass wir uns ausruhen, dass der angespannte Geist in dieser Pause in Dumpfheit verweilen darf. Der Geist wird sich wieder etwas frischer anfühlen, wenn wir wieder zum Bewusstsein zurückkehren. Der Schlaf wird aber nicht aufgrund dieser Entspannung als veränderliche oder nicht bestimmte Geistesaktivität benannt, sondern aufgrund der Möglichkeit, im Schlaf im Gewahrsein zu verweilen. In der erhellenden Klarheit des Geistes, die wir früher als klares Licht übersetzt haben, kann der Yogi praktizieren und in der Natur des Geistes verweilen. Es ist sogar eine Situation, in der sich die Verwirklichung unseres Geistes vertiefen kann, sich ausweiten kann. Der Schlaf verhindert nicht das Erwachen, sondern ist sogar für diejenigen, die ihn nutzen lernen, eine ideale Praxissituation. Von daher wird er nicht von vorne herein den nicht-heilsamen Geistesaktivitäten zugeordnet. Das heißt, für einen Yogi hört die Erfahrung ‚Schlaf’ nicht auf. Es ist Schlaf, aber bei klarer Bewusstheit, ganz im Unterschied zum normalen, unbewussten Schlaf. Bei jedem der anderen Faktoren könnte man ja auch sagen, dass er die Erkenntnis der Natur des Geistes ermöglicht. Aber in dem Moment, wo die Natur des Geistes erkannt wird, ist dieser Faktor nicht mehr vorhanden, der ist dann vorbei. Deswegen kann man ihn nicht veränderlich nennen, er wird aufgelöst durch die Erkenntnis, während der Schlaf weiter geht, er bleibt weiterhin bestehen.

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49) Bedauern ist mentale Niedergeschlagenheit aufgrund von Unglücklichsein über frühere Handlungen. Es verhindert ruhigen Geist. Wenn es zu Bedauern kommt, dann ist das in Bezug auf Körper, Rede und Geist, also Bedauern von Gedanken, Worten und Handlungen. Wir sind etwas niedergeschlagen, wenn wir bedauern, sind wir nicht freudig. Wir sind unglücklich über frühere Handlungen mit Körper, Rede und Geist und sind deshalb aufgewühlt. Solange der Faktor des aktiven Bedauerns da ist, ist der Geist beschäftigt, es ist eine Emotion, kann man sagen, eine innere Bewegung des Bedauerns. Dieser Moment des Bedauerns ist nichts Angenehmes. Nehmen wir ein ganz kleines Beispiel: Wir gehen durch den Hof, sehen im letzten Moment aus dem Augenwinkel einen Käfer, doch wir können es nicht mehr verhindern, dass wir drauf steigen und der Käfer ist zerquetscht. In dem Moment ist sofort ein Bedauern im Herzen, es ist wie ein Stich im Herzen. Es ist kein angenehmes Gefühl, es ist nicht ein Geistesfaktor, der das Herz öffnet. Es tut uns weh, wir sind niedergeschlagen, wir bedauern. Das kann natürlich noch viel komplexere Handlungen betreffen. Deswegen würden wir das Bedauern nicht direkt in die heilsamen Faktoren einreihen. Wenn sich das Bedauern tatsächlich auf nicht-heilsame Handlungen bezieht, ist es aber tatsächlich etwas Positives. Wir bedauern, jemandem geschadet zu haben, etwas Schädliches getan zu haben und öffnen damit das Tor für heilsames Handeln in der Zukunft. Es hat also langfristig heilsame Folgen. Nun ist Bedauern allerdings keinesfalls für schädliche Handlungen reserviert. Es gibt leider auch Situationen, wo wir etwas durchaus Heilsames und Sinnvolles bedauern. Wir haben z.B. jemandem geholfen. Diese eine Handlung wurde ganz im Strom der Handlungen des Erwachens ausgeführt, es war eine gute Motivation in Richtung auf etwas Heilsames, und nachher bedauern wir, der- oder demjenigen geholfen zu haben. Die Gründe für das Bedauern sind dann emotionaler Natur. Es kommen Stolz, Eifersucht, Begierde, Abneigung und andere Faktoren mit hinein, die zu diesem Bedauern führen. Dieses Bedauern entsteht aus Ich-Bezogenheit und nicht aufgrund von Weisheit. Es ist nicht das Erkennen von etwas, das zu einer heilsamen Umkehr führt, sondern durch dieses Bedauern fallen wir zurück in Ich-Bezogenheit. Deswegen können wir Bedauern nicht einfach als heilsamen oder nicht-heilsamen Faktor einstufen. Es kommt darauf an, auf was es sich bezieht und ob es aus Weisheit und Mitgefühl entsteht oder aufgrund von Ich-Bezogenheit, und dementsprechend ist es dann heilsam oder nicht-heilsam. Es hängt also auch von den Ursachen und den Auswirkungen dieses Bedauerns ab. Die beiden nächsten Faktoren – Nachdenken und genaues Untersuchen – sind eigentlich ein etwas oberflächliches Nachdenken und dann ein genaueres Untersuchen. Sie bauen aufeinander auf.

50) Nachdenken ist, beobachteten Dingen aufgrund von Interesse und Verstehen mental nachzugehen. Dabei handelt es sich nur um ein vages, allgemeines Erfassen von Sinnesinhalten in ihren groben Umrissen, so wie beim Wahrnehmen einer weit entfernten Form, wo nicht zu unterscheiden ist, ob es sich um eine Tonschale oder Vase handelt. Mit diesem ersten Hinschauen und darüber Nachdenken, um was es sich handeln könnte, ist ein oberflächliches oder allgemeines Erfassen von Sinnesinhalten gemeint. Man schaut z.B. zum Altar, sieht Lichter, man sieht Kerzen brennen, man kann noch nicht genau erkennen, wie dieser Kerzenhalter genau aufgebaut ist, um wie viele Kerzen es sich handelt. Man kann nicht genau sehen, ob es ein blaues Glas ist oder ob es eine Tasse ist, die da benutzt wird. Wir sehen es nicht genau, aber die Faktoren des Interesses, des Hinschauens, des Dabeibleibens und des Überlegens kommen zusammen und es kommt zu einem ersten Erfassen des Objekts. Mit dem Beschreiben des nächsten Faktors wird dann noch deutlich, was damit genau gemeint ist.

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51) Genaues Untersuchen ist das ins Einzelne gehende mentale Betrachten dieser Sinnesinhalte, gestützt auf Interesse und Verstehen, wodurch feine Besonderheiten entsprechend erfasst werden, so wie beim Erkennen, dass es sich um eine neue, unbeschädigte Vase handelt. Es handelt sich also einfach um eine Fortsetzung der Beschäftigung mit dem Objekt bis man es in seinen Besonderheiten erfasst hat und es definieren kann. Diese beiden Formen des Analysierens – Nachdenken und genaues Untersuchen – sind in allen sechs Sinnesbereichen aktiv. – Hier sind die Bespiele aus dem Visuellen genommen worden, es spielt sich aber in allen sechs Sinnen, auch im mentalen, ab. Es hängt davon ab, worüber man nachdenkt, womit man sich beschäftigt, ob es sich um eine heilsame, eine neutrale oder gar um eine schädliche Gestaltung handelt. Wenn es um das Erfassen von Objekten der fünf äußeren Sinne geht, so ist das eigentlich ein neutraler Akt. Wenn wir versuchen, genauer zu klären, um was für eine visuelle Empfindung, um was für einen Geruch usw. es sich handelt, so ist das weder heilsam noch schädlich. Die Ausnahme ist – und die wird auch in den Texten angeführt –, wenn wir uns mit Objekten befassen, die bereits mit Begierde verbunden sind. Wir verweilen im Nachdenken oder im genaueren Untersuchen von Objekten, die bereits mit Begierde, Abneigung oder anderen Emotionen verbunden sind. Dann ist das natürlich kein neutrales Beschäftigen mehr, sondern hat unmittelbar Auswirkung auf die Emotionalität in die eine oder andere Richtung. Wenn wir diese Fähigkeiten des Nachdenkens und Untersuchens auf Nicht-Heilsames ausrichten, z.B. darauf, wie man in eine Bank einbricht oder wie man jemanden umbringt, dann ist man klar dabei, nicht-heilsame Tendenzen zu verstärken, es ist ein nicht-heilsames Nachdenken. Wenn wir aber untersuchen, was mit Vergänglichkeit, Wandel ist, und dadurch zu einem Verständnis kommen, ist das etwas Heilsames. So ist es mit allen Dharma-Inhalten, mit allem Nachdenken und Untersuchen, was zu tieferem Verständnis, zu Offenheit und zum Erwachen führt. Das ist heilsam. Wenn der Geist jedoch in einem Nachdenken und Untersuchen verweilt, das durch die Geistesgifte geprägt ist, dann ist es nicht heilsam. Diese Form von Nachdenken über Emotionales und im emotionalen Verfeinern und Analysieren, ohne dass da Weisheit hineinkommt, ist ein Verstricken im NichtHeilsamen. Deswegen kann man diese beiden Faktoren weder so noch so klassifizieren, sie werden veränderlich bzw. unbestimmt genannt. Dies sagt auch Mipham Rinpoche im folgenden Absatz für alle vier Faktoren. Sie werden die vier „veränderlichen“ Geistesaktivitäten genannt, weil sie aufgrund von spezifischen Motivationen und Absichten entweder heilsam, schädlich oder unbestimmt sein können. Unbestimmt ist das, was wir zunächst einmal als neutral wahrnehmen. Die Schüler Buddhas, die sich mit seinen Unterweisungen befasst und über sie nachgedacht haben, haben gesehen, dass Buddha Shakyamuni diese vier Faktoren keiner bestimmten Kategorie zugeordnet hat, sondern dass er beschrieben hat, wie sie mal heilsam, dann wieder nicht heilsam sein können oder einfach nicht weiter bestimmt, neutral. Dadurch ist dann diese letzte Kategorie der Geistesfaktoren entstanden. Der folgende Absatz bezieht sich auf alle 51 Geistesaktivitäten: Diese Geistesaktivitäten beschreiben allgemein viele der grundlegenden Geisteszustände sowie die Hauptmerkmale von heilsamen und schädlichen Geistesaktivitäten. Wir sollten aber wissen, dass es aufgrund von besonderen Formen des Erfassens, wie verschiedene Interessen und Unterscheidungen, viele zusätzliche Ausformungen gibt, wie Trauer und Frohsinn, Schwermut und Leichtigkeit, Geduld und Ungeduld und dergleichen. Sie alle gehören zu den „mit geistigen Vorgängen einhergehenden Gestaltungen“.

