Kapitel 1

Nicht zum ersten Mal nervten Kristen sei- ne dämliche Gothic-Frisur, der schwarze Mantel, in dem er seine Gestalt verbarg, und die Tatsache, dass er nur ihr und ...
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Sigrid Lenz

Galgenmännchen II Gestürzt Roman

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© 2012 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2012 Umschlaggestaltung: Tatjana Meletzky, Berlin Korrektorat: Mondgesicht Korrektorat und Lektorat Printed in Germany ISBN 978-3-8459-0295-1 AAVAA Verlag www.aavaa-verlag.com eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken! Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. 3

Kapitel 1

„Das ist Lästerung.“ Die Hand des Engels umschloss den Griff seines Schwertes fest genug, dass die ohnehin bereits weißen Fingerknöchel hell hervortraten. „Darauf steht die schlimmste aller Strafen, das weißt du.“ Die Flügel seines dunkelhaarigen Gegenübers bebten. „Ich weiß“, flüsterte Adriana und hob den Kopf. „Aber es tut mir nicht leid. Es ist die Wahrheit.“ „Du maßt dir an, zu wissen, was Sein Plan ist.“ „Nein, aber ich habe Augen. Ich sehe und ich fühle. Und ich fühle, dass nicht richtig ist, was wir tun.“ „Wir wurden nicht erschaffen, um zu fühlen.“ Adriana schlug die Augen nieder, als die anderen Krieger näher traten. „Wir wurden nicht erschaffen, um zu zweifeln.“ Der Kreis schloss sich um sie und Adriana zitterte. Ihre Furcht war neu und echt. Der Schmerz überwältigend. Sie schrie. *

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Adriana fuhr hoch. Schreckensweite Augen starrten sie an. Warme Hände hielten ihre Arme. „Du hast geträumt“, flüsterte Kristen und leckte sich nervös über die Lippen, bevor sie zur Seite sah. „Du hast mir Angst gemacht“, fügte sie leiser hinzu. Adriana zog ihre Knie an und schlang die Arme darum. „Ich habe mir selbst Angst gemacht“, sagte sie. „Was ist passiert?“ Kristen war blass, fast so blass wie Adriana und die neigte ihren Kopf, so dass ihr Haar vor die Augen fiel und sie dem Blick der anderen nicht begegnen musste. Das war nicht fair. Nach allem, was Kristen durchgemacht hatte, sollte sie nicht auch noch mit Albträumen belastet werden. Adriana zuckte mit den Schultern. „Ich kann mich nicht erinnern.“ „Du hast geschrien“, ermahnte Kristen sie und schlug die Decke zurück. Adriana schwieg und sah sich im Zimmer um. Es war unverändert, hell und schlicht eingerichtet und doch stimmte etwas nicht. Sie stimmte nicht. Sie sollte nicht hier sein. Schon lange nicht mehr. Es war dumm gewesen, auf ihre Schwester zu hören. Dabei hatten Saras Argumente vernünftig geklungen. Nur eine Weile noch. Nur ein paar Tage, um

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sich auszuruhen, um Kristen zu helfen, ihr Leben wieder aufnehmen zu können. Nur hatte Adriana Sara nicht gesagt, dass sie es sich nicht vorstellen konnte, ihre Freundin allein zu lassen, einfach wegzugehen. Dass sie den Gedanken nicht ertrug, dass alles in ihr zerbrach, wenn sie nur daran dachte, dass sie gezwungen waren, sich zu trennen. Denn dass sie dazu gezwungen waren, daran bestand kein Zweifel. Es war egoistisch von ihr gewesen, Kristen überhaupt erst so nahe an sich heranzulassen. Zu erlauben, dass die sich an sie band. Nicht, solange sie dieses schwache, unfertige Wesen war, das sich nur an Bruchstücke erinnerte und selbst die anzweifelte. Das nichts sicher wusste, außer, dass es Fehler begangen und gegen Regeln verstoßen hatte. Und dass nichts auf dieser Welt, nichts im Universum und darüber hinaus ohne Konsequenzen blieb. Ein Teil ihrer Gedanken spielte sich in ihrem Gesicht ab, denn auf einmal war Kristen nahe bei ihr, berührte Adrianas Wange, streifte mit dem Daumen die zarten Lippen, bevor sie ihre auf den linken Mundwinkel presste. Eine Tür klappte und leise Stimmen erklangen. 6

