Leben: Verblüffende Erfindungen der Evolution - AWS

verstecken sich in verworrenen Korallen, riesige Monster lauern in schwarzen Tiefen, Bäume ragen in den Himmel, Tiere surren, trampeln und sehen. Und mittendrin wir – ergriffen von den un- gelösten Rätseln dieser Schöpfung. Wir, die wir kosmische Zu- sammenballungen von Molekülen sind, die fühlen und denken.
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Nick Lane

Leben Verblüffende Erfindungen der Evolution Aus dem Englischen von Ilona Hauser 2. Auflage

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Life Ascending. The Ten Great Inventions of Evolution. bei Profile Books Ltd., London, UK. Copyright © Nick Lane 2009, 2010 Copyright der Übersetzung © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Konrad Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG. 2. Auflage 2015 © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth Einbandabbildung: © picture-alliance/Bildagentur-online/Wildlife/Chromorange Einbandgestaltung: Christian Hahn, Frankfurt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3147-2 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-3170-0 eBook (epub): 978-3-8062-3171-7

Inhalt

Einleitung

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1

Die Entstehung des Lebens

16

2

DNA

47

3

Photosynthese

77

4

Die komplexe Zelle

109

5

Sex

143

6

Bewegung

174

7

Sehen

205

8

Warmblütigkeit

242

9

Bewusstsein

274

Tod

307

Epilog

339

Danksagung

341

Anmerkungen

344

Literaturverzeichnis

356

Bildnachweis

363

Register

364

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Für meine Mutter und meinen Vater Nun, da ich selbst Vater bin, weiß ich mehr denn je zu schätzen, was Ihr für mich getan habt

Einleitung Verblüffende Erfindungen der Evolution

Verglichen mit der alles verzehrenden Dunkelheit des Weltalls ist die Erde ein betörend schöner blau-grüner Ball. Bis zum heutigen Tag haben gerade einmal zwei Dutzend Menschen das Gefühl erlebt, wie es ist, unseren Planeten vom Mond oder anderswo vom All aus zu betrachten. Die fragile Schönheit der Fotos, die sie nach Hause geschickt haben, hat sich dagegen in das Gedächtnis einer ganzen Generation eingeprägt. Sie ist mit nichts anderem vergleichbar. Der unbedeutende Mensch zankt sich um Grenzen, Öl und Glaubensfragen und vergisst dabei, dass diese lebende Murmel, umgeben von unendlicher Leere, unser gemeinsames Zuhause ist. Mehr noch – ein Zuhause, mit dem wir die wundervollsten Erfindungen des Lebens teilen und dem wir sie zu verdanken haben. Das Leben war es, das unseren Planeten von einem ramponierten, feurigen Gesteinsbrocken, der einst um einen jungen Stern kreiste, in das Leuchtfeuer verwandelte, das unsere Erde vom All aus gesehen ist. Das Leben war es, das unseren Planeten blau und grün färbte, als winzige photosynthetisierende Bakterien Luft und Meere reinigten und mit Sauerstoff anreicherten. Angetrieben von dieser neuen und starken Energiequelle, brach das Leben hervor. Blumen blühen und verlocken, flinke Fische verstecken sich in verworrenen Korallen, riesige Monster lauern in schwarzen Tiefen, Bäume ragen in den Himmel, Tiere surren, trampeln und sehen. Und mittendrin wir – ergriffen von den ungelösten Rätseln dieser Schöpfung. Wir, die wir kosmische Zusammenballungen von Molekülen sind, die fühlen und denken und staunen und sich darüber wundern, wie sie hierhergekommen sind.

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Leben – Verblüffende Erfindungen der Evolution

