Kölner Wahn

Kölner Totenkarneval (2011) ... Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und .... Beide waren nackt, in beiden Körpern steckten Auf-.
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Stefan Keller

Kölner Wahn

Wahnbilder

Ein Obdachloser verbrennt im Keller des Mietshauses, in dem Privatdetektiv Marius Sandmann wohnt. Die Polizei glaubt an einen Unfall. Sandmann an Mord. Denn offensichtlich wurde dem Obdachlosen eine Rolle mit Bildern gestohlen. Von seinem Mörder. Der Privatdetektiv macht das leerstehende Elternhaus des Mannes ausfindig. Im Innern des Hauses hat der Outsider-Künstler sein Opus Magnus geschaffen: eine verstörende Bildwelt voller Gewalt, aber auch kindlich anmutender Naivität. Als der Privatdetektiv weiterbohrt, stößt er auf ein schreckliches Familiengeheimnis. Und er zieht die Aufmerksamkeit eines Mörders auf sich, der 20 Jahre unentdeckt geblieben ist … Zur gleichen Zeit sucht Hauptkommissarin Paula Wagner, Marius’ wichtigste Kontaktperson bei der Kölner Polizei, einen seit über einem Jahr verschwundenen Kunstdieb. Ein Fall, über den Marius Sandmann mehr weiß, als er preisgeben möchte. Aus gutem Grund …

Stefan Keller, Jahrgang 1967, lebt und arbeitet als Autor, Dozent und Dramaturg in Köln. Nach einer Tätigkeit als Wirtschaftsjournalist und Theaterdramaturg schrieb er Hörspiele, Fernsehshows, Drehbücher, Bühnenstücke, Kurzgeschichten und Lyrik. Er lektoriert für Filmproduktionen und Fernsehsender und unterrichtet seit mehreren Jahren Schreiben als Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln und am KOMED. »Kölner Wahn« ist Kellers fünfter Kriminalroman um den Privatdetektiv Marius Sandmann im Gmeiner-Verlag. Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Kölner Grätsche (2014) Kölner Luden (2013) Kölner Persönlichkeiten (2012) Kölner Totenkarneval (2011) Kölner Kreuzigung (2010)

Stefan Keller

Kölner Wahn Sandmanns fünfter Fall

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet: www.gmeiner-verlag.de © 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0 [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2015 Lektorat: René Stein, Hamburg Herstellung: Julia Franze Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von: © xurzon – Fotolia.com und © travelguide – Fotolia.com Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-8392-4761-7

»… aber obenan stand immer der Sandmann, den ich in den seltsamsten, abscheulichsten Gestalten überall auf Tische, Schränke und Wände mit Kreide, Kohle, hinzeichnete.« E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann

Teil I Exit Light

1 Marius Sandmann starrte in die Finsternis. Nicht einmal die Mauer, die den Hof zum Nachbargrundstück abschloss, konnte der Privatdetektiv erkennen. Durch die Zweige der über 15 Meter hohen Tanne, die ein Mieter vor 20 Jahren gepflanzt hatte, um die Kargheit des Hofes zu mindern, schimmerten einzelne Lichter aus den Fenstern der Nachbarhäuser. Sie reichten nicht aus, um den dunklen Innenhof zu erhellen. Was vor der Mauer in den Sträuchern geschah, entzog sich Marius’ Blick. Vor wenigen Minuten hatte er dort eine Bewegung wahrgenommen, einen flüchtigen Schatten, einen kurzen unruhigen Moment in der tiefschwarzen Nacht. Bis vor sechs Wochen wäre der Bewegungsmelder angesprungen, den Sandmann installiert hatte, und hätte den Hof in gleißendes Licht getaucht. Nachdem sich die Nachbarn wegen des Lichts beschwert hatten, hatte er den Melder wieder von der Stromleitung abgeklemmt. Jetzt blickte er ins Dunkel. Er versuchte, sich auf die Stelle zu konzentrieren, an der der Schatten sich bewegt hatte. Vergeblich. Falls dort draußen jemand auf ihn lauerte, konnte Marius ihn nicht erkennen. Sein Nachtsichtgerät würde ihm jetzt helfen. Aber das lag oben im Schlafzimmer. Vorsichtig, um von draußen nicht gesehen zu werden, schlich er weg von dem dunklen, vergitterten Fenster, hinter dessen Rand er sich versteckt hatte. Durch seinen Trainingsraum, der früher einmal das Wohnzimmer 7

