HORIZONT
Tough Love
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In der Altstadt von Mexico City befindet sich das weltweit einzige Altersheim für Prostituierte. Im sogenannten »Haus der schönen Blumen« sollen die Prostituierten in Würde altern können. Manche der in die Jahre g ekommenen Damen bieten sich immer noch ihren Freiern an.
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TEXT ANJA REITER BÉNÉDICTE DESRUS
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An die wahre Liebe glauben hier in der Casa Xochiquetzal nur die wenigsten.
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»Im katholischen Macho-Land Mexiko spenden die Menschen eben lieber für kranke Kinder als für alte Prostituierte.«
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»Ich bin so stolz, hier leben zu dürfen.« Amalia
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Nur selten ... ... verirren sich Touristen in die engen G assen rund um die P laza San Sebastián in Mexico City. Obwohl der Platz nur wenige Minuten vom historischen Zentrum entfernt liegt, wirkt das Viertel heruntergekommen und schäbig.
Jesica Vargas González winkt uns in ihr Büro herein. „Unser Projekt ist weltweit einzigartig“, e rzählt sie stolz. Hinter ihrem Schreibtisch ranken sich die Portraits der Bewohnerinnen. Derzeit residieren 27 Seniorinnen zwischen 50 und 81 Jahren in der Casa Xochiquetzal, was auf Deutsch so viel wie „Haus der schönen Blumen“ bedeutet. Viele der Frauen arbeiteten direkt im Bezirk Tepito, vor den Toren ihres jetzigen Altersruhesitzes. Auf den Straßen der Acht-Millionen-Metropole verdienten sie ihr Geld mit erotischen
In T epito r egiert das Gesetz der Straße:
Dienstleistungen. Doch als ihre jugendlichen
F liegende Händler preisen lautstark Plastik
Reize schwanden, mussten viele erkennen:
ramsch und Süßigkeiten an, auf Bordstein
In der mexikanischen Konsumgesellschaft
aus dem 18. Jahrhundert. Einst beheimatete
kanten hocken Obdachlose, dazwischen
haben auch Prostituierte ein Ablaufdatum,
es ein Box-Museum, nun wurde es zum Alten-
t ürmen sich Müll und Essensreste. Drängeln-
sobald die Haut runzelig wird.
heim für Prostituierte umgebaut. Carmen
de Passanten schieben sich an den Markt schreiern vorbei, leicht bekleidete Frauen halten nach Freiern Ausschau. Neben dem Irrsinn auf der Straße liegt
AUS EINEM BOX-MUSEUM WIRD EIN ALTERSHEIM Die Idee für die Casa Xochiquetzal wurde
AUS EHEMALIGEN K ONKURRENTINNEN WERDEN MITBEWOHNERINNEN Die Bewohnerinnen sind gastfreundlich.
Muñoz restaurierte das Gebäude mit der Un-
Dem Besuch aus Deutschland präsentieren sie
terstützung von anderen Aktivistinnen und
stolz ihr eigenes Heim: die Küche, zwei Fern-
Helferinnen. Monatelang schrubbten die
sehräume, Badezimmer, die einzelnen Schlaf-
Frauen die Böden, bauten Backöfen und Bade-
räume. „Ich bin so stolz, hier leben zu dürfen“,
eine unscheinbare hölzerne Doppeltür mit
2001 geboren: Carmen Muñoz, die ihr Geld
zimmerarmaturen ein und besorgten günsti-
erklärt Amalia, die durch ihr kleines Reich
einem Metallknauf. „Buenas?“, beantwortet
einst selbst als Prostituierte verdiente, war
ge Möbelstücke. Seit 2006 ist die Casa
führt und sich wegen des Chaos in ihrem Zim-
ein Türsteher zögerlich das Klopfen. Er be-
schockiert vom Elend ihrer früheren Kolle-
Xochiquetzal nun Heimat für die „schönen
mer keine großen Gedanken zu machen
schützt die Bewohnerinnen des zweistöcki-
ginnen. Verstoßen von ihren Familien, sah sie
Blumen“. Betagte Prostituierte, für die Gesell-
scheint. Für Ordnung und Sauberkeit in den
gen Hauses vor neugierigen Blicken und dem
einige von ihnen auf der Straße schlafen, zu-
schaft unsichtbar geworden, erhalten hier
privaten Zimmern sind die Frauen selbst zu-
Elend der Straße. Diejenigen, die er eintreten
gedeckt nur mit einer Plastikplane – im Stich
Unterschlupf, Nahrung und medizinische Be-
ständig. Die wenigen persönlichen Gegen-
lässt, gelangen in einen ruhigen, überdachten
gelassen von der Gesellschaft. Die betagten
treuung. Die Sozialarbeiterin, die von allen
stände, die sie besitzen, pinnen sie stolz an die
Innenhof – in der Mitte plätschert ein Brun-
Damen mussten sich ein paar Münzen für
hier Mama Ede genannt wird, hilft ihnen
Wände: Fotografien, Stickereien, Heiligenbil-
nen, um den sich grüne Pflanzen ranken.
