Letters. 1924 – 1934

das ist jene, vor allem von Lev S. Vygotskij, Aleksej N. Leont'ev und Alek- sandr R. Lurija entwickelte ... 1 Wie Gita Lvovna Vygodskaja, Vygotskijs Tochter, erwähnt, „sind relativ wenige Briefe erhal- ten, die Vygotskij seinen Kollegen ..... Schon im Jahr 1925, ganz am Anfang seiner akademischen. Karriere und noch ehe er ...
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ICHS International Cultural-historical Human Sciences Herausgegeben von / published by Hartmut Giest und Georg Rückriem Band / Vol. 21 Georg Rückriem (Hrsg. / Ed.) Lev Semënovič Vygotskij Briefe / Letters 1924 - 1934

Lev Semënovič Vygotskij Briefe/Letters 1924 – 1934

Ins Deutsche übersetzt von Fljura Lompscher Mit einem wissenschaftlichen Apparat versehen und herausgegeben von Georg Rückriem Translated into English by Dieter Keiner and Cathleen Poehler Annotated and edited by Georg Rückriem

Berlin 2009

ICHS International Cultural-historical Human Sciences ... ist eine Schriftenreihe, die der kulturhistorischen Tradition verpflichtet ist – das ist jene, vor allem von Lev S. Vygotskij, Aleksej N. Leont’ev und Aleksandr R. Lurija entwickelte theoretische Konzeption, die den Menschen und seine Entwicklung konsequent im Kontext der Kultur und der gesellschaftlich historischen Determination betrachtet. Dabei kommt der Tätigkeit als der grundlegenden Form der Mensch-Welt-Wechselwirkung für die Analyse der menschlichen Entwicklung und Lebensweise entscheidende Bedeutung zu, sowohl unter einzelwissenschaftlichen Aspekten und deren Synthese zu übergreifender theoretischer Sicht als auch im Hinblick auf praktische Problemlösungen. Die Schriftenreihe veröffentlicht sowohl Texte der Begründer dieses Ansatzes als auch neuere Arbeiten, die für die Lösung aktueller wissenschaftlicher und praktischer Probleme bedeutsam sind. ... is a series committed to the tradition of the cultural historical theory, which was developed by Lev S. Vygotsky, Alexei N. Leontiev and Alexandr R. Luria in order to analyze man and his development within the context of culture and social historical determination. They consider activity as the fundamental form of man-world-interaction and as a basic precondition of the theoretical, methodological and empirical study of problems of scientific disciplines and social practice. This series is meant to publish classic texts of the founders of this approach as well as new studies concerning current scientific or practical problems.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet unter: abrufbar. Georg Rückriem (Hrsg.) Übersetzungen: Fljura Lompscher, Dieter Keiner, Cathleen Poehler Lev Semënovič Vygotskij Briefe / Letters 1924-1934 2. verbesserte Auflage • 2nd revised edition 2008: Lehmanns Media • Berlin www.lehmanns.de • www.ich-sciences.de ISBN: 978-3-86541-681-0 Druck: Docupoint Magdeburg

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Einleitung

7 13

Lev Semënovič Vygotskij Briefe 1924 – 1934

19

Anhang -

Sammlung Puzyrej

121

-

Sammlung Zolotnickaja (A. M. Ščerbina)

125

-

Sammlung Gita L. Vygodskaja (V. A. Vagner)

131

-

Chronologie der Briefe

137

-

Literaturverzeichnis

141

-

Kurzbiographien

153

-

Namensregister

173

-

Abkürzungsverzeichnis

179

Vorwort der zweiten Auflage Es gibt bis heute keine Zusammenstellung des gesamten Briefwechsels von L. S. Vygotskij.1 Das hat seine Gründe. Im Krieg wurden Haus und Wohnung Vygotskijs zerstört und seine Bibliothek und sein Privatarchiv stark beschädigt. Wir können davon ausgehen, dass dabei nicht nur die meisten der an ihn gerichteten Briefe, sondern damit auch die notwendigen Anhaltspunkte verloren gegangen sind, um in den Archiven seiner Korrespondenzpartner gezielt nach seinen eigenen Briefen zu suchen – sofern diese Archive selbst der Zerstörung bzw. Beschädigung entgangen sind. So ist es kein Zufall, dass es nur wenige wieder aufgefundene Briefe an Vygotskij in seinem verbliebenen Privatarchiv und nur Zufallsfunde in den Archiven seiner Freunde und Mitarbeiter gibt, zumal auch diese ausnahmslos bis heute noch auf eine systematische Bearbeitung warten. Faktisch gibt es nur drei Teilsammlungen: 1) die Zusammenstellung von 28 Briefen Vygotskijs an seine Freunde und Mitarbeiter, die A. A. Puzyrej 1986 in Vygotskijs Privatarchiv wieder aufgefunden2 aber erst 2004 publiziert hat,3 2) die Zusammenstellung von 33 Briefen Vygotskijs an A. V. Vagner und 3 Briefe an dessen Frau, die G. L. Vygodskaja und T. M. Lifanova (wahrscheinlich 1994/95) in der Saltykov-Ščedrin-Bibliothek in Leningrad fanden und 1996 in ihrer Vygotskij-Biographie veröffentlichten,4 und 3) die Zusammenstellung von 8 Briefen Vygotskijs an A. M. Ščerbina bzw. 2 Briefen an dessen Gattin (und 5 Briefen Ščerbinas an Vygotskij), die P. L. Zolotnickaja 1992 veröffentlichte.5 Darüber hinaus erwähnen Vygodskaja/Lifanova noch einige weitere, bisher unveröffentlichte Briefe Vygotskijs (ebd., 376, 377): 1 Brief an A. G. Gornfel’d, 1919, 5 Briefe an D. B. Ėl’konin, 1932-33.

