Leseprobe Tristan Garcia Der beste Teil der Menschen


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Tristan Garcia DER BESTE TEIL DER MENSCHEN Roman

Aus dem Französischen von Michael Kleeberg

Titel der Originalausgabe LA MEILLEURE PART DES HOMMES © 2008 by Éditions Gallimard, Paris

Ouvrage publié avec soutien du Centre nationale du livre – Ministère français chargé de la culture Mit Unterstützung des französischen Kulturministeriums

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin

1. Auflage 2010 Deutsche Erstausgabe © der deutschen Ausgabe Frankfurter Verlagsanstalt GmbH, Frankfurt am Main 2010 Alle Rechte vorbehalten Herstellung und Umschlaggestaltung: Laura J Gerlach, Frankfurt am Main Umschlagmotiv: Stephen Studd, Photographer’s Choice/Getty Images Satz: psb, Berlin Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-627-00170-4

Die Figuren dieses Romans haben niemals irgendwo anders existiert als auf den Seiten dieses Buches. Sollte der Leser jedoch den Eindruck gewinnen, dass sie in gewissen Aspekten gewissen tatsächlichen Menschen ähneln, die er kennt oder wiedererkennt, so liegt das ganz einfach daran, dass Romanfiguren und Menschen, wenn sie sich in vergleichbaren Situationen wiederfinden, auf vergleichbare Art und Weise handeln.

Meinen vier Eltern, die ich gleichermaßen liebe. Für Agnès.

DER ANTEIL EINES JEDEN

1 Willie William Miller wirkte auf den Fotos, die er mir gezeigt hat, wie ein verschlossenes, braves und unauffälliges Kind. Er wurde in Amiens geboren, 1970, und hat dort auch, wie er mir immer gesagt hat, eine Kindheit verbracht, die ihm damals eher glücklich erschien und erst im Nachhinein entsetzlich traurig vorkam. Er hatte ein helles Gesicht und dichte Brauen. Er musste sich anstrengen als Schüler, war nicht eben brillant, und die einzige Erinnerung an seine Grundschulzeit, die er mir gegenüber jemals erwähnt hat, war, dass er ständig pinkeln musste und die anderen sich über ihn lustig machten. Er pinkelte auch ins Bett, in die Laken. Aber gut, davon abgesehen war er ganz offensichtlich nicht das, was man einen »Märtyrer« nennt. Sein Vater, von ostjüdischer Herkunft, arbeitete in der Stoffbranche, er hat versucht, in Amiens, nahe dem Rathaus, einen Laden zu führen, der nicht gelaufen ist, und ist dann Verkäufer in einem schönen großen Wäschegeschäft geworden. Seine Mutter war Hausfrau. William hatte zwei Brüder, von denen ich die Vornamen nicht weiß. Er war der Jüngste. Er musste ziemlich früh eine Brille tragen. Seine Eltern haben sich scheiden lassen, als er zehn war. William ist bei seiner Mutter geblieben, in dem Haus bei Etouvie. Der Vater nahm sich eine Wohnung. Sein Sohn sah ihn nicht mehr, oder kaum noch, nur von weitem. Wenn der Vater ihn übers Wochenende nehmen sollte, ließ er ihn bei der Tante in Compiègne, wo William gerne König und Ritter spielte, in der Schlossruine beim Parkplatz. 11

Einmal, als wir auf einer lederbezogenen Bank neben der Bar diskutierten und er seine große silberne Armbanduhr drehte und zugleich an seiner Perücke herumzupfte, brach er die ganze Zeit in Lachen aus und erklärte es mir, ich erinnere mich noch: »Damals fand ich das alles normal, ich habe mich weder sonderlich gut noch schlecht gefühlt, verstehst du. Jetzt, wo ich das Leben kenne, ist mir klar, dass es unendlich trist war.« Er lächelte. Seine Brüder waren erwachsen – der erste ist, glaube ich, Beamter, der zweite ist abgehauen, war zunächst in einem Waisenhaus, dann bei der Armee. Seit seinem achten oder neunten Lebensjahr und dann die ganze Adoleszenz hindurch hatte er im Großen und Ganzen keinen anderen Austausch mit ihnen als das »Hallo, ist irgendwas im Kühlschrank?«. Er nahm zu. »Im Rückblick wird einem klar, wie viel verschiedene Arten von Stille es in so einem Haus geben konnte, in dem die Liebe zerrissen war, weißt du. Wie ein Seil …« Er spielte Tennis. Es war sein Vater, der ihn eingeschrieben hatte, damit er wenigstens Sport trieb. Er konnte seinen Körper nicht leiden, am liebsten wäre ihm gewesen, in Ruhe gelassen zu werden. Er spielte ziemlich schlecht und versteckte sich stundenlang auf der Toilette. Im Lauf der Jahre hat er mehrere Freunde gehabt, ausschließlich Mädchen. Zwar hatte er auch mit Jungen Freundschaft geschlossen, auf dem Collège, wie er sagte, aber das ging nie sehr tief. Da gab es diesen Guillaume, mit dem er sonntags Tennis spielte, aber Guillaume ist dann auf ein Fachgymnasium im Osten gewechselt. Er war rothaarig, er sagte keinen Ton, er konnte sich nicht gerade auf einem Fahrrad halten. Die Sache ging nicht weiter 12

