Lebendige Erkenntnis und ihre literarische Kommunikation

Robert Musil im Kontext der. Lebensphilosophie ... Robert Musil und die Lebensphilosophie . .... III. Forschungsstand und Untersuchungsmethodik . . . . . . 281. 1.
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ISBN 978-3-89785-120-7

EXPLICATIO

Die Untersuchung versteht sich als Beitrag zu der in der Literaturwissenschaft, Philosophie und Wissenschaftsgeschichte geführten Debatte um die Darstellungsformen von Wissen bzw. das »Wissen der Literatur«, geht jedoch in zweifacher Hinsicht über diese hinaus. Zum einen zeigt sie, wie und warum die Forderung nach einer gegenüber wissenschaftlicher Erkenntnis alternativen, literarisch vermittelten Erkenntnis in einer bestimmten geistes- und kulturgeschichtlichen Konstellation virulent wird: in der Lebens- bzw. Weltanschauungsphilosophie von 1870 bis 1930 sowie im Werk Robert Musils. Zum anderen nimmt die Studie eine Akzentverlagerung vor. Im Mittelpunkt steht nicht die oft mit unbefriedigenden Ergebnissen diskutierte Frage, ob Literatur generell, sondern unter welchen konkreten Umständen ein bestimmtes literarisches Werk Wissen vermittelt. Die nicht zuletzt mithilfe von Begrifflichkeiten und Einsichten der Analytischen Erkenntnistheorie formulierten Bedingungen, unter denen dies der Fall ist, ermöglichen schließlich exemplarische Analysen von Musils schriftstellerischen Versuchen, eine »lebendige Erkenntnis« zu kommunizieren. 

Gittel· LEBENDIGE ERKENNTNIS UND IHRE LITERARISCHE KOMMUNIKATION

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Benjamin Gittel

LEBENDIGE ERKENNTNIS UND IHRE LITERARISCHE KOMMUNIKATION Robert Musil im Kontext der Lebensphilosophie

Gittel · Lebendige Erkenntnis und ihre literarische Kommunikation

EXPLICATIO Analytische Studien zur Literatur und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Gottfried Gabriel und Rüdiger Zymner Begründet von Harald Fricke und Gottfried Gabriel

Benjamin Gittel

Lebendige Erkenntnis und ihre literarische Kommunikation Robert Musil im Kontext der Lebensphilosophie

mentis MÜNSTER

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

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Aber wir wollen nicht leugnen, daß die lebenswertesten Augenblicke die sind, wo das, was wir tun, von irgendeinem heimlichen, aber über uns hinausgehenden, in die Weite des Allgemeinen tragenden Gedanken belebt wird. [. . .] Mir ist es eigentlich gleichgültig, was ich erzähle und wen ich beschreibe; ich will dem nur das Maximum geistigen Lebens mitgeben, das ich erreichen kann. Robert Musil

Inhaltsverzeichnis

Allgemeine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

HISTORISCHE KONZEPTIONEN LEBENDIGER ERKENNTNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

I 1. 2. 3.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Epistemologie und Untersuchungsmethodik . . . Zum Begriff »Lebensphilosophie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robert Musil und die Lebensphilosophie . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 20 28

II 1.

Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissensschaftskritik in und im Umkreis der Tragödienschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generalisierte Wissenschaftskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik der historischen Wissenschaften und Historismus . . . Programmatik und Praxis einer alternativen Erkenntnis in der Tragödienschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Programmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Charakteristika lebendiger Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

A

1.1 1.2 2. 2.1 2.2 3. III 1. 1.1 1.2 1.3 2. 3. 4.

Henri Bergson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erkenntnis der »durée« als paradigmatischer Fall von »intuition« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Habituelle Fehlinterpretation als Erkenntnisbarriere . . . . . . . Die Kommunikation intuitiver Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . Gratifikationserwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis von empirischer Wissenschaft und intuitionistischer Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik der Speziellen Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33 33 36 43 43 47 59 62 62 63 67 71 74 77 81

8

IV 1. 2. 3. 4. V 1. 1.1 1.2

Inhaltsverzeichnis

Wilhelm Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leben, Erleben und Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur als Medium lebendiger Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis von geisteswissenschaftlicher und lebendiger Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83 84 86 91 97

3.

Ludwig Klages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die »Ausdruckskunde« – Wissen über Fremdpsychisches . . . Die Reduktion von Interpretationsmöglichkeiten . . . . . . . . . Die intersubjektive Gültigkeit des »instinktiven Werturteils« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkenntnistheoretisch-metaphysische Hintergrundannahmen und generalisierende Wissenschaftskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109 116

VI 1. 2. 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 4. 5.