Wie Gita Lvovna Vygodskaja, Vygotskijs Tochter, erwähnt, „sind relativ wenige Briefe erhalten, die Vygotskij seinen Kollegen oder Schülern geschrieben hat (wohl etwa 30).“ (Vygodskaja/Lifanova, 2000, 178) 2 So jedenfalls die Erklärung der Redaktion der Zeitschrift Vestnik Moskovskogo Universiteta, in der die Briefe veröffentlicht wurden (vgl. „Von der Redaktion“, in: Puzyrej, 2004, 3; in diesem Band, Anhang, S.121). Allerdings hatte bereits 1987 René van der Veer von Puzyrej eine maschinenschriftliche Kopie der Briefsammlung erhalten, die er für sein Buch Understanding Vygotsky (1991, zusammen mit Jaan Valsiner) auswertete. Offensichtlich war die Existenz dieser Kopie in Vergessenheit geraten. 3 Puzyrej, 2004, 3-40. Leider werden die Antworten der Briefpartner weder nachgewiesen noch in die Auswahl übernommen. Obwohl Vygotskijs Archiv in den Kriegswirren stark gelitten hat (vgl. Vygodskaja/Lifanova, 2000), sind doch mehr Briefe erhalten geblieben, als bei Puzyrej erwähnt werden. Eine systematische Rekonstruktion des Briefwechsels steht jedoch noch aus. 4 Vygodskaja/Lifanova, 2000, 331-351. 5 Zolotnickaja, 1992, 68-80. 1

8

Vorwort

Demnach ist die Existenz von insgesamt 74 Briefen Vygotskijs aus der Zeit zwischen 1919 bis 1934 bekannt, aber nur 68 von ihnen sind öffentlich zugänglich,6 wenn auch an unterschiedlichen Orten und zum größten Teil nur in russischer Sprache. Der vorliegende Band trägt erstmals die verstreuten Funde in einem Buch zusammen. Dazu löse ich den Zusammenhang der bisherigen Sammlungen auf und ordne alle Briefe in chronologischer Reihenfolge. Anders als Puzyrej integriere ich auch die Briefe an Vygotskij, soweit sie mir zugänglich waren. Die einleitenden Bemerkungen der jeweiligen russischen Herausgeber trage ich im Anhang nach. Diese Entscheidung verursachte einige Probleme mit den Fußnoten. Ich entschied mich für folgendes Verfahren: Die seltenen Fußnoten Vygotskijs werden ausdrücklich als solche gekennzeichnet. Die wichtigen und hilfreichen Fußnoten aus den drei Sammlungen, für die ich den jeweiligen russischen Herausgebern ausdrücklich danke, werden von mir übernommen, korrigiert und ergänzt, wo immer notwendig, ohne dies im einzelnen nachzuweisen. Die ausführlicheren biographischen Kommentare zu den in den Briefen erwähnten Personen findet man in den Kurzbiographien am Ende des Bandes. Die Einleitungen zu den drei Sammlungen mit ihren allgemeinen Informationen werden zusätzlich im Anhang vollständig wiedergegeben. Ein besonderes Problem stellt die Transkription der in den Briefen erwähnten Namen dar. Sofern es sich um deutsche7, französische8 und englische9 Namen handelt, bleibt es bei der bekannten europäischen Schreibweise. Namen deutschstämmiger russischer Staatsangehöriger wie etwa Gornfel’d, vor allem die Namen jüdischen Ursprungs wie z.B. Gejmanovič oder Gippenrejter, werden dagegen grundsätzlich in der internationalen Transkription wiedergegeben, dies selbst dann, wenn es sich um in Europa allgemein bekannte Namen handelt wie z.B. Rubinštejn, Špilrejn oder Zalkind. Anders im Falle von Vygotskij. Diese von ihm gewählte und international eingeführte Schreibweise „Vygotskij“ behalten wir im folgenden bei, weil er die ursprüngliche Schreibweise „Vygodskij“ seines Familiennamens selbst änderte. Wie seine Tochter Gita Lvovna mitteilte, „bemühte er sich als Jugendlicher, die Herkunft seiner Familie und ihres Namens aufzuklären. Es gelang ihm tatsächlich, und er bewies seinem Vater, dass der Familienname [Vygodskij] falsch geschrieben werde: Er komme nicht von vygoda [wörtlich: Vorteil], sondern von dem Namen eines kleinen Ortes Vygotovo in Weißrussland, aus dem die Vorfahren