als ein paarmal Kaffee und Kuchen zum Geburtstag, bei ihm. Er liebte Krieg der Sterne über alles, das wurde zu einer wahren Obsession. Er träumte ohne Unterlass von Chewbacca, von den Ewoks und ihrem Planeten, vom Imperium, der Millennium Falcon und den Zweifüßlern, den AT-STs der Basis von Hoth. Einmal, als die neuen Episoden endlich rauskamen, zwanzig Jahre später, hat er mir gesagt: »Das war meine Art, ein Junge zu sein.« Wenn jemand an der Tür klingelte, sagte seine Mutter immer: »Wir machen besser nicht auf, wer weiß, wer das ist.« Vielleicht dachte sie immer noch an den Skandal, den die wütende Geliebte des Vaters vor ihrem Haus, noch vor der Scheidung, veranstaltet hatte, mit ihren roten Locken. William bekam häufig Anrufe von Mädchen, er hat ihnen immer gerne als Vertrauter gedient – zumindest behauptete er das, denn, was mich betrifft, so habe ich nie gesehen, dass er jemandem zugehört hätte: Er hat immer nur geredet, und die Freunde haben versucht, etwas zu verstehen. Auf dem Gymnasium war er unauffällig, ein durchschnittlicher Schüler. Auf seinen Aufsätzen konnte man in Rot lesen: »wirr«, und in seinem Zeugnis »noch befriedigend«. Er wurde dann in den Zweig »Wirtschaft und Soziales« gesteckt und bekam dann irgendwann, ohne darum gebeten zu haben, sein Abitur in die Hand gedrückt. Damals trug er das Haar halblang, nicht weil es Mode war, Idole hatte er glaube ich nicht. Er ging bloß einfach nicht zum Friseur. Und er trug Hemden. Er hatte diese aufgeworfenen Lippen, die später allen so gefielen, und darüber in jener Zeit einen Flaum, der nicht gerade elegant war – selbst wenn er sauber war, wirkte er irgendwie immer 13

etwas dreckig. Er hörte klassische Musik von Sammelalben und französischen Pop. Als er wegen des Französischunterrichts anfangen wollte, Lyrik zu lesen, entdeckte er stattdessen die Rockmusik, aber auch das führte zu keiner tieferen Beschäftigung. Immerhin mochte er Musik zum Tanzen, wenn schon nicht das Tanzen. Er versuchte nicht, etwas zu erklären, er zuckte nur die Achseln. Was er gut fände? Na ja … Ich glaube, er wusste nicht recht, wo er hingehörte. Seinen Vater hat er nicht gleich gehasst, das ist erst mit der Zeit gekommen. Er lernte, sich auszudrücken, indem er langsam anfing, den Leuten gegenüber, auch Unbekannten, denen er begegnete, schlecht über ihn zu reden. Er hat sich ein kleines Zimmer in der Cité Universitaire genommen und wollte auf die Handelsschule. Zu Anfang entsprach er trotzdem den Erwartungen. Ein bisschen zu schüchtern, dafür lächelte er nett, wenn man ihm auf die Schulter klopfte, er artikulierte sich schlecht, aber das machte er gut und interessant. Er wusste nicht, wohin mit seinen großen behaarten Händen, und fühlte sich auch mit einer Krawatte nicht sehr wohl, auf der anderen Seite hatte er Witz, er war schlagfertig, und wenn es sein musste, konnte er in seinen Kleidern eine gute Figur machen. »Du bist wie ein Schmetterling, der sich entpuppt, bald wirst du deine Flügel entfalten, William«, sagte ihm während seines ersten Berufspraktikums sein Chef. Für diesen Typen hegte er grenzenlose Bewunderung. Der wusste zu leben, machte viel, hatte sein Leben bis ins Letzte im Griff, mit diesem kleinen Fingerschnippen, bei dem man immer denkt, es handle sich um die Wahrheit. Er hat gar nicht recht kapiert, was um ihn herum geschah, 14