Oswald Spengler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines zur Darstellungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Programmatik der morphologischen Methode . . . . . . . . Abgrenzung von den Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung von der Geschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . . Das morphologische Verfahren in der Praxis . . . . . . . . . . . . . Universelle Symbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das organische Entwicklungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epistemische Krise und historischer Relativismus . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118 119 121 121 125 128 130 133 138 146

VII Robert Musil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zwei Begründungsfiguren lebendiger Erkenntnis . . . . . . . . . 2.1 Eingängigkeit und Unverständlichkeit der »Skizze der Erkenntnis des Dichters« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die quasi-ontologische Fundierung lebendiger Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die bedeutungstheoretische Fundierung lebendiger Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kontrastierung mit affinen Vorstellungen Musils . . . . . . . . . 3.1 Semantischer Holismus und Verstehen als Gestaltbildung . . . 3.2 Der »andere Zustand« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

148 148 153

2.

98 99 102 104

153 157 168 174 174 177

Inhaltsverzeichnis

4. 4.1 4.2 5.

Emotionstheoretische und (meta-)ethische Einordnung . . . . Emotionstheoretische Kategorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . (Meta-)ethische Kategorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

183 185 187 195

VIII Lebendige Erkenntnis als Antwort auf die epistemische Situation als Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Rekonstruktionssprache: Problem und Lösung . . . . . . . 2. Geteilte Problemfelder, unterschiedliche aktuale Probleme und Lösungsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Komplexität und die evidentielle Funktion des Erlebnisses . . 2.2 Orientierung und Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Individualität und die Rezeption lebendiger Erkenntnisansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Legitimation als Problem zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . 2.5 Epistemische Opazität und »Ideen«-Komplexität . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235 251 254 265

IX

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269

B

DIE LITERARISCHE KOMMUNIKATION LEBENDIGER ERKENNTNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273

I

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

II

Wissen-in-Literatur und Wissen-aus-Literatur . . . . . . .

277

III 1.

Forschungsstand und Untersuchungsmethodik . . . . . . Die Notwendigkeit einer Begriffsexplikation von »Wissen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einwände gegen Wissen-aus-Literatur, fiktionale Literatur als Kernproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Argumente für Wissen-aus-Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Argumente für nicht-propositionales Wissen-ausLiteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Argumente für propositionales Wissen-aus-Literatur . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der methodische Ansatz: hermeneutische Szenarien . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

2. 3. 3.1 3.2 3.3 4. 5.

198 201 204 204 210

281 287 292 292 302 316 318 322

10

IV 1.

1.1 1.2 1.3 2. 3. V

Inhaltsverzeichnis

Wissen-aus-Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Begriffsexplikation von »Wissen« unter besonderer Berücksichtigung der Pragmatik von Wissenszuschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gebrauchskontext des Explikandums . . . . . . . . . . . . . . Der prospektive Anwendungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adäquatheitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Explikation von »Wissen-aus-Literatur« . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Exkurs zu Wissen-aus-Literatur in historischen epistemischen Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . .

323

323 323 324 325 347 350

3. 3.1 3.2 4. 4.1 4.2 4.3 5.

Wissen aus fiktionalen literarischen Werken Robert Musils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Typologie des Wissenserwerbs anhand von Literatur . . Das Verfahren zur Anwendung der Explikation von »Wissen-aus-Literatur« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissensvermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genuiner Wissenstransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorkompetenzunabhängige Wissensvermittlung . . . . . . . . Wissenseröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicht-intendierter Wissenstransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symptomatologische Wissenseröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . Gedankenexperimentelle Wissenseröffnung . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

357 359 359 370 393 393 397 409 420

VI

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

422

C

SCHLUSS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

427

I

Lebendige Erkenntnis als Gegenbewegung . . . . . . . . . .

428

II

Die historische Niederlage lebendiger Erkenntnis als Untersuchungsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

431

Aktualitätsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

436

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

441 441 442

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

494

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

495

1. 2.

