ILLUSIONEN

Der heiße Lufthauch, der die Worte begleitet hatte, stand noch still in der Luft, ... die Hals über Kopf und auch ohne Spuren zu hinterlassen, getürmt waren.
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Sigrid Lenz   

ILLUSIONEN   

Roman    © 2010   AAVAA e‐Book Verlag UG (haftungsbeschränkt)   Quickborner Str. 78 – 80,13439  Berlin   Telefon.: +49 (0)30 565 849 410  Email:  [email protected]  Alle Rechte vorbehalten  1. Auflage 2010  Lektorat: Hans Lebek, Berlin    Covergestaltung   Tatjana Meletzky          Printed in Germany         ISBN 978‐3‐86254‐214‐7        1   

                 

Alle Personen und Namen sind frei erfunden.   Ähnlichkeiten mit lebenden Personen   sind zufällig und nicht beabsichtigt.                             

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Die Welt entfernte sich in Zeitlupe.     Das  einzige  Geräusch  bestand  in  dem  hohlen  Nachhall  des  Schusses,  der  sein  Trommelfell  beinahe  zerrissen,  der  die  Stille  der  Nacht  wie  ein  Peitschenschlag  geteilt  hatte  und  das  Grau‐ en an die Oberfläche sickern ließ.   Das Grauen, das in dem Anblick lag, der sich  Samuel  darbot,  auch  wenn  er  alles  getan  hätte,  um sich vor der Realität verschließen zu dürfen.       „Cem!“   Tonlos bewegte er seine Lippen.   Seine Augen klebten am regungslosen Körper  des  Freundes,  weiteten  sich,  als  die  dunkelrote  Flüssigkeit  unter  den  schlanken  Gliedern  her‐ vortrat,  eine  Pfütze  bildete,  obwohl  das  leichte  Hemd sein Möglichstes getan hatte, um der Flut  Einhalt zu gebieten.   Nun klebte es wie eine zweite, glitschige Haut  an der Brust, die Samuel liebte zu streicheln, die  er  geliebt  hatte,  mehr  als  es  ihm  bis  zu  diesem  Augenblick bewusst gewesen war.   3   

Mit einem Schrei fuhr er hoch, sein Herz vib‐ rierte im Rhythmus der in ihm allein existieren‐ den  Schallwellen.  Es  schlug  wild  bis  in  seinen  Hals hinein.   Sein Kopf dröhnte, als die Dunkelheit sich wie  ein Mantel über ihn senkte, tiefer und schwerer,  bis  Samuel  erkannte,  dass  er  in  ihr  geborgen  war.   Schweißgebadet,  mit  weit  aufgerissenen  Au‐ gen  starrte  er  in  die  Dunkelheit,  die  nur  durch  das spärlich die Lücken zwischen den geschlos‐ senen  Rollläden  durchdringende  Licht  erhellt  wurde.   Fluchend  und  stöhnend  quälte  er  sich  hoch,  fuhr sich durch das verwirrte Haar.   Das  Blut  pochte  in  seinen  Schläfen  und  sein     Atem raste, aber der Schrecken entschwand.   Nicht  real,  ein  Traum  nur,  einer  von  Vielen,     eine  Ausgeburt  seiner  Phantasie,  Ausdruck        bewusster Ängste und wenn er Glück hatte, un‐ erfüllter Wünsche.   In  diesem  Fall  offensichtlich  seiner  Ängste,  wenngleich  nicht  direkt  derer  einer  unbewuss‐ ten  Sorte.  Soviel  gestand  er  sich  ein,  als  er  ent‐ 4   

schlossen  beide  Beine  aus  dem  Bett  schwang  und den Lichtschalter betätigte.   Noch war Vormittag.   Wieder  hatte  er  weniger  als  vier  Stunden  ge‐ schlafen,  bevor  er  schweißgebadet  aufgewacht  war.  Diese  Nachtarbeit  bedeutete  im  Sommer  nichts  anderes  als  erzwungenen  Schlafmangel  und permanente Erschöpfung.     Samuel begann, sich unsicher durch das Zim‐ mer  zu  bewegen,  tastete  nach  dem  Lichtschal‐ ter.  Verdammte  Albträume.  Elektrisches  Licht  flammte auf, eröffnete den Blick auf eine kleine,  schlampig  eingerichtete  Wohnung.  Schmutzige  Gläser,  leere  Flaschen  bedeckten  beinahe  jede  mögliche Abstellfläche zusammen mit fleckigen  Kaffeetassen und leeren Papiertüten.    Unordentlich  verteilte  Kleidung,  zerbrochene  CD Hüllen, eine gleichmäßige Staubschicht und  Kartons  in  den  Ecken  vervollständigten  den  Eindruck der Verwahrlosung.         5   