er hat es schlecht aufgenommen, wie etwas Skandalöses und Falsches, obwohl niemand etwas aufgefallen war. Also verließ William Amiens, er war kaum neunzehn, das war 1989, das Jahr, in dem die Berliner Mauer fiel – ›bloß auf welche Seite?‹, wie er immer sagte. »Auf welche Seite ist sie gefallen, hä? Kannst du mir das sagen?« So kam er an der Gare du Nord in Paris an – ohne Arbeit, ohne irgendwas, wie der letzte Mensch. Doum hat er anderthalb Jahre später kennengelernt, im Juni.

2 Doumé Dominique Rossi hatte schon immer das gute Aussehen eines reifen und verantwortungsbewussten Mannes, den die Zeit behutsam geformt hat; bloß passte das nicht zu ihm, als er zwanzig war. Er brauchte eine Weile, bis er so alt war, wie er aussah. Das Dorf, in dem er geboren wurde, befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft von Calenzana auf Korsika, einige Kilometer von Isola Rossa und Calvi entfernt. Sein Vater war Arzt, ein sehr renommierter Arzt. Er hatte fünf ältere Brüder, aber keine Schwester. Er war der Kleinste, so war das. Seine Mutter? Italienerin, von ihr hat er die langen schwarzen Wimpern und den Rest auch, und das ist immerhin schon was. Er wuchs in einem großen Haus am Fuß der Berge auf. Im 15

Winter fuhren sie zum Skifahren in die Alpen, und im Sommer reisten sie nach Sizilien, dann nach Tunesien, wo sie schöne Zweit- oder Drittwohnsitze besaßen usw. Der Vater, Pascal, hatte nie offen Stellung zu den Unabhängigkeitskämpfern der Insel bezogen, er war vielleicht eher so eine Art Intellektueller, und später hat er dann oft die jungen Leute, die zu Beginn der siebziger Jahre anfingen, sich zu organisieren, nennen wir es einmal »unter seine Fittiche genommen«. Er besaß eine umfangreiche Bibliothek, er brachte auf seine Art den jungen Leuten aus Bastia den Gedanken nahe, dass Korsika historisch gesehen schon immer fremdbeherrscht gewesen sei. Außer damals, als dieser raffinierte Opportunist Paoli … Aber das ist eine andere Geschichte, und die hat mit den Franzosen geendet. Pascal Rossi war kein militanter Anhänger von irgendetwas. Nein, er hatte seine Liebhabereien und war ein großer Schwätzer, der Pfeife rauchte und nachdachte. Seit er es aus Büchern gelernt hatte, sprach er korsisch. Um mit den Alten reden zu können. Er ermutigte die Jungen, wieder Verbindung zu ihrer eigenen Sprache aufzunehmen, er erklärte ihnen, wie der Kontinent die Insel immer weiter ausbeutete, ohne im Gegenzug Infrastruktur oder die Aussicht auf Arbeit zu schaffen. Damals ging es los mit der Arbeitslosigkeit. Dominique erinnert sich, dass oben im holzgetäfelten Salon immer Alain, François, Jean-Claude und der andere Alain saßen. Er nannte aber nie die Namen, er sagte: »Ihr wisst ja, wer die sind, ihr lest Zeitung.« Sie waren ein wenig älter als er, der in der Ecke sitzen musste, er durfte auch nicht mit ihnen Alkohol trinken, seine Mutter hatte ihn von unter ihrer Stola her im Auge – in diesen Dingen war sie ebenso streng, wie sein Vater freizügig war. 16