Der Brief an Gornfel’d konnte nicht eingesehen werden, weil die Bibliothek in St. Petersburg auf wiederholte Anfragen nicht reagierte. Die 5 Briefe an Ėl’konin, die sich laut Vygodskaja/Lifanova im Privatarchiv der Familie Ėl’konin befinden, waren nach mündlicher Auskunft seines Sohnes nicht mehr auffindbar. 7 Z. B.: „Gegel“ = Hegel, „Gejne“ = Heine, „Fon Gumbold“ = von Humboldt, „Këler“ = Köhler. 8 Z. B.: „Piaže“ = Piaget. 9 Z. B.: „Torndaik“ = Thorndike, „Uotson“ = Watson, „Ched“ = Head. 6

Vorwort

9

stammten, und müsse daher mit t [Vygotskij] geschrieben werden.“ (Vygodskaja/Lifanova 2000, 201)

Diese schon 1982 von Dobkin (1982)10 publizierte Erklärung, wurde von der gesamten Rezeption übernommen,11 obwohl sie nicht sehr überzeugend ist.12 So bestätigt z.B. der JewishGen Shtetlseeker13 zwar, dass es wenigstens 3 jüdische Schtetl namens Vygoda in der Umgebung von Minsk, 34 in der Umgebung von Warschau, 9 in der Umgebung von Kiev und 1 in der Nähe von Moskau gegeben hat, weist aber in allen diesen Ländern keinen Ort namens Vygotovo nach. Wie die Botschaft des Landes Belarus auf Anfrage mitteilte und die Botschaft Polens bestätigte, gibt es auch in den amtlichen Ortsverzeichnissen dieser Länder keinen Ort „Vygotovo“. Eine plausible Erklärung der Tatsache des Namenswechsels steht also noch aus. Meščerjakov (2000) hat bereits darauf hingewiesen, dass die Namensänderung nicht nur den Familiennamen betrifft. Auch Vygotskijs Vatersname lautet auf älteren Dokumenten noch „Simchonvič“ statt „Semënovič“. Wie Kotik/Friedgut (2008) belegen, trug Vygotskijs Vater tatsächlich den hebräischen Namen Simcha und war so auch in allen offiziellen Dokumenten registriert.14 Ihre Erklärung für seine Veränderung des Vornamens: „In seeking to integrate into Russian society he took a name, which, although still Jewish (Semion is one of the Tvelve Tribes of Israel), is used also by Russians.”15

Nun könnte man diese Tatsache – dem bisherigen Trend der Vygotskij-Rezeption folgend – für eine biographische Nebensächlichkeit halten, hätten Kotik/Friedgut (2008) sie nicht nur als ein Indiz unter anderen für Alexander Etkinds Urteil genutzt, dass „even today, important aspects of L. S. Vygotsky’s intellectual biography remain unclear or underevaluated“ (Etkind 1993, 37), sondern darüber hinaus auch als Anhaltspunkt für ihre These genommen, dass die Vernachlässigung, ja Unterdrückung seines jüdischen Hintergrundes das Verständnis des Gesamtwerks beeinträchtige:

10

Vgl. auch Feigenberg, 1996.

In der deutschen Rezeption zuletzt von Keiler 2002, 477. Allerdings sind auch die bisher vorgetragenen anderslautenden Erklärungvorschläge für den Namenswechsel nicht überzeugender, wie z.B. dass Vygotskij auf diese Weise Verwechslungen mit seinem Vetter David Vygodskij oder eine Verbindung seines Namens mit der peinlichen Konnotation des Ortsnamens („Vygoda“ = Gewinn bzw. Profit) oder überhaupt die Identifikation als Jude über seinen Namen vermeiden wollte. Die orginellste Version stammt von Meščerjakov, der den Namenswechsel damit erklärt, dass sich Vygotskij aufgrund zahlreicher biografischer Übereinstimmungen an dem Beispiel Martin Luthers orientierte. (Vgl. Meščerjakov 2000.) Erstaunlich bleibt in diesem Zusammenhang auch, dass weder Vygotskijs Schwester, noch seine Frau Roza Noevna, noch auch seine Kinder diesen Namenswechsel übernahmen. 13 www.archivauskunft.de/2006/ortsnamensuche-osteuropa-jewishgen-shtetlseeker/ 14 Vgl. dazu auch die Dokumente Nr. 7 und 8 in Vygodskaja/Lifanova 2000. 15 Kotik-Friedgut/Friedgut 2008, 17, Fußnote 7. 11 12

