Invertito 15. Jahrgang 2013 - Buch.de

Liebesabenteuern teilhaben, sondern vermögen u.a. auch aufzuzeigen, wie er „Networking“ für die Sache des Wissenschaftlich-humanitären Komitees betrieb.
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15. Jahrgang, 2013 Herausgegeben vom Fachverband Homosexualität und Geschichte e.V. Redaktion Andreas Brunner (Wien), Martin Lücke (Berlin), Stefan Micheler (Hamburg), Andreas Niederhäuser (Basel), Herbert Potthoff (Köln), Sabine Puhlfürst (München)

Männerschwarm Verlag Hamburg 2013

Redaktion Invertito c/o Centrum Schwule Geschichte Postfach 27 03 08 50509 Köln [email protected] www.invertito.de

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Männerschwarm Verlag GmbH, Hamburg 2013 Umschlaggestaltung: Stefan Micheler nach einer Idee von Jens Rassmus, Hamburg Korrektorat: Jakob Michelsen, Hamburg Übersetzungen: Dominik Hünniger, Göttingen Druck: Idee, Satz & Druck, Hamburg 1. Auflage 2013 ISBN Buchausgabe: 978-3-86300-153-7 ISBN Ebook (PDF): 978-3-86300-160-5 Männerschwarm Verlag GmbH Lange Reihe 102, 20099 Hamburg www.maennerschwarm.de

Invertito Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten Jahrgang 15, 2013 EDITORIAL

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HAUPTBEITRÄGE Kevin Dubout / Raimund Wolfert „Eigentümliche Städte, sympathische Völker und Sehenswürdigkeiten von großer Schönheit“. Zur Skandinavien-Rundreise des WhK-Aktivisten Eugen Wilhelm 1901

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Thierry Delessert Straflosigkeit in Grenzen. Zur politischen und rechtlichen Geschichte männlicher Homo­ sexualität in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

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Johann Karl Kirchknopf Ausmaß und Intensität der Verfolgung weiblicher Homosexualität in Wien während der NS-Zeit. Rechtshistorische und quantitative Perspektiven auf Dokumente der Verfolgungsbehörden

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Ines Rieder Aktenlesen 1946–1959. Lesben in Wien im Visier der Justiz

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Volker Bühn Alfred Grünewald (1884–1942). Architekt, Dichter und Erotiker

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Manuela Bauer / Hannes Sulzenbacher „Mein Name ist Erich Lifka. In Moskau kennt man mich.“ Eine erfundene Biographie zwischen Abenteuer, Widerstand, Spionage und Pornographie

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KLEINERE BEITRÄGE Katja Koblitz „Immer zwischen allen Fronten“ – Zur Ausstellung „Mädchen in Uniform – Christa Winsloe (1888–1944)“ im Schwulen Museum Berlin vom 30. November 2012 bis 4. März 2013

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Adrian Lehne / Martin Lücke Teaching Queer History: Ein Queer History Month in Berlin im Februar 2014

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REZENSIONEN Thierry Pastorello: Sodome à Paris. Fin XVIIIe – milieu XIXe siècle: L’homosexualité en construction (Kevin Debout)

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Stefan Müller: Ach, nur ’n bisschen Liebe. Männliche Homosexualität in den Romanen deutschsprachiger Autoren in der Zwischenkriegszeit 1919 bis 1939 (Herbert Potthoff)

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Doris Hermanns: Meerkatzen, Meißel und das Mädchen Manuela. Die Schriftstellerin und Tierbildhauerin Christa Winsloe (Sabine Puhlfürst)

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Régis Schlagdenhauffen: Triangle rose. La persécution des homosexuels et sa mémoire (Frédéric Stroh)

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Verena Nolte: „Ich habe die Zeit gesehen“. Literaturausstellung Horst Bienek 1930–1990. Reinhard Laube / Verena Nolte (Hg.): Horst Bienek – Ein Schriftsteller in den Extremen des 20. Jahrhunderts (Raimund Wolfert)

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Andreas Pretzel / Volker Weiß (Hg.): Rosa Radikale. Die Schwulenbewegung der 1970er Jahre (Vojin Saša Vukadinović)