Samuel  humpelte  auf  die  überfüllte  Kochni‐ sche zu und setzt die Kaffeemaschine in Gang.   Sich  zwischendurch  müde  das  Gesicht  rei‐ bend versuchte er vergeblich, ein wenig Platz zu  schaffen.   „Samuel!“   Der  Angesprochene  zuckte  zusammen,  ent‐ spannte sich jedoch sofort, als er die Stimme er‐ kannte.   „Cem, Menschenskind. Ich bekomme noch ei‐ nen Herzinfarkt, wenn du dich so anschleichst“,  stöhnte  er  und  fuhr  sich  mit  der  linken  Hand  durch  die  blonden  Haare,  die,  wären  sie  ge‐ kämmt, in einem leicht  gewellten Seitenscheitel  herabfielen.   Nur  bei  genauem  Hinsehen  waren  die  leicht  grau  weiß  gefärbten  Strähnen  zu  erkennen,  die  hier  und  dort  die  Pracht  durchzogen,  welche  ständig einen Schnitt zu benötigen schien.  „Ich weiß wovon du geträumt hast.“  „Lass mich in Ruhe damit. Ich hab jetzt keine  Lust auf so etwas!“  Cem schüttelte tadelnd den dunklen Kopf.     6   

„Du hast darauf nie Lust. Deshalb verfolge ich  dich damit.“  „Verschwinde!“   In Samuel begann Ärger aufzuwallen.   „Wenn  du  nur  endlich  damit  aufhören  könn‐ test, mich ständig heimzusuchen?“  „War das rhetorisch?“, grinste Cem.   „Dir ist doch klar, dass du mich brauchst.“  „Ganz genau“, erwiderte Samuel trocken.   „So  wie  jeder  einen  unsichtbaren  Freund  braucht,  der  zu  den  unpassendsten  Augenbli‐ cken  erscheint  und  am  gesunden  Menschen‐ verstand zweifeln lässt.“   Cem  schnalzte  hörbar  mit  der  Zunge  und  blinzelte Samuel zu.   Die  grünen  Augen  funkelten  spöttisch  und  sandten gleichzeitig eine stumme Aufforderung  in die Richtung des schmalen Mannes.   „Ich  bin  ein  Geist  und  kein  unsichtbarer  Freund.   Dachte, soweit wären wir uns mittlerweile ei‐ nig geworden.“   

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Samuel  erhob  sich  unsicher,  ignorierte  ab‐ sichtlich die Blicke des Anderen.   Er  seufzte.  Noch  nicht  einmal  vierzig  und  trotzdem schmerzten seine Glieder als wären sie  durch den Wolf gedreht worden.   Der  Gedanke  zu  sterben,  solange  man  noch  jung  und  gesund  der  Welt  gegenüber  treten  konnte, gewann von Jahr zu Jahr an Attraktivi‐ tät.     Cem folgte ihm lautlos.   „Es  ist  der  Neue.  Versuch  nicht,  es  zu  leug‐ nen.“   „Was soll der Neue sein?“   Samuel wand sich nicht um, als er die patzige  Antwort  hervorstieß,  während  er  mit  tauben  Fingern an der Kaffeemaschine hantierte.   „Der hübsche, dunkelhaarige Latino. Der, um  den  deine  Gedanken  kreisen,  doch  dem  du  nicht wagst, näher zu kommen. Warum nicht?“  Samuels  Hände  zitterten,  als  er  das  Pulver  in  den Filter schüttete.   „Ich wüsste nicht, was dich das anginge.“  