10

Vorwort „Excluding Jewish elements from Vygotsky’s early life means ignoring the crucial influences of family and close social surroundings in the formation of personality, and this is simply impermissible. We cannot fully appreciate Vygotsky without considering the Jewish nature of his family, of Gomel’, and Jewish elements in his early education.” (a.a.O., 16)

Mit ihrem Beitrag liefern sie einen außerordentlich wichtigen Anstoß für die Überprüfung unreflektierter Voraussetzungen der bisherigen Rezeption, der nicht mehr übergangen werden kann. Im Rahmen der vorliegenden Edition der Briefe Vygotskijs soll darauf wenigstens in der Weise Bezug genommen werden, dass der jüdische Hintergrund seiner Kollegen und Mitarbeiter dann nicht mehr übergangen werden sollte, wenn er uns bekannt ist. Übersetzungsschwierigkeiten besonderer Art boten die russischen Bezeichnung der Institutionen des Bildungswesens (Schule, Institut, Hochschule, Akademie, Fakultät, Kurs, Laboratorium usw.) und ihre Benennung (z.B. akademija „imen. Krupskaja“) vor allem in der Revolutionsperiode und der unmittelbar nachrevolutionären Zeit, die russischen Funktions- und Statusbezeichnungen vor allem von Wissenschaftlern (Professor, Lehrstuhlinhaber, Leiter, Direktor, Dekan, Präsident, Mitarbeiter 1. und 2. Klasse usw.) sowie die Bezeichnungen der Fachwissenschaften (Genetische Psychologie, Pädologie, Defektologie, Tiflopädagogik, Surdopädagogik, Psychotechnik usw.) bzw. die speziellen Fachbegriffe. Schwieriger noch war es, die Anrede- und Grußformeln der russischen gebildeten Intelligenz der 20er und 30er Jahre zu übersetzen bzw. für die besonders herzlichen bzw. respektvollen Äußerungen Vygotskijs Entsprechungen zu finden, in denen sein persönliches Verhältnis zu seinen Mitarbeitern und Schülern bzw. zu seinem väterlichen Freund Vagner angemessen zum Ausdruck kommt. Eine Entscheidung für eine grundsätzlich wörtliche Übertragung schien mir ebenso wenig sinnvoll wie der Versuch, in allen Fällen nach einer modernen Entsprechung zu suchen. Stattdessen haben sich die Übersetzer von Fall zu Fall entschieden und in schwierigen Fällen ihre Wahl in einer Fußnote begründet. Wie die russischen Herausgeber zu Recht betonen, sind die Briefe gelegentlich unverständlich. Sie sind innerhalb eines Kontextes entstanden, der den Adressaten selbstverständlich war, so dass ihnen selbst die Abkürzungen und Stichworte Vygotskijs bzw. die knappen Hinweise und Andeutungen jederzeit klar waren. Für den aus der Distanz von über 70 Jahren unternommenen Versuch, sie nachzuvollziehen und zu übersetzen, bleiben sie jedoch meist kryptisch. Selbst den russischen Herausgebern war es manchmal nicht möglich, Hinweise zu entschlüsseln oder Personennamen zu identifizieren. Hinzukommt, dass die Wortspiele Vygotskijs und die von ihm benutzten, damals geläufigen Wendungen aus der Alltagssprache mitunter nur schwer, zuweilen gar nicht übersetzt werden können.16 Um dem Leser das Verständnis zu erleichtern, habe ich daher von den Möglichkeiten des wissenschaftlichen Apparates

16 Vgl. dazu als eindrucksvolles Beispiel Joachim Lompschers deutsche Übersetzung der Gedichte, die die „Patjorka“ Vygotskij zu Ehren verfasste und nach Taškent schickte in: Vygodskaja/Lifanova 2000, 163-166.