Dann kam Aléria, der Untergrund und die Gründung des FLNC. Angeblich war es sein Vater, der am Abend der Schießerei, kurz danach, Jean-Claude die Tür geöffnet hat. Er war mit Sicherheit kein Verfechter der Strategie, in den Untergrund abzutauchen und den bewaffneten Kampf aufzunehmen, das nie. Jean-Claude gehörte zu den Flüchtigen, die per Steckbrief gesucht wurden, jenem berühmten Steckbrief. Während der Auseinandersetzungen innerhalb der ersten Gruppe aus Bastia hatte er vom Motorrad aus den anderen Alain abgeschossen, der damals den Kommunisten nahestand, wegen der ganzen Aufregungen um den Ausschluss Orsinis. Und für Pascal Rossi war dieser zweite Alain wie ein Sohn gewesen, ein sechster Sohn. »Er hatte was Biblisches«, seufzte Dominique. Mir waren diese Geschichten völlig unverständlich. Pascal Rossi hatte gerade das Tor seiner Scheune geöffnet, wollte irgendwas reparieren. Jean-Claude, der Mörder Alains, war auf der Flucht, kam zufällig dort vorbei, um nach Hilfe nachzusuchen, er hatte den Maquis durchquert und wusste nicht, dass er sich auf dem Besitz von Pascal Rossi befand, dem »Vater« Alains, seinem Beschützer. Jean-Claude erstarrte. Normalerweise hätte er ihn … Pascal Rossi hat ihn reingelassen und behandelt und die Dinge klargestellt: »Ich bin nicht deiner Meinung, und außerdem hast du Alain umgebracht, eigentlich müsste ich dich den Gendarmen ausliefern, aber die werde ich erst morgen Mittag anrufen, klar? Du kannst hier übernachten, und du kannst hier etwas essen. Aber morgen werde ich, wenn es sein muss, die Gendarmen auf der Treibjagd begleiten, und das weißt du auch.« »Er kannte ihn ja schon von klein auf, verstehst du …« Einen Monat später war er tot. Angeblich war Pascal nicht 17

weit. Doumé machte eine Grimasse: »So was nennt man dann korsische Gastfreundschaft, verstehst du. Mir ist das immer auf den Geist gegangen, dieser MännlichkeitsSchwachsinn, diese Spielchen mit Männerehre, und heute küssen wir uns und respektieren wir uns, und morgen knallen wir einander ab, und alles das natürlich wegen des »Ehrenkodex«, verstehst du. Scheiße, der Kommunismus war tausendmal weiblicher, verstehst du, theoretischer und auch sensibler.« Mit siebzehn ging er auf den Kontinent, nach Nizza, zunächst aufs Gymnasium, dann in die Vorbereitungsklassen für die Grandes Écoles. Universitäten, die von den Unabhängigkeitskämpfern kontrolliert worden wären, hat es nie gegeben, schon gar nicht in Corte, in den siebziger Jahren sind alle Aktivisten von der Uni Nizza gekommen. Doum konnte sie nicht mehr sehen. Alle redeten sie von seinem Vater, und sein Vater erzählte ihm immer nur von ihnen. Dominique arbeitete alleine. Er arbeitete gut und ernsthaft, und er ging in diesen Jahren immer weiter auf die Linken zu, um den jungen Unabhängigkeitskämpfern, die überall rumhingen, nicht vollends in den Rücken zu fallen, um aber zugleich auch nicht wie der letzte Idiot in ihrem Windschatten zu vegetieren. Er fand keine Luft zum Atmen. »Nizza, das war im Grunde noch immer die Insel. Schön, gewiss, bis auf die Place Masséna, ich habe überhaupt nichts davon gehabt.« Als eine der Grandes Écoles ihn annahm, zog er hoch nach Paris. Paris, das war ganz etwas anderes. Er lächelte. »Ich hatte so einen korsischen Quadratschädel und Pickel, immer noch ziemlich viele – aber immerhin, ich war auch 18

schon mit Mädchen aus gewesen, ein bisschen zumindest. Ich hab es das erste Mal in Paris getan, in der Banlieue, in der Wohnung des Vaters einer Freundin. Neben dem dreckigen Geschirr in der Spüle, auf einem Feldbett, unter dem Buffet. Geile Erinnerung.« Er zuckt die Achseln. »Ich erinnere mich nicht mehr richtig. Hinterher habe ich die Teller abgewaschen, und wir haben das Besteck eingeräumt. Haushalt eben, altes Ehepaar, na du weißt schon. Jedenfalls hab ich gleich die Falle gerochen.« Ich nickte. »Dann hab ich die Studiererei mehr oder weniger aufgegeben und hab mich politisch engagiert. Ich hatte ja trotz allem schon was drauf. Ich kannte mich aus mit der Rhetorik, wusste, wie man anderen Angst einjagt, wie man die Leute mit Theorie erpressen kann. Das hab ich auch behalten, das war eine wirklich nützliche Errungenschaft. Sagen wir mal so: Damals hab ich das für den Klassenkampf eingesetzt, was ich im holzgetäfelten Salon meines Vaters gelernt hatte, oben im ersten Stock. Ach ja, die Partei, oder wie wir sagten: die Organisation. Zwei, drei Jahre meines Lebens, länger hats nicht gedauert. Ob wir daran geglaubt haben? Doch, schon. Aber weißt du, später, in den achtziger Jahren, die Organisation STAND und diese ganzen Sachen, daran haben wir nicht nur geglaubt, das haben wir gelebt, da haben wir für das gekämpft, was wir selbst waren, für unsere Existenz haben wir gekämpft, so war das. Und das ist etwas anderes. In der Organisation dagegen haben wir für Ideen gekämpft, an die wir glaubten. Aber eben Ideen, verstehst du? Nicht für unseren eigenen Körper. Ideologisch wurde die Organisation von Elias geführt. Nach Overney, seiner Ermordung, haben wir lange ge19

