ideenWerkstatt - Medienfachverlag Oberauer

berufliche Neuorientierung. Wer macht es? Ralf Heimann. Er ist Redakteur der. „Münsterschen Zeitung“ und Bestseller- autor des Buchs „Die tote Kuh kommt.
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#06/2014

EURO 4,99

ideenWerkstatt

„Was ist, wenn wir unsere Konferenzen abschaffen?“ Markus Horeld, Zeit Online, Seite 9

Medium Magazin für Journalisten | Medienfachverlag Oberauer | Johann Oberauer GmbH | Fliederweg 4, A-5301 Salzburg-Eugendorf

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Inhalt

medium magazin #06/2014 | iW | 3

Zur Premiere Willkommen zur ersten Ausgabe der „medium magazin Ideenwerkstatt“. In unserem neuen E-Paper-Format, das im monatlichen Wechsel mit unserer Printausgabe erscheint, präsentieren wir Ihnen sieben besondere journalistische Konzepte, Themen und Tipps – aus Bereichen wie journalistisches Handwerk, Redaktionsmanagement, junge Medienprojekte, berufliche Orientierung und vieles mehr. Sie sollen zur Nachahmung, Weiterentwicklung und Diskussion anreizen. Die „Ideenwerkstatt“ lebt von IHREN Ideen. Deshalb: Wir laden Sie herzlich ein zu einem journalistischen Ideenwettbewerb. Schicken Sie uns Ihre Idee – sei es eine inhaltliche, technische oder organisatorische. Die besten werden wir künftig in unserer Werkstatt präsentieren. Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge! Annette Milz

Idee 1

Idee 1

Idee 6

Wie ein Low-BudgetMagazin entsteht

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Idee 2

Wie Redaktionskonferenzen effektiver werden

Idee 3

Wie lokale Daten intelligent verknüpft werden

Idee 4

Asexuell Keine Lust auf Sex. Nie.

An der Stange Pole-Dance, ein erotischer Leistungssport.

Alter Herzog Die Besitzerin von Ulms ältestem Bordell im Gespräch.

Wie gutes Storytelling funktioniert Wie Interviews besser werden

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Idee 5

2,69 €

1. Ausgabe 2014

Idee 2

Idee 6

Wie der Neustart gelingt

Idee 7

Wie Ethik praktisch wird

Impressum Chefredakteurin Annette Milz (V.i.S.d.P., Frankfurt/Main) Redaktion Katy Walther, Thomas Strothjohann (FfM); Daniel Bouhs, Dr. Anne Haeming, Daniel Kastner, Jens Twiehaus (Berlin); Ulrike Langer (Seattle), Simone Schellhammer (HH)

Autoren Ralf Heimann, Markus Herold, Marie Lampert, Lorenz Matzat, Jens Twiehaus Anzeigen- und Medienberatung Leitung: Silvia König Tel. +43/6225/27 00-37 [email protected]

Redaktion Im Uhrig 31, 60433 Frankfurt am Main Tel. 069/95 29 79-44, Fax -45 [email protected] www.mediummagazin.de #twitter@mediummagazin www.facebook.com/ mediummagazin

Verlag und Medieninhaber Johann Oberauer GmbH Postanschrift: Postfach 11 52, 83381 Freilassing Zentrale: Fliederweg 4, A-5301 Salzburg-Eugendorf Telefon +43/6225/27 00-0, Fax -11

Produktion Daniela Schneider, Martina Danner Abo- und Vertriebshotline Telefon +43/6225/27 00-41, Fax -44 [email protected]

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Idee 1 | Wie ein Low-Budget-Magazin entsteht

Erotik fürs Lokale

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Team Projekt „Reizvoll“

„Reizvoll“

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Volontäre und Azubis der Ulmer Südwest Presse haben eigenständig das regionale Erotikmagazin „Reizvoll“ produziert. Und für 2,69 Euro an den Kiosk gebracht. Eine Idee, die überall funktionieren könnte.

S

in einer zweiten Konferenz mögliche Themen. Erst danach wurde der Verlag informiert und es gab ein drittes Treffen – wieder mit den Azubis. „Dann zog es sich“, erinnert sich der 29-jährige Block. Er und die Kollegen sammelten Themen, Ansätze, Ansprechpartner. Kurz vor Weihnachten gab der Verlag grünes Licht. Erst Ende Januar, Anfang Februar wurde es für die Autoren konkret. „Da ging die Arbeit los – dann aber geballt: recherchieren, interviewen, schreiben“, sagt Block. Sieben SWP-Volontäre erledigten redaktionelle Arbeiten und schrieben die Texte, unter ihnen war Thomas Block der einzige Mann. Sonst noch an Bord: Miriam Kammerer, Marlene Müller, Dorothea Nitzsche, Anne Leipold, Anne Meßmer und Samira Eisele. Für das geschäftliche Konzept, Anzeigenverkauf und Vertrieb waren die ebenfalls überwiegend weiblichen Medienhaus-Azubis und -Studenten zuständig: Mirjam Reisch, Jennifer Herr, René Burtscher, Ivonne Hefele, Antonia Walter, Vivien Thierer, Rubina Khan und Nils Haas. Die Gestaltung übernahmen Mediendesign-Studentin Solveig Matuszewski und Azubi Maike Rehm. Irmi Städele, Redakteurin des Magazins der SWP, redigierte und korrigierte. Fotos schossen die Profis Lars Schwerdtfeger, Giacinto Carlucci und Thomas Kiehl zusätzlich zu ihrem Termingeschäft. Block verrät, sich mit kollegial-ironischem Unterton schnell deren Unterstützung gesichert zu haben: „Hey, heute im Puff, bist du dabei?“

Wie wurde gearbeitet?