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ENGLISH ABSTRACTS

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AUTORINNEN UND AUTOREN

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Editorial

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Liebe Leserinnen und Leser, auch in diesem Jahrbuch erwartet Sie eine vielfältige Palette von Beiträgen zur Geschichte der Homosexualitäten. Der geographische Schwerpunkt der meisten Beiträge liegt diesmal nicht in Deutschland, sondern in den benachbarten Regionen und Ländern, insbesondere in Österreich. Der erste Beitrag nimmt uns mit auf eine Reise in den Norden, die der in Straßburg als Richter tätige Eugen Wilhelm – besser bekannt unter seinem Pseudonym Numa Praetorius – im Jahr 1901 unternommen hat. Kevin Dubout und Raimund Wolfert lassen uns dabei in ihrer detaillierten Auseinandersetzung mit Wilhelms Tagebuchaufzeichnungen nicht nur an seinen Liebesabenteuern teilhaben, sondern vermögen u.a. auch aufzuzeigen, wie er „Networking“ für die Sache des Wissenschaftlich-humanitären Komitees betrieb. Thierry Delessert zeichnet in seinem Beitrag mit Blick auf die Besonderheiten des politischen Systems und die Rolle der Justiz und Psychiatrie nach, wie es in der Schweiz mitten im Zweiten Weltkrieg, während im NS-besetzten Teil Europas die Repression gegen homosexuelle Männer und Frauen zunahm, zu einer Legalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität unter Erwachsenen kommen konnte. Die weiteren Hauptbeiträge widmen sich österreichischen Themen: Johann Karl Kirchknopf greift mit seiner auf rechtshistorischen und quantitativen Methoden beruhenden Auswertung von Wiener Gerichtsakten aus der NS-Zeit in die innerhalb der schwullesbischen Community nach wie vor aktuelle Diskussion über das Ausmaß und die historische Bewertung der Verfolgung lesbischer Frauen unter der nationalsozialistischen Herrschaft ein. Er kommt dabei in seiner Arbeit zum Schluss, dass in Bezug auf lesbische Frauen von einer Zunahme und, wenn auch mit Einschränkungen, von einer systematischen Verfolgung gesprochen werden kann. Ines Rieder beschäftigt sich mit lesbischen Frauen, die in der Nachkriegszeit in die Mühlen der Wiener Justiz geraten sind. Ihr gelingt es aufzuzeigen, dass die Argumente, mit denen die Obrigkeit die Verfolgung und die Verurteilung von Lesben rechtfertigte, sich nach dem Ende der NS-Herrschaft nicht wesentlich änderten. Erst gegen Ende der 1950er Jahre konnten modernere, durch den medizinischen und psychologischen Diskurs geprägte Vorstellungen an Einfluss gewinnen. Volker Bühn beleuchtet in seinem Beitrag Leben und Werk des heute kaum noch bekannten österreichischen Dichters Alfred Grünewald. Grüne-

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wald scheute sich nicht, wie der Autor anhand zahlreicher Beispiele belegen kann, seine Homosexualität, insbesondere seine Liebe zu jungen Männern, in seinen Gedichten zu thematisieren. Die literarische Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit reagierte darauf allerdings ablehnend und Grünewald, der im KZ Auschwitz ermordet wurde, blieb der große Erfolg verwehrt. Ist der Dichter Grünewald heute weitgehend vergessen, so ist der 2007 verstorbene Schriftsteller und Aktivist Erich Lifka zumindest in Österreich eine immer noch bekannte Person. Dank der Aufarbeitung seines Nachlasses vermögen Manuela Bauer und Hannes Sulzenbacher das in der schwulen Geschichtsschreibung unhinterfragt tradierte Selbstbild Lifkas arg ins Wanken zu bringen. In der Rubrik „Kleinere Beiträge“ bespricht Katja Koblitz die letzte Ausstellung des Schwulen Museums am alten Standort Mehringdamm in Kreuzberg – das Museum zog Mitte 2013 in die Lützowstraße im Bezirk Tiergarten ­– über die deutsch-ungarische Schriftstellerin und Bildhauerin Christa Winsloe und ihr bekanntestes Werk Mädchen in Uniform (Theaterstück, Film und schließlich Roman). Adrian Lehne und Martin Lücke stellen das zu Beginn des Jahres 2014 gestartete Projekt Queer History Month vor, das zum Ziel hat, LBGT-Themen verstärkt in den Geschichtsunterricht an Berliner Schulen einfließen zu lassen. Den Abschluss bildet wie immer eine Auswahl von Rezensionen zu neueren Publikationen aus dem Bereich der Geschichte der Homosexualitäten. Und zu guter Letzt: Auch an Invertito gehen die neuen Lesegewohnheiten nicht spurlos vorbei. Ab der letztjährigen Ausgabe (Invertito14/2012) bietet der Männerschwarm Verlag das Jahrbuch auch als E-Book an. Die Redaktion

