Kunst und Künstler in Wernigerode nach 1945 - Buch.de

Um 1800 gab es eine große Fülle an Darstellungen der Harzlandschaft, die sich ... Ich danke der Wernigeröder Gebäude- und Wohnbaugenossenschaft sowie dem ... seinszustand, der von Angst, Scham, Klage und Anklage, Ausweglosigkeit ...
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Kunst und Künstler in Wernigerode nach 1945

Harz-Forschungen Forschungen und Quellen zur Geschichte des Harzgebietes

Herausgegeben vom

Harz-Verein für Geschichte und Altertumskunde e. V. durch Dieter Pötschke in Verbindung mit Jörg Brückner, Bernd Feicke, Hans-Jürgen Grönke, Christian Juranek und Friedhart Knolle

Band XXVIII

Berlin und Wernigerode 2012

Gerd Ilte

Kunst und Künstler in Wernigerode nach 1945 Herausgegeben von Christian Juranek

Lukas Verlag

Umschlagabbildung: Eric Homan-Webau (?): Der Heimkehrer, Öl, 84 × 68 cm (Harzmuseum Wernigerode)

Die Drucklegung des Bandes wurde von der Stadt Wernigerode, Kulturamt, und der Wohnungsbaugenossenschaft Wernigerode gefördert.

© by Lukas Verlag und Harz-Verein für Geschichte und Altertumskunde e.V. Erstausgabe, 1. Auflage 2012 Alle Rechte vorbehalten Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte Kollwitzstraße 57 D–10405 Berlin www.lukasverlag.com Korrektorat und Satz: Jana Pippel (Lukas Verlag) Umschlag: Verlag Druck: Elbe Druckerei, Wittenberg Printed in Germany ISBN 978–3–86732–117–4

Inhalt

Vorwort des Herausgebers 7 Vorbemerkung 9 Zur Geschichte der Wernigeröder Künstlerkolonie

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Die Wernigeröder Künstler

Paul Betyna – Talent und Zeitläufte Der Maler und Lehrer Hans-Joachim Bober Christian Hallbauer – Mensch in unmenschlicher Zeit Bert Heller – sozialistischer Vorzeigekünstler? Franz Homolatsch im Harzmuseum Wernigerode Otto Illies, der Maler aus der Fremde Bruno Jüttner – der Snob und das Licht Dr. Eberhard Karnatzki – Kulturamtschef zwischen Hoffnung und Furcht Leben heißt auf der Suche sein – Elisabeth Kiel-Büchner Siegfried Koschnik – Bilder für das Paket in den Westen Größe und Grenzen des Erich Krüger Max Löbel – vom Holzmaler zum Harzmaler Wilhelm Pramme – aus dem Leben eines glücklichen Menschen Hans Beatus Pürschel – ein Malerleben Annie Reinecke – eine liebenswerte Malerin Kurt Hermann Rosenberg – Professor und Commendatore Helga Schönemann – mit über 91 am Ziel? Die Schriftstellerin und Widerstandskämpferin Elisabeth von Gustedt Der Wernigeröder Bildhauer Otto Welte

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Farbtafeln

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Anhang

Die in Wernigerode 1945–50 wirkenden Künstler, mit Literatur 128 Literatur 138 Provenienz der Kunstwerke 139

