In Ruinen

des Krieges getroffen. Und warum auch nicht? Selbst wenn die Hochbahn hier noch fahren könnte, gäbe es niemanden mehr zu transportieren, und so wird das ...
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Björn Frontzek

In Ruinen Roman

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© 2015 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2015 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag Coverbild: Nina-Denise Boddien Printed in Germany

AAVAA print+design Taschenbuch: eBook epub: eBook PDF: Sonderdruck:

ISBN 978-3-944223-51-3 ISBN 978-3-944223-52-0 ISBN 978-3-944223-53-7 Großdruck und Mini-Buch ohne ISBN

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Sonntag, 4.5.1947 abends

Heute stand ich lange in einem Innenhof. Ich denke zumindest, dass es einst ein Innenhof war. So genau lässt sich das in Rothenburgsort nicht mehr sagen. Auch wenn die Straßen halbwegs gangbar sind, musste ich mich doch gehörig durch die Trümmer kämpfen. Zum Glück habe ich einen Ort gefunden, den zu erreichen sich lohnte, nicht so wie letzte Woche, als ich so lange ergebnislos durch die Trümmerlandschaft geklettert bin. Ich glaube, ich war der einzige Mensch weit und breit. Leben tut hier bestimmt niemand mehr, und die Aufräumarbeiten konzentrieren sich auf andere Gebiete. Ich weiß nicht mal genau, wie lange ich von der Innenstadt aus hierhergelaufen bin. Dieser Innenhof jedenfalls hatte es mir angetan. Unzählige Male habe ich mich dort um 4

meine eigene Achse gedreht. Versucht, alles in mich aufzunehmen, was es zu sehen gab. Trümmer – Ziegel am Boden, so als ob die ehemaligen Bewohner noch versucht hatten, alles wieder in Ordnung zu bringen, bevor sie dann doch aufgegeben haben und fortgegangen sind. Aber wahrscheinlich wurden diese Arbeiten viel später verrichtet. Je höher mein Auge die Ruine hinaufwanderte, umso klarer wurde die Zerstörung. Hinter den Fensteröffnungen der Wände war direkt der Himmel zu sehen, oder bestenfalls eine weitere Ruine. Nirgendwo eine Erinnerung daran, dass dahinter einmal Leben herrschte. Wie die toten Augen eines erlegten Tieres starrten die Fenster mich an. Wie die Augen derjenigen, die uns hierhergebracht haben. Männer wie mein Vater und wie die, denen er gehorcht hat. Jedes dieser Fenster ist wie ein Tor in eine andere fremde Welt, die einst dahinterlag und nun für immer verschwunden ist und mit ihr alle, die diese Welten bevölkert haben. Was mag aus ihnen geworden sein? Konnten sie 5

sich retten und haben ihre Welten mitgenommen und so gut es ging anderswo neu errichtet? Oder sind sie mit ihnen verschwunden? Was ist mit denen, die allein eine Welt wiedererschaffen mussten, die ursprünglich für viele mehr gedacht war? Vielleicht sind sie am schlimmsten dran. Nichts ist hinter diesen Fenster-Toren geblieben. Nichts außer der Leere und dem Blick auf die Ruinen so vieler anderer Welten. Nicht Ruinen – Gerippe. Gerippe. Oder nein, eher wie die leeren Panzer von Käfern oder anderen Insekten. Die Außenhülle steht noch mehr oder weniger intakt, aber alles andere ist verschwunden. Tot und verwesend, wie hingeworfen auf einen Häuser-Friedhof, der einst – noch vor kurzem – eine Stadt war, mit all ihren Fehlern, aber lebendig und pulsierend. Heute verstopfen Trümmer ihre Adern, hineingeschüttet in ihre Fleete, weil nirgendwo sonst Platz dafür ist und weil es schnell gehen muss, nur schnell, damit nur alles wieder so wird wie früher. 6

Inzwischen ist es auch wieder warm, und mit der Wärme kam die Trockenheit. Wenn ich an einigen Stellen an den Trümmern rühre, steigt Staub aus ihnen auf. Er liegt dann über den Häuser-Kadavern wie das süßliche Miasma der Verwesung. Was mögen die Menschen gedacht haben, als sich ihr Haus in diesen steinernen Kadaver in Rot und Grau verwandelt hat? Waren sie überhaupt hier? Wahrscheinlich, sie müssen im Keller gewesen sein. Mich packte der Gedanke, ob sie dort vielleicht immer noch wären, doch wagte ich nicht, ihn weiterzuverfolgen. Vielleicht hätte ich es tun sollen, obwohl ich doch eigentlich viel lieber über diejenigen schreiben würde, die davongekommen sind. Ich nehme einfach an, dass sie es sind, dass diejenigen, die im Keller waren, als der Feuersturm tobte, doch irgendwie gerettet wurden. Dass sie irgendwie überlebt und sich eine neue Welt geschaffen haben, hinter einem neuen Fenster. 7

Beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, wie hier jemals wieder ein Mensch leben soll. Alles liegt in Trümmern, nichts ist übrig. Selbst von den Hochbahnviadukten sind nur noch Reste vorhanden. Zerfetzte und verbogene Reste einer Eisen- und Steinkonstruktion, die niemals wieder so werden können, wie sie einmal waren. Die Gleise selbst sind schon vor fast zwei Jahren abgebaut worden, um andere Strecken zu reparieren. Den Beschluss, die Strecke nicht wieder aufzubauen, hat man wohl schon vor dem Ende des Krieges getroffen. Und warum auch nicht? Selbst wenn die Hochbahn hier noch fahren könnte, gäbe es niemanden mehr zu transportieren, und so wird das auf absehbare Zeit auch bleiben. Niemals werden hier wieder Menschen leben können, höchstens die ganz Verzweifelten, die sonst nirgendwo mehr hinkönnen. Für eine Weile habe ich versucht, diese Welten wieder auferstehen zu lassen oder neu zu erschaffen, als ich in dem Innenhof stand. Es 8

ist mir nicht gelungen. Es ist zu weit weg von mir, oder vielleicht habe ich mich auch zu sehr von den Fenster-Augen angestarrt gefühlt. Vielleicht in den nächsten Tagen, wenn ich zur Ruhe gekommen bin. So schwer mir das auch fallen wird. Hier – oder wo auch immer. Aber irgendwie muss es gehen. Sonst komme ich zu nichts. Irgendwann gab ich den Versuch, hinter die Tore zu blicken, auf und nahm es einfach hin, nichts erkennen zu können. Wer weiß – vielleicht ist es genau das? Es ist nichts mehr zu erkennen in den Leichen, gleich welcher Art. Man muss dort suchen, wo noch Leben herrscht. Als ob das noch irgendwo in Hamburg so wäre. Der Weg zurück in die Stadt hat mich kaum etwas Derartiges erkennen lassen. War ich auf dem Weg zu diesem Innenhof – hoffentlich gelingt es mir, ihn in dieser Trümmerwüste wiederzufinden, wenn ich ihn noch einmal sehen will! – noch fast völlig blind gewesen für alles um mich herum, so machte der Rückweg umso mehr Eindruck 9

auf mich. Wie durch einen Friedhof wandelte ich, jeder Trümmerbrocken ein Grabstein für die Stadt und die Menschen, die hier lebten. Mahnmale für die Fehler, die wir und die Generation vor uns gemacht hatten. Auch wenn sie kaum jemand sehen will als das, was sie sind. Ohnehin ist das merkwürdig. Meistens bin ich zunächst blind für das, was um mich herum vor sich geht, bis mit einem Mal ganz unerklärlich meine Aufmerksamkeit geweckt wird. Wovon, kann ich nicht sagen. Heute bin ich erst auf diesem Innenhof aufgewacht und habe angefangen nachzudenken über das, was ich sah. Wie kann das sein? Der Weg dorthin kann nicht weniger Bilder des Schreckens geboten haben, und doch konnte ich sie nicht erkennen. Aber was es war, das meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen und mich inspiriert hat, kann ich nicht sagen. Doch nachdem es erst einmal angefangen hatte, gab es kein Halten mehr. Die Gedanken und Ideen 10

flossen und flossen. Noch etwas ungeordnet, aber das wird schon werden. Erst auf dem Rückweg in Richtung Hauptbahnhof und Innenstadt habe ich ein paar andere Menschen in den Trümmern gesehen. Was sie dort taten, konnte ich nicht erkennen; sie schienen einfach nur herumzulaufen, so wie ich. Vielleicht einige der ehemaligen Bewohner auf der Suche nach den Welten, die hier noch irgendwo sein müssen. In ihren Erinnerungen. Wie sollten sie auch überstehen, was sie erlebt haben? In Momenten, in denen ich solche Menschen, solche Leiber, solche Gesichter sehe, noch dazu in dieser Umgebung, überkommt mich immer diese Freude, diese Freude, die heimlich bleiben muss, diese Freude, selbst so glimpflich davongekommen zu sein, wie wir es sind. Besonders einer dieser Wanderer hat sich mir eingeprägt oder besser: eine Wanderin. Jung, bestimmt nicht älter als ich, und doch wirkte sie eine Generation von mir entfernt. Auch wenn ich es nicht genau beschreiben kann, 11