Zum ersten Mal in der Geschichte unseres Planeten sind wir uns bewusst. Doch dies ist kein immer dagewesenes Bewusstsein, keine in Stein gemeißelte Wahrheit. Es sind die Früchte, die das größte Bestreben der Menschheit trägt, nämlich die lebende Welt um uns herum und in uns selbst zu erkennen und zu begreifen. Seit Darwins berühmtes Werk Über die Entstehung der Arten vor 150 Jahren veröffentlicht wurde, verstehen wir das Leben in seinen Grundzügen. Seitdem wird unser Wissen über die Geschichte des Lebens nicht nur durch Fossilien untermauert, die Zeitlücken ausfüllen, sondern auch durch das Verständnis der inneren Genstruktur, die jede Masche in dem bunten Bilderteppich des Lebens erkennbar macht. Und dennoch haben wir erst in den letzten Jahrzehnten den entscheidenden Schritt von einem theoretischen, abstrakten Wissen hin zu einem lebhaften und detaillierten Verständnisbild gemacht. Die Geschichte des Lebens ist in einer Sprache geschrieben, die wir gerade erst beginnen zu übersetzen und die nicht nur der Schlüssel zu unserer heutigen Welt ist, sondern ebenso zu unserer entferntesten Vergangenheit. Die Geschichte, die sich entfaltet, ist dramatischer, überwältigender und verworrener als jeder Schöpfungsmythos, obwohl sie, wie auch alle Schöpfungsmythen, von Veränderungen handelt, von plötzlichen und spektakulären Umwandlungen, bahnbrechenden Erfindungen, die unseren Planeten umgestalteten, und von vergangenen Umstürzen, die wiederum von immer komplexer werdenden Neuerungen verdrängt wurden. Die friedvolle Schönheit unseres Planeten aus dem All täuscht über seine wahre Geschichte hinweg, die geprägt ist durch Überlebenskampf, Erfindungsreichtum und Veränderung. Ironischerweise spiegeln unsere eigenen kleinen Kämpfe die turbulente Vergangenheit unseres Planeten wider. Darüber hinaus sind wir, die Plünderer der Erde, die Einzigen, die sich über sie erheben und die wundervolle Einheit des Ganzen sehen können. Größtenteils wurde dieser Umbruch unseres Planeten durch zwei Handvoll evolutionärer Neuerungen in Gang gebracht – Erfindungen, die die Welt veränderten und die unser eigenes Leben letztendlich erst möglich machten. Ich muss zunächst erläutern, was ich mit »Erfindungen« meine, denn ich möchte nicht die Existenz eines bewussten Erfinders voraussetzen. Das Oxford English Dictionary definiert Erfindung als »ursprüngliche Hervorbringung oder Erzeugung einer neuen Methode oder Möglichkeit,

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etwas bislang Unbekanntes zu tun; Entstehung, Neuerung«. Evolution ist nicht vorausschauend und plant nicht für die Zukunft. Es gibt keinen Erfinder, keinen intelligenten Entwurf. Ungeachtet dessen unterziehen sich alle Merkmale den anspruchsvollsten Tests der natürlichen Selektion und die besten Entwürfe gewinnen. Es ist ein natürliches Labor, in dem von Generation zu Generation Billionen winziger Unterschiede gleichzeitig eingehend geprüft werden. Das Theater, das der Mensch auf Erden veranstaltet, wirkt dagegen niedlich. Entwürfe umgeben uns überall. Sie sind Produkte zufälliger und dennoch ausgeklügelter Prozesse. Evolutionsbiologen sprechen häufig einfach von Erfindungen und es gibt tatsächlich kein besseres Wort, um die erstaunliche Kreativität der Natur auszudrücken. Das gemeinsame Ziel der Wissenschaftler ist es, Erkenntnis darüber zu gewinnen, wie alles begann und sich entwickelte – unabhängig von religiösen Glaubensfragen –, zusammen mit jedem, der herausfinden möchte, wie wir bis hierhin gekommen sind. Dieses Buch handelt von den größten Erfindungen der Evolution und erklärt, wie diese das Leben auf der Welt veränderten. Darüber hinaus erzählt es davon, wie wir Menschen gelernt haben, diese Geschichte zu lesen – und das mit einem Scharfsinn, der es mit dem der Natur aufnehmen kann. Wir feiern den großartigen Einfallsreichtum, den das Leben und wir selbst entwickelt haben. Es beschreibt die lange Geschichte, wie wir hierhergekommen sind – die Meilensteine auf der epischen Reise von der Entstehung des Lebens bis hin zu unserem eigenen Leben und Tod. Es ist ein umfangreiches Buch. Wir müssen einen großen Bogen spannen vom ursprünglichen Leben in Tiefseeschloten bis hin zum menschlichen Bewusstsein, von winzigen Bakterien zu riesigen Dinosauriern. Wir müssen auch zwischen den unterschiedlichen Wissenschaften einen Bogen spannen – von Geologie und Chemie zum Neuro-Imaging, von der Quantenphysik zur Astronomie. Und wir müssen uns den langen Weg der menschlichen Errungenschaften vor Augen führen – von den meistgefeierten Wissenschaftlern der Geschichte bis hin zu bislang kaum bekannten Forschern, die möglicherweise eines Tages dazu bestimmt sind, ebenso berühmt zu werden. Meine Liste der Erfindungen ist selbstverständlich subjektiv und hätte auch anders aussehen können. Ich habe jedoch vier Kriterien angewendet, von denen ich denke, dass sie die Auswahl auf