Vorwort des Herausgebers Christian Juranek

Der Harz spielt in der Malerei eine herausragende Rolle, auch wenn dies nicht einmal in weiten Kreisen der Kunsthistoriker wirklich bekannt ist. Das erste echte Landschaftsgemälde deutscher Landschaft stammt vom ehemaligen braunschweigischen Porzellanmaler, Pascha Johann Friedrich David Weitsch, und zeigt aus der später so oft gerühmten Luftperspektive den Hexentanzplatz im Bodetal, gemalt im Jahre 1769. Um 1800 gab es eine große Fülle an Darstellungen der Harzlandschaft, die sich auch in weit verbreiteten Stammbuchkupfern, etwa der Firma Wiederhold, finden. Die Romantik entdeckte den Harz, und einer der führenden Köpfe, Caspar David Friedrich, versetzte seine im Harz gemachten Skizzen in transitorischer Form – nur für den Eingeweihten wieder erkennbar – in seine symbolischen Ölgemäldekompositionen. Ein wahrer Landschaftsboom brach am Ende des 19. Jahrhunderts aus. Es waren nicht nur die Romantiker, die auf ihren Wanderungen den Harz weiter als Sujet verbreiteten, vielmehr ließen sich Künstler fortan auch für längere Zeit hier nieder: Hasenpflug in Halberstadt, Steuerwaldt in Quedlinburg, Ernst Helbig einsam und in bitterster Armut in Wernigerode und schließlich das Malerehepaar Crola in Ilsenburg. Gleichermaßen zu nennen wäre der Steindrucker und Kupferstecher sowie Radierer Wilhelm Ripe in Goslar. Trotz der vielen beachtenswerten Künstlerpersönlichkeiten, die auch im 20. Jahrhundert hier lebten – wie der oft zu unrecht in die Geschichte der völkischen Kunst geschobene Karl Reinecke-Altenau, für den erst seit kurzer Zeit der Kontakt zu Kurt Schwitters nachgewiesen wurde –, entwickelte sich der Harz zu keiner Zeit zu einem Zentrum der innovativen Kunst. Auf breiter Front fehlen bis heute Darstellungen der Kunst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, immerhin nun schon im neuen Jahrtausend ein wichtiges Desiderat nicht nur der Forschung, sondern auch der allgemeinen Darstellung. Gerd Ilte hat es sich seit Jahren zum Ziel gesetzt, hier – vor allem am Beispiel Wernigerodes – Abhilfe zu schaffen. Er gehört nicht nur zu den Anregern der Einrichtung eines Schaudepots im Harzmuseum Wernigerode, sondern auf seine Ideen und Initiative hin wurde eine Galerie der Harzmaler als konzeptioneller Teil des Harzmuseums Wernigerode gegründet. Die Ursprünge dafür lagen natürlich in der Existenz der sogenannten »Künstlerkolonie«, die in Wernigerode bis heute einen guten Namen und Klang hat. Sie ist aber, was die Wahrnehmung betrifft, lediglich auf Wernigerode und die unmittelbare Umgebung beschränkt. Darüber hinaus gibt es zwar einzelne Artikel und Darstellungen, sowohl der daran beteiligten Künstler als auch der Künstlerkolonie insgesamt, jedoch keine

Vorwort des Herausgebers

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zusammenhängende Darstellung in Buchform. Die vorliegende Publikation versucht diesem Zustand entgegenzuwirken. Gerd Ilte hat dabei nicht nur die Geschichte der Kunst nach 1945 bis zur Mitte der 50er Jahre insgesamt dargestellt, sondern anhand von essayartigen Biografien, die ebenso eine Würdigung der jeweiligen künstlerischen Leistungen enthalten, eine Geschichte der regionalen Kunst von Wernigerode vorgelegt. Dabei geraten auch Persönlichkeiten in den Blick, die bislang kaum im Focus einer interessierten Öffentlichkeit gestanden haben. Der Autor schafft hier eine besondere Balance zwischen den essayistischen, zum Teil erstmaligen Darstellungen der Künstler auf der einen Seite und einem Dokumentationsteil, der anhand von charakteristischen Werken die künstlerische Tätigkeit vor Augen führt, andererseits. Es erscheint zum ersten Mal in der traditionsreichen Reihe der Harzforschungen ein Band, der eine Region und eine künstlerische Zeit – in diesem Falle die der unmittelbaren Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs – für den Harz in den Blickpunkt rückt. Obwohl die große Monographie zur Geschichte der bildenden Kunst im Harz und des Harzes als Sujet der bildenden Kunst nach wie vor eine Forschungslücke bildet, die es zu schließen gilt, ist das vorliegende Werk für Wernigerode bereits ein wichtiger und gewichtiger Baustein für jenes noch zu leistende Großprojekt. Gleichzeitig sei jedem empfohlen, in die entsprechenden Archive zu gehen und dabei auch das Material im Schaudepot des Harzmuseums zu sichten, um weitere Einblicke in dieses weite Forschungsfeld zu erhalten. Gefördert wurde die Publikation durch das Kulturamt der Stadt Wernigerode und den Wernigeröder Geschichtsverein. Selbstverständlich war als Band innerhalb der Harzforschungen auch der 1868 in Wernigerode gegründete Harzverein für Geschichte und Altertumskunde an der Veröffentlichung beteiligt. Insbesondere den Förderern sei an dieser Stelle Dank gesagt. Besondere Anerkennung gebührt allerdings dem Autor Gerd Ilte, dem langjährigen Lehrer und Galeristen sowie Freund der Wernigeröder Kulturszene.