gewesen war, und über die Treppe ging er leise hinauf ins Schlafzimmer, die Augen hinaus in den Hof gerichtet. Die Holztreppe knarzte unter seinen Tritten. Im Schlafzimmer bewegte er sich an der Wand entlang zum Fenster. Er konnte die Raufaser an seiner Schulter spüren. Dann nahm er das Nachtsichtgerät von der Ablage, einem alten Nachttisch aus den 1950er Jahren, den er auf dem Sperrmüll gefunden, mitgenommen und nach einer gründlichen Reinigung neben das Bett gestellt hatte. Das Gerät vor der Brille bezog er hinter dem Vorhang Position. Die Mauer und der Innenhof des Mietshauses, in dem Marius wohnte, hoben sich jetzt in einem matten Grün von der Dunkelheit der Umgebung ab. Er sah niemanden. Hatte er sich getäuscht? Hatte der Eindringling den Hof wieder verlassen? Oder stand er nun direkt unter ihm an einem der Fenster im Erdgeschoss? Marius beugte sich nach vorne und versuchte, die Erdgeschossfenster zu kontrollieren. Vergeblich. Er schaute wieder in den Hof. Neben den Mülltonnen lag ein Haufen aus Decken. Hatten die heute Mittag schon dort gelegen? Er erinnerte sich nicht. Leise atmend beobachtete er das grünliche Bündel eine Weile. Plötzlich bewegte es sich, als krabbelte ein Tier unruhig unter ihm hin und her. Dann war wieder Ruhe. Wenige Augenblicke später schob sich eine Hand unter der Decke hervor und griff mit hageren Fingern nach ihr. Jemand schlief dort unten. Für den Moment war der Detektiv erleichtert. Er beobachtete das Bündel weitere 20 Minuten. Es musste kalt dort draußen sein. Die Decken würden kaum ausreichen, um der Person Wärme zu spenden. Würde er ihm 8

eine Decke herausbringen, musste er allerdings befürchten, dass sich der Obdachlose dauerhaft vor seinen Fenstern einnistete. Dann würde Marius bei jedem Geräusch aufschrecken und fürchten, dass jemand ans Fenster treten würde, um ihn zu töten. Plötzlich bewegten sich die Decken erneut. Ein schmaler, ausgemergelter Schädel unter langen, verfilzten Haaren und von einem dichten Vollbart bedeckt, blickte zu dem Detektiv hinauf. Rasch verschwand er in der Dunkelheit des Zimmers. * Marius Sandmann schlief unruhig. Zweimal stand er auf und schaute aus dem Fenster hinaus in den Hof und auf das Bündel schmutziger Decken. Zurück im Bett tastete er nach der Pistole, die zwischen Matratze und Wand eingeklemmt war. Die Pistole, mit der er vor achtzehn Monaten einem Mann sieben Kugeln in den Körper gejagt hatte. Als er wieder einschlief, umklammerte seine Faust die Waffe. Zwei Stunden später erwachte er erneut. Um vier Uhr morgens sah er ein, dass er nicht wieder einschlafen würde und stand auf. Vielleicht würde eine Trainingseinheit ihn wieder müde machen. Die Pistole steckte er in den Bund der Jogginghose, in der er geschlafen hatte, und trat, das Nachtsichtgerät vor Augen, ans Fenster. Die Szenerie draußen hatte sich in der Nacht verändert. Es hatte geschneit, der Boden war von einer weißen Schicht bedeckt, unter der das Deckenknäuel, unter dem wiederum der Obdachlose lag, kaum zu erkennen war. Trotzdem war er noch da. Erleichtert registrierte Marius, dass keine Fußabdrücke im Hof zu sehen waren. Niemand 9