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Kevin Dubout / Raimund Wolfert

„Eigentümliche Städte, sympathische Völker und Sehenswürdigkeiten von großer Schönheit“ Zur Skandinavien-Rundreise des WhK-Aktivisten Eugen Wilhelm 1901 Übersicht Der Straßburger Jurist Eugen Wilhelm (1866–1951) war als Obmann des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK) und Mitarbeiter des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen einer der maßgeblichsten Protagonisten der ersten deutschen Homosexuellenbewegung. Als 2009 die gesammelten Tagebücher Wilhelms gefunden wurden, kam dies einer Sensation gleich. Auf insgesamt über 7000 Seiten hat Wilhelm über einen Zeitraum von 66 Jahren (von 1885 bis 1951) Rechenschaft über sein Leben und Denken abgelegt. Kevin Dubout und Raimund Wolfert widmen sich im vorliegenden Artikel einem Tagebucheintrag Wilhelms aus dem Jahre 1901, in dem dieser in knapper Form Auskunft über eine von ihm unternommene Reise nach Skandinavien erteilt. Sie arbeiten heraus, dass es Wilhelm bei dieser Reise nicht nur um klassische bildungsbürgerliche Ideale ging, sondern auch um eine internationale Vernetzungsarbeit im Sinne des WhK sowie ganz persönlich um gleichgeschlechtliche „Liebesabenteuer“, wie sie Wilhelms Stellung im heimatlichen Straßburg potentiell aufs Spiel gesetzt hätten. Dubout und Wolfert gehen auf Persönlichkeiten wie den dänischen Polizeikommissar Carl Hansen (1870–1939) und den norwegischen Rechtshistoriker Ebbe Hertzberg (1847–1912) ein, denen Wilhelm auf seiner Reise begegnete, und zeigen auf, dass es schon um 1901 ein städtisches homosexuelles Leben in Skandinavien gab. Sie veranschaulichen damit exemplarisch, wie aussagekräftig und ergiebig das Tagebuch Eugen Wilhelms für die Forschung zur Geschichte der Homosexualitäten ist.

Im Heft 20 seiner Tagebücher,1 das sich dem Zeitraum vom 1. April 1900 bis zum 24. Dezember 1905 widmet, beschreibt der 35-jährige Eugen Wil Tagebuch-Eintrag vom 26.6.–1.8.1901 (Heft 20). Alle folgenden Übersetzungen aus dem auf Französisch verfassten Tagebuch durch die Autoren. Kursiv gesetzt wurden die Stellen, die im Original mit griechischen Buchstaben verschlüsselt