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Vorwort des Herausgebers

Vorbemerkung

Das Anliegen der folgenden Arbeit besteht darin, die kurzfristig, aber letztlich bis heute nachwirkenden Jahre eines besonders intensiven kulturellen Lebens in der Kleinstadt Wernigerode darzustellen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Schaffen der bildenden Künstler, die nicht, wie das bei den bekannten »Künstlerkolonien« der Fall ist, durch gemeinsame künstlerische Auffassungen verbunden waren. Deshalb folgen nach einem einleitenden Kapitel Einzeldarstellungen der Künstler. Die Texte sind zum größeren Teil überarbeitete Artikel, die in der »Neuen Wernigeröder Zeitung« in den letzten fünfzehn Jahren veröffentlicht wurden. Literaturangaben zu den Aufsätzen über die Künstler erfolgen nicht, da in allen Fällen vielfältiges Quellenmaterial im Schaudepot des Harzmuseums Wernigerode zugänglich ist. Bei den Recherchen haben mich Herr Ingo Peuler, Frau Silvia Lisowski und Herr Dr. Christian Juranek vielfältig unterstützt. Ich danke der Wernigeröder Gebäude- und Wohnbaugenossenschaft sowie dem Kulturamt der Stadt Wernigerode für die finanzielle Unterstützung. Der Bildteil wurde durch das Entgegenkommen des Harzmuseums und vieler Wernigeröder Kunstfreunde möglich, wofür ich mich gleichfalls ausdrücklich bedanke. Die Fotoarbeiten besorgte mit teilweise erheblichem Aufwand Ludger Heinze. Auch ihm bin ich sehr verbunden.

Vorbemerkung

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Zur Geschichte der Wernigeröder Künstlerkolonie

Das Gestern kann nicht mehr sein, und es will noch nicht Morgen werden… Wer zeigt, wer er ist? Die meisten wissen es selbst nicht. Sie sind auf der Flucht und in einem Wandel begriffen. Johannes R. Becher