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einige wenige grundlegende Ereignisse in der Geschichte des Lebens beschränken. Das erste Kriterium ist, dass die Erfindung das Leben auf der Erde und damit auch den Planeten selbst revolutioniert haben muss. Ich erwähnte bereits die Photosynthese, die die Erde in den aufgeladenen, sauerstoffreichen Planeten verwandelte, den wir kennen und ohne den Tiere nicht existieren könnten. Andere Entwicklungen sind weniger offensichtlich, aber dennoch genauso einschneidend. Zwei Erfindungen mit den größtmöglichen Konsequenzen sind die Bewegung, die den Tieren erlaubte, auf der Suche nach Nahrung umherzustreifen, und das Sehen, das den Charakter und das Verhalten aller Lebewesen veränderte. Es kann gut sein, dass die rasche Entwicklung von Augen vor etwa 540 Millionen Jahren einen wesentlichen Beitrag für das plötzliche Auftreten von »richtigen« Tieren im Fossilbericht leistete, das als Kambrische Explosion bekannt ist. Die weltbewegenden Auswirkungen jeder dieser Erfindungen werde ich in der jeweiligen Einleitung des entsprechenden Kapitels erörtern. Mein zweites Kriterium ist, dass die Erfindung auch heute noch von außerordentlicher Wichtigkeit sein muss. Die besten Beispiele hierfür sind Sex und Tod. Sex wird als die ultimative existenzielle Absurdität bezeichnet. Wir ignorieren an dieser Stelle die Bedeutung von verworrenen geistigen Haltungen im Kama Sutra, von Angst bis zur Ekstase, sondern richten unseren Blick ausschließlich auf die eigentümlichen Mechanismen beim Sex zwischen Zellen. Warum so viele Lebewesen, sogar Pflanzen, sich dem Sex hingeben, während sie auch weiterhin stillschweigend Kopien von sich klonen könnten, ist ein Rätsel, dessen Auflösung wir sehr nahe sind. Aber wenn Sex die ultimative existenzielle Absurdität ist, dann muss der Tod die ultimative nichtexistenzielle Absurdität sein. Warum werden wir alt und sterben und erleiden auf dem Weg zum Tod die schmerzhaftesten und grauenvollsten Krankheiten? Diese heutige größte Sorge wird nicht von der Thermodynamik gesteuert oder durch die Gesetze von wachsendem Chaos und Verfall. Denn nicht alles, was lebt, altert und sogar die, die altern, können den Schalter umlegen und diesen Prozess stoppen. Wir werden sehen, dass Evolution die Lebensspanne von Tieren immer wieder um eine Größenordnung erweitert hat. Die Anti-Aging-Pille ist kein Mythos.

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Das dritte Kriterium besagt, dass die Erfindung das direkte Ergebnis der Evolution durch natürliche Selektion sein muss, im Gegensatz beispielsweise zur kulturellen Evolution. Ich bin Biochemiker und habe nichts Originelles zum Thema Sprache und Gesellschaft beizutragen. Die Grundlage für alles, was wir Menschen erreicht haben, ist unser Bewusstsein. Jegliche Form von gemeinsamer Sprache oder Gesellschaft wird auch von gemeinsamen Werten, Vorstellungen oder Gefühlen unterstützt – wortlose Gefühle wie Liebe, Freude, Trauer, Angst, Sehnsucht, Hoffnung, Glaube. Wenn der menschliche Verstand sich nach und nach entwickelte, müssen wir erklären können, wie Nerven, die im Gehirn umherschießen, die Sinnesempfindung des nicht-körperlichen Geistes und die subjektive Intensität von Gefühlen entstehen lassen. Für mich ist dies ein biologisches Problem, wenn auch ein leidiges, wie ich in Kapitel 9 zu erklären versuche. Das Bewusstsein gehört also zu den großen Erfindungen, Sprache und Gesellschaft dagegen nicht, da sie vielmehr die Ergebnisse der kulturellen Evolution sind. Mein letztes Kriterium ist ein gewisser Symbolcharakter der Erfindung. Die vermeintliche Perfektion des Auges stellt eine Herausforderung dar, der sich schon Darwin stellen musste – wie viele Wissenschaftler vor und nach ihm. Aber der explosionsartige Fortschritt der Genetik in den letzten zehn Jahren führte zu einer neuen Erkenntnis, einer unerwarteten Herkunft. Die spiralförmige Doppelhelix der DNA ist das wichtigste Symbol unseres Informationszeitalters. Die Entwicklung komplexer Zellen – der eukaryotischen Zelle – ist ein weiterer Gegenstand mit Symbolcharakter, auch, wenn sie Wissenschaftlern besser bekannt sein dürfte als der laienhaften Öffentlichkeit. Dieser Meilenstein der Evolution wurde in den letzten 40 Jahren unter Evolutionsbiologen heiß diskutiert und ist von entscheidender Wichtigkeit für die Antwort auf die Frage, wie weit komplexes Leben im Universum verbreitet sein könnte. Jedes Kapitel behandelt in gewisser Weise Sinnbilder wie dieses. Anfangs diskutierte ich meine Liste mit einem Freund, der vorschlug, den Darm anstelle der Bewegung als Sinnbild für die Tierwelt zu nehmen. Diese Idee hat jedoch eine entscheidende Schwachstelle, um Symbolcharakter zu erlangen: In meinen Augen ist letzten Endes die Muskelkraft symbolisch – denken wir nur an das Wunder der Flugfähigkeit. Ohne die Kraft der Bewegung verhält sich der Darm jedoch wie eine Seescheide,