Vorwort

11

ausführlich Gebrauch gemacht, was jedoch die Unklarheiten keineswegs immer beseitigen oder die Zweifel aufheben konnte. Unterstreichungen im Original werden von mir übernommen. In den Kurzbiographien wird die Bezeichnung „sowjetisch“, obwohl keine Nationalitätenbezeichnung im eigentlichen Sinne, beibehalten, um nicht Persönlichkeiten ukrainischer, weißrussischer oder anderer Nationalitäten irrtümlich als Russen auszugeben. Den von Vygodskaja besorgten Briefwechsel mit V. A. Vagner sowie den Brief an A. N. Leont’ev vom 2. 8. 1933 hatte Joachim Lompscher bereits übersetzt.17 Die Übersetzung der Sammlungen von Puzyrej bzw. Zolotnickaja besorgte Fljura Lompscher. Sie unterstützte mich sehr in der Absicht, das von Joachim Lompscher und mir schon früher geplante Projekt in Angriff zu nehmen und auch zu Ende zu bringen. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich: • •

• • • • •

René van der Veer – für zahlreiche wichtige Hinweise sowie für die Überprüfung der Übersetzung aus dem Russischen; Thomas Wendling (Deutsche Blindenstudienanstalt Marburg) und Brigitte Andre-Schellner (Österreichische Bundes-Blindenerziehungsanstalt Wien) – für spezielle bibliographische Nachweise zur Psychologie und Pädagogik der Blindenerziehung; Siegfried Jaeger und Peter Keiler – für die Gewährung einer Einsichtnahme in die Briefe Lurijas an Wolfgang Köhler; Helmut Lück – für Informationen zur Psychologiegeschichte; Dieter Keiner – für die Übersetzung ins Englische und Nicole Norris für Vorarbeiten dazu Cathleen Poehler für ihre kompetente und gründliche Revision der englischen Übersetzung für diese 2. Auflage und schließlich Bernhard J. Bönisch für seine nicht nachlassende Geduld bei der Überarbeitung des Textes. Berlin, im Herbst 2008 Georg Rückriem

17

Vgl. Vygodkaja/Lifanova 2000, 331-351.

12

Vorwort

Literatur Blunden, Andy, The Vygotsky School. (Vortrag vom 23.-24. Febuar 2001). www.marxists.org/archive/vygotsky Dobkin, S. F., Ages and Days. In: K. Levitin, One is not born a personality. Profiles of Soviet education psychologists. Moscow: Progress 1982 Etkind, Aleksandr, Eščë o L. S. Vygotskom: Zabytye teksty i ne naidennye konteksty [Mehr über L. S. Vygotsky: Vergessene Texte und unentdeckte Kontexte]. Voprosy psochologii, 1993, 4, 37-54 Feigenberg, I. M. (Ed.), L. S. Vygotskij. Načalo puty: Vospominanija S. F. Dobkina [L. S. Vygotskij: Am Beginn des Weges. Erinnerungen von S. F. Dobkin]. Jerusalem: Publishing Centre 1996 Gerchikov, M. G., Puty – dorogi [Wege und Straßen]. Almanakh Evreiskaja starina [Almanach für hebräische Antiquitäten], 8 (44). www.berkovich-zametko.com/starina/nomer8/gerchikovI.htm/ Heinze, Andrew, Jews and the American Soul: Human nature in the twentieth century. Princeton/NY: University Press 2004 Kelner, V. E., David Vygodskij and his conception of the development of Jewish poetry. Petersburg Judaica. http://judaica.spb.ru Klier, John D./Shlomo Lambroza, Pogroms: Anti-Jewish violence in modern Russian history. Cambridge/England: CUP 1992 Kotik-Friedgut, Bella /Theodore H. Friedgut, A man of his country and his time: Jewish influences on Lev Semionovich Vygotsky’s world view. History of psychology, vol. 11, 2008, nr. 1, 15-30 Meščerjakov, B. G., L. S. Vygotskij i ego imja [L. S.Vygotskij und sein Name]. Trudy un-ta „Dubna”. Gumanitarnye i obščestvennye nauki. Sb. statej. V’s. 1. Dubna 2000, 51-61. Rosa, Alberto/Ignacio Montero, The historical context of Vygotsky’s work: A sociohistorical approach. Louis C. Moll (Ed.), Instructional implications of socio-historical psychology. Cambridge/MA: Routledge 1990, 59-88 Shapiro, Alexander Z., L. S. Vygotsky’s “Hamlet”-period: The turning point. V. Jordanger/A. Kolstad (Eds.), Vygotsky in theory, Vygotsky in practice. Proceedings from the Vygotsky Seminar in Trondheim. 1996, 23-27 Surmava, A. V., Neizvestnyi Vygotskij: Istorija poterjannogo otkritie [Der unbekannte Vygotskij: Die Geschichte einer verlorenen Entdeckung]. (Paper presented at the Moscow Seminar on Cultural-Historical Psychology, 16. November 2004. www.tovievich.ru Timenčik, Roman D., Zabytaja stat’ja Leva Vygotskogo [Ein vergesener Aufsatz von Lev Vygotskij]. Dvatdzat’ dva, 1995, 96, 209-211 Valsiner, Jaan/René van der Veer, The social mind. Cambridge: CUP 2000, 327-329 Van der Veer, René/Jaan Valsiner, Understanding Vygotsky: A Quest for Synthesis. Oxford/England: Blackwell 1991