Zumeist auf Distanz. Und: in distanzierter Kooperation. „Reizvoll“ war von vornher-

Wer macht es? Sieben SWP-Volontäre (Redaktion), zehn Medienhaus-Azubis und -Studenten (Anzeigenverkauf, Vertrieb und Gestaltung). Eine erfahrene Redakteurin redigierte, SWP-Fotografen lieferten Bilder. Was bringt es? Teamfähigkeit und Motivation: Die Volontäre und Azubis lernten ihre jeweilige Arbeit im gemeinsamen kreativen Prozess besser kennen und sammelten Erfahrungen, wie man einen Titel im regionalen Markt positioniert.

Asexuell Keine Lust auf Sex. Nie.

An der Stange

Was kostet es? Interne Kosten: Zusätzliche Personalkosten entstanden nicht, weil alle Beteiligten ihr normales Ausbildungsgehalt bezogen. Gedruckt wurde in der hauseigenen Druckerei. Die Kosten für „reizvoll“ lagen bei rund 2.500 Euro - die allein durch die Anzeigenerlösen gedeckt wurden.

Pole-Dance, ein erotischer Leistungssport.

Alter Herzog Die Besitzerin von Ulms ältestem Bordell im Gespräch. 2,69 €

1. Ausgabe 2014

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chuld an allem ist „AzZe“. So lautet die Kurzform für das Projekt AzubiZeitung, das es einmal im Jahr im Ulmer Medienhaus Südwest Presse gibt. Volos machen es jeweils zu Beginn ihrer Laufbahn und Azubis zweimal. Gewöhnlich ist „AzZe“ eine Beilage zur „Südwest Presse“ (SWP). Doch Ende September 2013 keimte unter den Volontären die Idee für eine eigene Erotikzeitschrift auf. Manche im Team glaubten zunächst nicht, dass man ein alternatives Sex-Magazin auf lokaler Ebene herausbringen könnte, doch sie ließen sich überzeugen. Denn die Nachwuchsjournalisten einte die Lust, mal einen echten Hingucker zu produzieren. Redaktionsmitglied Thomas Block blickt ein paar Monate zurück: „Wir wollten mit den Klischees spielen, aber die Erwartungen an ein Tittenheft eben nicht erfüllen.“ Der Dreh der „Reizvoll“-Geschichten verläuft bewusst gegenläufig zu vorgefertigten Meinungen: Reporterin Miriam Kammerer etwa besucht einen neu eröffneten Sexshop, der sich trotz florierender Internet-Erotik halten will. Thomas Block und Kollegin Samira Eisele sprechen mit zwei Asexuellen über Sex, der ihnen keine Lust bereitet. Gleich in zwei Texten geht es um Behinderte, die gerne Sex hätten. Ein Stück dreht sich um Sex im katholischen Altersheim. Anne Leipold traf eine Pole-Dancerin. Und das Foto von der Bordellvisite zeigt keine rumänische Blondine vor rotem Plüsch, sondern Puffmutti Gerda mit Käffchen an der Bar. Als das Vorhaben im Oktober grob von den Volontären ausdiskutiert war, kam es zu einem ersten Treffen mit den Azubis. Auch sie wollten überzeugt werden. Nachdem das klappte, konzipierten die Volos im November

Was ist es? Ein regionales Erotikmagazin für Ulm und Umgebung, konzipiert und produziert durch Auszubildende der Südwest Presse. Die Geschichten sind alternativ: Senioren und Sex, Behinderte und Sex, Pole-Dance als Sport. Alle Protagonisten stammen aus der Region und es wird dort vertrieben.

Das „Reizvoll“-Team der Südwest Presse Ulm: (von links oben) Anne Leipold, Antonia Walter, Miriam Kammerer, Mirjam Reisch, Dorothea Nitzsche, Ivonne Hefele, Rene Burtscher, Samira Eisele, Jennifer Herr, Thomas Block, Solveig Matuszewski, Maike Rehm. Nicht im Bild: Marlene Müller, Anne Meßmer, Vivien Thierer, Rubina Khan und Nils Haas.

Erotik ohne Holzhammer: Die Volontäre und Azubis der Südwest Presse Ulm wählten für das Cover ihres Projekts „Reizvoll“ keine nackte Schönheit, sondern ein Model, das Spielraum für Interpretation lässt.