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Zusammenfassung Wir waren ausgegangen von der Frage, die Buddha Shakyamuni gestellt wurde: „Gibt es ein Selbst? Gibt es ein Ich, etwas, was wir als eine Ich-Identität beschreiben könnten?“ Man könnte die Frage auch so stellen: „Gibt es so etwas wie eine Seele, wie ein Individuum, eine nicht teilbare individuelle Einheit, die bleibend ist, die nicht dem Wandel ausgesetzt ist?“ Das ist die grundlegende Frage. Auf Sanskrit würde die Frage so ausgedrückt sein: „Gibt es ein Atman? Gibt es eine individuelle Seele, ein individuelles, bleibendes Prinzip?“ Die Antwort des Buddha ist: „Nein! Es gibt kein solches individuelles, bleibendes Prinzip.“ Der Buddha beginnt in seiner ausführlicheren Erklärung mit dem leichter zu Verstehenden und schreitet fort zum schwerer Verständlichen. Zuerst erklärt er die Formen. Als Formen wird all das beschrieben, was mit den sechs Sinnen wahrgenommen wird, die Bilder, die Formen, die durch visuelle Wahrnehmung bis hin zum Mentalen entstehen. Da werden Formen wahrgenommen. Und die erste Frage ist: „Gibt es in diesen Formen ein Ich? Gibt es ein Ich, gibt es ein Atman in diesen Formen?“ Wir sehen, dass es sich bei den Formen um ständig wechselnde Sinnesinhalte handelt. Gibt es in diesem Wandel der Sinnesinhalte ein Ich? Um es noch einfacher zu machen: Gibt es in diesem Körper, den wir anfassen, fühlen, riechen können usw. ein Ich? Ihr traut euch nicht mehr zu sagen: „Ja!“ Wenn mich jemand schlägt oder körperlich angreift, dann sage ich: „Er schlägt mich!“ Ich verteidige mich. Das ist ganz offenkundig eine Ich-Identifikation, noch verbunden mit den Formen der Sinneswahrnehmung, die in diesem Fall taktil, visuell usw. sind. Wir scheinen trotz besseren Wissens, trotz anderer Gedanken, die wir haben, wenn der Lama uns diese Frage stellt, in der konkreten emotionalen Situation doch noch anzuhaften, doch noch zu denken, dass es da ein Ich gibt. Wenn wir so z.B. angegriffen werden, haben wir dieses Ich-Gefühl. Dieses Dilemma zwischen dem intellektuellen Verstehen und dem emotionalen Erleben – wir identifizieren uns emotional und intellektuell verstehen wir schon, dass es da kein Ich gibt – zieht sich durch alle Skandhas durch. Es ist genauso mit den Empfindungen: meine angenehmen und unangenehmen Empfindungen, meine Unterscheidungen, d.h. die Begriffe, mit denen ich mich in der Welt zurechtfinde, meine Geisteszustände, das, was ich an Offenheit und Emotionen erlebe, wenn ich traurig bin, wenn ich ärgerlich bin, wenn ich mich freue. Immer ist da das Gefühl von einem Ich. Der Vorschlag des Buddha wäre, einfach nur wahrzunehmen „Da ist Freude“, „Da ist Trauer“ und uns nicht zu identifizieren. Wie kriegen wir die beiden zusammen, das innere Erleben und das intellektuelle Verstehen? Ich werde jetzt doch nicht euch fragen, sondern die Antwort selber geben: Um diese Brücke vom intellektuellen Verstehen ins Erleben hinein zu schaffen, braucht es Achtsamkeit, volles Gewahrsein von Moment zu Moment. Im Erleben ist es dann tatsächlich möglich zu sehen, dass nicht das Erleben eines Ichs auftaucht, sondern dass das Erleben dieser verschiedenen Geisteszustände auftaucht, z.B. wie Objekte wahrgenommen werden, wie sich diese Wahrnehmung wieder auflöst, wie es dafür kein Ich braucht, wie Stimmungen entstehen und vergehen, wie Gefühle auftauchen und schon wieder vorbei sind. Es braucht ganz feine Wahrnehmungen, um tatsächlich innerlich nachvollziehen zu können, was wir jetzt schon intellektuell zu verstehen beginnen. Mit diesem Prozess des Hinein-Schauens fahren wir so lange fort, bis unsere eigene Erfahrung – durch die Last der Beweisstücke, kann man sagen – so überzeugend und klar darin ist, dass es kein Selbst, keine Seele gibt, dass sich unser Glauben, dass es eine Seele gibt, auflöst. Das ist zunächst einmal am Bröckeln, der Glaube ist immer wieder einmal da und dann wieder schwächer, und im völlig klaren

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direkten Sehen der Natur der Dinge löst er sich so auf, dass man ihn gar nicht mehr erzeugen kann. Man ist nicht mehr in der Lage, den Glauben an ein Selbst so zu erzeugen, wie er früher die ganze Zeit da war. Der Glaube an ein Selbst ist in sich zusammengebrochen durch den Beweis des Gegenteils aus der direkten Beobachtung. Das ist der Moment, wo die tatsächliche Befreiung beginnt, da ist tatsächliche Freiheit, und von da an weitet sich diese Erkenntnis in alle Erfahrungsbereiche hinein aus, in alle Lebensbereiche. Und darum geht es: mit der jetzt gewonnenen intellektuellen Klarheit zu untersuchen und immer bewusst zu bleiben, immer im direkten Erleben zu bleiben und dann und wann zu schauen, wo denn da im Erleben ein Ich sein könnte. Das ist die Gründlichkeit des Hinschauens, die kann uns niemand abnehmen. Diese Gründlichkeit braucht es, und genau darum geht es: das nicht zu vergessen. Das ist der essentielle Punkt der Praxis. Wenn wir den vergessen, wenn wir nicht mehr hinschauen, ob es ein Selbst gibt oder nicht, dann kann unser Glaube an das Selbst, unsere Ich-Bezogenheit ungehindert weiter gehen. Sie löst sich nur auf durch das immer wieder Hinein-Schauen. Genau da dürfen wir nicht vergesslich, nachlässig werden. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass wir diesen wesentlichen Punkt der Praxis nicht vergessen, nicht unterlassen. Wir müssen in uns den Blick der Weisheit freisetzen, der das Dunkel der Unwissenheit auflöst. Nur das wird uns Befreiung in diesem Leben ermöglichen. Dharmapraxis, die das nicht tut, wird auch heilsam sein, aber sie wird nicht diese entscheidende Erkenntnis bewirken. Das muss dann auf später warten. Wer sein kostbares menschliches Leben wirklich in seinem höchsten Sinne nutzen möchte, wird sich auf das Verständnis dieser befreienden Weisheit ausrichten. Das ist, was wir Prajnaparamita nennen, die transzendente, befreiende Weisheit. Darin findet das menschliche Leben seinen vollkommenen Sinn.