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eine hin und her schwingende Säule aus Eingeweiden, die am Stein festgewachsen ist – dies hat nicht wirklich Symbolcharakter. Neben diesen eher formellen Kriterien musste jede Erfindung meinen eigenen Forschergeist beflügeln. Dies waren die Erfindungen, die ich, als ein leidenschaftlich neugieriger Mensch, unbedingt verstehen wollte. Manche davon habe ich bereits vorher genannt und möchte sie später noch im weiteren Zusammenhang behandeln; andere, wie die DNA, werden zum tödlichen Verhängnis für jeden wissbegierigen Geist. Die Lösung dieses Rätsels, die tief in der DNA-Struktur begraben ist, ist eine der größten wissenschaftlichen Detektivgeschichten der letzten 50 Jahre, die von Wissenschaftlern bis heute nicht aufgeklärt werden konnte. Ich kann nur hoffen, dass ich erreicht habe, ein wenig von diesem Jagdfieber zu vermitteln, das in mir brennt. Warmblütigkeit ist ein weiteres Beispiel für einen Wissenschaftszweig voller wilder Kontroversen. Es herrscht bislang noch wenig Einigkeit darüber, ob Dinosaurier aktive warmblütige Killer waren oder riesige faule Echsen, ob die warmblütigen Vögel sich direkt aus engen Verwandten des T. rex entwickelten oder überhaupt nichts mit Dinosauriern zu tun haben. Welche bessere Gelegenheit habe ich, als hier die Beweisstücke selber zusammenzutragen? Nun haben wir eine Liste. Wir beginnen mit der Entstehung des Lebens an sich und enden mit unserem eigenen Tod und der Aussicht auf Unsterblichkeit und beziehen uns dabei auf solche Säulen wie DNA, Photosynthese, komplexe Zellen, Sex, Bewegung, Sehen, Warmblütigkeit und Bewusstsein. Aber bevor wir beginnen, muss ich etwas über das Leitmotiv dieser Einleitung sagen: die neuen »Sprachen«, die solche Einblicke in die Tiefen der Evolutionsgeschichte überhaupt ermöglichen. Bis vor Kurzem gab es zwei breite Wege, die in die Vergangenheit führten: Fossilien und Gene. Beide haben eine enorme Kraft, der Geschichte Leben einzuhauchen, und dennoch hat jeder seinen Schönheitsfehler. Von den vermeintlichen »Lücken« im Fossilbericht haben wir oft genug gehört und viele wurden mühselig in 150 Jahren gefüllt, seit Darwin sich über sie Gedanken gemacht hatte. Das Problem ist, dass Fossilien aufgrund der bestimmten Bedingungen, die für ihre Erhaltung gegeben sein müssen, die Vergangenheit nicht unverfälscht abbilden können und dies auch nicht tun. Die Tatsache, dass wir über sie so viele Erkenntnisse gewinnen können, ist daher erstaunlich. Ebenso er-