Was sind die Hürden? Die Protagonisten zu diesem Reiz-Thema zum Reden zu bringen. Außerdem die Zeit: Die Volos hatten nur eine freie Woche für das Projekt, zusätzlich zu ihren Diensten in den Lokalredaktionen wurde oft an freien Tagen oder abends recherchiert, geplant und geschrieben. Für wen ist es geeignet? Theoretisch ist das Konzept auf alle Regionen Deutschlands übertragbar – denn Erotik ist überall Thema. Tipp für potenzielle Nachahmer? Achten Sie darauf, wie ein solches Heft vom Grosso am Kiosk platziert wird ­– sonst geht es zwischen Dutzenden von Yellowund Erotiktiteln unter! Bauen Sie eventuell eigene Vertriebswege auf und bringen das Heft gezielt an den Verkaufstresen.

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medium magazin #06/2014 | iW | 8 © l to fo

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Sex sells war gestern Sex verkauft sich. Oder nicht? Der Trend, nackte Haut auf Plakaten und in Werbespots zu zeigen, geht leicht zurück. Von Dorothea Nitzsche

Sinnliche Lippen – harmlos. Verführerische Blicke – langweilig. Entblößte Brüste – kaum schockierend. Erotik in der Werbung ist ein altbekanntes und viel eingesetztes Mittel. Aber ist das noch zielführend? Nein, sagt Werbepsychologe Klaus Moser von der Universität Erlangen-Nürnberg. „Mein Eindruck ist, dass es einen gewissen Sättigungseffekt gibt, was nackte Haut in Werbekampagnen betrifft.“ Der Trend gehe leicht zurück. In den 1950er Jahren galt es als Tabu, nackte Brüste zu zeigen. In den 1970er und 80er Jahren wollte Werbung mit spärlich bekleideten Menschen noch provozieren. Mitte der 1990er Jahre hat das schon kaum mehr jemanden brüskiert. Julia Busse, Geschäftsführerin des Deutschen Werberates, resümiert: Werbung ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. In Deutschland wurde immer wieder, auch 2013, intensiv über die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Gesellschaft diskutiert. Die teils hoch emotional geführte Debatte erfasste auch das Frauenbild in der Werbung. „Der wachsende Protest gegen den Umgang mit Frauen geht deshalb auch auf eine zunehmende Sensibilität für das Thema und die Gleichstellungsdebatte zurück. Diskriminierende oder herabwürdigende Darstellungen von Frauen haben in der Werbung nichts zu suchen“, findet Busse. Es könne sein, dass Erotik in der Werbung momentan kaum eine Rolle spiele. Eine Erklärung: Sobald Sexualität vermehrt öffentlich diskutiert werde, häufen sich die Beschwerden beim Werberat über Diskriminierungen. Das wiederum kann Einfluss auf Werbemacher haben, weniger Erotik einzusetzen. 2013 bezogen sich 45 Prozent von insgesamt 340 Beschwerden gegen Werbekampagnen auf die Herabwürdigung und Diskriminierung von Frauen. 2012 waren es bei 305 vom Werberat zu entscheidenden

Die Redaktion

Asexuell Keine Lust auf Sex. Nie.

An der Stange Pole-Dance, ein erotischer Leistungssport.

Alter Herzog

Fällen 36 Prozent. Dabei ging es nicht immer um Erotik, sondern vermehrt um das Frauenbild. Einige Beschwerden richteten sich zum Beispiel über eine Kampagne für ein Sofa mit dem Slogan: „Tausch deine Alte gegen eine Neue“. Dennoch spiegelt die Werbung ein verändertes Frauenbild wieder: „Werbung greift heute alle Lebensbereiche von Frauen auf. Frauen werden nicht mehr nur als Hausfrau, sondern beispielsweise auch als erfolgreiche Karrierefrau, beim Sport oder zusammen mit Freunden dargestellt“, berichtet Busse. Ob nackte Haut wirkt oder nicht, kommt auf das Produkt an. „Man muss sich immer vor Augen führen, was Werbung erreichen will: ein Produkt verkaufen. Dazu muss es im Gedächtnis der Leute bleiben“, sagt Moser. Zeige ein Plakat viel nackte Haut, erinnerten sich die Menschen eher daran, als an das Produkt. Erotische Werbung bewirke demnach den gegenteiligen erwünschten Effekt. Interessant ist, dass besonders viel nackte Haut in der Werbung in Frauenzeitschriften zu finden ist. „Mehr als beispielsweise im Playboy“, sagt Moser. Warum? Wird beispielsweise ein Parfum mit einem schönen Menschen beworben, übernimmt das Produkt dessen Aura. „Die Werbung signalisiert: So schön kannst du auch sein, wenn du das Parfum kaufst“, erklärt Moser. Wie viel nackte Haut als Werbemittel eingesetzt wird, komme auf das Produkt an. Aus der Praxis kann Joachim Seiler, Chef der Werbeagentur MK/Ulm, bestätigen: Erotik ist kein Thema. „Das ist einfach nicht mehr zeitgemäß.“ Seine Kunden – darunter ein Fitnessstudio – legen Wert auf seriöse Werbung. Also keine Pobacken auf dem Stepper. In den 15 Jahren, in denen die Agentur besteht, sei nie der Wunsch nach Erotik in einer Kampagne aufgekommen.