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helm eine von ihm im Sommer 1901 unternommene Rundreise durch Skandinavien wie folgt: „Von Berlin nach Kopenhagen, wo ich ebenfalls vier Tage bleibe. Museen- und Kirchenbesuche (am beeindruckendsten das Thorvaldsen Museum: dort Statuen von einem Gefühl und einer Reinheit, die sonst nur bei den Griechen zu finden sind. Ich war überrascht, bei einem Modernen ein solches Maß, eine solche Perfektion, eine solch ruhige Linie, gepaart mit unvergleichlicher Anmut und Charme zu finden.) Kopenhagen: eine lebhafte Stadt, und doch eine, die beruhigende Gelassenheit ausstrahlt. Sowohl die breiten Straßen als auch die nur selten stickige Luft, die Leute und die Dinge vermitteln diesen Eindruck. Das dänische Volk ist mir sehr sympathisch, hinter seinem oft rauen Äußeren verbirgt sich eine anziehende Aufrichtigkeit und Herzlichkeit, dazu [ist es] ohne das brüske, ja grobe Gebaren der Deutschen, aber mit einem sanfteren, diskreteren Ton. [Ich habe] einen Homosexuellen, Ringmann, einen Fotografen, aufgesucht, [er war] äußerst liebenswert und hilfsbereit. Habe einfache Dänen, Leute aus dem Volk, gehabt. Der blonde dänische Typus gefällt mir sehr, zumal die Menschen dort einen blonden, mit einem Meeresduft vermischten Geruch an sich haben, und der allein schon stachelt mich auf. Noch einen Architekturstudenten, Rée, kennengelernt, vornehm und charmant. Ebenfalls Hansen, den Autor des Aufsatzes zu Andersen, aufgesucht. Er ist Dolmetscher und Polizeikommissar; ich habe ihn nur einen Abend gesehen. Sein Gebaren, das eines subalternen Angestellten, hat mir sehr missfallen. [Habe] einen Tag mit dem Ungarn verbracht, der Kopenhagen ebenfalls besuchte. Wir haben einen Ausflug nach Helsingør (Schloss Kronborg), Marienlyst (Seebad) und zum Schloss Frederiksborg unternommen. (Ein junger Däne, Liebhaber des Ungarn, den er am Tag zuvor kennengelernt hatte, hat uns begleitet.) Es war ein schöner Tag, der mir in guter Erinnerung bleiben wird. sind. Die wenigen Abkürzungen des Originals (meist „sld“ oder „slts“ für „Sol­ daten“, „j.“ für „jung“) wurden in der Übersetzung aufgelöst. Gestrichene Stellen wurden nicht wiedergegeben, die Interpunktion wurde dagegen behutsam ange­ passt und fehlerhafte Schreibweisen von Personen- und Ortsnamen wurden korrigiert. Wir bedanken uns an dieser Stelle bei Régis Schlagdenhauffen, der die Tagebücher Eugen Wilhelms in Zusammenarbeit mit der Magnus-HirschfeldGesellschaft e. V. (Berlin) entdeckt und uns den Ausschnitt für diesen Aufsatz zur Verfügung gestellt hat. Zur Entdeckung dieses sensationellen Korpus vgl. Dobler, Jens: Vergessene und gefundene Koffer, in: Mitteilungen der MagnusHirschfeld-Gesellschaft, Nr. 45, Juli 2010, S. 8. Schlagdenhauffen, Régis: Bericht über die Forschung über Eugen Wilhelm alias Numa Praetorius, in: Mit­teilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 48, Dezember 2011, S. 22f..

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Von Kopenhagen nach Christiania. Obwohl um elf Uhr morgens losgefahren, komme ich in der norwegischen Hauptstadt erst am nächsten Tag um sechs an. Christiania, am Christianiafjord gelegen, erinnert mich ein wenig an Luzern, aber die Berge sind kaum mehr als waldige Hügel, [die Stadt hat] eine nicht ganz so grandiose, dennoch idyllischere, erholsamere, nicht weniger pittoreske Lage. Einer der schönsten Standorte ist Holmenkollen. Von dort aus hat man einen weiten Blick über die ganze Umgebung Christianias, der Blick reicht bis zum Fjord. Dort habe ich einen denkwürdigen Abend verbracht. In Christiania suchte ich Professor Hertzberg auf, der mich sehr freundlich empfing und sogar einen ganzen Abend führte; (besorgte mir auf der Festung sogar einen Soldaten). Ein äußerst zuvorkommender und sehr gebildeter Mann, der mir sehr gefallen hat. Von Christiania nach Stockholm, wieder eine Nacht im Zug verbracht. Stockholm, eine bewundernswerte Stadt, eine der pittoreskesten, die ich kenne: auf kleinen Inseln erbaut, die durch Brücken und enge Straßen miteinander verbunden sind, und die sich auf Hügeln ausdehnt, auf allen Seiten vom Meer umgeben ist, das unzählige Buchten formt. In Stockholm angenehmes Liebesabenteuer mit zwei Unteroffizieren, die mich in ein Stundenhotel bringen. Ich verbringe vier Tage in der Stadt, ruhe mich dann drei Tage in Saltsjöbaden aus, einem bewundernswerten Urlaubsort, eine Stunde von Stockholm entfernt, einem idyllischen und ruhigen Ort am Fuß tiefgrüner Hügel und direkt am Meer gelegen, das diese umgibt und umfließt. Bewundernswerter Ort, an dem ich allein und allen fremd drei herrliche Tage in vollkommener Ruhe verbrachte. Von Stockholm nach Kopenhagen. Dort noch drei Tage. Zweimal begebe ich mich nach Klampenborg ans Meer, um zu baden. Ich besuche keine Museen mehr, sondern flaniere und ruhe mich aus. In Begleitung Ringmanns gehe ich abends auf die Wiese, die an die Husarenkaserne grenzt, um die blauen Blumen aufzulesen, die da blühen und die man bequem und ungefährdet pflücken kann. Ich habe dort unter all den Husaren, die sich so unbekümmert und ungeniert hingeben, drei Abende in Folge je einen anderen.“