Ich habe diese Unterweisung über das Nicht-Selbst schon viele Male gehört und möchte gerne wissen, wie ich mit meiner Praxis dazu fortfahren soll. Ich habe z.B. gelernt, den Geist nicht so stark vom Körper beeinflussen zu lassen und herausgefunden, dass Geist und Körper durchaus eine gewisse Unabhängigkeit haben können, d.h. wenn der Körper schwer ist und damit nichts anzufangen ist, dann heißt das nicht, dass auch mit dem Geist nichts anzufangen ist. Wie kann ich die weiteren Schritte setzen? Herauszufinden „Ich bin nicht mein Körper!“ ist bereits ein erster, wichtiger Schritt. Dann geht die Reise weiter, da bist du, da seid ihr bereits dabei: „Ich bin auch nicht unbedingt meine Lebenserfahrung.“ Das sind die vielen Millionen Erfahrungen dieses Lebens, da ist aber nichts Stabiles drin und nichts Bleibendes. Die gemachten Erfahrungen sind vorbei – „Das bin nicht ich!“ – das ist einfach dieses Spiel der Erfahrungen in einem Geistesstrom. Da stellt sich die Frage: „Wenn ich all das nicht bin, wer bin ich denn dann?“ Und das ist die Frage, die jetzt zu stellen ist: Was ist eigentlich meine Ego-Festung? Was ist die Festung meines Ich-Anhaftens? An was glaube ich denn noch als wirklich mein? Was bin ich denn in meiner eigenen Sichtweise? Mit was identifiziere ich mich? Diese Frage muss sich jeder stellen! Woran hängen wir denn noch als das Ich? Was haben wir bereits losgelassen als Nicht-Ich? Was ist uns bereits klar geworden: „Das kann es nicht sein!“ und wo sind wir einfach noch nicht klar, ob es das ist oder nicht ist? Wir können den ganzen Weg, den wir bis jetzt in den Aussagen von Selbst und Nicht-Selbst beschrieben haben, aber auch anders herum beschreiben als das Entdecken des Bodhicitta. Die ganze Unterweisung könnte so gegeben werden, dass wir im Entdecken des relativen Bodhicitta die Ich-Bezogenheit allmählich schwächen und im Entdecken des letztendlichen Bodhicitta den Freiraum entdecken, der ohne jegliche Ich-Bezogenheit ist. Das ist dasselbe mit ganz anderen Worten ausgedrückt. Was vorher als das Auflösen von blockierenden Vorstellungen dargestellt wird, wird dann als das Ent-

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decken von befreienden Geistesräumen dargestellt. Es ist einfach die Kehrseite der Medaille – mal als das Auflösen des Behindernden und dann als das Entdecken des Befreienden. Natürlich haben wir alle viel mehr Lust, das Befreiende zu entdecken als uns mit dem Hindernden zu befassen, aber es erscheint weise zu sein, beides zu tun, mal mit dem einen zu arbeiten und mal mit dem anderen, und nicht in einem naiven Anhaften an Bodhicitta die wesentliche Arbeit am Auflösen der Ich-Bezogenheit vielleicht doch nicht zu tun, weil wir auch in einem falschen Verständnis von Bodhicitta sind. Die Schwierigkeit für uns ist, dass wir sehr gerne die Unterweisungen über Bodhicitta hören, es aber oft als etwas ermüdend erleben, uns mit dem ganzen Ich-Anhaften herumzuschlagen, es zu analysieren und hinzuschauen. Was dann aber passiert, ist, dass wir uns mit dem Bodhicitta identifizieren, dass wir uns mit den Mahayana-Lehren identifizieren und sagen: „Ich bin jemand, der Bodhicitta praktiziert. Ich helfe und unterstütze.“ Damit sind wir dabei, die ich-bezogenen Tendenzen in das Heilsame einzubauen und nennen es dann Bodhicitta, es ist aber heilsames Handeln mit Ich-Bezogenheit. Es braucht diesen Blick der Weisheit, der das heilsame Handeln von der Ich-Bezogenheit befreit. Nur dann führt es raus aus Samsara, ansonsten verbessert es einfach die nächste Wiedergeburt und lässt uns weiter in Ich-Bezogenheit kreisen. Es braucht also beides. Es braucht das Auflösen des Behindernden zusammen mit dem Hervorbringen des Befreienden. Die beiden arbeiten zusammen. Die Fallstricke einer Praxis, die nur auf gutem Herzen beruht und sich dann Bodhicitta-Praxis nennt, sind, dass wir mit all den gewohnheitsmäßigen Tendenzen des Ich-Anhaftens in diese BodhicittaPraxis hineingehen und dann z.B. glauben, es gäbe das Bodhicitta, es gäbe Bodhicitta tatsächlich. Hat denn Bodhicitta eine wirkliche Existenz? Existiert es mehr als Ärger? Nein! Ärger und Bodhicitta haben gleich wenig Existenz. Es gibt in Wirklichkeit gar kein Bodhicitta. Das ist Weisheit. Wenn wir das verstehen, dann wissen wir, was mit dieser Dynamik gemeint ist, die zum Erwachen führt und wir werden nicht wieder neu vergegenständlichen und uns identifizieren auf dem Weg des Erwachens. Es braucht dieses scharfe, klare Training in Weisheit. Wer sich das erspart, wird ganz naiv seinen Bodhisattva-Weg gehen und leider dann auch nur auf recht naive Weise Heilsames tun, ohne wirklich den Daseinskreislauf zu durchschauen. Jemand ohne Weisheit wird in alle Sackgassen laufen, in alle Fallgruben fallen, die es auf dem Weg des Heilsamen hat, z.B. zu denken, Erleuchtung würde es wirklich geben; jemanden, der erwacht, würde es wirklich geben; Lebewesen, die es zu befreien gilt, würde es wirklich geben; jemanden, der den Weg geht, … All die hilfreichen Konzepte auf dem Weg der Befreiung werden vergegenständlicht und sind wieder Basis für neue Ich-Bezogenheit, für neue Identifikation. Das ist ein Weg ohne Weisheit, es braucht deswegen beides zusammen. Es braucht Mitgefühl und Weisheit. Wir können den Weg nicht mit dem einen ohne das andere gehen.

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Das Aggregat des Bewusstseins Vijnana Skandha

Das Aggregat des Bewusstseins ist das, was die jeweilige eigentliche Natur der Dharmas erkennt. Es wird in die sechs Bewusstseinsgruppen eingeteilt, vom Sehbewusstsein bis zum mentalen Bewusstsein. Dharmas sind hier alle Phänomene inklusive Gesetzmäßigkeiten, z.B. Vergänglichkeit.

Die sechs Bewusstseinsgruppen Zur Erinnerung und Wiederholung vom Anfang des Kurses, noch einmal was die äußeren Bewusstseinsgruppen – die fünf Arten Sinnesbewusstsein – und das mentale Bewusstsein sind: Wenn wir etwas sehen, so geschieht das Sehen durch das Zusammenkommen von Auge, Sehbewusstsein und visuellem Objekt. Wenn diese drei zusammenkommen, gibt es visuellen Kontakt und es entsteht eine Seh-Wahrnehmung. Diese Seh-Wahrnehmung ist eine Erfahrung im visuellen Bewusstsein, bleibt aber nicht einfach rein visuell, sondern wird sofort auch eine mentale Erfahrung, weil sie weitergemeldet und im mentalen Bewusstsein verarbeitet wird. Z.B. eine kurz auftauchende visuelle Wahrnehmung, wie die Hand vor meinem Gesicht, wird sofort innerlich als Eindruck gespeichert, und diese Speicherung des Eindrucks ist schon mental. Das Vergleichen dieses Eindruckes mit anderen Eindrücken ist bereits ein recht elaborierter Prozess im mentalen Bewusstsein. Wenn diese Hand mit den Fingern schnippt, dann sind zwei Arten Bewusstsein aktiv: sehen und hören. Beides wird ins mentale Bewusstsein gemeldet und dort entsteht der Sinn. Der Sinn kann nicht gegeben werden, wenn eine Erfahrung nur in seinem Sinnesbereich bleibt. Es muss ins Mentale hineinkommen, damit beschrieben werden kann, damit man mit Sinneseindrücken von früher vergleichen kann, damit man Klänge vergleichen kann usw. Das Ganze wird auch noch zusammengefügt, man erkennt, dass da etwas ist, das wir eine Hand nennen im Unterschied zu anderen Dingen, und dass dieses Schnipp-Geräusch genau mit der Bewegung, die wir sehen, einhergeht; das Geräusch entsteht in dem Moment, wo die Finger aufeinander klatschen. Dieses Koordinieren verschiedener Sinneseindrücke, um dann daraus eine sinnvolle Folgerung zu erhalten, das alles geschieht im Mentalen. Wenn ich selber mit den Fingern schnippe, dann habe ich zusätzlich ja auch noch eine innere taktile Empfindung, und wenn ich auch noch einen starken Geruch auf der Hand hätte, dann würde ich auch noch den Geruch vor meiner Nase wahrnehmen. Alle Sinne können in einer Erfahrung integriert werden und zu einem sinnvollen Gesamtbild verarbeitet werden. Dieses Bild ist natürlich ein komplexes mentales Bild. Dies beinhaltet den folgernden Geist, der erscheint, wenn aufgrund der Sinnesfähigkeit der Augen als Hauptbedingung Formen wahrgenommen werden, [sowie die anderen vier Bewusstseinsgruppen] bis hin zu dem folgernden Geist, der erscheint, wenn aufgrund der mentalen Sinnesfähigkeit als Hauptbedingung deren eigene, spezielle Objekte, das Dharma-Element (mentale Objekte) und auch alle anderen Objekte wahrgenommen werden. Dieser komplizierte Satz beschreibt genau, was ich vorhin erklärt habe. Es müssen Bedingungen zusammenkommen, damit eine Wahrnehmung entsteht, und diese Wahrnehmung wird im folgernden Geist, was wir auch Intellekt nennen, dem mentalen Bewusstsein verarbeitet. Und das mentale Be-