Die Besitzerin von Ulms ältestem Bordell im Gespräch.

18-20

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feles Hofladen

C.U.R. Hefele GbR Hauptstraße 24 88527 Unlingen Telefon: 07371-13 045 [email protected]

IMMER MITTWOCHS*

VON 18:00 BIS 24:00 UHR ZUR-ZILL.DE | LIKE US ON FACEBOOK

Da geht was

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Sex sells nicht mehr so richtig

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Sex trotz Muskeln

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Sex im Karton

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Sex - aus gutem Grund

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„Ihr kommt doch nur her, um jemanden abzuschleppen!“ Reizvoll hat herausgefunden, wie viel One-Night-Stand-Potenzial im Couchsurfen und Speed-Daten steckt.

29 tentiellen Dingen auseinanderzu-

„Ich dachte, ich weiß, wer ich bin“

> Doch die Wörter sind meine Komplizen und einzige Wahl, jetzt, wo Du so weit entfernt bist. < „Schreiben ist meine Art, mich mit existentiellen Dingen auseinanderzusetzen.“ Der ersten, spontanen Schreibphase folgte die strenge Arbeit an den Entwürfen. Die später entstandenen Notate sind gedanklicher, ruhiger. Ein Prozess scheint in Gang gekommen zu sein. Wenn Tina Stroheker über das Buch und ihre Liebe spricht, ist zu spüren, dass sie mittlerweile den Schmerz über die verlorene Liebe verarbeitet hat. So sagt sie auch, sie habe diese lesbische Liebeserfahrung angenommen und sei letztlich gestärkt daraus hervorgegangen. Wieder mischen sich Kunst und Leben. Der Aufbruchstimmung am Ende des Buches folgt das Annehmen des Themas in der Realität. > Doch ich begann zu frösteln und verwandelte mich wieder in eine Frau, alleine an einem Ufer, die einen Rest Schokolade isst, ihre Sachen zusammenpackt, losgeht.
Ich will umfallen, weil ich mit dem Mann meines Lebens verheiratet bin und nicht genug von Dir kriegen kann. < Mit ihrem Mann habe es viele Gespräche gegeben. Ebenso mit der Frau, der das Buch gewidmet ist und mit ihrem Verleger.

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wühlt, sitzt am Schreibtisch und schreibt wild ihre Erinnerungen nieder. Es sprudelt genau das aus ihr heraus, was ihr gerade durch den Kopf schießt. Der Schmerz ist noch ganz frisch, die Erinnerungen sind es auch. „Manchmal saß ich heulend über dem Text.“ Die Notate entstanden in loser Reihenfolge. Sie habe geschrieben, „um nicht zu implodieren“.

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Tina Stroheker hat ein Buch über ihre lesbischen Liebeserfahrungen geschrieben. Ihr Mann hat es ihr offensichtlich nicht übel genommen.

> Du, aus deiner Dusche tretend, ganz bei Dir, eine Alltags-Epiphanie. Ruhig atmen, ganz ruhig. Etwas in mir will sich auflösen, eine fällige Frucht ist mein Herz geworden, weich und widerstandslos, das liegt auf der Hand.
Und ist sie nicht viel zu schlecht ausgerüstet? Dabei entschlossen zur Weiterfahrt.
Mitleid hilft nicht. ting: Er offenbart sich einem schwulen Freund ten zu schlafen, findet Markus gut. Und es tat ihm gut. Lange Zeit habe er Angst gehabt, „Davon hatte ich leider nicht so viel“, fasst er Selbstmitleid erst rückblickend zusammen. Erst ein Tapetenwechsich zu entblößen und habe daher auch keine Sexdates gesucht. Bei anderen Verabredungen sei sel bringt ihn wirklich einen Schritt nach vorn. Ein recht nicht. < halbes Jahr später, nach dem Studium, Markus ist jetzt dem Gegenüber teilweise die Enttäuschung ins Gesicht 25, kehrt er seiner Herkunftsgemeinde den Rücken. Er geschrieben gewesen, obwohl er immer offen und ehrlich mit seiner Behinderung umgegangen sei. „Eine Akrobatiknumfühlt, dass es im konservativen, katholischen Milieu wohl keine Möglichkeit geben wird, seine Sexualität auszuleben. Markus geht mer geht mit mir nicht“, aber davon abgesehen habe er keine Einschränkungen. Obwohl sich seine Suche nach einem Partner schwierig nach Köln. Eine weltoffene, lebensfrohe Stadt, die bekannt ist für ihre Schwulen- und Lesbenszene. gestaltet, eine Sexualassistenz kommt für Markus nicht in Frage. Er will Das Thema gewinnt nach dem Umzug an Präsenz. Er outet sich bei richtige Gefühle. Sein Leben hat sich eingependelt. Kollegen und Freundeskreis wissen einem weiteren Freund. Dieses Mal bei einem Hetero. Der nimmt sein über sein Schwulsein Bescheid. Nach Köln zu kommen, sei ein GlücksComing-out positiv auf. Die Sache kommt mehr und mehr ins Rollen. fall gewesen, hier fühlt er sich wohl. Sein größter Wunsch ist es, eine Er schließt sich einer Coming-out Gruppe an und entdeckt, dass noch mehr so sind wie er. Die Teilnehmer der Gruppe sind in seinem Alter. normale Beziehung zu führen, einfach als Mensch geliebt zu werden. Das Outing vor den Eltern bereitet ihm die größten Sorgen. Seine Aber er muss weiter gegen Berührungsängste kämpfen. Nur sehr gute Freunde bücken sich herunter und umarmen ihn, bei Bekannten wird Eltern sind gläubige Katholiken, wohnen in einer kleinen Gemeinde, es schon schwierig. „Die Leute wollen weggucken“, allzu gern ignorieer denkt bei sich: „Meine Eltern verkraften das nicht, behindert und ren die Menschen ihn, das ist sein Eindruck. Vorerst wird er weiterhin schwul.“ Er zögert das Outing heraus. Spricht immer wieder Homosexualität an, um seine Eltern zu testen. allein zu Hochzeiten gehen. Vielleicht fragt ihn ja irgendwann mal eiEine seiner Fragen ist: „Wie findet ihr den Westerwelle?“ Gegen desner, ob er einen Freund hat. Auch wenn er das verneinen müsste, eine schöne Frage wäre es trotzdem. sen Schwulsein haben seine Eltern keine Einwände. Schrittweise tastet *Name von der Redaktion geändert