Diesen Bericht über eine Rundreise durch Dänemark, Norwegen und Schwe­den im Sommer 1901 wollen wir zum Ausgangspunkt nehmen, um zu veranschaulichen, wie aussagekräftig bereits ein kurzer Auszug aus Eugen Wilhelms Tagebuch sein kann. Wir wollen an diesem Beispiel herausarbeiten, wie ergiebig die Quelle für die Forschung zur Geschichte der Homose­ xu­alitäten ist. Unser Anliegen ist es, zunächst die frühen Verbindungen skandinavischer Männer mit der deutschen Homosexuellenbewegung zu be­le­gen und damit zu zeigen, dass das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) über Deutschland hinaus schon früh als ein Netzwerk fungierte,

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das sich in einem ständigen Um- und Aufbauprozess befand; darüber hinaus möchten wir darlegen, dass es schon damals in Nordeuropa ein städtisches homosexuelles Leben oder zumindest eine blühende männliche Prostitution gab. Es wird zusätzlich der Frage nachgegangen, welchen Stellenwert die Skandinavienreise – und das Reisen überhaupt als frühe Form eines „homosexuellen Tourismus“ – für Wilhelm einnahm. Der einer wohlhabenden Straßburger Kaufmannsfamilie entstammende Jurist Eugen Wilhelm (1866–1951) war im emanzipatorischen Kampf der ersten Homosexuellenbewegung meist unter dem Pseudonym Numa Prae­ torius aktiv. Vor der 1897 erfolgten Gründung des WhK hatte er bereits ab 1892 einzelne anonyme Aufsätze zum Thema „Urningsliebe“ verfasst – sowohl um Objektivität bemühte juristische Abhandlungen als auch polemisierende Erwiderungen.2 Diese wurden durch die Unterstützung bzw. die Vermittlung des berühmten deutsch-österreichischen Psychiaters Richard von Krafft-Ebing (1840–1902) veröffentlicht, in dem Wilhelm einen Verbündeten sah und mit dem er – wohl wieder anonym – die 1890er Jahre hindurch in Briefkontakt stand. Obwohl er die von Magnus Hirschfeld initiierte Petition für die Abschaffung des § 175 RStGB erst 1902 unterschrieb, beteiligte sich „Numa Praetorius“ von Anfang an maßgeblich – das heißt schriftstellerisch, organisatorisch und finanziell – an den Bestrebungen des WhK. In fast jeder Ausgabe des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen war mindestens ein Beitrag von ihm zu lesen, so dass Magnus Hirschfeld ihn 1922 als den „weitaus produktivste[n] Mitarbeiter“3 des Jahrbuchs bezeichnete. Dort war er von 1900 bis 1922 insbesondere für die „Bibliographie der Homosexualität“ zu­ständig, ein gewaltiges Unterfangen, das von der medizinischen Dr. jur. ***: § 175 des deutschen Strafgesetzbuches und die Urningsliebe. Mit einem Nachwort von Professor Dr. Krafft-Ebing, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 12 (1892), S.  34-54. Dr. jur. M.: Noch ein Wort zu Krafft-Ebing’s „Der Conträrsexuale vor dem Strafrichter“. Eine Entgegnung auf den Aufsatz von Herrn Medicinrath Hüpeden, in: Der Gerichtssaal 52 (1896), S.  371-385. Dr. W.: Die „Verkehrtheit des Geschlechtstriebes im Strafrecht“. Eine Entgegnung auf Dr. Hoegel’s gleichlautenden Aufsatz im Gerichtssaal Bd. LIII Heft 1 und 2, in: Der Gerichtssaal 53 (1897), S. 443-449. 3 Hirschfeld, Magnus: Von einst bis jetzt. Geschichte einer homosexuellen Bewe­ gung. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Manfred Herzer und James Steakley (= Schriftenreihe der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 1), Berlin: Verlag rosa Winkel 1986, S. 62f. 2