III

354 354

Allgemeine Einleitung

Wissenschaftskritik hat eine Tradition, die so alt ist wie die Wissenschaft selbst. Dies betrifft sowohl die Kritik an der Möglichkeit und Zuverlässigkeit von Wissenschaft als auch die Kritik an ihrer Reichweite und Fruchtbarkeit. 1 Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nimmt die Unzufriedenheit mit Wissenschaft unter den beiden zuletzt genannten Gesichtspunkten allerdings eine singuläre Form an: Virulent werden in verschiedensten Disziplinen und Theoriefeldern – der Altphilologie, Hermeneutik, Historiographie, Philosophie, Psychologie und Poetologie 2 – Konzeptionen einer gegenüber wissenschaftlicher Erkenntnis alternativen Erkenntnisform, die sich terminologisch unter dem Oberbegriff »lebendige Erkenntnis« fassen lässt. Lebendige Erkenntnis kann in erster Annäherung als eine Erkenntnis begriffen werden, die erstens lebendig macht, d. h. die, ohne in einem praktischen Sinn instrumentell nützlich oder verwertbar zu sein, lebensweltlich relevant ist, und zweitens selbst lebendig ist, d. h. in dem Sinne ›sterben‹ kann, dass sie ihren Erkenntnisstatus für das (vormalige) Erkenntnissubjekt verliert. Eine bedeutende Rolle spielt in diesem Diskurs die Vorstellung, Literatur als das gegenüber der Wissenschaft ›ganz Andere‹ könne diese spezifische Erkenntnis bzw. dieses Wissen – diese beiden Begriffe werden hier wie im Folgenden austauschbar verwendet – kommunizieren. Die vorliegende Untersuchung widmet sich diesem Phänomen in historischer und systematischer Perspektive. Zum einen untersucht sie anhand von theoretischen Texten Robert Musils und ausgewählten Werken prominenter Vertreter der Lebensphilosophie, der breitenwirksamsten geistigen Strömung seiner Zeit, wie solche alternativen Erkenntniskonzeptionen beschaffen sind, worin sie sich ähneln und unterscheiden, in welchen Kontexten sie entstehen und auf welche Probleme sie antworten sowie mit welchen Darstellungs- und Argumentationsverfahren dem Anspruch Rechnung getragen wird, inhaltlich-konkrete Instanzen einer lebendigen Erkenntnis zu kommunizieren. Zum anderen werden Musils schriftstellerische Versuche, eine lebendige Erkenntnis literarisch zu vermitteln, vor dem Hintergrund 1 2

Vgl. Anacker 2004, 963. Ich verwende den Begriff »Poetologie« für die theoretische Auseinandersetzung von Schriftstellern mit dem Wesen der Dichtung bzw. Literatur, ihren Gattungen und ihrer Funktion. Diese etymologisch anfechtbare Verwendungsweise ist in der Forschung wohl auch deshalb weitverbreitet, da der alternative Begriff »Poetik«, insbesondere aber das Adjektiv »poetisch«, äquivok ist und in diesem Zusammenhang zu Missverständnissen Anlass gibt.

12

Allgemeine Einleitung

der in Literaturwissenschaft, Philosophie und Wissenschaftshistoriographie geführten Debatte um die Darstellungsformen von Wissen und das ›Wissen der Literatur‹ in exemplarischer Absicht untersucht. Im Mittelpunkt steht dabei die systematisch bedeutsame Frage, ob sich anhand fiktionaler Literatur Wissen erwerben lässt oder, mit anderen Worten, ob fiktionale Literatur eine Quelle von Wissen ist. Entsprechend diesen beiden Erkenntnisinteressen umfasst die aus sachlogischen Gründen interdisziplinär angelegte Untersuchung zwei Hauptteile, den Teil A »Historische Konzeptionen lebendiger Erkenntnis« und den Teil B »Die literarische Kommunikation lebendiger Erkenntnis«. Der erste Teil besteht aus sechs Fallstudien zu Vertretern der Lebensphilosophie und zu Robert Musil, die die jeweiligen Konzeptionen lebendiger Erkenntnis in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden sukzessiv entfalten, sowie einem Schlussteil, der die Fallstudien sowohl aufeinander als auch auf die historische epistemische Situation mit ihren Problemlagen bezieht. Im zweiten Hauptteil werden, ausgehend von einer Unterscheidung zwischen Wissen-in-Literatur und Wissen-aus-Literatur, zunächst die Argumente für und gegen Literatur als Wissensquelle systematisiert und diskutiert. Im Anschluss wird expliziert, unter welchen konkreten Bedingungen ein bestimmtes fiktionales literarisches Werk eine Quelle von Wissen ist. Die vorgeschlagene Explikation wird schließlich in der Anwendung erprobt, indem ausgewählte fiktionale Werke Musils jeweils daraufhin untersucht werden, ob und, wenn ja, aufgrund welcher Mechanismen sich anhand von ihnen ein bestimmtes Wissen erwerben lässt. Jedem Hauptteil ist eine eigene, das Vorgehen im Einzelnen erläuternde Einleitung vorangestellt. Ein synthetischer Schlussteil reperspektiviert wesentliche Untersuchungsergebnisse, indem er Phänomen und Typus lebendiger Erkenntnis in historisch-epistemologischen Makroentwicklungen verortet und sie auf ihre Relevanz für Gesellschaft und Literaturvermittlung in der Gegenwart befragt.

A HISTORISCHE KONZEPTIONEN LEBENDIGER ERKENNTNIS