Kants Begründung von Freiheit und Moral in ... AWS

Christoph Horn. Das Bewusstsein, unter dem moralischen. Gesetz zu stehen –. Kants Freiheitsargument in GMS III 137. Heiko Puls. Kant über die äußerste Grenze aller praktischen Philosophie –. Ein Kommentar zur Sektion 5 der Grundlegung 157. Frederick Rauscher. Die äußerste Grenze aller praktischen Philosophie.
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Schönecker (Hrsg.) ·

Der dritte Abschnitt von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gilt schon immer als dunkel und unzugänglich, und bis heute ist dieser Text in der Kant-Forschung völlig umstritten. Dabei geht es um die grundlegende Frage, auf welche Weise Kant Freiheit und den kategorischen Imperativ begründet. In diesem Band stellen international etablierte und jüngere Kantforscher neue Interpretationsansätze vor: Larissa Berger, Jochen Bojanowski, Paul Guyer, Christoph Horn, Heiko Puls, Frederick Rauscher, Oliver Sensen und Michael Wolff. Einer der berühmtesten Texte der Philosophiegeschichte wird noch einmal in ein neues Licht gerückt.

Kants Begründung von Freiheit und Moral in Grundlegung III

Dieter Schönecker (Hrsg.)

ISBN 978-3-89785-078-1

Kants Begründung von Freiheit und Moral in Grundlegung III

NEUE INTERPRETATIONEN

Schönecker (Hrsg.) · Freiheit und Moral in Grundlegung III

Dieter Schönecker (Hrsg.)

Kants Begründung von Freiheit und Moral in Grundlegung III Neue Interpretationen

mentis MÜNSTER

Einbandabbildung: Rica Schönecker: Waldstraße

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier

© 2015 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-078-1 (Print) ISBN 978-3-95743-981-9 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

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Larissa Berger Der »Zirkel« im dritten Abschnitt der Grundlegung – Eine neue Interpretation und ein Literaturbericht 9 Jochen Bojanowski Die Deduktion des Kategorischen Imperativs

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Paul Guyer Die Beweisstruktur der Grundlegung und die Rolle des dritten Abschnittes 109 Christoph Horn Das Bewusstsein, unter dem moralischen Gesetz zu stehen – Kants Freiheitsargument in GMS III 137 Heiko Puls Kant über die äußerste Grenze aller praktischen Philosophie – Ein Kommentar zur Sektion 5 der Grundlegung Frederick Rauscher Die äußerste Grenze aller praktischen Philosophie und die Einschränkungen der Deduktion in Grundlegung III 215

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Inhaltsverzeichnis

Oliver Sensen Die Begründung des Kategorischen Imperativs Michael Wolff Warum der kategorische Imperativ nach Kants Ansicht gültig ist – Eine Beschreibung der Argumentationsstruktur im Dritten Abschnitt seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 257 Personenregister