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und juristischen Fachliteratur über die zeitgenössische Rezeption des WhK bis hin zur Belletristik reichte.4 Außerdem verfasste er biographische Studien über „berühmte Homosexuelle“ sowie juristische Arbeiten zur Homosexualität.5 Im Februar 1907 wurde er ins ObmännerKollegium des WhK gewählt und 1922, obwohl seine Mitwirkung seit dem Ersten Weltkrieg deutlich nachgelassen hatte, schließlich zum „Ehrenmitglied“ des Komitees ernannt.6 Über dieses Themengebiet hinaus bildeten sexualwissenschaftliche und kriminologische Arbeiten weitere Schwerpunkte seiner Publikationen. Zahl­reiche Sittlichkeits- und Sexualfragen (künstliEugen Wilhelm, um 1895 che Zeugung, Abtreibung, Geschlechts(Portraitaufnahme, o.J.) krankheiten, Kastration, illegitimer Paris, Privatsammlung Ge­schlechtsverkehr, uneheliche Kinder, Frauenheilkunde, Geburtshilfe, Impotenz, Prostitution von Minderjährigen, Hermaphrodismus, Transvestismus usw.) untersuchte er als einer der Ersten in ihrer Beziehung zum Recht. An einem entsprechend breiten Spektrum damaliger Fachzeitschriften hat er als Autor über kurze oder längere Zeit Vgl. Keilson-Lauritz, Marita: Die Geschichte der eigenen Geschichte. Literatur und Literaturkritik in den Anfängen der Schwulenbewegung am Beispiel des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen und der Zeitschrift Der Eigene (= Homosexualität und Literatur, Bd. 11), Berlin: Verlag rosa Winkel 1997. 5 Bibliographische Aufarbeitungen des Werkes von Wilhelm/Praetorius lie­ gen be­reits vor: Walravens, Hartmut: Eugen Wilhelm – Jurist und Se­xual­wissen­ schaftler. Eine Bibliographie (= Arcana Bibliographica, Bd. 2), Hamburg: Bell 1984. Herzer, Manfred: Rezension zu Hartmut Walravens, in: Capri. Zeitschrift für schwule Geschichte, Nr. 9, November 1990, S. 31-33. Snijders, Paul: Weitere Nachträge zur Eugen-Wilhelm-Bibliographie, in: Capri. Zeitschrift für schwule Geschichte, Nr. 11, Juni 1991, S. 48. 6 Monatsberichte des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 6, Nr. 3, 1.3.1907, S. 41. Herzer, Manfred: „Ich freue mich sehr, dass Sie den Krieg gut überstanden haben.“ Zu einem Brief von Eugen Wilhelm an Kurt Hiller in London, in: Capri. Zeitschrift für schwule Geschichte, Nr. 35, Mai 2004, S. 32. 4

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mitgewirkt. Dort schrieb er meist unter seinem Klar­­­­­na­men: Das Pseudonym „Numa Praetorius“ war für diejenigen Arbeiten vorbehalten, die sich dem Thema Homosexualität im engeren Sinne widmeten. So bedeutend sein Werk für die Homosexuellenbewegung und die frühe Sexualwissenschaft auch war, wusste man über das Leben Eugen Wilhelms bis in die 1980er Jahre hinein sehr wenig. Erst seitdem werden die Lücken nach und nach gefüllt.7 Eugen Wilhelm wuchs in dem 1871 deutsch gewordenen Straßburg in (groß)bürgerlichen Verhältnissen auf; um seine finanzielle Situation musste er zeitlebens nie bangen. Zwischen 1885 und 1890 studierte er die Rechte an der Straßburger Kaiser-Wilhelm-Universität, an der er 1890 die juristische Doktorwürde erlangte. Für die Richterlaufbahn entschied er sich erst nach etlichem Zögern, weil eine solche Karriere im deutschen Staatsdienst für junge Elsässer dieser Zeit alles andere als selbstverständlich war. 1893 wurde er zum Gerichtsassessor, erst 1902 zum Amtsrichter in Straßburg ernannt und schließlich 1906 zum Amtsgerichtsrat befördert. Die unauflöslichen Widersprüche und ständigen Gefahren, die mit einer richterlichen Tätigkeit in der Kaiserzeit einhergingen, wenn der Richter selbst homosexuell war, liegen auf der Hand. Infolge einer gegen ihn eingeleiteten Voruntersuchung wegen Homosexualität schied Wilhelm 1908 aus dem Justiz­dienst aus, um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden. Anschließend lebte er als Rentier: Nicht zufällig erreichten Wilhelms Publikationen zwischen 1908 und 1914 ihren produktiven Höhepunkt, doch fand diese Blütezeit mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein jähes Ende. Der Krieg bedeutete einen tiefen Bruch in seinem Verhältnis zu Deutschland. Zwar erwies sich Wilhelm nach wie vor durch zahlreiche Rezensio­ nen und vergleichende Arbeiten als ein ausgezeichneter Kulturvermittler zwischen Frankreich und Deutschland; die persönlichen Beziehungen zu dem Land, das 1871 Elsass-Lothringen gegen den Willen der Bevölkerung 7