eine warme Mahlzeit erbetteln oder in Müllei-
dabei, Papiere und Identitätsnachweise zu
der. „Viele Frauen hier sind sehr religiös“, er-
Draußen wird unaufhörlich weiter gedrän-
mern wühlen. Berührt von dem, was sie sah,
besorgen – in der mexikanischen Bürokratie
zählt Jesica Vargas.
gelt, gegrapscht, geklaut. Drinnen sticken alte
beschloss Carmen Muñoz ihnen einen siche-
oft ein erster Schritt zurück ins Sozialsystem
Damen, schweigen oder starren in die Luft.
ren Unterschlupf zu schaffen. Nach langer
und in ein geregeltes Leben. Das Projekt ist
nimmt derweil seinen Lauf. Aus einem alten
Doch es sind keine typischen Alters-
Der Alltag in der Casa Xochiquetzal
Lobbyarbeit unterstützte die Stadtregierung
von Spendengeldern abhängig. „Die Suche
Radio klimpern mexikanische Chansons, sie
heim-Bewohnerinnen, die hier ihren Le-
Carmen Muñoz dabei, das P rojekt Casa
nach Geldgebern ist aber schwierig“, seufzt
erzählen von Herzschmerz und der großen
bensabend verbringen. Alle Frauen, die hier
Xochiquetzal zum Leben zu erwecken. Der
Jesica Vargas. „Im katholischen Macho-Land
Liebe. An die wahre Liebe glauben hier in der
leben, haben als Prostituierte gearbeitet –
damalige Bürgermeister stellte das Gebäude
Mexiko spenden die Menschen eben lieber für
Casa Xochiquetzal nur die wenigsten. Die
oder tun es immer noch. Geschäftsführerin
zur Verfügung – ein zweistöckiges Stadthaus
kranke Kinder als für alte Prostituierte.“
meisten stolperten Zeit ihres Lebens von einer
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kaputten Beziehung in die nächste oder wur-
am Eingang bereit liegt. „Das ist nicht für alle
Geschichten würden die Frauen tagtäglich
den von ihren Männern zur Prostitution ge-
einfach“, erzählt Jesica Vargas. „Viele haben
Stärke, Liebe und Dankbarkeit beweisen.
zwungen. Die Frauen sind über die Jahre dick-
ihr ganzes Leben lang ohne gewohnte Struk-
„Ich lerne hier das Leben kennen.“
häutig geworden, ihr Ton ist rau. Eine
turen verbracht.“ So verwundert es nur auf
wichtige Regel lautet deshalb: Respekt vorein-
den ersten Blick, dass manch eine Bewohne-
zal heißt es Abschied nehmen von den „schö-
ander. Die Bewohnerinnen sind Schicksalsge-
rin sich nach einigen Monaten wieder davon-
nen Blumen“. Sozialarbeiterin Mama Ede be-
nossinnen, aber eben auch ehemalige Kon-
stiehlt und das raue Straßenleben dem
gleitet den Gast aus Deutschland durch das
kurrentinnen – manche Konflikte schwelen
gemachten Bett vorzieht.
Gewirr der Straßen. Sicher schlängelt sich die
bis heute und machen ein harmonisches
Nach dem Besuch in der Casa Xochiquet
kleine Frau durch die Menschenmenge, die
Allen Bewohnerinnen ist es freigestellt, ob sie ihren Beruf als Prostituierte weiterfüh-
Handt asche stets fest im Griff. Mama Ede hat
ren wollen oder nicht. Nur die Schwelle zur
noch eine wichtige Besorgung zu erledigen:
Frauen im Innenhof und stickt traditionelle
Casa Xochiquetzal darf keiner der Männer
Medikamente aus der Apotheke für ihre
Muster in Kissenbezüge. Die Stimmung ist
übertreten. Norma, eine der Bewohnerinnen,
Schützlinge.