hatte sich das Grauen doch in ihren Leib und ihr Antlitz gefressen. Fast tot und doch von einer stoischen Lebendigkeit. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen Menschen so einsam und traurig gesehen habe, und doch fast heilig, ohne dass man sie ansprechen konnte. Umgeben von einer sie unsichtbar schützenden Kapsel zog sie ihres Weges, aber selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre: Einem solchen Menschen – und es gibt einige, die so sind – kann man einfach nichts sagen. Sie und der Innenhof waren mit Sicherheit die stärksten Eindrücke dieses Vormittags auf mich.

Ich kenne ein Mädchen, es wandert durch die Ziegelödnis ohne Ziel, Ich gebe ihm Brot, ich gebe ihm Wein, nichts bleibt zurück. Am Ende der Stadt wart' ich auf sie, wie ein Skelett so bleich, 12

Doch wart' ich vergebens, ihr Weg ist ohne Ziel.

Mit Sicherheit noch nicht fertig, aber ein guter Anfang. Muss nur aufpassen, dass es nicht kitschig wird. Es soll ja kein Liebesgedicht werden. Und ich muss mir darüber klar werden, ob das Mädchen >es< oder >sie< ist. In den nächsten Tagen werde ich weitermachen und daran feilen. Ein paar mehr Strophen sollten es schon werden. Auch aus diesem Bild der Fenster, die Tore zu Welten sind, lässt sich bestimmt etwas machen. Vielleicht sollte ich eine solche Wand zeichnen und mir für jedes Fenster darin eine Geschichte, ein Gedicht oder einen Vers ausdenken. Vielleicht sollte ich meine Entwürfe nicht alle in meinem Tagebuch aufschreiben. Es könnte schwierig werden, alles wiederzufinden, wenn es wächst. Ich sollte morgen zur Talstraße fahren und ein zweites Notizbuch organisieren. Eines als mein Tagebuch und eines 13

für meine Verse und Notizen. Das sollte sich machen lassen und ist die Investition bestimmt wert. Mit etwas Glück bekomme ich das sogar für Geld. Den Friedhof schließlich zu verlassen, fiel leicht. Wie es scheint, hat meine Psyche irgendwann genug vom Aufenthalt in den Trümmern und verschließt sich den Eindrücken wieder. Sie kann es nicht mehr ertragen. Wäre ich da kämpferischer, hielte ich es vielleicht länger aus, aber wenn die Ideen nicht mehr fließen, ist mir damit auch nicht geholfen. Das Erlebnis dieser Trümmerwüste kann ich eben nur eine bestimmte Zeit lang durchhalten. Eigentlich auch ganz gut so, sonst würde ich noch völlig darin versinken. Obwohl – dann würden meine Gedichte viel authentischer werden, und es ginge schneller, sie zu schreiben. So aber machte ich mich auf den Weg zurück in die bewohnten Teile der Stadt und von dort aus zu Erika und ihrer Familie. Einen Teil des Weges kann ich sogar mit der U–Bahn zu14

rücklegen, so dass ich nicht ganz bis nach Eppendorf zu Fuß gehen muss. Allerdings zog ich es wie meistens vor, bis Jungfernstieg zu laufen, um nicht vom Hauptbahnhof aus den Umweg über St. Pauli fahren zu müssen. Wie immer ist der Teil des Zuges, der für die britischen Soldaten und Beamten reserviert ist, leer. Aber daran hat man sich inzwischen gewöhnt. Immerhin herrscht wieder Betrieb. Das war den Winter über nicht selbstverständlich, nicht mal auf den Strecken, auf denen die Gleise wieder befahrbar sind. An der Hudtwalckerstraße ist die Lage viel übersichtlicher als in Rothenburgsort. Auch hier gibt es Trümmer und Ruinen, aber die meisten Gebäude sind intakt. Zumindest so weit, dass sie bewohnt sind, wenn zum Teil auch nur in den unteren Etagen. Kein Wunder, dass sich die Briten in dieser Gegend niedergelassen haben. Nach dem Aufenthalt in der Ziegelwüste noch vor Kurzem fiel mir das besonders deutlich auf. Erst eine tote, dann eine lebendige Stadt. Immerhin konnte ich 15