Klare Struktur rund um den Reiz: Für das Inhaltsverzeichnis wählten die „Reizvoll“Redakteure vier Kategorien. Reizthema, Anreiz, Reizflut und Liebreiz sind jeweils farbig gekennzeichnet. Sie mischen sich aber bewusst im Heft, bilden keine klassischen Ressorts und zeigen so die Vielfalt des Themas Erotik.

Keine Spielchen: Auch in den einzelnen Texten finden sich die Farben aus dem Inhaltsverzeichnis wieder. Inhaltlich konzentrierten sich die Volos auf die Texte. Längere Fotostrecken als Hingucker oder Grafiken tauchen nicht auf – und fehlen optisch verwöhnten Lesern womöglich.

Sicher keine Reizüberflutung: Die Mediengestalterinnen im Team wählten ein nüchternes Kasten-Layout. Die Karos ziehen sich als Fingerabdruck durch das gesamte Heft. Alle Seiten wurden mit dem umfangreichen Standard-Programm InDesign von Adobe gebaut.

Wir gestalten mit

mediaservice ulm www.mediaservice-ulm.de SÜDWEST PRESSE

Zielgruppen-Werbung: Dass auch in einem intelligent gemachten Erotikmagazin intelligente Anzeigen funktionieren, zeigt das Beispiel: „Liebe & Leidenschaft“. Weitere Anzeigenkunden stammen aus der lokalen Wirtschaft. Auf der Rückseite kokettiert ein Fitnessstudio mit dem Thema des Hefts: „Wir wollen, dass du kommst!“

Persönliches Exemplar für: [email protected]

Idee 2 | Wie Redaktionskonferenzen effektiver werden

Themeninseln statt Pflichtkonferenzen Zeit Online hat klassische Konferenzstrukturen abgeschafft und die Tische entfernt. Stattdessen wird jetzt mit „Tinseln“ auf Sitzwürfeln geplant.

G

roße Konferenz, Auftritt Ressortleiter. Punkt für Punkt tragen sie einander am großen Konferenztisch ihr jeweiliges Tagesprogramm vor. Ohne tiefere Debatte. Es ist eine Zeremonie, wie sie am Vormittag in hunderten Redaktionen stattfindet. Anschließend: Leitartikelkonferenz, Kommentarkonferenz, Ressortkonferenzen. Am Nachmittag Produktion, um 17.30 Uhr Andruck.

Der Normalzustand: Routinekonferenzen.

Auch die meisten Online-Nachrichtenre-

daktionen pflegen derlei Rituale, die für sie so unergiebig wie anachronistisch sind. Sie tun so, als seien sie eine Tageszeitung. Als hätten sie eine ganz bestimmte Anzahl Seiten mit ganz bestimmten Formaten zu füllen. Als würden sie auf einen Drucktermin am Abend hinarbeiten. Und prompt stauen sich in vielen Online-Redaktionen nach 18 Uhr die besten Geschichten. Der Morgen ist traditionell dünn. Dabei sind unsere Leser mittlerweile fast rund um die Uhr auf unserer Web­site, viele Redaktionen sind durchgehend besetzt.