außer dem Obdachlosen hatte ihn betreten. Leise schlich er die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Im früheren Wohnzimmer hatte er sich ein kleines Studio eingerichtet. Er begann sein Work-out mit Seil­springen. Sein Blick war durch das Fenster in den Hof gerichtet. Früher hatte er direkt mit den Gewichten begonnen, dann aber gemerkt, dass es um seine Kondition schlecht bestellt war. Also hatte er das Seil ins Programm integriert. Am Anfang kam er sich etwas lächerlich vor. Eine Stunde später wechselte er auf die Hantelbank, Brusttraining. Es folgten Übungen an den Kettlebells und am Türreck. Das dunkle Rechteck des Fensters zeigte nichts als Finsternis. Kein Leben. Keine Bewegung. Wie konnte er den Obdachlosen loswerden? Verjagen wollte er ihn nicht. Wo sollte der Kerl bei dieser Kälte hin? Verbissen hob er den Kopf an die Knie. Danach verlängerte er die abschließenden Liegestütze ebenso wie die zweite Einheit Seilspringen. Als er nach einer weiteren Stunde keuchend innehielt und das Seil zu Boden sank, war er so erschöpft, dass er sich wieder hinlegen musste. Zurück im Bett vergaß er die Pistole und schlief sofort ein. Als er aufwachte, hing eine milchige Sonne träge über den Dächern und warf ein fahles Licht ins Schlafzimmer. Diesigkeit und Nebel hatten die Dunkelheit abgelöst. Regentropfen klirrten wie kleine Nadeln gegen die Fensterscheibe. Der Regen hatte zahlreiche kleine Löcher in die Schneedecke gehämmert, die sich an den Rändern braun verfärbten, als würden sie verfaulen. Die Decken waren verschwunden. Eine Fußspur, als solche in dem dünnen Matsch kaum noch auszumachen, führte zur Hoftür. Marius zog sich ein Sweatshirt über, schlüpfte in ein paar Sneakers und ging hinaus. Gegen den 10

unangenehmen Nieselregen zog er sich die Kapuze tief ins Gesicht. Zielstrebig lief er durch den Schneematsch zu der Stelle, an der der Obdachlose gelegen hatte. Nur der fehlende Schnee erinnerte noch daran. Fast hätte der Detektiv die Zeichnung an der Wand hinter den Mülltonnen übersehen. Er musste in die Hocke gehen, um sie betrachten zu können. Der Obdachlose hatte sie fast direkt am Boden mit Filzstift auf den Putz der Mauer gezeichnet. Vier schwarze Streifen unterteilten das Bild in fünf längliche Rechtecke. Parallel verlaufende diagonale Linien unterteilten den Bildraum zusätzlich. Marius stützte sich mit einer Hand an der Mauer ab, um sich weiter nach vorne beugen zu können. Die schwarzen Streifen stellten Gitterstäbe dar, dahinter ein Totenschädel, der offenbar eine dunkle Brille trug. Der Schädel blickte ihn an. Er wirkte vertraut. Im Hintergrund hatte der Obdachlose begonnen, das Bild auszumalen. Erste orangegelbe Flammen tobten um den Schädel herum. Schwarze Wolken grenzten das Bild nach oben ab. Am unteren Rand ergoss sich eine Art Flüssigkeit in einen See. Verstört erhob sich Marius und schaute das Bild aus der Distanz an. Das Gesicht hinter den schwarzen Streifen, die sich zu einer Reihe von Gitterstäben formten, den Totenschädel erkannte er. Es war seins. Der Obdachlose hatte ihn gemalt. Offensichtlich hatte er ihn an einem der vergitterten Fenster beobachtet. Der Detektiv beugte sich wieder nach vorne, um sein Porträt genauer zu betrachten. Es war bemerkenswert gut gezeichnet, die Linienführung akkurat, die Details fast schon beängstigend perfekt getroffen. Aber nichts, weder die Kleidung, die Brille, nicht einmal seine Gesichtszüge waren einfach nur flächig ausgemalt. Sie zeigten For11

men, so winzig, dass Marius sie auch mit vorgehaltener Brille nicht erkennen konnte. Er lief ins Büro, dem vorderen Raum im Erdgeschoss seiner Maisonette, und kam wenige Augenblicke später mit einer Lupe in der Hand zurück. Die Brille bestand aus vier Armen, die sich um seine Augen wanden, abgehackt an der einen Seite, ineinander verhakt an der anderen. Sein Sweatshirt bestand aus dunklen Rauchwolken, die sich ausdehnten. Von unten spielten Flammen um seinen Körper herum, als stünde Marius Sandmann auf einer Art Scheiterhaufen. Er lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf die Gitterstäbe. Es sah aus, als klebten Tiere daran, eine Art Eidechse, eine Katze, die ihn ankeifte und mit ihrer Tatze nach ihm zu schlagen schien. Zwitterwesen und Dämonen tobten um diese beiden Tiere herum. Die kleinen Affen, die Dämonen, die sich gegenseitig erstachen und aufspießten, teilweise ineinander verbissen waren, grinsten den Detektiv im Bild und den vor der Mauer höhnisch an und entblößten feine, messerscharfe Zähne. * Mit einem roten, blutunterlaufenen Auge blickte die Frau dem Kind nach. Das andere Auge, strahlend blau, schien auf eine Gruppe Vögel gerichtet zu sein, die auf das Kind herabschauten. Sie hielt die Hand des Kindes fest umklammert. Beide waren nackt, in beiden Körpern steckten Aufziehräder, als handelte es sich um Puppen, deren feine Mechanik – im Inneren verborgen – sie zum Leben erwecken könnte. Die Mutter und ihr Kind waren kalkweiß, von einigen schwarzen Streifen abgesehen. Um sie herum explodierte 12