Einleitung

Die vorliegende Briefsammlung vermittelt einen einmaligen Einblick in den Hintergrund von Leben und Werk des großen russischen Psychologen Lev Vygotsky. Beim Lesen der Briefe an Kollegen, Studenten und Freunde gewinnt man einen ausgezeichneten Eindruck von Vygotskijs Zielen, seiner Persönlichkeit, seinen Leiden und insgesamt von den schwierigen Umständen, unter denen er sein heute berühmtes Werk schuf. In der Zusammenarbeit mit einer kleinen Gruppe ergebener Mitarbeiter und Studenten und auf der Grundlage einer profunden Kenntnis der internationalen Psychologie versuchte Vygotsky eine neue wissenschaftliche Psychologie zu schaffen, die in der Lage war, mit den Werken von Hall, James, Koffka, Köhler, Piaget, Thurstone und anderen Zeitgenossen zu konkurrieren. Bedauerlicherweise erlebte sein Werk keinen internationalen Durchbruch während seinen Lebzeiten, und als Vygotskij 1934 an Tuberkulose starb, hatten nur sehr wenige westliche Psychologen überhaupt seinen Namen gehört, geschweige denn seine Schriften gelesen (Van der Veer, im Druck). Diese Entwicklung der Ereignisse lief Vygotskijs Zielen sehr zuwider. Der vorliegenden Korrespondenz können wir entnehmen, wie sehr er die engstirnige Atmosphäre in der Sowjetischen Psychologie als erstickend und provinziell empfand und dass er sehr wünschte, sich mit qualifizierteren Psychologen austauschen und messen zu können. Schon im Jahr 1925, ganz am Anfang seiner akademischen Karriere und noch ehe er seine heute berühmte Kulturhistorische Theorie entwickelt hatte, träumte Vygotskij davon, dass sein Vortrag über taubstumme Kinder auf dem Weltkongress in London von dem amerikanischen Experten für experimentelle Psychologie Edward Wheeler Scripture (1864-1945) und dem britischen Physiologen und Nobelpreis-Träger Charles Scott Sherrington (1857-1952) gelesen würde. Dieser Wunsch, von den Kollegen des Auslands gelesen zu werden, ließ ihn das Bedürfnis nach Publikationsmöglichkeiten in internationalen Zeitschriften betonen: Wer liest uns denn hier? [...] Nein, unsere wissenschaftlichen Arbeiten müssen, sie müssen in ausländischen Zeitschriften erscheinen (Brief an Lurija vom 5. 3. 1926).

Als ihre kulturhistorische Theorie Gestalt annahm und seine Gruppe Forschungsergebnisse in wachsender Zahl ansammelte, war Vygotskij von der internationalen Qualität ihrer Arbeit mehr und mehr überzeugt. Leont’evs Buch (1931) über die Entwicklung des Gedächtnisses betrachtete er als ein gewaltiges Ereignis in seiner Bedeutung im Bereich des wissenschaftlichen Denkens über die Psychologie des Menschen (Brief an Leont’ev vom 31. 7. 1930).

Auch Lurijas Forschungsergebnisse (1976) aus der anthropologischen Expedition nach Usbekistan hält er für höchst bedeutend und ist überzeugt:

14

Einleitung auch in einem beliebigen Kontext der europäischen Forschung wäre diese Expedition ein Ereignis. Diese Forschung wird Deine Fahrt nach Teneriffa werden (Brief an Lurija vom 1. 8. 1931).

Ein Jahr später ergänzt er, dass, wenn die Ergebnisse der Expedition nach Usbekistan in einer europäischen Sprache veröffentlicht worden wären, dann hätten sie Weltruhm erlangt: dessen bin ich sicher (Brief an Lurija vom 17. 8. 1932).

Die Überzeugung, dass ihre Arbeit mit derjenigen der führenden internationalen Psychologen vergleichbar war, verband sich mit einer fast religiösen Hingabe an die Sache (vgl. Van der Veer & Valsiner, 1991). In einer von Schwierigkeiten (wie z. B. von Krieg, Hunger, Armut und Bürokratie) durchdrungenen Umgebung, die zudem gegenüber unabhängiger kreativer Forschung in wachsendem Maße feindlich eingestellt war, erlebten sich Vygotskij und seine Mitarbeiter und Studenten zunehmend als die erstrangigen Sucher und Finder der einen und einzigen Wahrheit. Schon im Jahr 1926 erwähnt Vygotskij gegenüber Lurija das Schicksal der Sache, die wir begonnen haben (Brief an Lurija vom 5. 3. 1926),

als wenn er feststellen wollte, dass sie zusammen in der Psychologie einen neuen und vielversprechenden Weg gefunden hätten. Ein Jahr später klingt er sogar noch stärker überzeugt davon, dass sie auf der richtigen Spur waren, und schrieb: Die göttliche Herrschaft ist in uns. [...] Ich werde dieser Sache mein gesamtes Leben und alle meine Kräfte widmen (Brief an Lurija vom 26. 7. 1927).