Es war 1945. Millionen Menschen irrten durch Deutschland auf der Suche nach einer Heimstadt. Viele waren wochenlang unterwegs, im Treck, unter unsäglichen Bedingungen. Erst die Gebiete westlich der Elbe schienen ihnen sicher vor der im Krieg barbarisch und brutal vorgehenden russischen Soldateska. Nach dem Kriegsende folgte eine zweite Welle Vertriebener. 6,5 Millionen Menschen wurden aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ausgewiesen. In den Städten und Dörfern mussten die Getriebenen untergebracht werden, und sie wurden eingewiesen, wo immer Platz zu sein schien – ohne Rücksicht auf Rechte der Haus- und Wohnungsbesitzer. Wernigerode, idyllisch gelegen, schien vielen ein sicherer Hort. 24 000 Einwohner zählte die Stadt vor dem Krieg. 1944/45 kamen 20 000 dazu. Im Stadtarchiv zeugen viele Beschwerdebriefe von den Konflikten, die sich da auftaten. Vermieter klagten über Mieter, Mieter über Vermieter, Inhaber größerer Wohnungen verlantgen beschlagnahmtes Mobiliar zurück usw. Unter den vielen Flüchtlingen befanden sich auch Künstler: Musiker wie der Komponist Hans Ailhout, die im In- und Ausland bekannte Konzertgeigerin Dolores Maas sowie der Musiker und Komponist Gerd Dorschfeld; Theaterleute wie der Regisseur Hans Thiede, Theaterleiter erst in Wernigerode, dann in Halberstadt; Schriftsteller wie Elisabeth von Gustedt, die fünf Jahre in nationalsozialistischen Zuchthäusern und im KZ überstanden hatte, oder Willi Fehse, Lehrer und Journalist – und dann die Maler und Bildhauer, deren Zusammenarbeit unter dem Namen »Künstlerkolonie Wernigerode« bekannt geworden ist.1 Als das Grauen des Krieges und der Naziherrschaft vorüber war, brach sich eine jahrelang unterdrückte und verbotene Lebenslust Bahn – wenn auch zunächst nur auf Trümmern. Fröhlichsein war nicht länger verboten. Die Künstler konnten in der Malerei, Musik und im Theater ihre Themen wieder selbst wählen. Sie waren befreit von Erwartungshaltungen, Zwängen, Vorschriften. Und so entstanden überall Vereine, Künstlerklubs, sogar Theater in kleinen Orten, in denen es dergleichen vorher nie gegeben hatte. Die Menschen erfüllte ein ungeheurer Hunger nach geistigen und künstlerischen Gütern. 1 Vgl. auch eine Artikelserie von Erich Schafranek in der »Liberal-Demokratische Zeitung« (LDZ) im GA unter »Künstlerkolonie«, die im Anschluss an die Aufsätze von Gerd Ilte zitiert werden.

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Zur Geschichte der Wernigeröder Künstlerkolonie

In Wernigerode wandten sich bereits am 5. Mai 1945 der Maler Otto Illies, Dr.-Ing. Lenz und Professor Paul Menge mit dem Vorschlag an den Bürgermeister, das Haus Bahnhofstraße 16, das ursprünglich den Freimaurern gehörte und in der Nazizeit »Haus der deutschen Frau« war, für kulturelle Zwecke zu nutzen.2 Der Vorschlag wurde aber nicht verwirklicht. Stattdessen zog dort später die FDJ-Kreisleitung ein. Die wiedergewonnene Freiheit war das eine, Not und Hoffnungslosigkeit das andere. Künstler und Intellektuelle erlebten die Schäbigkeit ihrer Lebenswelt als Erniedrigung und wollten die Kunst von diesen Niederungen freihalten. Die kritische Distanz zu Vergangenheit und Gegenwart wagten nur wenige. Noch auf der ersten Dresdener Kunstausstellung 1946 fanden sich kaum Werke mit aktuellem Bezug.3 Vor allem in den großen Kunstzentren wie Berlin, Dresden, Halle begann allmählich die Auseinandersetzung mit dem Krieg, seinen Ursachen und seinen in diesen Dimensionen bislang unbekannten Schrecken. Dort fanden immer mehr Künstler überzeugende Sinnbilder für den gesellschaftlichen und individuellen Bewusstseinszustand, der von Angst, Scham, Klage und Anklage, Ausweglosigkeit und Leid ebenso geprägt war wie von Erleichterung darüber, dass nicht mehr getötet wurde und von allmählich stärker werdenden Hoffnungsansätzen.4 In diesen ersten Monaten war es die sowjetische Besatzungsmacht, die sich im Gegensatz zu den westlichen Alliierten auf den Übergang zu einem neuen Leben in ihrer Besatzungszone vorbereitet zeigte. Oft hoch gebildete sowjetische Kulturoffiziere, meist deutsch sprechend, hatten die Aufgabe, das kulturelle Geschehen zu kontrollieren, und orientierten sich zunächst nur auf eine antifaschistische Grundhaltung. Es war noch nicht ihre Absicht, sowjetische Erfahrungen mechanisch und administrativ auf das besetzte Gebiet zu übertragen. Vielmehr verfolgte die SMAD, die Sowjetische Militäradministration, das Ziel, sich möglichst viele Bündnispartner im Lande selbst zu schaffen und sie auf die progressiven Traditionen der eigenen Geschichte und Kultur zu verweisen. Das Fernziel, der Übergang zur stalinistischen Kulturpolitik, wurde aber keineswegs aus dem Auge gelassen. Das wird rückwirkend darin deutlich, dass es von Anfang an zentrale Kulturverwaltungen und Kulturorganisationen gab. Nur in ihrem Rahmen durften Kunst und Kultur leben. Private Initiativen wurden, wenn sie sich nicht eingliederten, sehr bald ausgeschaltet. Bereits am 6. Juni 1945 wurde in Berlin die »Kammer der Kulturschaffenden« gegründet. Sie wurde wenige Monate später aufgelöst und durch die Ämter für Kunst und Kultur ersetzt, die der »Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung« unterstanden. In Wernigerode wurde schon am 1. August 1945 ein »Kulturamt« auf Anregung des Polit-Stellvertreters des Stadtkommandanten Major Sachnow ins Leben gerufen. Dieses Kulturamt hatte die Aufgabe »Veranstaltungen zu planen und zu überwachen und zur Erziehung der Bevölkerung im demokratischen Sinne auf dem Gebiet 2 GA – »Künstlerkolonie«. 3 Vgl. Landesverwaltung u.a. 1946. 4 Vgl. Kober 1989. – Damus 1991. – Damus 1995.