zögert, ob wir Gewalt anwenden sollten. Wir waren am Ende der Debatten angekommen. Elias war dafür. Daniel, der sich um die Politik kümmerte, um die konkreten Aktionen … das heißt, sofern es in diesen Jahren überhaupt irgendetwas Konkretes gab, wir schlugen uns ja alle an die Brust in unserer Feier der Praxis, bloß sind wir eben nie bis zur Praxis gelangt, also, mit einem Wort, Daniel war dagegen. Er hat dann die Partei aufgelöst, hat eine andere gegründet, aus der dann ein Club wurde, oder noch eher eine Art Verein schließlich, zwei Jahre später. Das war etwas, sagen wir mal, Traditionelleres, mit Überläufern, die dann die Mitgliederzahl der Sozialistischen Partei verstärkt haben, vor dem Sieg von 81. Und ich? Ich habe Mitterrand gewählt. Drei Jahre später wurde Elias, der Theoretiker der Befreiungsherde und des Kampfes Front gegen Front, der große Stratege der Einheit der Avantgarde … Ein Typ, der meinte, man müsste ständig darüber nachdenken, warum diejenigen, die nicht nachdenken, immer recht haben, verstehst du, die Arbeiter, und dass man sie dahin gehend erziehen müsse, dass sie uns den Weg weisen, so was nennt man dann wohl Dialektik, wir haben dabei vor allem was auf die Fresse gekriegt an den Werkstoren … Jedenfalls, was ich sagen will: Ein Typ, der dir, wenn du irgendwas sagst, Marx zitiert, der dir Lenin zitiert, wenn du Marx zitierst, Liebknecht, wenn du Lenin zitierst, Pannekoek, wenn du Liebknecht zitierst, Mandel, wenn du Pannekoek zitierst, und Mao, wenn du dann schließlich selbst Mandel zitierst – und wenn du dann Mao zitierst, dann kam er dir mit dem Arbeiter aus Billancourt … Aber wenn du selbst Arbeiter in Billancourt warst, dann stopfte er dir das Maul mit Lenin. Elias, na ja, zu dem muss ich dir nichts weiter sagen. 20

Ein Typ, vor dem ich Schiss hatte, dieser Elias. Fast schon aus Schuldgefühlen ihm gegenüber, der ganz alleine und in Personalunion das Proletariat, die Verelendung und den Antifaschismus repräsentierte, was immerhin nicht einer gewissen Ironie entbehrt beim Sohn eines Großindustriellen, der auf afrikanisches Holz spezialisiert war … Mit einem Wort: Zwei Jahre danach war er religiös geworden …« Doumé musste lachen: »Mir war damals gar nicht klar, dass er das noch nicht war … Von irgendwelchen ›Interventionen‹ mal abgesehen hat die Scheiß-Partei in Paris nie irgendwas gemacht, und ich war drei Jahre dabei. Gelernt habe ich nichts, aber die Zeit hat mir doch geholfen, für später, fürs Leben. Als sie zerbrach, sind zwei, drei Witzbolde, wir kannten sie kaum, in den Südwesten runter, um dort den Kampf weiterzuführen, und haben irgendeinen Direktor einer Handelskammer entführt, so einen Fetten aus dem Gers, der überhaupt nicht geblickt hat, was da passierte, und danach haben sie, um die ganze Aktion zu finanzieren, schließlich hatten sie ja keine müde Mark, eine Raiffeisenbank in Pau überfallen und dabei einen Bullen abgeknallt, noch nicht einmal absichtlich, danach haben sie sich anderthalb Jahre in irgendwelchen Scheunen in den oberen Pyrenäen versteckt und sind am Ende in einer Ferienwohnung geschnappt worden, weil irgendwelche Touristen sie denunziert haben. Sind immer noch im Knast, er hat Krebs, und sie ist halb wahnsinnig. Elias war orthodox geworden und kommentierte die Thora. Daniel hat einen Handel mit der PS gemacht, er hat dafür geworben, Mitterrand zu wählen, und dafür haben sie drei Posten in der nationalen Geschäftsstelle bekommen, er ist dann schließlich Staatssekretär für Tourismus und 21