Um 1929 erhielt das Bedürfnis, dieser gerechten Sache zu dienen, eine eindeutig moralische Dimension: Es war nicht länger nur eine Sache der Zugehörigkeit zu dieser oder jener psychologischen Schule oder Richtung. Was auf dem Spiele stand, war der moralische Imperativ, für die Wahrheit zu kämpfen, wie sie von Vygotskijs Theorie vorgestellt worden war. Aus diesem Grund schreibt er an seine Studenten, dass es sich um einen schwierigen, den ganzen Menschen fordernde Weg handelt (Brief an seine Studenten vom 15. 4. 1929).

Für Vygotskij konnte die Entscheidung für die Psychologie nie eine halbherzige Sache sein, so wie man auch nicht religiös werden und gleichzeitig ein Atheist bleiben kann. Und Vygotsky drängte seine Mitarbeiter, grundsatztreu und fest entschlossen zu sein: Gedanken der maximalen Reinheit und Strenge der Idee [...] sowie: strengstes klösterliches Regime des Denkens; gedankliche Abschottung, wenn es notwendig ist. Das muss man auch von anderen fordern. Erklären, dass die Beschäftigung mit der kulturellen Psychologie – keine Spielerei, zwischendurch und neben anderen Sachen, ist (Brief an Leont’ev vom 23. 7. 1929).

In einem ein Jahr später verfassten Brief wird die Ähnlichkeit mit unbestreitbaren religiösen oder moralischen Überzeugungen noch deutlicher: Wie Luther sagt, hier stehe ich (Brief an Leont’ev vom 31. 7. 1930).

Einleitung

15

Zweifellos, wer in Vygotskijs Forschungsgruppe mitarbeiten wollte, musste fest an die Richtigkeit ihres Ansatzes glauben und ein 100prozentiges Engagement an den Tag legen. Es ist interessant zu verfolgen, bis zu welchem Ausmaß die Beziehungen innerhalb der Gruppe derjenigen Forscher und Studenten, die sich den Ideen Vygotskijs verpflichteten, die Beziehungen einer normalen Gruppe von Kollegen z.B. in einer deutschen oder niederländischen Universität überschritten. Als z.B. seine Studentinnen Morozova und Levina Gefühle von Traurigkeit und Motivationsverlust durchlebten, schrieb er ihnen lange Briefe mit persönlichen Ratschlägen und Trost. An Morozova verfasste er ausführliche Briefe, um ihr zu raten, wie sie ihre Depressionen bekämpfen könnte: Und weiter denke ich, dass Sie wissen, dass man gegen solche Zustände kämpfen muss und dass man sie überwinden kann (Brief an Morozova vom 29. 7. 1930)

und in einem Brief an Levina erhaschen wir einen kurzen Einblick in Vygotskijs persönliche Lebenseinstellung und deren Sinn: Was kann einen Menschen erschüttern, der die Wahrheit sucht. So viel inneres Licht, Wärme, Stütze ist in diesem Suchen. Und dann die Hauptsache – das Leben selbst –, der Himmel, die Sonne, die Liebe, Menschen, Leiden. Das sind nicht nur Worte, das existiert. Das ist das Wahre [...]. Mir sind Ihre Zustände und – entschuldigen Sie die Anmaßung – einiges, was dahinter steht, nah und verständlich: Ich habe in diesen Dingen gewisse Erfahrungen. [...] dahinter stehen Leben und Arbeit, für uns heißt das Arbeit an der Wahrheit. Das sind keine großen Worte wie auch das Wort „Schicksal“. Das ist das, was alltäglich werden muss (Brief an Levina vom 16. 6. 1931).