Rund um die Uhr sollen wir auch neue Beiträge publizieren, das Geschehen einordnen, kommentieren. Wenn bei den Tageszeitungen die große Vormittagskonferenz stattfindet, driftet die Online-Reichweite längst ihrem ersten Tagespeak entgegen. Online-Redakteure identifizieren minütlich Themen, beraten sie, vereinbaren sie, verwerfen sie wieder, drehen sie weiter. Eine Online-Redaktion ist im Grunde eine große Dauerkonferenz. Im Fall von Zeit Online kommt hinzu: Wir sitzen in einem Newsroom, die Kom-

Würfel statt Sesseln rund um einen Konferenztisch und die Planung fließt: Zeit Online widmet große Konferenzen nur noch Themenplanungen statt Routinebesprechungen. Große Themenkomplexe werden auf einer Wandtafel – dem Scrumboard – skizziert, wie sie auch Software-Entwickler nutzen.

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Persönliches Exemplar für: [email protected]

Idee 2 | Wie Redaktionskonferenzen effektiver werden munikationswege sind kurz, neue Entwicklungen besprechen wir immer und ständig. Zeremonielle Konferenzstrukturen brauchen wir eigentlich nicht. Sie lähmen uns.

Die Alternative: Planungskonferenzen

Was ist, wenn wir unsere Konferenzen abschaffen? Diese Frage stellten wir uns im vergangenen Sommer – und behielten am Ende tatsächlich nur wenige fest gefügte Strukturen. Morgens um neun Uhr tagt nur noch eine sehr kleine Runde. In ihr gibt es keine langen Vorträge, die jenseits des eigenen Ressorts niemanden interessieren müssen. Stattdessen eine schnelle Absprache zwischen CvD und den Ressorts zur aktuellen Lage: Haben wir etwas übersehen? Gibt es Themen, die wir zusätzlich zum geplanten Programm anschieben müssen? Das Ganze dauert selten länger als zehn Minuten. Größer ist die Konferenz um 14 Uhr: Sie steht der gesamten Redaktion offen, die Teilnahme ist frei, eine feste Sitzordnung gibt es nicht, den großen Konferenztisch, an dem sich die Tafelrunde traf, haben wir hinausbefördert. Nun gibt es Sitzwürfel, die sich je nach Zweck und Dauer auf wundersame Weise wie von selbst zu immer neuen Sitzordnungen zusammenfügen. Auch hier trägt niemand ein Tagesprogramm vor. Stattdessen schauen wir auf den nächsten Tag, auf die nächste Woche, vor allem aber über den Tellerrand: ● Haben wir etwas verpasst? ● Gibt es Themen, die untergegangen sind? ● Was bewegt uns jenseits der aktuellen Nachrichtenlage? ● Was haben wir heute in der U-Bahn gehört? ● Welche Fragen haben die fachfremden Kollegen zu den aktuellen Themen? Die Pflicht haben wir aus den Konferenzen herausgelöst: Das Tagesprogramm der Ressorts wird, für alle sichtbar, in einem zen­ tralen Google-Dokument abgelegt, anhand dessen der CvD seine Seite planen kann.

setzt es finden sich Mitstreiter, die sich von vornherein ebenfalls für das jeweilige Thema interessieren. Besprochen werden dort große Fragen ebenso wie kleine. Aus manchen „Tinseln“ entstehen ganze Serien oder Themenschwerpunkte, deren Umsetzung Wochen dauert. Die Ergebnisse jeder Tinsel werden verpflichtend mit einem Kurzprotokoll festgehalten, das per Mail an die gesamte Redaktion geht. Große Themenkomplexe skizzieren wir auf einer Wandtafel, die wir uns bei Software-Entwicklern abgeschaut haben: dem Scrumboard. Dort werden die Haupt- und Nebenaspekte des Themas, die notwendigen Ressourcen sowie der Fortgang dokumentiert.

Der große Vorteil dieser Struktur liegt auf der Hand:

Die Morgenkonferenz bleibt kurz, was für ein Online-Medium wichtig ist. Gleichzeitig nehmen an den notwendigen thematischen Diskussionen und Planungen nur diejenigen Kollegen teil, die für das Thema verantwortlich sind oder sich leidenschaftlich dafür interessieren. Nach mehr als einem halben Jahr Erfahrung mit dem neuen System können wir sagen: Unsere Diskussionen sind fruchtbarer als früher, die generierten Themen auch für uns selbst überraschender, und wir haben messbar mehr Zeit und Ressourcen für die eigentliche journalistische Arbeit. Für eine Online-Redaktion, die nicht an feste Veröffentlichungsrhythmen gebunden ist, ist es naheliegend, auch in ihren Kommunikations- und Planungsstrukturen möglichst ungebunden zu sein. Unser Konferenzsystem ist ein Schritt dorthin.