Kristen küsste Adrianas Schläfe, bevor sie losließ und sich Viktor zuwandte, der seinen langen Körper, dicht gefolgt von Sara, in den Raum schob. Er hob entschuldigend beide Hände. „Ich wollte nicht stören“, sagte er. „Sara meint nur, es sei an der Zeit.“ Er warf einen Blick auf Adriana und die schloss ihre Augen. Natürlich hatte Sara ihren Schrei gehört. Natürlich wusste sie, wovon Adriana geträumt hatte. So wie die Schwester ihren Fall gefühlt und ihren Sturz miterlebt hatte, so spürte sie auch die Erschütterungen, die mit dem Einsetzen von Adrianas Erinnerungsvermögen einhergingen. Adriana nickte und öffnete ihre Augen wieder, wehrte Kristens angebotene Hilfe ab und erhob sich. Viel zu lange hatte sie geschlafen. Immer mit der Ausrede, dass es Kristen sei, die Ruhe brauchte, die zwischen den Gängen zu Polizei und Behörden, zwischen der Klärung ihrer Lage und der Verwindung des Traumas jeden Augenblick des Friedens und der Geborgenheit benötigte, um ihre Kraft wiederzufinden. Adriana musste kein Mensch sein, um davon zu wissen. Traumatisiert waren sie alle. Der ganze Ort. Alles andere als ein Wunder, nachdem sich zwei unauffällige Bewohner als irrsinnige Mörder entpuppt hatten. Zumindest lautete so 7

der Stand der Ermittlungen. Die, wie es aussah, nie zur vollständigen Zufriedenheit aller Beteiligten aufgeklärt werden dürften. Niemand konnte es bisher fassen, dass unschuldige Schüler von ihrer Lehrerin getötet worden waren, die zudem noch von dem Wahn besessen schien, ihren Pflichten als Dämonen-Jägerin nachkommen zu müssen. Zumindest war es das, was Polizei und Medien den Zeugen entlocken konnten. Viel mehr erzählte auch Kristen nicht. Wie Viktor blieb sie bei den Fakten. Das Geschehene war grauenerregend genug. Alles Übrige würde ihnen niemand glauben. Was auch besser war, ermahnte sie Sara. Niemand war bereit, von den Vampiren zu hören, von Patrick, der Kristens Onkel getötet hatte, oder von Adriana und Sara selbst, die ihr unauffälliges Leben, ihr sicheres Versteck aufgegeben hatten, um denen zu helfen, die ihnen etwas bedeuteten. Nun, Adriana hatte alles riskiert. Doch Sara hatte ihr die Zuflucht gewährt, zugelassen, dass sie ihr Wesen offenbarte – und damit ihr eigenes offenbart. Adriana stolperte leicht, wehrte erneut Kristens ausgestreckte Arme ab und ignorierte den traurigen Ausdruck, der über deren Gesicht huschte. Sie zwang sich zu einem

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Lächeln. „Mir geht es gut“, sagte sie und wusste doch, dass Kristen die Lüge durchschaute. Es war nicht Kristen, die unter Schwäche litt, Adriana erholte sich nur langsam. Sie hatte geheilt, ohne die Erlaubnis, ja ohne eigentlich die Kräfte dafür zu besitzen, war geflogen und hatte gegen die wichtigste aller Regeln verstoßen. Kein Mensch durfte von ihrer Existenz erfahren, von dem, was sie war. „Und jetzt wissen sie von uns beiden“, sagte Sara und rückte ihr den Stuhl zurecht. Viktor wechselte einen Blick mit Kristen. Es nervte, wenn die beiden ihre gegenseitigen Gedanken lasen. Allerdings nicht so sehr, wie es nervte, wenn sie auf Viktors oder Kristens unausgesprochene Fragen antworteten. „Nur wir wissen von euch“, wandte Viktor ein. „Dass ihr Engel seid … oder wart, meine ich. Ich hab die Aussagen gesehen, die sind so verworren, daraus kann kein vernünftiger Mensch etwas ablesen. Am ehesten denken unsere Mitschüler noch, dass tatsächlich Dämonen am Werk waren. Und wenn sie Patrick und seinen Hexenzirkel erwähnen, dann ist das doch nicht euer Problem. Er hat gesagt, dass er sich darum kümmert.“