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VORWORT

Das Erste, was man gemeinhin in Texten über den dritten Abschnitt von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten liest, ist die Klage oder jedenfalls Feststellung darüber, wie dunkel und unzugänglich dieser Teil der Grundlegung sei – ein Werk, das doch ansonsten den Ruf geradezu herausragender Klarheit und Schönheit besitzt. Und schon wieder ist es passiert; auch dieses Buch beginnt mit diesem Hinweis: Ja, der dritte Abschnitt ist extrem schwierig zu lesen, und es herrscht völlige Uneinigkeit darüber, was Kant eigentlich sagen will (sofern man an der intentio auctoris festhält) oder was der Text bedeutet (intentio operis). Dabei reden wir nicht von Detailfragen oder Nebensächlichkeiten; der Streit handelt davon, was ganz grundsätzlich gesehen überhaupt Kants Position ist. Und das, worum es dabei geht, ist ebenfalls fundamentaler Natur: Es geht irgendwie (aber wie?) um so etwas wie eine Begründung von Freiheit und Moral. Die Beiträge dieses Bandes widmen sich noch einmal Grundlegung III. Sie tun dies auf sehr unterschiedliche Weise und mit verschiedenen Schwerpunkten. Larissa Berger (Universität Siegen) analysiert den berühmten Zirkelverdacht (Sek. 3) und liefert zugleich eine umfassende Darstellung der Literatur seit 2000. Jochen Bojanowski (Universität Urbana-Champaign) bietet eine Lesart der Deduktion wie überhaupt des gesamten Argumentationsganges von GMS III an, die vier zentrale, seit langem bekannte systematisch-interpretatorische Probleme zu vermeiden sucht. Paul Guyer (Brown Universität) versucht Ähnliches unter besonderer Berücksichtigung der Beweisstruktur. Christoph Horn (Bonn) beschäftigt sich vor allem mit Kants Argument für die These, dass wir frei sind (Sek. 2). Heiko Puls (Universität Hamburg) liefert etwas ab, was es bisher nicht gab: Einen umfassenden Kommentar der Sek. 5. Auch Frederick Rauscher (Michigan State University) beschäftigt sich, aus anderer Perspektive, mit dieser Sektion. Oliver Sensen (Tulane Universität) offeriert vor allem eine neue Lesart des sogenannten ontoethischen Grundsatzes. Michael Wolff (Universität Bielefeld) schließlich analysiert GMS III als Ganzes und gibt umfassende Antworten zu fast allen Grundfragen, die sich bei der Lektüre auftun.

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Vorwort

Die hier abgdruckten Beiträge sind aus der 7. Siegener Kant-Tagung (2012) zur Grundlegung III hervorgegangen. Der Umstand, dass diese Beiträge aus einer gemeinsamen Tagung hervorgegangen sind, bedeutet freilich keineswegs, dass sie in ihren Voraussetzungen (und erst recht nicht in ihren Ergebnissen) miteinander übereinstimmen. Auch lagen die druckfertigen Manuskripte dem Herausgeber nicht zur gleichen Zeit vor. Daher war es nicht in jedem Beitrag möglich, auf die anderen Beiträge hinzuweisen oder gar kritisch einzugehen. Alle Texte sind gezielt in deutscher Sprache geschrieben bzw. ins Deutsche übersetzt. Kants Sprache war Deutsch, nicht Englisch; wer des Deutschen nicht mächtig ist, hat in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kant schon alles verloren. Ich danke Christian Prust und Elke Elisabeth Schmidt für die Mitarbeit bei der Erstellung des Bandes. Mein besonderer Dank gilt Larissa Berger für die Übersetzung des Beitrages von Paul Guyer. Dieter Schönecker

Siegen, Juli 2014

Larissa Berger DER »ZIRKEL« IM DRITTEN ABSCHNITT DER GRUNDLEGUNG Eine neue Interpretation und ein Literaturbericht »Es zeigt sich hier, man muß es frei gestehen, eine Art von Zirkel« (450, 18) 1 – man könnte meinen, Kant wolle sagen, dieser heraufbeschworene Zirkel sei ganz offensichtlich; jeder, der seinen bisherigen Gedankengang in GMS III mit vollzogen haben, müsse ›frei gestehen‹, dass ein Zirkel auftrete. Nun, weder dass ein Zirkel vorliegt, noch worin dieser bestehen sollte, ist in diesem Sinne offensichtlich. Warum sonst hätten Generationen von Kantinterpreten eine nunmehr kaum zu überblickende Anzahl an Literatur zum Zirkelverdacht produziert? Worin dieser Zirkel besteht, ob überhaupt ein Zirkel vorliegt, wie seine Struktur ist und worin schließlich seine Lösung besteht, sind Fragen, die bis heute nicht abschließend geklärt sind. Im Folgenden werde ich die beiden Zirkelformulierungen in GMS 450 und 453 einer genauen Untersuchung unterziehen und Kants Lösungsstrategie sowie seiner abschließenden Lösungsformulierung Rechnung tragen. Einher mit Interpretationsvorschlägen sollen dabei auch immer wieder Fragen formuliert werden, die sich bei der Textlektüre aufdrängen. Diese Fragen werden als Ausgangspunkt für eine Analyse der Forschungsliteratur aus den Jahren 2000 bis 2013 genutzt. Dabei soll ein Überblick über die vertretenen Positionen geschaffen werden, aber insbesondere auch untersucht werden, inwieweit die aufgeworfenen Probleme in der Literatur Beachtung finden.