Ohne Zweifel geht der Inhalt dieser Briefe weit über das hinaus, was in den Beziehungen zu Angestellten oder Studenten üblich ist und zeigt uns, dass Vygotskij sich um das Wohl seiner Mitarbeiter und Studenten persönlich sorgte. Dass die persönlichen Beziehungen sehr eng waren, lässt auch das Büchlein mit den Gedichten durchblicken, die seine Studenten an Vygotskij während seiner Abwesenheit schrieben. In dieser Hinsicht fühlt man sich an jenes andere berühmte Forscherkollektiv aus den 20er und 30er Jahren erinnert, die Berliner Gestalt-Gruppe, in der sich Ähnliches ereignete (vgl. Van der Veer & Lück, 2002). In einer solchen Atmosphäre enger persönlicher Bindungen und des gemeinsamen Kampfes für die gerechte Sache kann die Entscheidung, das Kollektiv zu verlassen und eine neue, unabhängige Richtung zu wählen, leicht in Begriffen wie Königstreue oder Verrat gedeutet werden. Zumindest kann die Entscheidung zu gehen mit Gefühlen der harten Enttäuschung und Bitterkeit empfunden werden. Die zwischen Vygotskij und Leont’ev ausgetauschten langen Briefe sollten, wie ich meine, in diesem Licht gelesen werden. Zweifellos bewegte sich Leont’ev in die Richtung, die später “Tätigkeitstheorie” genannt werden sollte, und es ist nicht schwer, die Fragen wahrzunehmen, die er in einem seiner Briefe wie das Forschungsprogramm formulierte, das er in Char’kov beginnen wollte: Es ist jetzt erforderlich, ‚Kontroll’- und zugleich prinzipielle Fragen der Art deutlich zu stellen wie: der Platz der Arbeit […] und folglich auch das Problem der Vermitteltheit

16

Einleitung der Entwicklung (ich denke: kulturelle Entwicklung!); das Problem der spezifischen, eigenen, der psycholog[ischen] Entwicklung immanenten Gesetze (Brief an Vygotskij vom 5. 2. 1932).

Andererseits kann man demselben Brief auch entnehmen, dass Leont’ev von dem Gedanken, die Beziehung zu seinen Kollegen abzubrechen, erschreckt war: Mir schien, mit dir könnte noch alles korrigiert werden, die Beziehungen mit A. R. in Ordnung bringen, die Stimmung heben, indem etwas abgehackt, etwas schmerzhaft liquidiert wird (vielleicht auch Bruch mit A. R.. – wie schwer ist es, das auch nur zu schreiben!), neue Möglichkeiten finden (Brief an Vygotskij vom 5. 2. 1932).

Ähnlich empfand Vygotskij den möglichen Bruch mit sei es Lurija, sei es Leont’ev als einen unersetzbaren Verlust und antwortete in vergleichbar dramatischen Worten: Deine endgültige Abreise [nach Charkov] ist [...] unser innerer, schwerer, vielleicht unkorrigierbarer Misserfolg, eine Folge unserer Irrtümer und der direkten Nachlässigkeit gegenüber der uns aufgetragenen Sache... es beunruhigt mich mit der allergrößten Unruhe, die ich während der letzten Jahre erlebt habe (Brief an Leont’ev vom 2. 8. 1933).

Natürlich muss man beides, sowohl die Neigung, die eigene Forschungstradition in fast religiösen Vorstellungen zu betrachten als auch die moralische Erwartung an die Mitglieder der Forschungsgruppe, zusammenzubleiben und der Sache zu dienen, auf dem Hintergrund der wachsenden Feindseligkeit gegen ihre Arbeit sehen. Gegen Ende der 20er Jahre erschienen kritische Artikel über die kulturhistorische Theorie, und Vygotskij geriet unter einen wachsenden politischen Druck, seine wissenschaftliche Position zu ändern (vgl. Van der Veer & Valsiner, 1991; Van der Veer, 2002). In verschiedenen Briefen finden wir Hinweise auf öffentliche Debatten über Vygotskijs Ideen, die immer wieder anberaumt, aber dann verschoben wurden. Die Ergebnisse von Lurijas Expedition nach Uzbekistan, die Vygotskij so begeisterten, wurden Gegenstand harter ideologischer Kritik, und in einigen Briefen erfahren wir von der Arbeit einer speziellen Kommission, die eingerichtet worden war, um dieses Forschungsprojekt zu untersuchen: Ich werde ohne Ende befragt und geschüttelt, und: Die Kommission hat ihre Arbeit nicht abgeschlossen (Briefe an Lurija vom 29. 3. 1933 und 21. 11. 1933).

Schließlich schrieb der Vorsitzende dieser Untersuchungskommission einen vernichtenden Bericht über Vygotskijs und Lurijas Forschungen in Uzbekistan (vgl. Razmyslov, 1934; Van der Veer, im Druck) und die Forschungsergebnisse konnten zu Vygotskijs Lebzeiten nicht veröffentlicht werden. Nicht einmal Lurijas späterer Bericht über die Forschungsergebnisse (Lurija 1976) war vollständig. Die Briefe sind auch eine veritable Fundgrube für den, der mehr über die sowjetische akademische Psychologie jener Zeit wissen möchte. Wir erfahren zum Beispiel, dass Vygotskij Kurt Gottschaldt traf und dass er mit Kurt Lewin in Kontakt stand. Vygotskij erwähnt den Besuch von Robert Yerkes in Moskau und wir erfahren viel über Vagners Wunsch, Vygotskij als seinen Nachfolger im Bereich der Vergleichenden Psychologie zu haben.