Für biographische Überblicke über Wilhelm vgl.: Herzer, Manfred: Eugen Wil­ helm, in: Lautmann, Rüdiger (Hg.): Homo­sexualität. Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, Frankfurt am Main / New York: Campus 1993, S. 130133. Herzer, Manfred: Wilhelm, Eugen, in: Sigusch, Volkmar / Grau, Günter (Hg.): Personenlexikon der Sexualforschung, Frankfurt am Main / New York: Campus 2009, S.  764-766; sowie Hergemöller, Bernd-Ulrich (Hg.): Mann für Mann. Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität im deutschen Sprachraum, Teilbd. 2, Münster: LIT-Verlag 2010, S. 1265f.

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an­nektiert hatte, waren aber unwiderruflich beschädigt. 1919 eröffnete Wil­helm eine Rechtsanwaltspraxis in Straßburg; ein Jahr später zählte er zu den Mitbegründern und Herausgebern der Zeitschrift Revue juridique d´Alsace et de Lorraine, die sich den Eigenheiten des lokalen Rechtswesens in Elsass-Lothringen zuwandte.8 Darin zeigte er sich erneut überaus produktiv. Berufstätig blieb er bis etwa 1938. Während des Zweiten Weltkrieges wurde er aufgrund seiner Homosexualität von den Nationalsozialisten im Elsass interniert.9 Hochbetagt verstarb er am 23. Oktober 1951 in seiner Heimatstadt. Das Tagebuch als Quelle Das 2009 entdeckte Tagebuch stellt in 55 nummerierten Heften ein über 7000-seitiges Textkorpus dar. Wilhelm hat es 66 Jahre lang durchgehend ge­führt, von Juli 1885, dem Tag vor der mündlichen Abiturprüfung, bis März 1951, sechs Monate vor seinem Tod. Das Tagebuch ist meist in franzö­ si­scher Sprache verfasst und sein Inhalt teilweise in griechischer Schrift ver­schlüsselt.10 In der Regel chiffrierte Wilhelm die Stellen, an denen er sich mit intimeren Fragen (etwa der Gesundheit), insbesondere aber mit seinem Gefühls- und Sexualleben befasste. Die einzelnen Einträge unterscheiden sich erheblich in Länge und Ausführlichkeit sowie in Bezug auf den Zeitraum, den sie umfassen. Wie „fleißig“ Wilhelm sich mit seinem Tagebuch beschäftigte, variiert stark. Auf Zeiten besonders intensiven Schreibens folgten Perioden, in denen die Tagebuchführung deutlich nachließ. Diese schwankte sozusagen je nach Bedarf: Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Wilhelm am häufigsten und umfassendsten in persönlichen und/oder kollektiven Krisenzeiten zur Feder griff. So waren die frühen Tagebuchhefte von seiner Auseinandersetzung mit seinem gleichgeschlechtlichen Be­gehren geprägt und sind entsprechend ausführlich. Die beiden Weltkriege gaben ebenfalls Anlass zu häufigeren Aufzeichnungen. Wir danken Régis Schlagdenhauffen für diesen Hinweis. Nach 1918 drängte sich die Frage auf, ob und inwiefern die zwischen 1871 und 1918 in Frankreich ent­ stan­dene Gesetzgebung auch in Elsass-Lothringen nachträglich einzuführen sei. Bis heute bestehen in den drei Départements einige rechtliche Besonderheiten fort. 9 Der genaue Ort hat sich noch nicht ermitteln lassen. 10 Für eine erste textkritische Annäherung an dieses Korpus: Dubout, Kevin: Eu­gen Wilhelms Tagebücher. Editorische Probleme, Transkriptions- und Kom­men­tar­ probe, in: Jungmayr, Jörg / Schotte, Marcus (Hg.): Officina editorica (= Ber­liner Beiträge zur Editionswissenschaft, Bd.10), Berlin: Weidler 2011, S. 215-304. 8