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möglicht uns der Vergleich von Gensequenzen genetische Stammbäume zu erstellen, die genau offenbaren, wie wir mit anderen Organismen verwandt sind. Bedauerlicherweise sind Gene letzten Endes ab dem Punkt nicht mehr miteinander vergleichbar, ab dem sie keine Gemeinsamkeiten mehr aufweisen. Ab einem bestimmten Punkt wird die Vergangenheit, die mithilfe von Genen entziffert wird, also unleserlich. Aber es gibt gute Methoden, die über Gene und Fossilien hinausgehen, die weit zurückreichen in die tiefste Vergangenheit und dieses Buch ist zu einem Teil eine Verneigung vor ihrer Scharfsinnigkeit. Lassen Sie mich ein einziges Beispiel nennen, eines meiner meistfavorisierten, das bislang keine Gelegenheit hatte, in einem Buch angemessen erwähnt zu werden. Es betrifft ein Enzym (ein Protein, das eine chemische Reaktion katalysiert), das so bedeutend für das Leben ist, dass es in allen lebenden Organismen zu finden ist, von Bakterien bis hin zum Menschen. Dieses Enzym wurde in zwei verschiedenen Bakterienarten verglichen – eine, die in sehr heißen hydrothermalen Quellen lebt, die andere in der kalten Antarktis. Die Gensequenzen, die diese Enzyme codieren, sind unterschiedlich; sie sind so weit voneinander abgewichen, dass sie heute völlig verschieden sind. Wir wissen, dass die beiden Enzyme von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen, da wir eine Vielzahl von Zwischenstadien in Bakterien, die unter gemäßigteren Bedingungen leben, erkennen können. Über ihre Gensequenzen bleibt jedoch nicht viel mehr zu sagen. Sicherlich veränderten sie sich, weil die Lebensbedingungen der Bakterien so unterschiedlich sind, aber dies ist abstraktes, theoretisches Wissen, trocken und zweidimensional. Aber richten wir unseren Blick auf die Molekülstruktur dieser beiden Enzyme, die wir mithilfe von Röntgenstrahlen und den einzigartigen Möglichkeiten, die die Kristallographie uns bietet, entschlüsseln können. Die beiden Strukturen sind deckungsgleich, so gleichartig, dass jede Falte und Spalte, jede Nische und jeder Vorsprung passgenau im Gegenstück nachgebildet sind – in allen drei Dimensionen. Ein ungeübtes Auge könnte sie nicht voneinander unterscheiden. Anders ausgedrückt: Obwohl eine große Zahl von Bausteinen mit der Zeit ausgewechselt wurde, sind Form und Struktur des Moleküls – und damit auch seine Funktion – im Laufe der Evolution erhalten geblieben, ähnlich einer Kathedrale aus Stein, die durch die Verwendung von Ziegelsteinen wieder-

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errichtet wurde, ohne dabei ihre großartige Architektur zu verlieren. Und nun gab es noch eine weitere Enthüllung: Welche Bausteine wurden ausgetauscht und warum? In den Bakterien der Thermalquellen ist das Enzym nahezu unbeweglich. Die Bausteine sind durch innere Bindemittel, die sich wie Zement verhalten, eng miteinander verkittet, was die Struktur gegen das kraftvolle Schütteln der kochenden Quellen sichert – wie eine Kathedrale, die gebaut wurde, um unaufhörlichen Erdbeben standzuhalten. Im Eis ist genau das Gegenteil der Fall. Hier sind die Bausteine flexibel, was trotz der Kälte Bewegung ermöglicht. Es ist, als ob unsere Kathedrale mit Kugellagern anstelle von Backsteinen wieder aufgebaut wurde. Vergleichen wir die Aktivität der Enzyme bei 6 °C, so ist das Eis-Enzym 29-mal schneller; machen wir den Versuch bei 100 °C, zerfällt es in seine Einzelteile. Das Bild, das sich nun ergibt, ist bunt und dreidimensional. Die Veränderungen in den Gensequenzen haben nun eine Bedeutung: Sie erhalten die Struktur des Enzyms und seine Funktion, trotz der Notwendigkeit, unter völlig unterschiedlichen Bedingungen zu funktionieren. Wir können nun erkennen, was wirklich im Laufe der Evolution passiert ist und warum. Es ist nicht länger eine Ahnung, sondern wirkliches Verständnis. Ähnlich anschauliche Erkenntnisse darüber, was letztendlich geschah, können mithilfe anderer ausgeklügelter Werkzeuge gewonnen werden, die uns heute zur Verfügung stehen. Die vergleichende Genomik beispielsweise erlaubt uns, nicht nur einzelne Gene miteinander zu vergleichen, sondern ganze Genome, also Tausende von Genen auf einmal in Hunderten von verschiedenen Arten. Dies wurde jedoch erst in den letzten Jahren möglich, nachdem man ganze Genomsequenzen vermehren konnte. Mithilfe der Proteomik können wir die gesamte Bandbreite an Proteinen erfassen, die jeweils in einer Zelle arbeiten. Darüber hinaus ist es möglich zu verstehen, wie eine kleine Zahl von Regulatorgenen, welche Äonen der Evolution überstanden haben, diese Proteine steuert. Computerbiologie ermöglicht es uns, besondere Formen und Strukturen in Proteinen zu erkennen, Leitformen, die trotz genetischer Veränderungen fortbestehen. Isotopische Analysen von Gesteinen oder Fossilien helfen uns, frühere Veränderungen der Atmosphäre und des Klimas zu rekonstruieren. Mit bildgebenden Verfahren können wir sichtbar machen, wie Neuronen im Gehirn funktionieren, während wir denken, oder die drei-