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Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wird nach der von Bernd Kraft und Dieter Schönecker (1999) im Felix Meiner-Verlag (Hamburg) besorgten Ausgabe zitiert. Die in Klammern ohne Sigel angegebenen Seiten- und Zeilenangaben beziehen sich auf die Akademie-Ausgabe (AA). Die Kritik der reinen Vernunft wird nach der Originalpaginierung (A und B) zitiert. Alle anderen Schriften Kants werden mit Sigel unter Angabe der Seitenzählung der AkademieAusgabe zitiert. Folgende Sigeln wurden verwendet: GMS = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; Jäsche-Logik = Immanuel Kants Logik. Ein Handbuch zu seinen Vorlesungen, ed. G.B. Jäsche; KpV = Kritik der praktischen Vernunft; KrV = Kritik der reinen Vernunft.

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Larissa Berger

1. Zur Einordnung der Zirkelpassage Werfen wir zunächst einen Blick auf den Aufbau von GMS III: Was verrät die Position der Zirkelpassage innerhalb des Gesamtprojekts von GMS III über den Zirkel? Zum Zeitpunkt der dritten Sektion wissen wir aus der Analytizitätsthese 2 der Sektion I, dass »ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei« sind (447, 5). Interpretiert man diesen Satz im Sinne der Analytizitätsthese, dann ist der hier angesprochene ›Wille‹ der Wille eines rein vernünftigen Wesens oder eines sinnlich-vernünftigen Wesens wie dem Menschen, aber nur insofern, als von seiner Sinnlichkeit abstrahiert wird und er nur in vernünftiger Hinsicht betrachtet wird. Ein solches Wesen hat einen freien Willen, und dieser freie Wille will immer das Gute. Damit ist dann aber das ›sittliche Gesetz‹ nicht der kategorische Imperativ; stattdessen muss das nicht-imperativische moralische Gesetz gemeint sein. Die Analytizitätsthese besagt somit, dass der freie Wille eines rein vernünftigen Wesens unter dem nicht-imperativischen moralischen Gesetz steht. Ein solches Wesen handelt immer moralisch. Es ist wichtig, dass die Argumentation, die zur Analytizitätsthese führt, ihren Ausgang bei der Freiheit nimmt und zur Sittlichkeit oder zum sittlichen Gesetz führt, denn in der zweiten Zirkelformulierung wird von einem »Schlusse aus der Freiheit auf die Autonomie und aus dieser aufs sittliche Gesetz« die Rede sein (453, 4). Zudem muss berücksichtigt werden, dass in dem hier zugrunde gelegten Verständnis der Analytizitätsthese das nicht-imperativische Gesetz angesprochen ist. Damit trifft die These insgesamt auf vollkommen vernünftige Wesen zu, und auf sinnlich-vernünftige Wesen, aber nur sofern sie als vernünftige Wesen betrachtet werden. Wird dieses Verständnis der Analytizitätsthese zugrunde gelegt, dann zeigt Kant erst in Sektion IV, wie ein kategorischer Imperativ möglich ist. Die Sektionen II und III können somit als »Vorbereitung« der Deduktion des kategorischen Imperativs gewertet werden, wie Kant es selbst in Sektion I ankündigt (447, 25). Die zweite Sektion zeigt, dass »Freiheit [. . . ] als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden [muß]« (447, 26). Dazu verwendet Kant das »Selbstwiderlegungsargument« (Schönecker 1999, S. 224), welches im Kern besagt, dass die theoretische Vernunft, um urteilen zu können, ihre Selbstbestimmung voraussetzen muss und insofern frei ist. 3 Es erfolgt dann ein Übergang (»folglich«, 448, 18) zur Freiheit der praktischen Vernunft. Was Kant bis zu diesem Zeitpunkt nicht zeigen konnte, ist zum einen, dass der Mensch ein vernünftiges Wesen ist, und zum anderen, warum 2

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Ich übernehme diesen Begriff von Schönecker (1999, S. 147–195); siehe auch Schönecker (2013). Die entsprechende Interpretation wird diesem Text zugrunde gelegt. Vgl. Schönecker (1999, S. 224).