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Nun“,  Cem  lehnte  sich  neben  ihm  gegen  den  Küchentisch.   „Selbstverständlich  zeige  ich  ein  gewisses  In‐ teresse an meinem Nachfolger.   Zumindest  was  die  äußere  Erscheinung  an‐ geht, bist du ja auf deiner Linie geblieben.“   Der  junge  Mann  pustete  selbstbewusst  die  glänzende Haarsträhne, die ihm in die Stirn ge‐ fallen war, zurück.   Samuel  schüttelte  den  Kopf,  drehte  sich  schließlich  doch  um  und  drohte  ihm  mit  dem  Kaffeelöffel.   „Wenn du nicht schon gestorben wärst…“   Cem lachte.   „Zumindest findest du deinen Humor wieder.   Und jetzt erzähl mir von deinen Träumen. Je‐ desmal  wenn  ich  bei  dir  vorbeisehe,  schreckst  du  schweißgebadet  aus  einer  grauenvollen  Vi‐ sion auf.“   „Rede  keinen  Unsinn“,  murmelte  Samuel,  und sah geflissentlich an ihm vorbei.   Es schmerzte immer noch, Cem so vor sich zu  sehen.  

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Den  drahtigen  Körper,  das  offene  Lächeln,  das Haar, welches ihn immer an dunklen Edel‐ stein, an kühlen Obsidian, kalten Onyx erinnert  hatte,  und  doch  so  voller  Leben,  voller  Feuer  war,  wenn  es  sich  mit  seinem  Lachen,  mit  den  Wellen seiner Energie bewegte.     Nur  knapp  zehn  Jahre  jünger  als  er  selbst,  und  doch  war  Cem  in  so  vielem  ein  Kind  geblieben.   Samuel  hatte  sofort  gewusst,  was  ihn  zu  ihm  gezogen hatte. Und doch war ihre Zeit begrenzt  gewesen, war die Kraft aus der nur wenige Zen‐ timeter größeren Gestalt schneller gewichen, als  auch nur einer von ihnen hätte erahnen können.   Samuel schluckte trocken und beobachtete die  ersten Tropfen des  heißen  Gebräus, die sich ih‐ ren Weg in die bauchige Kanne suchten.   Er  würde  nicht  darüber  sprechen.  Welchen  Sinn  sollte  es  auch  haben  mit  jemandem  wie  Cem oder besser gesagt mit der bloßen Vorstel‐ lung  von  ihm,  seine  immer  wieder  kehrenden  Ängste zu analysieren.     10   

Sie würden vorübergehen.   So  wie  bisher  alles  vorüber  gegangen  war,     jede Angst, jeder Schmerz, jedes Gefühl.   Einen Tag nach dem anderen musste er über‐ stehen.  Anders  war  es  nie  gegangen,  anders  würde es niemals gehen, nicht für ihn.     „Ruf mich, wenn du mich brauchst.“   Samuel schrak zusammen.   Der  heiße  Lufthauch,  der  die  Worte  begleitet  hatte, stand noch still in der Luft, umwehte sein  Ohr. Ein Schauer lief seinen Rücken hinab, dort,  wo  er  eben  noch  Cems  Nähe  gespürt,  ihn  trotz  jeden besseren Wissens hinter sich gewusst hat‐ te.     Er schloss die Augen.   Unnötig nachzusehen, ob Cem gegangen war.  Samuel  spürte  es  in  der  Leere,  die  auf  ihn  he‐ rabsank.   Er war wieder allein, ohne den Trost, den ihm  die  Kraft  der  Einbildung  grundlos  und  ohne  Ankündigung oder Erklärung gewährte.     11   

Trost oder zusätzliche Qual, denn wie sollte er  je darüber hinweg kommen, dass Cem fort war,  wenn kein Tag verging, an dem ihn sein Abbild  nicht heimsuchte?   Darüber  nachzusinnen  hatte  keinen  Wert,  würde ihm nicht weiterhelfen.   Was  er  brauchte,  war  eine  Perspektive,  eine  Möglichkeit  nach  vorne  zu  sehen,  Vergangenes  hinter sich ruhen zu lassen.   Und doch schien gerade dies das schwierigste  aller  Unternehmen,  ein  Fels,  den  er  unmöglich  jemals erklimmen konnte.   Wie auch sollte er das Verbrechen hinter sich  lassen, dessen Anblick sich auf ewig in sein Ge‐ dächtnis gebrannt hatte.   Wie  vergessen,  dass  er  es  gewesen  war,  der  seinen Freund, seinen Partner, seinen Geliebten  leblos in einer Blutlache aufgefunden hatte.   Nicht  einmal  die  Gnade,  ihm  während  seiner  letzten  Atemzüge  zur  Seite  zu  stehen,  war  ihm  gewährt worden.    