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„Du verstehst nicht“, seufzte Sara. „Das bleibt nicht geheim, nicht vor den anderen.“ Viktor runzelte die Stirn. „Aber, ihr seid Engel. Ich meine … die Guten. Adriana hat Kristen gerettet. Sie ist wegen dir zurückgekommen.“ Er schluckte trocken. „Das ist doch … Liebe … oder so.“ Er senkte den Kopf. Die überlangen Strähnen fielen ihm ins Gesicht, bedeckten die leichte Röte, die seine Wangen überflog, bevor sie seiner natürlichen Gesichtsfarbe wich. Er vermied es ausdrücklich, Sara anzusehen und Kristen seufzte innerlich. Wie weit er inzwischen bei der gekommen war, wusste sie zwar nicht, aber er brauchte wirklich nicht vorzugeben, dass keiner von ihnen ahnte, was er empfand. Adrianas schlanke Finger spielten mit dem Knopf an ihrem Kragen. Ihr Hemd war faltenfrei und Kristen sah zerknirscht an sich hinunter. Nach einem Nachmittag im Bett, wirkte sie zerknautscht und fühlte sich erschöpft wie nach einer durchzechten Nacht, anstatt wie nach einem erholsamen Schlaf. Während Adriana wie immer aussah, als sei sie frisch einer Wellness-Therapie entschlüpft. Und das, obwohl Kristen sehr wohl die Erschöpfung wahrnahm, die immer noch an der anderen zehrte.

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„Mir geht es gut“, wiederholte Adriana und sah Kristen an, die ihre Augen niederschlug und die Unterlippe vorschob. So kindisch ihr Verhalten auch wirken mochte, das Eindringen in ihre Gedanken machte sie unruhig. Als sie wieder aufsah, warf ihr Adriana einen entschuldigenden Blick zu. „Lasst die Kindereien.“ Sara runzelte die Stirn. So ähnlich sie Adriana auch sah, so verschieden waren die beiden in ihrem Wesen. „Wir haben keine Zeit mehr. Adriana ist kräftig genug und die Entscheidungen, die Kristen treffen muss, die kann sie alleine treffen.“ „Was hat das zu bedeuten?“ Kristens Herz schlug schneller. „Das heißt, dass wir nicht riskieren sollten, dass du in mehr hineingezogen wirst, als du verkraften kannst.“ „Ich bin doch schon mittendrin.“ Sara schüttelte den Kopf. „Du hast nicht einmal die Oberfläche angekratzt. Nicht einmal Adriana erinnert sich vollständig. Nicht einmal sie ahnt das Ausmaß der Folgen, denen wir entgegensteuern.“ „Das ist mir egal.“

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Sara lachte, doch es klang nicht heiter. „Glaub ich gerne, doch du bist nur ein Mensch.“ Es war das erste Mal, dass Sara so zu ihr sprach und Kristen fuhr zusammen. „Glaub mir“, fuhr Sara fort. „Es ist besser für dich … für euch, wenn ihr nicht mit hineingezogen werdet.“ „Kann ich dich sprechen … allein?“ Adrianas Stimme war leise und dennoch besänftigte sie sofort den Aufruhr in Kristens Innerem. Ohne es zu beabsichtigen, ließ sie sich von Viktor hochziehen, der seinerseits nicht glücklich über die Entwicklung aussah, aber dennoch Saras Worten Folge leistete. Kristen hängte sich bei Viktor ein, als sie die Treppe zu der so gut versteckten Behausung der Schwestern hinabstiegen und aus dem Haus traten. Die frische Luft war angenehm auf ihrer Haut und Kristen atmete sie in tiefen Zügen ein. Sie gingen ein Stück und es tat gut, die Muskeln zu bewegen, gut, den Kopf vom Wahnsinn der vergangenen Tage freizukriegen. „Denkst du, sie gehen weg?“ Viktors Stimme holte sie in die Wirklichkeit zurück.