Raumordnung geworden, aber nach dem Wechsel zu Fabius und zur Sparpolitik haben sie gekündigt. Später sind sie dann wieder zurückgekommen. Und ich, ich war in New York, weißt du … Na ja, so jedenfalls ist es mit der Organisation zu Ende gegangen, der Partei, der Linken, das heißt natürlich mit dieser Linken und allem, was so dranhing. Als wir damit anfingen, war es ja in Wirklichkeit ohnehin schon ein paar Jahre vorbei damit. Ach ja, und Leibo, der hat dann angefangen, seine Bücher zu schreiben, und dann ist er … aber gut, das weißt du selbst. Es laufen immer noch Petitionen um für die, die noch im Gefängnis sind, Aufrufe zur Freilassung, scheiße, ich meine, das ist jetzt ein Vierteljahrhundert … die haben sie wirklich am Arsch gekriegt … Logischerweise unterschreibe ich diese Dinger. Leibo auch, ab und zu sehe ich seinen Namen. Was soll man auch sonst tun? Damals war ich bereits weg. Ich hatte diesen Fotografen kennengelernt, weißt du … Wir sind nach New York, als es noch New York war, wenn du verstehst, was ich meine … Gott, das war eine Offenbarung, eine verfluchte Offenbarung … Es war einfach nur geil.«

3 Leibo Jean-Michel Leibowitz hätte sich, glaube ich, die Ewigkeit eines Philosophen und die Gegenwart eines Mannes der 22

Macht und des Handelns gewünscht. Er ist zwischen diesen beiden Stühlen zum Sitzen gekommen und darüber immer zutiefst unglücklich gewesen. Ich glaube, er las Tim und Struppi, ich glaube, das gefiel ihm, er hätte Journalist werden können. Und dann später hat er angefangen, Comics zu verachten … Für Zeitungen hat er trotzdem häufig geschrieben. Mit vierzehn las er Stendhal, wegen der Liebesgeschichten wie der mit Mathilde de la Mole. Er idealisierte alles. Er war Jude, und sein Vater sagte ihm immer: »Du hast einen französischen Vornamen, du bist ein Franzose, ist dir das klar, mein Junge?« Er redete nicht über das Wort »Jude«, später dann doch, aber nur wenig. Als er Spinoza las, hat Jean-Michel nichts verstanden, logisch, wie auch. Aber er verstand, dass das etwas war, das über seinen Horizont ging, und dass er sich einen weiteren würde verschaffen müssen. Die Philosophie … Ja ja, der Traum eines ganzen Lebens. Guter Schüler, doch, er war ein guter, ein sehr guter Schüler. Sie lebten in Aubervilliers, er, sein Vater und seine Mutter. Seine Eltern waren Gaullisten gewesen, später MitterrandAnhänger. Sein Vater ging früh aus dem Haus zur Arbeit, manchmal auch nachts. Er trank nicht, war nicht in der Gewerkschaft, er schimpfte auf seine Arbeiter-Kollegen, die Alkoholiker waren, er trug einen Anzug, den Blaumann zog er erst an, wenn er auf der Arbeit war. Seine Mutter wischte die Wachstuch-Tischdecke ab, er trank Kakao. Seine Mutter redete nicht viel, also las er. Wenn sein Vater nach Hause kam und seinen Mantel aufgehängt hatte, zerstrubbelte er ihm das Haar: »Ah, mein Sohn! Immer am Lesen …!« 23