Neues Format: „Tinsel“

Für tiefere Diskussionen zu größeren Themen und Lagen haben wir hingegen ein eigenes Diskussionsformat geschaffen, an das wir diese delegieren. Wir nennen es Themen-Insel, kurz: Tinsel. Jeder kann eine solche Themen-Insel zu fast jeder Zeit einberufen – vorausge-

Markus Horeld

ist stellvertretender Chefredakteur von Zeit Online. [email protected]

Das Zeit-OnlineKonferenzsystem: Was ist es? Eine neuartige Konferenzstruktur für Online-Redaktionen, die auf Themenplanung statt Routinekonferenzen zur Tagesplanung setzt. Wer macht es? Die gesamte Redaktion. Was bringt es? Keine zeitfressenden Pflichtkonferenzen, fruchtbare Diskussionen, neue Ansätze für Themen, mehr Zeit für Recherche. Was kostet es? Nichts. Allenfalls ein paar Euro für neue Sitzwürfel. Die Hürden? Festgefahrene Strukturen der Konferenzen zu überwinden. Das geht nur mit Überzeugung. Anordnung von oben bringt nichts. Für wen geeignet? Besonders für Online-Nachrichten­ medien.

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Idee 3 | Wie lokale Daten intelligent verknüpft werden

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Zum Entdecken Es könnte eine Alternative zu Google Maps werden: AGI MapWare von Lokaler will eigene, neue Perspektiven auf lokale Daten ermöglichen. Im Sommer werden es die Berliner Stadtmagazine „Tip“ und „Zitty“ erstmals einsetzen. Wie es funktioniert, erklärt Gründer Lorenz Matzat.

V

iele Verlage und Redaktionen sitzen auf Mengen an wertvollen Daten mit Ortsbezug, deren Potenzial oft nicht ausgespielt wird. Das wollen wir helfen zu ändern – und zwar mit AGI MapWare von Lokaler. Deren Clou ist, dass nicht nur Ortsdatenbanken, sondern auch Veranstaltungskalender und Lokalnachrichten gleichzeitig eingebunden werden können – und das als Kartenanwendung unter der eigenen Marke, so dass die jeweilige Redaktion ihre Stärke bei den Nutzern betonen und ausspielen kann. Unsere Idee ist: Wir wollen ein möglichst einfaches technisches System liefern, das viele verschiedene Informationsebenen vereint, so weit wie möglich automatisch arbeitet

und Redakteuren das Leben erleichtert. Damit diese Besuchern des Angebots unkompliziert ein gehaltvolles Angebot liefern können – alles ohne Installation einer App, sondern direkt im Browser. Wie kann das konkret aussehen? Beispiel Stadtmagazin: Das Stadtmagazin „Tip“ und die vor Kurzem ebenfalls vom Berliner Raufeld Verlag erworbene „Zitty“ starten in diesem Sommer ein ServiceAngebot mit dem Arbeitstitel „GO“, das wir auf der Grundlage von AGI MapWare entwickeln. GO schöpft aus den reichhaltigen redaktionell gepflegten Datenbanken mit tausenden Restaurantbesprechungen,

Freizeitangeboten und diversen anderen Orten in der Hauptstadt. Kombiniert werden diese Datenschätze mit der gut gepflegten Veranstaltungsdatenbank über Kinofilme, Theateraufführungen, Konzerte, Kulturveranstaltungen, Partys sowie Terminen für Eltern und Kinder. So lassen sich etwa mit GO schnell die aktuellen Programme in den Kinos um mich herum erschließen und der geeignete Ort für einen gemütlichen Drink danach finden; die von mir ausgewählte Vorstellung und Kneipe kann ich dann sofort über einen Social-Media-Dienst oder per E-Mail meinen Freunden mitteilen. Als Zusatzangebot („Vertical“) zu den bestehenden Stadtmagazin-Websites

entsteht so mit GO ein Dienst, der sich deutlich von den üblichen Termin- und Stadtportalen für Berlin absetzt. Lokale Informationen, seien es Informationen über Ämter oder auch Veranstaltungstermine, werden dort meist nur in langen unübersichtlichen Listen bereitgehalten. So funktioniert es: AGI MapWare ist ein generisches System („Middleware“), das alle möglichen Daten verarbeitet, solange diese Ortsinformationen enthalten. Es setzt auf das freie Kartenmaterial von OpenStreetMap, kann aber auch Bing oder Google Maps verwenden. Teil unseres Angebots ist ein Geoanalytics: Unser System liefert Informationen darüber, welche Gegenden und Informationen wie viel Interesse finden. Außerdem kann das Analytics auch dazu dienen, neue Werbeformate zu entwickeln, die direkt auf der Karte stattfinden: beispielsweise die Wiedergabe von Werbeprospekten, sobald man die entsprechenden Bau- oder Supermärkte auf der Karte anklickt. Klassische Bannerwerbung und die Einbindung von Werbeprogrammen mit Gewinnbeteiligung (Affiliate) ist ebenfalls möglich. Kurz gesagt: Mit unserer Software lässt sich unter Einsatz der eigenen Daten und

Linktipp

ANPASSUNG AN ALLE FORMATE: AGI MapWare läuft im Browser. Die Nutzeroberfläche passt sich an das jeweilige Gerät an. Hier die Ansicht des Projekts GO für die Berliner Stadtmagazine „Tip“ und „Zitty“ auf einem Tablet.