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dimensionale Struktur mikroskopisch kleiner, im Gestein eingeschlossener Fossilien rekonstruieren, ohne diese zu zerstören. Und so weiter. Keine dieser Techniken ist neu. Was neu ist, ist ihre Verfeinerung, Geschwindigkeit und Nutzbarkeit. Wie im Humangenomprojekt, das wesentlich früher als geplant sein Ziel erreichte, werden Daten in einer atemberaubenden Geschwindigkeit erhoben. Viele dieser Informationen sind nicht im klassischen Vokabular der Populationsgenetik und Paläontologie verfasst, sondern in der Sprache der Moleküle, auf der Ebene, auf der letzten Endes Veränderungen in der Natur auftreten. Mit diesen neuen Techniken wächst eine neue Generation von Evolutionsbiologen heran, die dazu in der Lage ist, das Geschehen von Evolution in Echtzeit einzufangen. Das Bild, das auf diese Weise entsteht, ist atemberaubend durch seine Fülle an Details und seine Ausdehnung, die vom subatomaren Bereich bis hin zu planetarischen Ausmaßen reicht. Und dies ist der Grund, weshalb ich sagte, dass wir zum ersten Mal in der Geschichte verstehen. Vieles von unserem zunehmenden Wissen ist sicherlich notdürftig, aber es ist lebendig und aussagekräftig. Es ist eine Freude, in dieser Zeit zu leben, in der wir so viel wissen und zudem noch so viel mehr erforschen können.

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Die Entstehung des Lebens Aus dem rotierenden Erdball Rasch folgte die Nacht auf den Tag. Ein Tag auf der Erde war zu jener Zeit nur fünf oder sechs Stunden lang. Der Planet drehte sich wild um die eigene Achse. Der Mond hing schwer und furchteinflößend am Himmel, wesentlich näher an der Erde als heute, wodurch er um Einiges größer wirkte. Sterne schienen selten, da die Atmosphäre voller Dunst und Staub war, jedoch durchzogen eindrucksvolle Sternschnuppen regelmäßig den Nachthimmel. Die Sonne – wenn sie durch den trüben, roten Dunst hindurch überhaupt sichtbar war – war verschwommen und schwach, ohne die Kraft ihrer strahlenden Schönheit. Menschen könnten hier nicht überleben. Unsere Augen würden zwar nicht anschwellen und zerspringen wie auf dem Mars, aber unsere Lungen würden keinen Sauerstoff zum Atmen finden. Wir würden eine Minute lang verzweifelt kämpfen und dann ersticken. »Erde« wäre ein schlechter Name. »Meer« würde es besser treffen. Auch heute noch bedecken Ozeane zwei Drittel unseres Planeten und dominieren ihn auf Bildern aus dem Weltraum. Zur damaligen Zeit bestand die Erde nahezu aus Wasser mit wenigen kleinen vulkanischen Inseln, die über die turbulenten Wellen hinausragten. In der Knechtschaft jenes bedrohlichen Mondes war der Tidenhub überdimensional groß und bewegte sich in Bereichen von mehr als 100 Metern. Einschläge von Asteroiden und Kometen waren seltener als zuvor, da der größte von ihnen dem Mond entrissen und ins All geschleudert wurde. Doch selbst in dieser Zeit relativer Ruhe kochten und schäumten die Ozeane und