Jean-Michel besuchte häufig die Stadtbibliothek, außerdem spielte er Fußball und fuhr Rad. Er mochte Malraux. Einmal hat er mir erzählt, das erste Mal, dass er masturbiert habe, sei bei der Lektüre von Madame Bovary gewesen. Soviel ich gesehen habe, hatte er einen ordentlichen Haarschnitt, aber ziemlich schwer zu bändigende Locken. Er redete viel über seine Eltern, aber wenig über seine Kindheit. Jean-Michel hat dann die Vorbereitungsklassen für die Grandes Écoles besucht. Er hat gut gearbeitet, er hat viel gearbeitet, oft nachts. Er trank Alkohol, er trug einen Trench. »Wissen Sie, die Menschen haben kein Geheimnis. Man sollte ja eigentlich glauben, sie hätten eins, aber im Grunde verbirgt ein Leben gar nichts. Im Endeffekt sieht man alles, das ist enttäuschend. Das ganze Problem besteht darin, die Leute glauben zu machen, es bliebe irgendein Geheimnis.« (Auszug aus: Fragmente einer Unvollendung, Porträts aus der Erinnerung). Wenn Sie Jean-Michel so kennen wie ich, dann werden Sie nichts Neues lernen, wenn Sie seine Geschichte entdecken. Sie werden nicken und sagen: Ach ja, genau, nichts weiter. Also, wie gesagt, Jean-Michel Leibowitz hat die KhagneKlasse auf dem Gymnasium Henri IV besucht, dank eines Stipendiums, dort hat er alle seine zukünftigen Freunde kennengelernt, seine zukünftigen Unterstützer, seinen Verleger und sogar seine Feinde; er war, glaube ich, recht brillant. Er bewunderte Abenteurer, er hat den Fußball aufgegeben, dabei sah er ein bisschen so aus wie Dominique Rocheteau, der grüne Engel von St. Etienne, sagte jedenfalls seine erste Freundin. Er studierte. 24

»Ich bin um mein Traumleben geprellt worden. Wäre ich zu dem geworden, was ich als Kind werden wollte, dann wäre ich jetzt einer der Männer, die ich heute verabscheue und die mich verabscheuen, aber die nichtsdestoweniger die Träume meiner Kindheit bevölkerten …« schreibt er in Die Zufälle einer Generation, in diesem Stil, der ebenso unnachahmlich ist wie seine Frisur. Aber es stimmt. Um die Wahrheit zu sagen, hat er doch ein klein wenig den Abenteurer gespielt. Er wurde Linker. Aber er hat nichts getan. Als Insasse der École Normale Supérieure in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre hat er seinen Platz im Kometenschweif der maoistischen Bewegung gefunden. Er rauchte nicht, trug das Haar aber lang, und Sartre war bereits nicht mehr da. Man sah ihn kaum noch. Elias leitete die Sektion des 5. Arrondissements der UPCIF. Ich weiß nicht mal mehr, was die schwachsinnigen Initialen heißen sollen. Althusser hatte bereits an Wichtigkeit verloren, er käute die immergleichen Traktate wieder und hatte im Übrigen die bekannten Probleme. Libération fing an, wichtig zu werden, mit Serge July und der ganzen ersten Mannschaft, die danach gegangen ist. Leibowitz stand Elias näher, aber später ist er ihm nicht auf das religiöse Feld gefolgt. Er hatte ein bisschen bei den Treffen, den Traktaten, den Besetzungen mitgetan. Sagen wir mal so: Er knüpfte dort Verbindungen. Fünfundzwanzig Jahre später hat er immer noch mit denselben Leuten zu tun, wenn auch in anderen Zusammenhängen. Leibowitz hat Doumé, ich meine Dominique, kennengelernt, der sich immer im Umkreis der École herumtrieb, und in der Organisation. »Ich war ein Linker wie alle.« Aber auch nicht mehr. Er lehrte in den USA, zunächst als Lektor. Bei seiner Rück25