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wusstsein hat zusätzlich noch seine eigenen Objekte, die nicht in den fünf Sinnesgruppen auftauchen. Das heißt, wir können über ganz abstrakte Dinge wie Glück und Traurigsein, über Demokratie und dergleichen nachdenken, oder z.B. dieser Vortrag hier ist für euch ja nur Hören und dann Verarbeitung im mentalen Bewusstsein. Ihr könnt ganz allein für euch weiter darüber nachdenken. Das alles nennt man das Dharma-Element, das sind die rein mentalen Objekte. Die Kombination all dieser Eindrücke, dieser Objekte, ergibt dann den Strom der verschiedenen Bewusstseinsmomente im folgernden Geist. Über die sechs Bewusstseinsgruppen brauchen wir gar nichts weiter zu sagen, es sind ganz einfach die Bilder dieser fünf äußeren Sinne, die im mentalen Sinn auftauchen und das Mentale selbst, was die wechselnden Eindrücke der sechs Bewusstseinsbereiche ergibt, die wir dann unser Leben nennen. Es ist also ein ständiger Strom unterschiedlichster Bewusstseinsmomente. Etwa im 4. Jh. n. Chr. beginnt eine Bewegung in Indien, die sich Nur-Geist-Schule nennt, die Basis für diese Schule sind recht späte Mahayana-Sutren. Der erste große Vertreter dieser Schule ist Asanga und sie erlangt etwa im 8. Jh. ihre volle Blüte. Diese Mahayana-Schule bemüht sich, die Prozesse im mentalen Bewusstsein noch genauer zu beschreiben. Es erscheint ihnen wohl zu Recht, dass zu vieles im mentalen Bewusstsein untergebracht wird, und dass es sinnvoller wäre, das Ganze genauer zu betrachten.

Bewusstsein aus der Sicht der Nur-Geist-Schule Die Sutras und Shastras der Nur-Geist-Schule gehen von acht Bewusstseinsgruppen aus: Das emotional verblendete Mentale [die siebte Bewusstseinsgruppe] ist ein Aspekt des mentalen Bewusstseins. Es ist ein Geisteszustand ständiger Einbildung, – man sagt ständig: „Ich“, „Ich bin“, man nimmt auf die Idee eines Selbst Bezug – der innerlich auf das All-Grund-Bewusstsein – das 8. Bewusstsein – Bezug nimmt und mit vier Arten emotionaler Verblendung einhergeht: 1) die Sichtweise, es gäbe ein Selbst, 2) der Stolz, „Ich“ zu denken, 3) das Anhaften an einem Selbst und 4) mangelndes Gewahrsein (Unwissenheit). Abgesehen von der Verwirklichung des Pfades der Edlen, der meditativen Ausgeglichenheit des Aufhörens und dem Zustand des Nicht-Mehr-Lernens, begleitet dieser Aspekt alle Geistesvorgänge, seien sie heilsam, nichtheilsam oder unbestimmt. Dieses emotional verblendete oder belastete Mentale beschreibt den Filter, der ständig aktiv ist, wenn wir in unserem Bewusstsein etwas wahrnehmen oder über etwas nachdenken. Wenn das mentale Bewusstsein ein objektives Bewusstsein wäre, dann würden wir bei der entsprechenden Wahrnehmung vermerken: „Da sind Schmerzen im Knie.“ Das emotional belastete Bewusstsein aber sagt: „Mir tut es weh!“ – in meinem Knie. Das heißt, die unmittelbare Reaktion ist bereits gefärbt durch die Annahme eines Ich und baut bereits auf der Überzeugung auf, es gäbe da ein Ich. Plötzlich haben wir da also ein Ich, das einen Schmerz hat, der obendrein auch noch direkt als unangenehm eingestuft ist. Dieser Filter ist ständig aktiv, egal worüber wir nachdenken, egal was wir erleben, dieser Filter ist kontinuierlich aktiv außer in den Bewusstseinszuständen, die im 2. Vers angesprochen werden, die zu den Erfahrungen von Verwirklichung gehören. Abgesehen von den Momenten, wo wir in der Verwirklichung sind, ist dieser Filter stets aktiv und beschreibt somit eigentlich genau das, was in Samsara passiert. Es ist also gut, den eigentlichen Prozess der mentalen Wahrnehmung zu unterscheiden vom Filter, der diese Wahrnehmung umbenennt, ihn anders einschätzt und zu einem emotionalen Geschehen werden lässt. Diese beiden Aspekte sollten wir in der Betrachtung auseinander halten. Die Nur-Geist-Schule hat sich dann der Frage zugewendet, wie denn die anderen Filter der Wahrnehmung entstehen, die bewirken, dass wir Situationen z.B. unmittelbar als angenehm oder unangenehm wahrnehmen, obwohl es zunächst einmal gar keinen Anhaltspunkt dafür gibt. Aus eigener Erfahrung wissen wir: Wenn wir Menschen wieder begegnen, denen wir schon einmal begegnet sind und die sehr angenehm für uns waren, erleben wir Vertrauen. Wenn uns diese Menschen unangenehm waren, ist jedoch Ablehnung, Reserviertheit zu spüren. Die Nuancen dieser Filter sind

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sehr, sehr vielgestaltig und sehr präzise. Das geht hin bis zu Eindrücken aus früheren Leben, die offenbar im Geist aktiviert werden können als ganz klare, genaue Erinnerungen aus früheren Leben. Als z.B. der 16. Karmapa auf der Flucht aus Tibet durch Nordindien kam, erinnerte sich ganz plötzlich an ein Vorleben und konnte sagen: „Da hinten, wo der nächste Berg auftaucht, in diesem Tal werden wir das und das finden. Dort gibt es das, usw.“, ganz präzise. Das stellt gar keine Ausnahme dar. Es gibt recht viele Menschen, die solche Eindrücke erfahren, die sehr präzise und die zum Teil auch überprüfbar sind. Was ist es, das es ermöglicht, dass Spuren früheren Erlebens jetzt im Geist aktiv werden und z.B. zu klaren Erfahrungen oder zu Filtern in der Wahrnehmung führen? Wie kann man dieses Phänomen beschreiben? Hier spricht man von dieser achten Bewusstseinsgruppe, dem All-Grund-Bewusstsein. Die achte Bewusstseinsgruppe enthält all die Samen, die von den Aggregaten, Elementen und Sinnesfeldern geprägt wurden. Sie ist die Basis geistiger Vorgänge und ist einfach nur klar und gewahr, ohne eine spezielle Neigung. Mit diesem All-Grund-Bewusstsein wird das Phänomen beschrieben, dass alle Erfahrungen, die wir mit unseren Sinnesfeldern in der Vergangenheit gemacht haben, Spuren hinterlassen, und zwar in dem Maße wie Anhaften da war. Wenn kein Anhaften da war, werden solche Spuren nicht hinterlassen, aber dort wo Identifikation, wo Haften war, werden Spuren im All-Grund-Bewusstsein hinterlassen. Diese Spuren sind ganz fein, aber dennoch präzise, es ist wie ein komprimiertes Gedächtnis, eine komprimierte Information, die ein exakter Spiegel dessen ist, was unser Erleben in dem Moment war. Dieses Erleben hinterlässt Spuren, die dynamisch sind, sie sind nicht von statischer Natur. Es ist ein dynamisches, ganz feines Untergrund-Bewusstsein, das aktiviert werden kann, wenn das Bewusstsein zu diesen Spuren Kontakt aufnimmt. Dann kommt es dazu, dass diese aktiven Samen das ganze Bild dessen, was einmal war, entfalten können. – So wie ein Same sich zu einer ganzen Pflanze entfalten kann. Die Information, was die Pflanze ausmacht, ist bereits im Samen enthalten, obwohl die Pflanze noch gar nicht sichtbar ist. – Wenn diese Spuren kontaktiert werden, dann kommt es zu einem Entfalten ihrer Dynamik im mentalen Bewusstsein. Dieses Aktiv-Werden der früheren Eindrücke geschieht nicht etwa neutral sondern geht wieder wie alles andere auch durch den Filter des bereits belasteten Mentalen. D.h. obwohl die Empfindung selber neutral ist, wird sie erfahren in unserem jetzigen Bewusstsein, das wie immer von unseren Kleshas, unseren emotionalen Belastungen beeinflusst ist und diese Erfahrung färbt. So haben wir also mit dieser achten Bewusstseinsgruppe einen Beschreibungsversuch dessen, was die Übertragung, das Fortdauern der karmischen Tendenzen möglich macht, also die Summe der Eindrücke und ihrer Verarbeitung aus früheren Leben und früheren Informationen, all das, was dazu beiträgt, wie sich unser Leben jetzt gestaltet. Aus der Sicht der Nur-Geist-Schule ist dieses All-Grund-Bewusstsein ständig dabei, seine Informationen abzugeben, es ist in jeder Situation sowohl aktiv, indem es auf die Wahrnehmung unserer jetzigen Situation einwirkt, als auch aufnehmend, weil es zu jedem Zeitpunkt die Spuren unseres jetzigen Erlebens wieder aufnimmt und weiter wirken lässt. Unser jetziges Erleben ist also ein ständiger Prozess zwischen dem, was bewusst erlebt wird und dem, was unbewusst abgespeichert wurde und uns beeinflusst; was jetzt abgespeichert wird und uns in der Zukunft beeinflussen wird. Diese Dynamik zwischen Bewusstem und Unbewusstem wird hier mit diesen beiden zusätzlichen Bewusstseinsgruppen beschrieben.

