In Mahlers zweiter Symphonie entdecken wir einmal mehr seine große ...

sich selbst gemeint haben? Alles was er bis dahin erfahren und ertragen musste, wie oft er geistig zu sterben hatte, ist in diesem monumentalen Satz verarbeitet ...
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In Mahlers zweiter Symphonie entdecken wir einmal mehr seine große Sehnsucht nach Antwort auf den Sinn des Lebens, des Sterbens, und die Frage nach dem Jenseits. Wenn Mahler dem letzten Satz seiner ersten Symphonie den Titel „Dal Inferno del Paradiso“ gab, dann wird dieses Programm - wenn auch auf differenzierte Weise - auf die gesamte zweite Symphonie ausgedehnt, wie er es übrigens auch - wieder differenziert - auf seine dritte Symphonie anwendet. Der wuchtige erste Satz, „Totenfeier“ überschrieben, ist für mich eine symphonische Dichtung, ein Rückblick auf das Leben eines Menschen, der mitten in der Welt stand, eines Helden: ein Heldenleben. Könnte Mahler sich selbst gemeint haben? Alles was er bis dahin erfahren und ertragen musste, wie oft er geistig zu sterben hatte, ist in diesem monumentalen Satz verarbeitet. Wilde Dramatik, Kampfmusik, Todesseufzer, makabre Tänze (ich bezeichne sie gerne als Skeletttänze, da Mahler durch das „col legno“ (Schlagen der Streichinstrumente mit dem Holz des Bogens) den Klang eines tanzenden Skeletts nachahmt, ähnlich wie im Lied „Revelge“, wo er das Wort „Gebeine“ untermalend ebenfalls „col legno“ spielen lässt) wechseln einander ab mit Hirtengesang, Sonnenaufgang und Naturlauten. Die Musik dokumentiert deutlich Mahlers Naturverbundenheit. Nach diesem breitangelegten, fast ausufernden ersten Satz muss Mahler im zweiten, einem gemächlichen Ländler, wieder in die Einfachheit zurück. Für mich ist interessant, dass er sehr genau unterscheidet zwischen den verschiedenen Tanztypen, die wiederum das Tempo entscheidend bestimmen. Gemächlicher Ländler, langsamer Ländler, Menuett, Scherzo, Walzer usw. haben ihr eigenes Tempo. Gerade der zweite Satz mag in der heutigen Zeit als schneller gehörend empfunden werden, ist aber laut Mahler „sehr gemächlich“ zu spielen. Er zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass die Betonungen nicht unbedingt nur von der ersten. Schlageinheit ausgehen, sondern auch durch sein ruhiges, samtiges, idyllisches Klangbild, das eine heimelige, intime Atmosphäre schafft. Durch die Verwendung vieler Pizzicati und der Harfe kreiert er eine musikalische Landschaft, die sehr typisch volkstümlich und altösterreichisch anmutet. Zither, Hackbrett, Harfe, Gitarre: Mahler hat mit Sicherheit unzählige Male Volksmusik-Gruppen bei seinen Aufenthalten auf dem Land gehört. Wenn ich nun im Laufe des Satzes die Geigen zupfend unter dem Arm spielen lasse, so soll gerade diese intime, ungezwungene Stimmung einer „Stubenmusik“ im großen Konzertsaal ankommen. Mein Vater bestand darauf, daß ich Unterricht bei einem Zitherlehrer in Wien nehmen sollte. Da ich damals bereits in der Musikakademie Violine studierte, stimmte ich nur widerwillig zu, empfand ich mich aber schon als zu "fortgeschritten" um das Repertoire (Ländler, Walzer und andere Tänze) zu erlernen. Der etwas ältere Lehrer versuchte mir, der auf den geschriebenen Notentext bestand, verzweifelt beizubringen, was nicht geschrieben stand. Erst später bei der Beschäftigung mit Mahler erkannte ich, wie wertvoll diese Lektionen für mich waren. Die ungeschriebenen und teils verlorengegangenen Traditionen, die mir damals enthüllt wurden, sind allesamt in Mahlers Musik zu finden. Auch im dritten Satz hat Mahler sehr viel Österreichisches verarbeitet. Ein Scherzo, ein langsamer Ländler, ein rustikaler Ländler gespickt mit Ironie, ja Parodie. Die Verwendung einer Rute, oft mit „col legno“ der Streicherbögen gepaart, erinnert an den Krampus, den Gefährten von St. Nikolaus, ebenso wie die etwas „falsch“ tönende Klarinette an Wirtshausmusik denken läßt. Hier schreibt Mahler „mit Humor“. Aber wie soll man es witzig spielen? Mit einem Blick auf die Gepflogenheiten der Volksmusik-Gruppen wird man erkennen, dass die Auftakte an bestimmten Übergängen oft schwer und verzögert gespielt werden. Diese Tradition in einer ernsten, klassischen Symphonie zu hören, sorgte damals sicherlich für Heiterkeit. Jeder wusste woher das stammt, und Mahler wurde wohl von den Musikern deshalb nicht