alles vor Farben. Die Blätter an den Bäumen boten jeden nur erdenklichen Grünton, die Vögel, die aufgeregt darin saßen, schillerten in Dutzenden Rot-, Blau- und Gelbtönen. »Bemerkenswert«, sagte Marius Sandmann und richtete sich wieder auf. »Eines meiner Lieblingsbilder«, sagte der Mann, der neben ihm stand und ihn interessiert beobachtete. Nachdem er sich erhoben hatte, strich der Detektiv sich die Anzughose glatt und lächelte Egon Werstenkiel, Inhaber einer PR-Agentur im Kölner Nobelvorort Marienburg, freundlich an. »August Walla hat in jungen Jahren versucht, sich umzubringen und das Haus seiner Mutter anzuzünden. Danach lebte er mehrere Jahre in der Psychiatrie und hat dort angefangen zu malen. Das ist eins seiner ungewöhnlichsten Bilder. Die meisten seiner Werke bilden ihren eigenen Kosmos – eine Art Religion. Nur schwer zu verstehen. Eigentlich gar nicht.« »Gefällt es Ihnen deswegen?« »Es ist eine Abwechslung, ja. Aber dahinter steckt noch etwas anderes.« Werstenkiel ging einige Schritte weiter, seine teuren Halbschuhe klapperten leicht auf dem dunkel gestrichenen Estrich, der der Agentur als Boden ausreichte. Er blieb vor einem anderen Bild stehen. Es war deutlich größer als das Werk Wallas und durch und durch abstrakt. Marius sah nur farbige Linien, die sich zu immer neuen Mustern formten. Ihn schwindelte beim Anschauen. Das Bild trieb einen in den Wahnsinn, wenn man nicht genug Abstand einhielt. Er ging näher heran, hielt es aber nicht lange aus. »Von wem stammt das?« »Von meiner Tante.« 13

»Interessante Familie.« »In der Tat. Bis vor zwölf Jahren wusste ich nichts von dieser Tante. Meine Eltern und meine Großeltern haben mir ihre Existenz schlicht verheimlicht. Mir und wohl auch den meisten anderen Leuten in unserem Umfeld.« »Lassen Sie mich raten: Auch Ihre Tante hat einen Großteil ihres Lebens in der Psychiatrie verbracht.« »Schizophrene Störung. Sie wurde mit 23 eingeliefert, weil sie versucht hat, sich und ihren Liebhaber mit einer Nagelschere umzubringen.« »Einer Nagelschere?« »Bei ihm ist es ihr fast gelungen.« »Was geschah vor zwölf Jahren?« »Sie starb«, antwortete Werstenkiel. »Woran?« »Altersschwäche. Sie war über 70 und ziemlich krank.« »Wie haben Sie dann von ihr erfahren?« »Sie hat mir ihre Bilder hinterlassen. Danach hat meine Mutter das erste Mal mit mir über ihre verrückte Schwester gesprochen. Und das einzige Mal. Ich habe mich in ihre Krankenakte eingelesen und erfahren, dass es viele Psychiatriepatienten gibt, die als sogenannte OutsiderKünstler gelten.« »Allerdings müssen Outsider-Künstler nicht zwingend Psychiatriepatienten sein, oder?« »Nein, natürlich nicht. Aber dieser Bereich interessiert mich am meisten.« Sie gingen ein wenig durch die Agentur, während sie redeten, Marius betrachtete interessiert die Bilder an den strahlend weißen Wänden. Vor einer kleinen Arbeit, die offenbar auf einer alten Duschgel-Verpackung aufgetragen worden war, blieb er stehen. Für einen Moment glaubte er, 14