„All-Grund“ oder auch „Aufnehmendes Bewusstsein“ wird es in seinem Aspekt genannt, wo einfach Samen vorhanden sind, welche die Erscheinungen einer [äußeren] Umwelt, von Sinnesinhalten und von Körpern [von Lebewesen] hervorbringen können. Die Erscheinungen von Umwelt, Sinnesinhalten und Körper sind zudem wie Erscheinungen in einem Traum. In seinem Aspekt, wo sich einfach das erschöpft, was in diesem All-Grund-Bewusstsein erscheint, wird es „All-Grund völliger Reifung“ oder „All-Grund-Bewusstsein völliger Reifung“ genannt. Dieser All-Grund völliger Reifung beschreibt also die Reifung karmischer Eindrücke. Wir können das gut nachvollziehen: Wir begeben uns aufs Kissen und meditieren, haben eine völlig stabile Umgebung, äußerlich ist gar nichts los, aber innerlich kann sich ein Riesenzirkus abspielen. Es ist so viel,

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was da aufsteigt und auch so viel Überraschendes, dass wir es uns nur so erklären können, dass das Eindrücke aus der Vergangenheit sind, die ins Bewusstsein aufsteigen und sich darin befreien. So wird der Prozess karmischer Reinigung beschrieben: Eindrücke steigen im Bewusstsein auf, werden bewusst und wir reagieren darauf nicht mit Anhaften oder Ablehnen. Wenn wir reagieren und uns verstricken, schaffen wir wieder neue Eindrücke im All-Grund-Bewusstsein. Wenn wir all das, was aufsteigt, verpuffen lassen oder sogar zum Heilsamen nutzen, dann findet dieser Prozess karmischer Reinigung statt. Ihr versteht jetzt ein bisschen, was der Beitrag der Nur-Geist-Schule war: eine recht hilfreiche Beschreibung dieser geistigen Vorgänge, die uns auch ermöglicht, genauer zu verstehen, wie Karma weiter getragen wird, wie es erlebt und wie es aufgelöst wird. Aber wir sollten nicht denken, dass diese drei Aspekte des mentalen Bewusstseins drei verschiedene Aspekte sind. Es handelt sich wiederum nicht um eine Beschreibung von getrennten Schubladen sondern um ein dynamisches Geschehen, das verschiedene Aspekte hat. Die Schulen des südlichen Buddhismus haben dieses spät aufgetauchte Beschreibungsmodell nicht akzeptiert. Sie arbeiten weiterhin mit den beschriebenen sechs Bewusstseinsgruppen, wo dann das mentale Bewusstsein all diese Phänomene mit enthält.

Du hast erklärt, dass im All-Bewusstsein Samen abgelegt werden aufgrund von Ich-Bezogenheit. Gleichzeitig heißt es, dass dieses Bewusstsein neutral ist. Wie geht diese Ich-Bezogenheit einher mit etwas, das neutral ist? Das ist für mich unlogisch. Ich verstehe deine Frage, das ist mir auch schon aufgefallen. Die Informationen, die da abgespeichert werden, sind getreue Abbilder des eigentlichen Geschehens, z.B. ein emotionaler Schock hinterlässt Spuren, die diesen Schock abbilden, sie entstehen in dem Moment selbst. Auf dieser Ebene des Bewusstseins ist es nicht so, dass emotionales Arbeiten, Aufblähen oder Vermindern weiter stattfinden würde. Das findet erst wieder statt, wenn diese Spuren ins jetzige Bewusstsein aufsteigen, das dann mit seinen emotionalen Filtern darauf reagiert. Es ist also ein getreues, neutrales Abbild von dem Geschehen, das damals war mit all seinem Anhaften, aber es ist in diesem Sinne auch total durchdrungen von den Emotionen, denn das sind alles emotionale Abbilder, aber die sind neutral gemacht. Der dritte Karmapa sagt es ganz deutlich: Das gesamte All-Grund-Bewusstsein ist von A bis Z von Ich-Bezogenheit durchdrungen. Es ist nicht ein erleuchtetes Bewusstsein, es ist nicht neutral im Sinn von un-emotional, weil das Bilder unseres Anhaftens sind. Zugleich sind aber diese Abbilder in sich konstant, sie sind nicht dabei, sich weiter zu deformieren durch zusätzliche emotionale Gestaltungen. Dieses Gestalten findet nur statt, wenn diese Eindrücke ins emotionale Bewusstsein aufsteigen, dann findet die Weiterverarbeitung statt.

In diesem Zusammenhang mit diesem All-Grund wird ja auch erklärt, dass z.B. Vertrauen, Hingabe, all diese positiven Faktoren, die es braucht, dass überhaupt ein Weg vonstatten geht, eben genauso daraus hervorkommt. Man würde die dann auch unter dieser Ich-Bezogenheit zusammenfassen. Ja, genau! Denn das sind auch die Momente von Vertrauen und Hingabe, die mit Ich-Bezogenheit erlebt wurden. Deshalb gilt das auch für die heilsamen Geisteseindrücke, weil die auch mit IchBezogenheit erlebt werden. Von daher ist alles von Ich-Bezogenheit durchdrungen.

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All-Grund-Bewusstsein – Zeitloses Gewahrsein Jetzt würde ich noch gerne darüber sprechen, wie das Erwachen beschrieben wird. Im Prozess des Erwachens wird dieses belastete, von Ich-Bezogenheit durchdrungene All-GrundBewusstsein zu dem zeitlosen Gewahrsein. Wie geht das? Wie vollzieht sich das? Das All-Grund-Bewusstsein zusammen mit allen anderen Formen des Bewusstseins befreit sich im Erwachen aus dem Haften an ein Ich. Wenn sich die Ich-Bezogenheit durch einen Moment des völligen Erkennens aufgelöst hat, dann kommt es nicht mehr zu einem Ergreifen der Bewusstseins-Inhalte als Ich und mein. Alles was aufsteigt – alle Spuren des All-Grund-Bewusstseins, die im Bewusstsein aktiviert werden – wird nicht mehr als Ich und mein erfasst. Es erschöpft sich im non-dualen Bewusstsein. Es ist auch nicht so, dass im Prozess des Erwachens, der über die verschiedenen Bodhisattva-Stufen geht, alles noch einmal auftauchen müsste. Der Prozess des Auftauchens ist stark mit dem Haften an ein Selbst verbunden, und wo der Boden des Haftens gar nicht mehr da ist, erschöpfen sich die Spuren des Anhaftens von selbst. Da braucht man nicht extra noch ein Großreinemachen und alle Spuren noch einmal aktivieren, um sicher zu sein, dass wirklich alle Spuren sich erschöpfen. Das war eine sehr einfache Beschreibung des Prozesses des Erwachens. Wenn euch die Details interessieren, dann könnt ihr entweder in dem sehr guten englischen Buch Luminous Heart von Karl Brunnhölzl nachlesen oder ihr könnt die Unterweisungen von Khenpo Tschödrag lesen, die ins Deutsche übersetzt wurden. Khenpo Ngedön hat es hier unterrichtet. Es gibt also Möglichkeiten, sich weiter zu informieren. Mipham Rinpoche fügt noch eine kleine Begriffsklärung an: Es gibt die Ansicht, der zufolge „geistige Vorgänge“, „mentale Vorgänge“ und „Bewusstsein“ einfach Synonyme sind. Einer anderen Ansicht zufolge ist mit „geistigen Vorgängen“ das AllGrund Bewusstsein gemeint, mit „mentalen Vorgängen“ das emotional verblendete Mentale und mit „Bewusstsein“ die sechs Bewusstseinsgruppen. Das ist auch genau die Sichtweise von Mipham Rinpoche, der mit diesen acht Formen des Bewusstseins gearbeitet hat.