unbedingt sehr ernst genommen. Ein wichtiger Moment ist der Einsatz des Tam-Tam, das – in stets mystischer Funktion – das Sterben symbolisiert: dann, wenn der erste große Einbruch, als Vorahnung des Todes, im „fortissimo“ erschallt, aber mehr noch im „pianissimo“ des letzten Taktes als Abschluss des Satzes. Hier gelingt es Mahler in genialer Weise, durch einen einzigen Tam-Tam-Schlag das vorhergehende weltliche Geschehen abzuschließen und aufzulösen, sowie gleichzeitig den Himmel und somit neue Dimensionen zu öffnen. Eine ähnliche Wirkung erzielt übrigens Tschaikowsky im letzten Satz seiner sechsten Symphonie, wo der einzige Tam-Tam-Schlag des Werkes das Ende des Lebens, des Kampfes darstellt und dann folgerichtig der Trauerchoral in den Posaunen erklingt. Nach dem Absterben des unbestimmten Tam-Tam-Klanges möchte Mahler „attacca“ in eine völlig neue Welt eintreten. Mit dem schlichten Lied „Urlicht“ schielt er bereits in das Jenseits. Hier bat Mahler darum, die anschließende Choralgruppe möge sich separat vom Orchester aufstellen. Dies ist praktisch nicht durchführbar ohne eine längere Pause, damit die Musiker die entsprechende Position einnehmen können. Da es aber doch

„attacca“ sein soll, entscheidet man sich gewöhnlich wohl oder übel dafür, den Choral aus dem Orchester spielen zu lassen. Damit geht aber die Idee verloren, die im Tam-Tam-Schlag bereits geboren wurde: der Blick ins Jenseits. Für mich muss der Choral aus einer anderen Welt erklingen. Wir haben deshalb zusätzliche Musiker abseits der Bühne aufstellen lassen. Aber auch die Musiker im Orchester lässt Mahler in die jenseitige Welt eintauchen, wenn er den Text „da kam ein Engelein“ von vier Piccoloflöten begleiten lässt, während die Oboe mit äußerster Zartheit das Flehen, ja Winseln, kurz die Sehnsucht nach ihr ausdrückt. Das Herz Mahlers zweiter Symphonie ist der fünfte Satz, den er mit dem schon aus dem dritten Satz bekannten Ausbruch gewaltig beginnen lässt. Bald löst sich alles Irdische auf. Hier drückt sich musikalisch das aus, was Papst Benedikt in anderem Zusammenhang als „Entweltlichung“ bezeichnet. Natürlich vermischen sich nach wie vor diesseitige Elemente mit jenen aus dem Entfernten. Trommeln, die im immensen „crescendo“ das Jüngste Gericht ankündigen, der Marsch, Trompetenfanfaren, die laut Mahler hinter der Bühne kaum wahrnehmbar sein sollen, Glocken, Seufzer (zum Wort „Glaube“); die „Pizzicati“ zum Choral sind diesmal keine von der „Stubenmusik“, sondern ein mystisches Geflüster oder göttliche Regentropfen aus einer anderen Welt: alles dient zur Vorbereitung des Choreinsatzes mit den Worten „Auferstehen“. Auch der „Rufer in der Wüste“, versinnbildlicht durch die weit entfernt aufgestellten Hörner, und der sogenannte „Große Appell“, bei dem das Diesseitige (Flöte und Piccolo imitieren Vogelstimmen) mit dem Jenseitigen (Hörner und Trompeten – laut Mahler Trompeten der Apokalypse – und Pauken hinter der Bühne) in Dialog tritt, haben dieselbe Funktion: die Vorbereitung der neuen Hoffnung; das Erlösende; der erlöste Held des ersten Satzes; das Urlicht des Anfangs wird am Ende zum Ewigen Licht. Jetzt, am Höhepunkt, lässt Mahler alles zur Gewissheit werden. Dreimal lässt er den Chor „Gott“ singen, als Ausdruck der Trinität, jetzt erst setzt die Orgel ein, jetzt erst sind drei (!) Glocken mit unbestimmter Tonhöhe in Fülle zu hören. Das Unerreichbare ist erreicht, der Tod bezwungen, die Hoffnung ist nun zur Gewissheit geworden. Diese Gewissheit drückt sich bei Mahler dahingehend aus , dass er ab „Sterben will ich um zu leben“ jede Note des Chores bis zum Schluss (!) mit einem „Marcato-Akzent“ verdeutlicht, während davor die Worte „Mit Flügeln werde ich entschweben“ von leichtem Gesang mit einem Hauch an Rubato getragen sind. Überhaupt muss sich meiner Meinung nach alles in dieser gewaltigen und sehr persönlichen Symphonie am Schluss orientieren. Jedes Detail – und davon gibt es tausende – hat sich diesem Ziel unterzuordnen. Übrigens, welche Vogelstimme mag denn Mahler im „Großen Appell“ gehört haben? Die erste Vogelstimme erklingt aus der Ferntrompete und ist nach neuesten Forschungen ein Waldkautzruf, während wir in den folgenden Vogelstimmen laut Mahler „mitten in der grauenvollen Stille eine ferne, ferne Nachtigall vernehmen, wie einen letzten zitternden Nachhall des Erdenlebens“.