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„Nein, bestimmt nicht“, antwortete sie schnell, viel zu schnell. „Das würde Adriana nicht … das könnte sie gar nicht.“ Viktor atmete hörbar aus. „Aber Sara drängt darauf“, sagte er. „Wenigstens hörte es sich so an.“ Kristen blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Sein Rücken war gebeugt, seine Schultern fielen nach vorne und er sah auf seine klobigen, schwarzen Schuhe, als seien sie von Interesse. „Hey.“ Sie strich ihm über die Wange, erinnerte sich daran, wie sie Adriana auf die gleiche Art berührt hatte, und konnte den Stich nicht verhindern, der sie daran erinnern wollte, dass es vielleicht, nur vielleicht, nicht immer so sein könne. Er sollte sich keine Sorgen machen, wollte sie ihm sagen. Er sollte daran glauben, dass alles gut werde, dass sie es verdient hatten, glücklich zu sein. Doch stattdessen drängten sich andere Gedanken auf. „Du liebst sie schon?“, fragte sie vorsichtig und Viktor senkte den Blick. Nicht zum ersten Mal nervten Kristen seine dämliche Gothic-Frisur, der schwarze Mantel, in dem er seine Gestalt verbarg, und die Tatsache, dass er nur ihr und

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ihr allein einen Teil von dem zeigte, was in ihm vorging. Sie konnte seine Augen nicht sehen, als er die Schultern zuckte. „Was weiß ich“, wich er aus. „Ist überhaupt komisch, wenn du das fragst.“ Kristen seufzte. „Du kannst dich nicht immer auf mich herausreden“, sagte sie leise. „Aber … und auch, wenn es sich dumm anhört, wenigstens aus meinem Mund, du solltest dir überlegen, ob du da noch rauskommst.“ Sie konnte selbst kaum fassen, was sie gesagt hatte, und senkte ihre Arme, bis sie an beiden Seiten ihres Körpers hinabhingen. Viktor biss sich auf die Lippe, bevor er antwortete. „Kannst du denn noch raus?“ Hastig schüttelte Kristen den Kopf. „Das ist etwas anderes“, erwiderte sie. „Wir sind füreinander bestimmt. Adriana und ich … das ist etwas Besonderes.“ „Tatsächlich.“ Viktor stieß das Wort hervor, die Bitterkeit war kaum zu überhören. „Ich wusste gar nicht, dass du so ein einzigartiger Mensch bis.“ „Das … das bin ich doch gar nicht“, wehrte Kristen sich. „Ich wollte auch gar nicht andeuten, dass du und Sara … dass ihr nicht …“

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Sie senkte den Kopf. „Ich will doch nur nicht, dass du verletzt wirst.“ „Dafür ist es längst zu spät.“ Es klang nicht einmal bitter, nur noch traurig, und als sich ihre Blicke trafen, spiegelte sich Verständnis. „Sie würde nie ...“ Viktor brach ab und fuhr sich über die Stirn. „Ich werde nie das haben, was ich bei dir und Adriana sehe.“ Kristen fiel keine Erwiderung ein. Stattdessen nahm sie Viktors Hand und drückte sie. Schweigend sahen beide zu, wie das Licht des Nachmittags an Intensität abnahm, wie sich sanfte Schatten ausbreiteten und der Grelle des Tages seine Unbarmherzigkeit nahmen. Der Dunkelheit näher als dem Licht, fragte Kristen sich, ob Adriana es ebenso empfand. Ob der die Finsternis Angst einjagte, mehr noch jetzt, wo sie erfüllt war von den Erinnerungen an Bedrohung und an Gräuel, von dem Wissen um Vampire und andere, weitaus furchteinflößendere Wesen, die dennoch nicht mehr als Menschen waren. *

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