kehr war er links, er war kein Linker mehr. Er hatte gelesen, er hatte sich umgesehen, er hatte die jüdische Linke New Yorks kennengelernt, außerdem hatte er verstanden, dass der Kommunismus niemals in der Lage sein würde, diese Realitäten mitzudenken, diese Zugehörigkeit zu etwas anderem als der Gesellschaft, nämlich zu Religionen, Nationen, Gemeinschaften … Das war sein Gedanke. Außerdem hatte er Sara kennengelernt. 1980 haben sie geheiratet. Das erste Mal, dass er im Fernsehen auftrat, war Ende der Siebziger und nur, weil weder Deleuze noch Lévi-Strauss noch Vidal-Naquet in die Sendung wollten, die Großen dieser Zeit, es ging um Literatur, will sagen, das Studio war mit Buchregalen dekoriert, man diskutierte über Solschenizyn und den Totalitarismus. Er war Philosoph. Seine Doktorarbeit hat er nie beendet. Schnell hat er angefangen, zu schreiben und zu lehren. Er hatte dieses kleine Buch geschrieben Die Hydra an der Macht. Noch zeigte er sich sehr kritisch gegenüber den Dissidenten aus dem Osten. Es genügt nicht, gegen die konzentrierte Macht der sogenannten »kommunistischen« Gesellschaften zu kämpfen, die im Grunde nichts anderes praktizieren als einen totalitären Kapitalismus, man muss auch die diffuse Macht der sogenannten freiheitlichen Gesellschaften anprangern. Das ist nämlich eine unsichtbare Macht, die uns Tag für Tag umgibt, eine individualisierte Macht, die sich in uns auch über die traditionellen familiären, ökonomischen, sozialen Strukturen hinaus verkörpert, und zwar ganz buchstäblich: die von unserem Körper Besitz nimmt, die sich personalisiert und Fetischcharakter annimmt, mit Hilfe der Werbung, der Ideologie, innerhalb der gesamten Kultur. Der Kampf muss also 26

gegen die institutionalisierte kulturelle Klassenmacht geführt werden – und so weiter und so fort mit all dem notwendigen rhetorischen Brimborium. Das Pamphlet ist nicht wiederveröffentlicht worden. Blöd war es nicht, es passte in die Zeit. Damals. An diesem Abend hat er sich zu mir umgedreht, ich erwähnte ihm gegenüber das Buch, um seine Reaktion zu sehen, er räusperte sich, hob die Brauen, rückte sich die Brille zurecht. Er hatte so eine Art, einem Schuldgefühle zu suggerieren, wenn er im Unrecht war, immer darauf zu setzen, noch im Unrecht Recht zu behalten. »Ich hatte schon recht, man musste nur wissen, sich auf die richtige Art zu täuschen, damals … Ich bin immer der Meister des Antäuschens gewesen, weißt du. Wenn ich beim Fußball einen Elfmeter schießen sollte, dachte ich, der Torhüter springt nach links, also muss ich nach rechts schießen. Dann dachte ich, dass der Torhüter aber ahnen würde, dass ich vorhatte, nach rechts zu schießen, und ich darum nach links schießen müsste. Aber falls er dachte, dass ich antäuschen würde, dann musste ich das Antäuschen noch mal vortäuschen, das heißt genau dahin schießen, wo er es erwartete. Ich schoss also nach rechts, aber dahinter steckten eben diese ganzen Überlegungen, kapierst du das?« »Und, hat er den Ball gehalten?« »Wer?« »Na, der Torhüter.« »Ach so. Keine Ahnung mehr.« »Ah …« »Ich habe das Leben immer auf dem falschen Fuß erwischt, Liz, und zur falschen Zeit … Aber man muss gegen 27

seine Zeit sein, verstehst du, und innerhalb seiner eigenen Zeit.« Wie man sieht, war er ein Intellektueller. Aber genauso war er, Jean-Michel Leibowitz, Leibo, der Leib.

4 Ich Und ich? Also, ich heiße Elizabeth Levallois. Ich bin die Freundin von Willie, die Kollegin von Doumé, die Geliebte von Leibo. Ich bin dreiunddreißig und Journalistin. Ich habe ein längliches Gesicht, ziemlich hübsch, glaube ich. Großen Medikamentenverbrauch. Fashion-Victim, aber bewusst. Vermutlich könnte man sagen, ich sei ein Arschloch, und neunzig Prozent der Bevölkerung würden, wenn sie mich kennen würden, nur pfff machen, na und, noch so eine. In diesen Fragen hat niemand recht und niemand unrecht. Ich bin so etwas wie die typische Pariserin, schöne Wohnung, nicht reich, aber erst recht nicht arm, und links, weil ich nicht illusionslos genug bin, um zynisch zu werden. Gute Familie, keine Ehe. Gut geschnittenes Jackett, Spaß an Klamotten, eine gewisse Gabe für Höflichkeit zum richtigen Zeitpunkt. Ich besitze eine gute Bildung. Einen Vater im Verlagswesen, eine Mutter, na ja, so ein bisschen eine Abenteurerin, mit einem leichten HippieAnstrich, Sängerin von Zeit zu Zeit. Und fortgegangen. Dafür eine Stiefmutter, ja ja. Der Vater natürlich die Krätze, einfach too much. Einer, der sich auskennt, Schauspieler, 28