Der »Zirkel« im dritten Abschnitt der Grundlegung

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der kategorische Imperativ gilt. 4 In Bezug auf Kants Argumentation fehlen bis zur dritten Sektion also zwei zentrale Schritte: 1. Ein unabhängiger Grund für die Freiheit oder vielmehr (und damit zusammenhängend) ein Grund dafür, dass der Mensch sich als vernünftiges Wesen betrachten kann: Ein solcher Grund scheint durch die Einführung der Verstandeswelt in der Zirkellösung geliefert zu werden. 2. Ein Beweis für die Geltung des kategorischen Imperativs: Dieser wird im ontoethischen Grundsatz 5 in der Sektion IV geliefert. Wir haben somit vorrangig zwei Probleme oder ausstehende Begründungen, mit denen der Zirkel in Verbindung stehen könnte. Weiterhin muss angemerkt werden, dass sich Kants Argumentation in den ersten beiden Sektionen auf alle vernünftigen Wesen bezieht. Dagegen wird vor allem in der Lösung des Zirkels deutlich, dass hier nun explizit der Mensch als sinnlich-vernünftiges Wesen angesprochen wird. Während die Sektionen I und II zudem vorrangig das nicht-imperativische sittliche Gesetz behandeln (wenngleich als Vorbereitung zur Deduktion des kategorischen Imperativs), befindet sich die Sektion III gewissermaßen am Übergang zur Deduktion des kategorischen Imperativs. Dies lässt sich vor allem an den Absätzen 3–4 ablesen, in denen mehrmals wiederholt wird, dass wir noch nicht »einsehen« können, »woher das moralische Gesetz verbinde« (450, 16). Es wird sich zeigen, dass die Einführung von zwei Standpunkten, die der Mensch einnehmen muss, innerhalb der Zirkellösung letztlich einen entscheidenden Schritt für die Deduktion darstellt. Diese erfolgt dann schließlich in Sektion IV. Somit kann die dritte Sektion und damit die gesamte Zirkelpassage gewissermaßen als Gelenkstelle von GMS III betrachtet werden.

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Vgl. Schönecker (1999, S. 233). Auch diesen Begriff (»ontoethischer Grundsatz«) entnehme ich Schönecker (1999, S. 371). Gemeint ist damit der folgende Satz, in dem Kant die Deduktion des kategorischen Imperativs vollzieht: »Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist und also auch als solche gedacht werden muß, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch zum Gesetze der ersteren d. i. der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich als Imperativen und die diesem Prinzip gemäßen Handlungen als Pflichten ansehen müssen« (453, 31).

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Larissa Berger

2. Zur Untersuchung der Zirkelformulierungen 2.1 Die erste Zirkelformulierung Die erste Zirkelformulierung im vierten Abschnitt der Sektion III lautet: [Z1] Es zeigt sich hier, man muß es frei gestehen, eine Art von Zirkel, aus dem, wie es scheint, nicht herauszukommen ist. [Z2] Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben, [Z3] denn Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe, davon aber einer eben um deswillen nicht dazu gebraucht werden kann, um den anderen zu erklären und von ihm Grund anzugeben, sondern höchstens nur, um in logischer Absicht verschieden scheinende Vorstellungen von eben demselben Gegenstande auf einen einzigen Begriff (wie verschiedene Brüche gleichen Inhalts auf die kleinsten Ausdrücke) zu bringen. (450, 18)