entspannt und erinnert fast an ein gewöhnli-
besucht immer noch gerne ihr altes „Büro“,
ches Altenheim. Doch der Schein trügt. Eine
einen verlotterten Platz ganz in der Nähe, wo
grauhaarige Frau wimmert in das Telefon auf
sich Prostituierte und Freier treffen – und
dem Flur, Tränen rinnen ihre ledrigen Wan-
Norma noch gut bekannt ist. Norma fühlt sich
gen hinunter. Viele der Frauen wurden von
geehrt, wenn insbesondere jüngere Männer
ihren Kindern, Enkeln und Geschwistern ver-
Interesse an ihr zeigen. Andere, wie Canela,
stoßen – aus Scham oder Unsicherheit. An ih-
verkaufen lieber Süßigkeiten, um sich ein
rem Lebensabend sind sie nun alleingelassen.
bisschen Kleingeld für Make-up oder Soft-
Doch sie haben zumindest ein Dach über dem
drinks zu verdienen.
Zusammenleben schwierig. Auf Plastikstühlen sitzt eine Gruppe
Kopf – anders als viele andere Prostituierte,
Manche Schicksale der Frauen lassen
die auf Mexikos Straßen schlafen müssen und
einen ratlos-bedrückt zurück, wenn man sie
keinen Schutz haben vor Gewalt und ökono-
erzählt bekommt. Canela, eine der ältesten
mischer Unsicherheit.
Bewohnerinnen des Hauses, leidet am DownSyndrom. Schon als Kind wurde sie von ihrem
KEINE MÄNNER, KEINE DROGEN Die Aufnahmekriterien für das einzigar-
Stiefvater missbraucht. Heute ist sie glücklich, ein sicheres Dach über dem Kopf zu ha-
tige Altersheim sind simpel: Wer einen
ben. „Sie ist die glücklichste im Haus“, erzählt
Schlafplatz möchte, muss über 50 sein, als
Jesica Vargas. Viele der Frauen sind schwer
P rostituierte gearbeitet haben und keine Un-
krank, einige haben Aids. So wie Conchita,
terstützung von seiner Familie bekommen.
die bei ihren Großeltern aufwuchs und be-
Die meisten Frauen haben über Mundpropag-
reits mit dreizehn Jahren in die Fänge des
anda von dem Projekt erfahren. Einmal ein-
Prostitutionsgewerbes geriet. Die mollige Ein-
gezogen, müssen sie sich an einige Regeln
Meter-Vierzig-Frau ist froh, dass sie in der
halten: Keine Männer, keine Drogen. Das ei-
Casa Xochiquetzal die nötigen Medikamente
gene Zimmer sauber halten und in der Küche
bekommt.
helfen. Das wöchentliche Treffen besuchen.
Jesica Vargas ist täglich mit solch trauri-
Bis spätestens zehn Uhr abends zu Hause
gen Schicksalen konfrontiert. Doch die
sein. Wer länger aus ist, muss eine Adresse
Begegnungen mit den Frauen machen sie
und eine Telefonnummer zurücklassen. Ge-
nicht kaputt, wie sie erzählt. Im Gegenteil.
wissenhaft tragen sich die ehemaligen Prosti-
„Es macht mich stark, weil die Frauen so
tuierten deshalb in ein dickes Buch ein, das
stark sind“, sagt sie. Trotz der sehr traurigen
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»Trotz der sehr traurigen Geschichten würden die Frauen tagtäglich Stärke, Liebe und Dankbarkeit beweisen.«
ANJA REITER (26) ist bei einer Reise quer durch Mexiko auf die Casa Xochiquetzal gestoßen. Wenn sie nicht gerade durch die Welt tourt, schreibt sie Reportagen und Portraits für DIE ZEIT, enorm oder den Berliner Tagesspiegel. Spezialgebiete: Grundschullehrer, Neo nazis und Roboter. BÉNÉDICTE DESRUS (39) ist eine preisgekrönte Doku mentarfotografin ansässig in Mexico City. Sie hat in Eu ropa, Ostafrika, den USA und Lateinamerika gearbeitet. Ihr Schwerpunkt liegt auf humanitären und sozialen Problemen. Sie verbringt oft Monate mit den Menschen, die sie fotografiert.
Für mehr Informationen des zweisprachigen (Spanisch- Englisch) Buches Las amorosas más bravas kontaktiere bitte:
[email protected]. Ein Teil des Verkaufes wird an die »Casa Xochiquetzal« gespendet.
Ein kurzes Interview mit der Fotografin findest du auf medium.com/@shiftmag 87