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der Kultur einen wichtigen Beitrag zu leisten«.5 Weiterhin hatte es alle kulturellen Veranstaltungen zu genehmigen, für rund 400 Künstler Unbedenklichkeitskarten auszugeben und die Lebensmittelkarteneinstufung für freie Künstler vorzunehmen. Das Amt wurde von Dr. Eberhard Karnatzki und Herrn Langer-Largo geleitet, denen zwei Schreibkräfte und ein Dolmetscher zur Verfügung standen. Langer-Largo wurde am 19. März 1946 fristlos entlassen. In der Begründung hieß es, er habe seine Mitgliedschaft zur NSDAP verschwiegen und widerrechtlich Geld aus Einnahmen einbehalten.6 Karnatzki kündigte unter zunehmendem Druck im August 1947. Er unterhielt zu dieser Zeit bereits Beziehungen zum Ostbüro der SPD in Hannover. Nachdem er Wernigerode verlassen hatte, arbeitete er noch kurze Zeit in Berlin im »Zentralamt für Volksbildung«, bevor er der Sowjetischen Besatzungszone endgültig den Rücken kehrte. Ab 1949 wirkte er als Lektor und Kommentator bei »Radio Bremen«. Seine Familie, der die Schokoladenfabrik Karnatzki in Wernigerode gehörte, wurde enteignet.7 Der Bürgermeister Otto urteilte in einem Schreiben an die Berliner Volksbildungsbehörde über ihn: Bezüglich des Herrn Dr. Karnatzki ist zu bemerken, dass derselbe Leiter des städtischen Kulturamtes ist, am 31. ds. Monats ausscheidet. Über die Person desselben ist zu sagen, dass er ein durchaus befähigter Mensch ist. Jedoch außerordentlich zu Überheblichkeit neigt, im persönlichen Umgang besonders mit dem unterstellten Personal, den notwendigen Takt vermissen lässt.8

Weder die fristlose Entlassung Langer-Largos noch die Beurteilung Karnatzkis dürften der tatsächlichen Leistung der beiden entsprochen haben. Immerhin kam das Kulturamt ohne städtische Zuschüsse aus. Beide arbeiteten mit Privatdienstvertrag für je 400 RM, in einer Zeit, in der eine Schachtel Zigaretten auf dem Schwarzmarkt 7 RM kostete. Insbesondere Dr. Karnatzki war der wichtige und erfolgreiche Organisator des Kulturlebens der Stadt. In seiner Amtszeit gab es unter der Regie des »Kulturbundes« und des Kulturamtes in Wernigerode 2 Konzerte, 47 Theateraufführungen, 2 Tanzgastspiele, 14 Morgenfeiern (?), 8 Rezitationsabende, 12 Liederabende, 32 Varietéabende und 1436 Filmveranstaltungen.9 Zahlen, die auch deshalb beeindruckten, weil die allgemeine Versorgungslage so kritisch war, dass die Besucher in den kühlen Jahreszeiten ein Kohlebrikett zu manchen Veranstaltungen mitbringen mussten. Über ein Gastspiel des Stadttheaters Halberstadt heißt es: 5 GA – »Künstlerkolonie«. 6 StA – WR III (300) 0429. 7 GA »Künstlerkolonie«. – Jürgen Will: Süße Versuchung. Vom Siegeszug der Schokolade seit dem 19. Jahrhundert. Das Beispiel Wernigerode (= Edition Schloß Wernigerode, hg. von Christian Juranek, Bd. 12), Dößel (Saalekreis) 2007. 8 StA – WR III (14/436) 824. 9 GA – Bericht des Stadtrats Paul Menger.