Zusammenfassung So beinhalten die fünf Aggregate alle abhängig entstandenen Dharmas und bilden so die Basis, auf der viele Aufzählungen und Einteilungen, wie zum Beispiel die „Zeiten“, beruhen. Die Aggregate werden von daher die „Basis für die Zeiten und das Sprechen“, „die Basis versehen mit Entsagung“ und „die Basis versehen mit Ursachen“ genannt, und sie werden auch die „Welt“, die „Grundlage der Sichtweisen“ und „Existenz“ genannt. Durch Streben und Begierde kommt es zu völliger Identifikation und somit zu den „völlig angenommenen getrübten Aggregaten“, die mit Kampf und Leid einhergehen und auch die „Ursache allen Leidens“ genannt werden. Dies war das Kapitel der ausführlichen Darlegung der Aggregate. Dieser vorletzte Satz ist der entscheidende, der alles zusammenfasst. Aufgrund von Verlangen, Streben und Begierde kommt es zu völliger Identifikation, zu einer Ich-Bezogenheit, die sich mit den Aggregaten völlig identifiziert, sie emotional trübt. Sie sind nicht mehr einfach die reine Aktivität dieser Aggregate, sie werden durch die Identifikation belastet, führen zu Spannung, führen zu Streit, zu Kampf – zum Kampf mit dem Leben gegen die Wirklichkeit im Grunde genommen – und werden

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somit Ursache allen Leidens genannt. Die Ursache allen Leidens ist die Identifikation mit einem Ich dort, wo es eigentlich nur das dynamische Spiel dieser Aggregate gibt. ***

Das war also das Kapitel der Aggregate, erstes Kapitel in dem Werk von Yu Mipham Rinpoche, einem Nyingma-Meister aus dem 19. Jh., der als Referenz für alle vier Schulen gilt und auf dessen Werk der 17. Karmapa auch den Unterricht in den Dreijahres-Retreats aufbaut. Ihr habt also jetzt dieselbe Übertragung zu den Aggregaten erhalten wie die Praktizierenden im Dreijahres-Retreat, nur bekommen die auch die anderen neun Kapitel des Werkes erklärt. Die Retreatler würden gerne hier Mäuschen spielen, um uns zuzuhören, denn sie hatten natürlich nicht die Zeit, das alles so ausführlich erklärt zu bekommen. Wir sind da etwas schneller durch gegangen. *** Normalerweise sollte man solche Dharmatexte nicht in losen Blättersammlungen haben sondern schützen und vielleicht in Ordnern oder Ringbindungen unterbringen und wirklich sorgfältig behandeln. Vielleicht macht ihr das nach dem Kurs auch noch.

Fragen: Umgang mit mentalen Objekten aus dem All-Grund-Bewusstsein in der Meditation Habe ich recht verstanden, dass der Prozess der Befreiung in der Meditation darin besteht, nicht anzuhaften an den mentalen Objekten, die aus dem All-Grund-Bewusstsein auftauchen? Kannst Du bitte erklären, wie man das denn anstellt? Handelt es sich dabei um ein Vorbeiziehen-Lassen oder muss man sich weiter um diese Gedanken kümmern, und wenn ja, wie? Zunächst einmal zu diesem einfach Vorbeigehen-Lassen: Das alleine wird im Normalfall gar nicht möglich sein, denn Gedanken ziehen nicht einfach vorbei. Das kann nur auf der Basis einer Geisteshaltung geschehen, die den Gedanken keine Wichtigkeit beimisst, weder dem Subjekt noch dem Objekt. In dieser grundlegenden Geisteshaltung können Gedanken aufsteigen und vergehen, sie haben keinerlei Dauer, weil es kein Anhaften gibt. Die Dauer von Gedanken entspricht der Dauer des Anhaftens. Je länger wir anhaften, desto länger dauern die Gedankenketten um das entsprechende Thema. Was sehr helfen wird, dass Gedanken sich auflösen und gereinigt werden, ist ein Hineinschauen in die Gedanken selbst, in die Natur des Gedanken bzw. des Denkers. Das ist eine zusätzliche geistige Handlung des bewussten Sich-Umorientierens – nicht auf den Inhalt des Gedankens, sondern auf die Natur des Gedankens – um zu entdecken, wie vergänglich, wie illusorisch der Gedanke eigentlich wirklich ist, völlig transparent, ohne jegliche Substanz. Das wird helfen, dass die Gedankenkette im Nu unterbrochen ist. Darüber möchte ich mich nicht weiter ausbreiten, es gäbe noch enorm viel zu diesem Thema zu sagen, und das waren schon zwei Antworten. Ist das, worüber wir gerade gesprochen haben, das Alaya-Bewusstsein? Ja, das stimmt, in Sanskrit alaya vijnana und im Tibetischen kün shi namshe. Das ist dieses AllGrund-Bewusstsein.

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Wenn man nur einfach alaya sagt, dann kann man diesen Begriff leicht verwechseln mit dem Allgrund des Erwachens, dem erwachten Bewusstsein. Deswegen ist wichtig, immer hinzuzufügen das unterscheidende Bewusstsein des All-Grundes, alaya vijnana, kün shi namshe. Namshe, das dualistische Bewusstsein. Wo befindet sich dieses Grund-Bewusstsein? Es kann ja nicht Bestandteil unseres Systems sein, denn es muss ja die Generationen überdauern. Wo befindet sich denn das System? Das, wovon ich glaube, dieses Gewaber um mich herum, das ist halt irgendwo räumlich begrenzt. Okay, das ist das Gewaber drum herum, aber dein Geist, wo ist denn der? Wenn du den findest, hast du auch das Alaya gefunden. Ja, der ist nämlich genau da! Ja, da ist er auch…Gelächter… Okay! Ich weiß Bescheid. … Gelächter… Das Alaya-Bewusstsein ist genauso wenig oder nicht existent wie der Geist. Das Alaya ist nicht wahrer oder weniger wahr als der Geist, das Bewusstsein. Hat also auch keine Ausdehnung. Weiß ich ja nicht! Du müsstest einmal hinschauen! Wie weit geht denn dein Geist? Von so weit wie die Spitze einer Stecknadel bis so nah wie die unendlichen Weiten. Damit haben wir einen Koan! Das siebte Bewusstsein Das siebte Bewusstsein ist ja emotional verblendet. Es gibt aber die Möglichkeit, dass es nicht emotional verblendet ist, dass es objektiv wahrnimmt... Nein, das gibt es nicht. Anders gefragt: Wenn das Haften wegfällt, besteht die Möglichkeit des Erwachens. Du hast gesagt, dass im Prozess des Erwachens nicht alles aus dem achten Bewusstsein aktiviert werden muss. Da frage ich mich, ob sozusagen die Momente des Nicht-Haftens in einem bestimmten Verhältnis stehen müssen zum Inhalt des achten Bewusstseins, dass da irgendwie so ein Gleichgewicht oder Verhältnis hergestellt werden muss zwischen den belasteten Inhalten des achten Bewusstseins und dem Bewusstsein frei von Haften, damit sozusagen alles gelöscht ist im achten Bewusstsein. Das ist eine verdinglichende Anschauung des Geistes. Das Bewusstsein ist dynamisch, die Dynamik wird durch das Ichanhaften in Gang gehalten. Wenn das Ichanhaften als Motor wegfällt, hört die Dynamik auf. Es braucht also nicht ein Auslöschen entsprechender Inhalte stattfinden, weil es die Inhalte eigentlich gar nicht gibt. Es ist eine Dynamik, die zum Erliegen kommt, wenn das Haften zum Erliegen kommt. Passiert das dann in einem Augenblick? Im Grunde genommen wäre es möglich in einem Augenblick. Du hattest das All-Grund-Bewusstsein definiert als Bewusstsein, wo die Spuren aller Erfahrungen der Sinnesfelder gespeichert sind aber auch der rein mentalen Objekte. Dann ist im Text formuliert: Sinnesfähigkeit der Augen als Hauptbedingung, um Form wahrnehmen zu können. Also die Hauptbedingung sind die Augen. Kann es sein, dass überhaupt visuelle Wahrnehmung anderes Gewicht hat in Bezug auf das achte Bewusstsein als die anderen Sinneserfahrungen? Nein, es ist nur das erste in der Liste. Traditionell wird bei den Erklärungen zu den Sinnesfeldern mit dem Visuellen angefangen und dann überträgt man alles, was darüber gesagt wird, auf die anderen.