Diese Textpassage lässt sich folgendermaßen gliedern: Der erste Satz (Z1) führt den Zirkel ein, während der zweite erläutert, worin dieser Zirkel besteht. Dieser zweite Satz wiederum lässt sich in zwei Abschnitte gliedern, wobei der erste Teil (Z2) den Zirkel formuliert, während der zweite (Z3) eine Begründung anzuführen scheint (›denn Freiheit . . .‹). Zunächst sei Z1 untersucht: »Es zeigt sich hier, man muß es frei gestehen, eine Art von Zirkel, aus dem, wie es scheint, nicht herauszukommen ist« (450, 18). Das wohl Auffälligste ist, dass Kant die Formulierung ›eine Art von Zirkel‹ statt ›ein Zirkel‹ verwendet. Diese Formulierung kann auf mindestens zweierlei Weisen verstanden werden. Betont man den unbestimmten Artikel ›eine‹, so geht man davon aus, dass es mindestens zwei verschiedene Arten von ›Zirkel‹ gibt, wovon sich hier aber nur eine zeigt. Vorgreifend ließe sich vermuten, dass es sich dabei um die beiden Arten des circulus in probando und der petitio principii handelt und hier eine petitio angesprochen ist. 6 Anders verhält es sich, wenn man das Wort ›Art‹ stärker betont, was dazu führt, dass es sich nicht um einen wirklichen Zirkel, sondern um etwas handelt, das so ähnlich ist wie ein Zirkel – aber eben kein wirklicher Zirkel. 7 Mit diesen beiden Möglichkeiten der Auslegung von ›eine Art von Zirkel‹ hängt somit die Frage zusammen, ob es sich wirklich um einen Zirkel handelt, oder um etwas anderes, das nur so ähnlich ist, oder aber nur ein »Verdacht« besteht, 6 7

Vgl. Schönecker (1999, S. 339). Dies wäre sowohl mit einer Lesart des Zirkels als petitio vereinbar als auch mit der These, Kant beschreibe (unter anderem) einen psychologischen Zirkel. Beide Lesarten werden später genauer behandelt.

Der »Zirkel« im dritten Abschnitt der Grundlegung

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der jedoch »gehoben« werden kann, wie es in der zweiten Zirkelformulierung heißt (453, 3). Denn es ist ein großer »Unterschied, ob man in einen Zirkel gerät und später zeigt, daß man [. . . ] wieder aus ihm herausgefunden hat [. . .]; oder ob man dem Verdacht auf einen Zirkel ausgesetzt ist, und hinterher diesen Verdacht ausräumt [. . . ]« (Schönecker 1999, S. 330). Der Nebensatz ›aus dem, wie es scheint, nicht herauszukommen ist‹ scheint hinsichtlich dieses Anliegens wenig aufschlussreich. Wenn es scheint, als könne man nicht entkommen, so kann diese Relativierung entweder darin begründet liegen, dass der Zirkel selbst nur ein Schein oder ein Verdacht ist, oder aber, dass es nur so scheint, dass man wirklich gefangen ist, aber ein Entkommen, d. h. eine Auflösung des Zirkels möglich ist. Noch ein weiteres Wort verdient Beachtung. Kant schreibt, es zeige sich hier eine Art von Zirkel. Dieses Wort kann sich nicht auf den gesamten, vorangehenden Absatz beziehen, der einen Exkurs beinhaltet, in dem die spezifische Möglichkeit ausgeschlossen wird, das Interesse an der Moral auf die Würdigkeit, der Glückseligkeit teilhaftig zu werden, zu gründen. Betrachtet man die Formulierungen des Zirkels, so wird ersichtlich, dass es hier zentral um die Beziehung von Freiheit und moralischem Gesetz geht, während die Würdigkeit, der Glückseligkeit teilhaftig zu werden, keine Rolle spielt. Somit muss der Schluss dieses Absatzes und damit das übergeordnete Thema der Sektion III bis hierher gemeint sein, nämlich die Frage, wie es möglich ist, dass wir »uns als frei im Handeln betrachten und so uns dennoch für gewissen Gesetzen unterworfen halten sollen [. . . ], mithin woher das moralische Gesetz verbinde« (450, 12). Der Gegensatz zwischen ›frei‹ und ›unterworfen‹ mag vorgreifend an die Lösungsformulierung des Zirkels in 435, 11 erinnern, da hier ›frei‹ und ›verpflichtet‹ kontrastiert werden. 8 Was dieser Satz also letztlich für die Lokalisation des Zirkels bedeuten könnte, ist das Folgende: erstens ist der kategorische Imperativ noch nicht bewiesen; zweitens gibt es einen noch näher zu beleuchtenden Bezug zur Freiheit, zu welcher der kategorische Imperativ in einer Art Widerspruch steht. Zentral scheint jedoch die Frage, ›woher das moralische Gesetz verbinde‹. Bezieht man ›hier‹ auf das bisher in Sektion III Geleistete, so ergibt sich ein ähnliches Bild: Der erste Absatz kann als Resümee des bisherigen Vorgehens von GMS III aufgefasst werden, während die beiden folgenden Absätze darauf verweisen, dass die Gültigkeit des kategorischen Imperativs noch nicht bewiesen wurde. Wir konnten auch sehen, dass dieser Beweis erst in Sektion IV geliefert wird. Es wäre nun möglich, dass eben darin eine Deutung des Zirkels begründet läge: Würden wir glauben, dass durch das bisher Geleistete die Geltung des kategorischen Imperativs bereits bewiesen wäre, so läge in 8