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Wenn  sie  sich  damals  nur  nicht  getrennt,  wenn  sie  nur  die  Situation  ernster  genommen,  sie als das erkannt hätten, was sie gewesen war?     Doch auch dann hätte er ihn verloren.     Samuel spürte es in seinen Eingeweiden. Ihre  Zeit  war  zu  Ende  gegangen,  ohne  dass  einer  von  ihnen  es  bemerkt,  und  selbst  wenn,  ohne  dass er es zugegeben hätte.   Zuviel  hatte  zwischen  ihnen  gestanden,  zu  himmelhoch  jauchzend  waren  sie  aufgestiegen,  höher  und  höher  in  ihrem  Glück  inniger  Zwei‐ samkeit,  einem  Glück,  das  nicht  verdient,  nicht  begründet,  nicht  wahr  gewesen  sein  konnte,  zumindest  nicht,  sobald  er  es  von  seinem  jetzi‐ gen Punkt der Existenz aus beobachtete.   Trotz aller Schmerzen, trotz seines Leides war  er bei der Arbeit geblieben, bei jener Arbeit, die  ihm Cem genommen hatte.   Trotz  der  nahezu  unerträglichen  Selbstüber‐ windung, die es ihn kostete, diesen Weg weiter‐ zugehen, hatte er nicht gekündigt.  

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Eine  unsichtbare  Gewalt  hielt  ihn  an  seinem  Posten.   Die  heimliche  Hoffnung,  Rache  für  seinen  Verlust  nehmen  zu  dürfen,  wenn  sich  schon  trotz aller Nachforschungen keine Erklärung of‐ fenbarte.   Unzählige Male waren diese Augenblicke be‐ reits  vor  seinem  inneren  Auge  abgelaufen,  un‐ zählige Male hatte er zugesehen, wie maskierte  Gestalten  in  den  Juwelierladen  eingebrochen,  wie es ihnen gelungen war, den Alarm zum ver‐ stummen zu bringen.     Wie  Cem  sich  ihnen  entgegengestellt,  sein  Mut,  sein  Ehrgefühl,  sein  selbstloses  Handeln  das Todesurteil für ihn bedeutet hatten.   Jedesmal  wieder  starb  ein  Stück  von  ihm  selbst, obwohl es sich doch nur um Spekulatio‐ nen, nur um simple Einbildung seinerseits han‐ delte.   Niemand  wusste,  was  genau  geschehen  war,  niemand  hatte  jemals  einen  der  Täter  gefasst,  die  Hals  über  Kopf  und  auch  ohne  Spuren  zu  hinterlassen, getürmt waren.   14   

Er  allein  war  mit  der  blutenden  Leiche  zu‐ rückgeblieben, nachdem er sich ihr wie in Tran‐ ce, mit gezogener Waffe genähert hatte.     Blind  vor  Tränen,  obgleich  er  doch  hätte  jede  Kleinigkeit,  jedes  Zeichen,  jede  Spur  wahrneh‐ men müssen.   Taub für alle Geräusche, nichts als das dump‐ fe  Dröhnen  der  Endgültigkeit,  das  Samuel  in‐ nerlich tötete.     Cem  musste  schnell  gestorben  sein,  durfte  nicht gelitten haben.   Samuel  konnte  den  Gedanken  an  Cems  Schmerzen  nicht  ertragen,  nicht  den  Gedanken  an sein verzerrtes Gesicht, das den letzten Aus‐ druck,  das  letzte  Gefühl,  das  seinen  Geliebten  beherrscht hatte, wiedergab.   Mühsam  drängte  er  das  Bild  zurück  in  die  Tiefen  des  Vergessens,  das  er  ersehnte,  doch  nicht fähig war, sich zu Eigen zu machen.   Mit  diesem  ungelösten  Knoten  über  seinem  Kopf,  wie  sollte  es  ihm  da  je  gelingen  abzu‐ schließen?   15