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Bewusstsein im Traum Ich dachte jetzt auch an Träume, die ja überwiegend visueller Natur sind und vielleicht aufgrund dessen die Augen eine besondere Bedeutung hätten. Die Träume finden rein im mentalen Bewusstsein statt, da haben die Augen und das Sehbewusstsein überhaupt nichts zu spielen. Die visuellen Eindrücke im Traum sind rein mental. Trotzdem sind es ja meistens Bilder und ganz selten z.B. Gerüche bei mir. Ja, aber bei anderen Menschen sind ganz viele Klänge dabei, taktile Erfahrungen. Für die meisten sind es wohl Bilder, aber all diese Erfahrungen sind mentale Erfahrungen – Nasen, Ohren, Augen usw. sind nicht beteiligt in der Traum-Erfahrung. Inwieweit können sich diese Samen aus dem Alaya-Bewusstsein im Traum reinigen oder zum Bewusstsein kommen. Ich habe das Gefühl, es geht im Traum recht tief ins Unterbewusstsein, das sind oft heftige Erfahrungen, und man nimmt das dann beim Aufwachen ins Bewusstsein rein und praktiziert damit. Alles was im Traum aufsteigt, steigt aus dem All-Grund-Bewusstsein auf und könnte dort auf der Stelle gereinigt werden, bloß würde dann der Traum zum Erliegen kommen. – Traumgeschehen lebt davon, dass angehaftet wird, sonst kommt es nicht zum Entstehen von einem in irgendeiner Weise ein bisschen kohärenten Film. Wenn der Praktizierende im Traumbewusstsein frei von Anhaften ist, dann kommt es auch zum Entstehen von Bildern, wo es aber keinerlei Neigung mehr gibt, diese Bilder zu einem Film zusammenzustricken. Das wäre die direkte Möglichkeit. Im normalen Erfahren ist es so, wie du beschreibst, wir wachen auf und aufgrund des Anhaftens, das bereits im Traum stattgefunden hat, wo bereits Erinnerungsspuren entstanden sind, haften wir immer noch an dem Traum an und brauchen dann Praktiken wie Dorje Sempa und andere, um endlich davon loslassen zu können. Es gibt sonst nichts anderes zu tun, als endlich davon loszulassen. Da helfen die Mantren oder die Visualisationen, um wieder die völlige Freiheit in uns zu stimulieren. Wenn man nicht anhaftet, hört der Traum auf. Ist das gleichzusetzen damit, dass man im Traum weiß, dass man träumt? Ja und nein. Es gibt verschiedene Arten zu wissen, dass es sich um einen Traum handelt. Wenn das die ersten Male passiert, dann werden wir uns bewusst, „Das ist ein Traum“, sind aber immer noch im Vergegenständlichen. Dann taucht beim Praktizierenden eine weitere Phase auf, das Erkennen, dass es sich um einen Traum handelt, wird ganz sanft. Nicht so: „Ja! Das ist eine Traum!“ und damit ist alles unterbrochen. Es wird ganz sanft, die Träume können sich weiter entwickeln, wir können auch damit beginnen, mit ihnen zu spielen, aber das Ausmaß des Haftens ist sehr gering geworden, es wird ihnen kein Glauben mehr geschenkt. Es ist eigentlich kreative Spielwiese. Wenn sich alles Haften aufgelöst hat, dann kommt es auch gar nicht mehr zu Träumen, dann ist die Dynamik im Alaya-Bewusstsein, die zu solchen Träumen führt, nicht mehr vorhanden. Da ist nicht mehr ausreichend Anhaften da, um solche Eindrücke im Geist hervorzurufen. Bei den großen Bodhisattvas gibt es keine Träume mehr. Die träumen nicht mehr, weil die Dynamik des Anhaftens im All-Grund-Bewusstsein zum Erliegen gekommen ist. Zur Wahrnehmung der Erwachten Kann man das Leben der Erwachten vielleicht so beschreiben, dass sie die geistigen Vorgänge als die Dynamik, die Kreativität des Geistes wahrnehmen? Ja, das ist eine gute Art der Darstellung, bloß hat es da in der Formulierung ein kleines Problem: Es gibt da niemanden mehr, der da getrennt von den geistigen Vorgängen diese Vorgänge dann als Kreativität wahrnehmen würde. Wenn die Erwachten uns vermitteln möchten, wie sie die Welt erleben, dann sprechen sie über die Kreativität und Dynamik des Geistes, aber nicht zusätzlich noch von jemandem, der diese als etwas anderes wahrnimmt. Das sind Probleme mit der Formulierung.

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Ich würde gerne noch mehr über den Beobachter wissen. Mein Verständnis ist folgendes: Wir fühlen uns als Mensch und zunächst als eine solide Einheit. Dann nehmen wir Zuflucht, beginnen zu meditieren und mit der sich entwickelnden Achtsamkeit entsteht ein Beobachter, der die geistigen Prozesse wahrnimmt. Wenn ich richtig verstanden habe, ist es offenbar so, dass die Erwachten dann ohne diesen Beobachter auskommen, dass der dann überflüssig wird. Das ist an sich schon ein gutes Verständnis. Ich werde das noch etwas umformulieren: Zunächst erleben wir uns als ein Ganzes, sind aber aufgrund von mangelnder Bewusstheit nicht gewahr, dass ständig diese beobachtende, bewertende Funktion aktiv ist, die benennt, in angenehm und unangenehm unterscheidet, die mag, die nicht mag, die klassifiziert. Wenn wir beginnen zu meditieren – mit oder ohne Zuflucht, das ist eigentlich unerheblich, aber mit einer klaren Ausrichtung zu erwachen – dann wird diese beobachtende Funktion immer deutlicher. Weil die Achtsamkeit zunimmt, sehen wir, dass Erleben und Interpretation des Erlebens aufeinander folgende Momente, unterschiedliche Momente im Geist sind. Dabei nehmen wir die Extra-Gedanken, die sich mit einem Ich in Beziehung setzen, einschätzen und bewerten, deutlicher wahr. Diese beobachtende Funktion wird weiser, sie bewertet weniger stark, haftet weniger stark an, wehrt weniger stark ab, wird allmählich entspannter und hilft, auf dem Weg fortzuschreiten. Bei noch mehr Achtsamkeit, bei noch mehr Präsenz nehmen wir immer deutlicher wahr, dass diese beobachtende Funktion eigentlich überflüssig ist, dass das Leben sehr viel fließender ist, wenn diese Extraschleifen im Geist nicht mehr stattfinden. Aber von dem Moment an, wo wir erkennen, dass der Beobachter überflüssig ist, bis dahin, dass sich das Leben tatsächlich ohne Beobachter vollzieht wie bei einem Erwachten, ist es noch ein weiter Weg. Im Erwachen ist es dann tatsächlich so, dass Weisheit, Mitgefühl und all die verschiedenen Qualitäten des Geistes frei, spontan wirken, ohne dass es da noch Bezug auf jemanden gibt, der das zu beobachten, kontrollieren und zu steuern hätte. Diese Ich-Instanz ist völlig weg gefallen. Ich habe auch gehört, dass man viel weniger Zeit im Schlaf verbringt, je weiter man entwickelt ist. Stimmt das? Jein! Bei jenen Bodhisattvas, die wirklich sehr weit fortgeschritten im Prozess des Loslassens sind, kommt es nicht mehr zu Schlaf im herkömmlichen Sinn. Manche verbringen tatsächlich auch die Nächte in sitzender Meditation, andere legen sich vielleicht zwei, drei, vier Stunden hin, verbringen die Zeit aber in ganz klaren Geisteszuständen, was wir klares Licht – erhellende Klarheit – nennen und sind völlig frisch dabei. Dann gibt es aber auch weit fortgeschrittene Meister, die weiterhin ihren Körper und Geist für fast genauso lange wie wir sechs bis acht Stunden ausruhen, sich ins Bett legen und man von außen das Gefühl hat, sie würden ganz normale Nächte verbringen so wie wir. Was ich damit sagen möchte, ist, dass man Meister nicht daran erkennen kann, wie viel sie schlafen, obwohl es tatsächlich so ist, dass ihr Schlaf sich verändert und sie auch weniger Zeit brauchen, um sich auszuruhen. Aber das ist nicht bei allen gleich. Gendün Rinpoche hat uns erklärt, dass die Lehrer, die den Tag über viel mit Begriffen zu tun haben, die viel erklären, in der Nacht dann sehr viel mehr Zeit zum Ausruhen brauchen. Wenn man das berücksichtigt und dann daran denkt, was für ein Leben der 16. Karmapa geführt hat, wie viele Menschen er betreut, wie viel er gesprochen, um wie viele Projekte er sich gekümmert und dann trotzdem keinen oder sehr wenig Schlaf gebraucht hat, dann kann man vielleicht ermessen, in was für offenen Geisteszuständen er war trotz all dieser Aktivitäten.