Jedoch spielt der Kontrast zwischen Freiheit und Verpflichtung in den Zirkelformulierungen sowie in der Lösungsstrategie keine zentrale Rolle.

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Larissa Berger

diesem Beweis ein wie auch immer gearteter Zirkel. 9 Das ›hier‹ würde sich damit auf alles bisher in GMS III Geleistete beziehen, das in der dritten Sektion noch einmal explizit dargelegt wurde, aber der Zirkel bestünde in einem falschen Verständnis desselben. Zudem hieß es im ersten Absatz, dass wir die Freiheit nur »voraussetzen müssen« und sie »als etwas Wirkliches nicht einmal in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen« konnten, sondern nur wüssten, »daß wir sie voraussetzen müssen, wenn wir uns ein Wesen als vernünftig und [. . .] mit einem Willen begabt, uns denken wollen« (448, 26). Somit wäre also auch zu Beginn von Sektion III möglicherweise auf das Problem verwiesen, dass die Freiheit bzw. die Rationalität für den Menschen bisher nur eine Annahme ist, die noch eines unabhängigen Beweises bedarf. Sowohl eine Deutung des ›hier‹ in Bezug auf den direkt vorangehenden Satz als auch auf die ersten vier Absätze von Sektion III legt somit nahe, dass der Zirkel irgendwie mit dem noch ausstehenden Beweis der Gültigkeit des kategorischen Imperativs sowie mit einem ebenfalls noch ausstehenden Beleg für die Freiheit zusammenhängt. Zusammenfassend hat damit die Untersuchung von Z1 ergeben, dass Kant den ›Zirkel‹ bereits bei seiner ersten Erwähnung relativiert. Es handelt sich nur um ›eine Art von Zirkel‹, und zudem ist wahrscheinlich ein Entkommen möglich. Vom ›zirkulären‹ Vorgehen ist Kants eigene Argumentation betroffen (›hier‹). Konkret kann sich ›hier‹ auf den direkt vorangegangenen Satz beziehen oder aber auf den gesamten Anfang der dritten Sektion. Da aber dieser Anfang das Vorgehen von GMS III bis zu diesem Punkt resümiert, wäre die gesamte Argumentation von GMS III bis zu Sektion III vom ›Zirkel‹ betroffen. Als mögliche inhaltliche Probleme kommen dabei das Ausstehen eines Beweises für den kategorischen Imperativ oder aber die noch ausstehende Begründung für die Annahme der Freiheit (für den Menschen) in Frage. Betrachten wir nun die Formulierung des Zirkels in Z2: Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben. (450, 19) Bevor diese Zirkelformulierung genauer untersucht werden kann, muss kurz angemerkt werden, dass Kant die erste Person Plural (›wir‹) verwendet. Dies kann zum einen darauf verweisen, dass er hier explizit vom Menschen spricht. Zudem mag es zusammen mit dem ›hier‹ aus Z1 ein Indiz dafür sein, dass 9

Hierzu passt Kants Formulierung in Z2: »[. . . ] und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen« (450, 20). Die Rede von der Unterworfenheit legt nahe, dass das hier beschriebene sittliche Gesetz der kategorische Imperativ ist.