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Als man im Wernigeröder ELMO-Werk zu Weihnachten 1946 die »Lustigen Weiber von Windsor« […] aufführte – im ungeheizten Saal – saßen die Zuschauer in dicken Wintermänteln und in Decken gehüllt, während die mitwirkenden Damen in ihren dünnen Elfenkostümen jämmerlich froren und die Musiker nur mit Mühe spielen konnten.10

Sowjetischer »Überwachungsoffizier für die kulturellen Belange Wernigerode« war der Charkower Schuldirektor Kapitän Kossmann. Er genoss durchaus die Anerkennung der hiesigen Kulturschaffenden. Das wurde 1962 noch einmal deutlich, als er bei einem Besuch in Wernigerode auch von Bürgern, die der DDR kritisch gegenüberstanden, mit großer Sympathie empfangen wurde.11 »Kulturschaffende« mussten Mitglied der »Gewerkschaft Kunst und Schrifttum« im »Freien Deutschen Gewerkschaftsbund« (FDGB) werden und gehörten damit zu einer Berufsgruppe, deren Tätigkeit durch eine höhere Lebensmittelkartengruppe anerkannt wurde. Es gab sämtliche Lebensmittel, Kleidung, selbst Seife, nur gegen Abschnitte einer Karte, die zum Bezug der Waren berechtigte. Die monatlichen Rationen waren in kleine Portionen aufgeteilt – 50 Gramm Fett, 50 Gramm Brot usw. Je nach Versorgungslage wurden die einzelnen Abschnitte zur Belieferung freigegeben. Wer nicht arbeitete, auch wer nicht arbeiten konnte, bekam die geringsten Mengen. Die Arbeitenden waren eingeteilt nach der Schwere ihrer Arbeit. Künstler mussten einen Berufsausweis vorlegen, den die Kammer der Kulturschaffenden bei den Landesregierungen vergab. Die Bedingungen, unter denen die bildenden Künstler arbeiteten, werden auch bei einem Blick auf die Schwarzmarktpreise für Arbeitsmaterial deutlich. So kosteten im Frühjahr 1948: 1 Blatt Zeichenpapier 1,50–2,00 RM 1 Blatt Japanpapier 10,00 RM 1 qm Malleinwand  100,00–200,00 RM 1 Tube Kremserweiß 40,00 RM 1 Liter Leinöl 300,00 RM (Durchschnittspreise in RM)12 Von deutschen »Antifaschisten und Verfolgten des Naziregimes« wurde – natürlich unter zunächst alliierter Kontrolle – am 3. Juli 1945 der »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« gegründet. Dieser Bund war seiner Intention nach der Kristallisationspunkt für viele Kulturinteressierte. Die meisten derer, die sich verantwortlich fühlten für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte, wollten ihn unter den Stern des bürgerlichen Humanismus gestellt sehen, wenn auch aus 10 Werner Hartmann: Theater in Halberstadt, Bd. 3: 1945 bis 1996, Halberstadt 1996, S. 28. 11 GA – Tonbandaufzeichnung eines Gesprächs mit Dieter Möbius über die Künstlerkolonie. 12 Edith Lüdecke: Wie leben die Berliner Künstler?, in: Hofer, Carl; Nerlinger, Oscar: bildende kunst. Zeitschrift für Malerei, Graphik, Plastik u. Architektur, H. 5, 1948, S. 18.

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