Möglichkeiten des Rückzuges Würdest Du bitte die verschiedenen Möglichkeiten, die Praxis zu intensivieren, Retreat zu machen, beschreiben? Die Erfahrung von Retreat, von Zurückziehung, beginnt schon zu Hause, wenn wir uns jeden Tag für eine Viertelstunde, eine halbe Stunde oder eine Stunde nehmen, um uns von der Geschäftigkeit zu-

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rückzuziehen und uns Dharma-Zeit gönnen, Zeit in der wir meditieren oder kontemplieren, studieren. Da wird dann natürlich das Bedürfnis wach, das für ein bisschen länger zu tun, sodass wir uns vielleicht an Wochenenden oder arbeitsfreien Tagen mehr Zeit dafür nehmen. Wenn uns diese Erfahrung befriedigt, dann entsteht oft der Wunsch, noch mehr davon zu haben und nimmt sich mehrere Tage. Man sucht dann vielleicht auch nach einem Ort, an dem man in einer geschützten Atmosphäre unter Betreuung praktizieren kann. Der nächste Schritt wäre dann ein Halb-Retreat oder ein kurzes Ganztags-Retreat für ein paar Tage bis zu einer Woche. Halb-Retreat würde bedeuten, dass man vier, fünf Stunden praktiziert, studiert, kontempliert und den Rest der Zeit spazieren geht, und andere Dinge macht. Sehr schön ist die Verbindung, wenn man dabei in einem Dharma-Zentrum mithilft, wie z.B. hier in Croizet oder an anderen geeigneten Orten. Bei einem vollen Retreat beginnt man mit vier individuellen Sitzungen von einer bis eineinhalb Stunden pro Tag, oft gekoppelt mit einer Gruppenpraxis am Abend und vermutlich auch noch mit einer Praxis vor dem Frühstück. Da kommt man dann schon auf sechs kleine Sitzungen pro Tag. Wichtig ist dafür, dass man Betreuung hat, dass man bei einem einwöchigen Retreat am Anfang, in der Mitte und am Ende den Betreuer trifft. Das wäre natürlich ideal, manchmal kommt es nur zu zwei solchen Gesprächen, manchmal kommt es sogar zu täglichen Gesprächen, was natürlich ganz gut ist, da hat man intensive Betreuung. Diejenigen, die sich mit ihrem eigenen Geist auskennen und solche Erfahrungen schon gesammelt haben, können sich gut auch einmal für eine Woche alleine zu Hause zurückziehen, oder bei Freunden oder in einem Dharma-Zentrum, ohne dass der Betreuer oder die Betreuerin unbedingt in der Nähe sein muss. Wenn die Retreats länger werden, dann entsteht wieder Bedarf nach Betreuung, weil mehr zu besprechen ist, aber die Abstände, in denen man sich sieht, werden länger. Man sieht sich dann nur einmal in der Woche oder jede zweite oder dritte Woche. Das kommt darauf an, wie lang die Retreats sind. Muss man dann in so einem Retreat den ganzen Tag mit der gleichen Praxis verbringen? Das würde ja bedeuten, vielleicht neun Stunden pro Tag nur mit Tschenresig-Praxis zu verbringen. Ja, das ist dann schon ein Voll-Retreat, da bleibt dann wenig Zeit für anderes, das ist auch Sinn der Sache. Das ist aber etwas, das man nicht gleich zu Anfang macht. Man lässt sich Zeit, das Programm wird abgestimmt. Man kann z.B. Tschenresi als Haupt-Praxis haben, ein Mal vormittags, ein Mal nachmittags und ein Mal dann als Gruppenpraxis abends. Die zweite Vormittags- und NachmittagsSitzung kann man dann studieren, kontemplieren oder man schiebt Sitzungen mit ganz stiller Meditation ein. Das sind nur Beispiele. Das ist genau die Aufgabe der Betreuer, dass sie das Programm abstimmen auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Person. Wir hören hier mit Fragen und Antworten auf und machen eine große Widmung, eine mega-große Widmung. ***

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Widmung Wir denken an das Heilsame dieses Kurses. Die Weisheit, das Verständnis, das entstanden ist; an die Liebe und das Mitgefühl, was wir empfunden haben. – Wir denken an alles, was gut getan hat, das heilsam war in der Zeit, die wir hier verbracht haben, inbegriffen auch das Verständnis, das dank schwieriger Situationen entstanden ist. – Wir bringen diese ganze heilsame Kraft, alles Positive allen Lebewesen dar, all diesen Lebewesen, die genauso wie wir Glück suchen, Befreiung, die Frieden erleben möchten und einen ruhigen, offenen Geist. Möge sich all das Heilsame, das wir erfahren haben, das wir bewirkt haben zu dem Heilsamen gesellen, das jetzt gerade, überall im gesamten, weiten Universum, auf allen Planeten von Erwachten und nicht Erwachten bewirkt wird, und möge all das dem Erwachen aller Lebewesen gewidmet werden. – Und möge diese große Kraft des Heilsamen sich zu dieser Kraft des Heilsamen gesellen, die aus den heilsamen Handlungen aller Lebewesen entstanden ist in der Vergangenheit in allen Universen. Möge die Gesamtheit des Heilsamen aus Vergangenheit und Gegenwart dem Erwachen aller Lebewesen gewidmet sein. – Und möge alles Heilsame, was wir noch in Zukunft erleben werden, all die heilsamen Kräfte, all das Positive das von sämtlichen Lebewesen in Zukunft noch erfahren und bewirkt wird, möge es ebenfalls jetzt schon dem Erwachen aller Lebewesen gewidmet sein. – Und möge sämtliches Heilsame von uns und allen Lebewesen durch die Kraft dieser Widmung und den Segen der Erwachten befreit, gereinigt sein von aller Ich-Bezogenheit. Mögen wir alle im natürlichen Geist verweilen. – Vielen Dank euch allen, vielen Dank für eure Präsenz und vielen Dank im Voraus für das Teilen euren Verständnisses mit anderen. –

Das Dankes-Billet an Lama Lhündrup enthält zwei Zen-Geschichten: Ein Mönch schlug einen anderen, der während der Zazen-Praxis eingeschlafen war, worauf der Meister zu ihm sagte: „Warum schlägst du den, der so süß schläft? Ist dieser Mönch ein anderer, wenn er schläft? Weder kritisiere noch preise ich jenen, der schläft, aber ich preise oder kritisiere auch nicht jenen, der nicht schläft. Wenn man schläft, ist man mit dem Buddhageist so wie wenn man wach ist. Wenn man erwacht ist, ist man mit dem Buddhageist so, wie wenn man schläft. Wenn man denkt, man habe den Buddhageist nur dann, wenn man wach ist und man denkt, dass man anders wäre, wenn man eingeschlafen ist, dann ist dies nicht die letztendliche Wahrheit sondern unaufhörlicher Daseinskreislauf.“ Weder Wind noch Fahne, eine Passage ohne Tür Der Wind bringt die Tempelfahne zum flattern. Zwei Mönche diskutieren. Der eine sagt: „Die Fahne flattert.“ Der andere sagt: „Es ist der Wind, der sich bewegt.“ Sie können sich darüber nicht einigen. Der sechste Patriarch sagt zu ihnen: „Es ist weder die Fahne noch der Wind, die sich bewegen, es ist euer Geist.“ Da werden die beiden Mönche von Furcht erfasst. Ein kleiner Nachtrag von Umen, einem Zenmeister: „Was sich bewegt, ist weder der Wind noch die Fahne noch der Geist. Was hat da der Patriarch gemacht? Wenn ihr die Dinge klar

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Die fünf Skandhas

Croizet, August 2010

seht, dann wisst ihr, dass die beiden Mönche Gold erhalten haben, wo sie meinten, Eisen zu kaufen und dann wisst ihr auch, dass der Patriarch einen Fehler gemacht hat, weil er nicht unbeteiligt geblieben ist. Wind, Fahne oder Geist, man muss alle drei loslassen. Wenn ihr sprecht, dann seid ihr nicht bewusst, dass ihr Dummheiten sagt.“ Eine Bemerkung von Nagarjuna: Wenn das Selbst die Aggregate wäre, dann wäre es etwas, das entsteht und vergeht. Wenn es etwas anderes als die Aggregate wäre, dann hätte es nicht ihre Merkmale. Und ein Ausspruch von Thrungpa Rinpoche: Die Kunst des Kriegers ist eine ständige Reise. Krieger zu sein bedeutet, authentisch zu sein in jedem Moment seines Lebens.

Lama Lhündrup zum Bild auf dem Billet: Das ist ein schönes Bild, ich danke euch allen. Es ist sehr ausdrucksvoll für unseren Kurs und es hat sogar Bäume, Baumhaufen im Hintergrund… Wir werden schauen, wie die Reise weiter geht. Wir werden versuchen, authentisch zu sein… Wenn es möglich ist, werde ich Karmapa fragen, was wir denn im nächsten Kurs machen sollen. Ich hätte ja nicht gewagt, mit euch das Thema der fünf Skandhas durchzugehen, wenn es nicht sein Vorschlag gewesen wäre. Es scheint irgendwie doch geklappt zu haben, ihr seid immer noch da, scheint offenbar auch inspiriert zu sein. Ich hätte es auch nicht gewagt, euch so viel Studium vorzusetzen, weil die meisten einen Meditationskurs erwartet hatten. Und es sind auch einige nicht gekommen, weil sie lieber in dieser Zeit meditiert hätten. Aber ich glaube, dass sich ein gutes Verständnis einstellt, was dann eine sehr, sehr gute Grundlage für die Meditationspraxis ist. Lassen wir es also offen, was nächstes Jahr sein wird.

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Einen von Herzen kommenden Dank für dieses Transkript an Marianne Krobath, assistiert von Anette aus Minden, Deutschland, sowie von Hans, Markus und Isolde aus Graz, Österreich!

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