Die auf lokale datenjournalistische Anwendungen spezialisierte Firma Lokaler wurde 2011 gegründet und hat ihren Sitz in Berlin-Kreuzberg. Zum Team gehören Journalisten, Programmierer und Designer. Lorenz Matzat, der die Agentur OpenDataCity mit aufgebaut hat (2011 bis 2013), ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter von Lokaler. www.lokaler.de

Inhalte eine Art eigenes Google Maps umsetzen – ein so genannter Location-based Service. AGI MapWare kann bestehende Datenbanken, Tabellen und Schnittstellen (API) lesen. In Lokalnachrichten versucht das System Straßen und Orte zu identifizieren und spielt die bei Erfolg direkt auf der Karte aus. Ein Feature, das wir gerade für eine Regionalzeitung in Süddeutschland testen. Webangebote auf Basis von AGI MapWare können eigenständig funktionieren, also unter einer eigenen Domain laufen. Aber durch die integrierte Einbettungsfunktion lässt es sich einfach mit der bestehenden klassischen Website verzahnen. Unser System ist keinem bestimmten Aussehen verpflichtet, funktioniert als „White Label“-Lösung; d. h., es kann an die jeweils eigene „Corporate Identity“ (CI) des Nutzers angepasst werden. Im Falle von GO wird beispielsweise ein eigener farblich angepasster Karten-Look verwendet; ebenso werden die Farben, Schriften, Icons und Logos angepasst, um optisch an „Tip“ und „Zitty“ zu erinnern. Die Nutzeroberfläche von AGI MapWare funktioniert nach dem Prinzip des „Responsive Design“. D. h., sie passt sich automatisch an die Bildschirmgröße des genutzten Geräts und an den Browser des

AGI MapWare: Was ist es? Ein neuartiges halbautomatisches Datenbank-System, das mit verschiedenen Informationsebenen arbeitet und als Alternative zu Google Maps vielfältige Einsatzmöglichkeiten für lokale datenjournalistische Anwendungen ermög­ licht. Wer macht es? Lokaler aus Berlin; eine Softwarefirma gegründet von Lorenz Matzat. Was bringt es? Neue Perspektive auf und Bündelung von ortsbezogenen Inhalten, sowohl mobil als auch stationär; eigenständige Plattform, ggf. im Verbund mit bestehendem Webauftritt (durch Embed-Funktion), neue Werbeformate, CrowdsourcingLösung, White Label. Wo liegen die Hürden? Datenqualität: Wie gut strukturiert und sortiert liegen die ortsbezogenen Daten vor? Gibt es eine Schnittstelle (API)? Sind die Informationen schon geolokalisiert? Was kostet es? Einmalige Lizenzgebühr und monatliche Kosten für Hosting, Support, Kartenmaterial und Updates (Software as a Service – Saas); beides abhängig von Faktoren wie zu erwartende Userzahlen und Funktionsmodulen; Sonderprogramm für Non-Profit-Projekte. Für wen ist es geeignet? Lokal- und Regionalzeitungen, Stadtmagazine, hyperlokale Blogs, Tourismusportale, Bildungseinrichtungen, NGO.

Persönliches Exemplar für: [email protected]

Idee 3 | Wie lokale Daten intelligent verknüpft werden jeweiligen PCs, Tablets oder Smartphones an. Es beinhaltet eine Suchfunktion und nicht zuletzt eine Social-Media-Integration: Ein oder mehrere Einträge lassen sich von Nutzern als Favoriten sammeln und die eigene Sammlung mit anderen teilen. Die Empfänger gelangen dann – egal auf welcher Art Gerät sie unterwegs sind – über den geteilten Link im Browser auf die Kartenanwendung und sehen die Favoriten des „Teilenden“, des Absenders.

Die Redaktion und Crowd im Blick

Einige in unserem Entwicklerteam haben als Journalisten gearbeitet und kennen den Alltag in Redaktionen. Deswegen ist es uns ein Anliegen, dass nicht nur die Besucher einfach und komfortabel mit AGI MapWare interagieren können: Auch die alltägliche Redaktionsarbeit soll sich schlüssig handhaben lassen. D.h., komplizierte und verschachtelte Menüs in einer Redaktionsumgebung versuchen wir überflüssig zu machen; stattdessen kann so weit wie möglich direkt auf der Karte gearbeitet werden. In dem „Editormodus“

kann der Standort eines Eintrags direkt auf der Karte verschoben und Inhalte korrigiert werden. Ebenfalls lassen sich neue Einträge anlegen, Bilder hochladen sowie Audiodateien und Videos einbinden. Mit diesem Editor ist noch mehr möglich: AGI MapWare kann auch als Crowdsourcing-Lösungen eingesetzt werden. Lokalzeitungen etwa können ihre Leser bitten, besondere Orte oder Vorkommnisse direkt auf der Karte einzutragen und somit an die Redaktion zu melden. Je nach Szenario können diese Informationen aus der „Crowd“ dann gleich für alle freigegeben werden oder erst noch eine redaktionelle Schleife durchlaufen. Andere Einsatzmöglichkeiten für die Crowdsourcingfunktion sind beispielsweise ein kartenbasiertes Kleinanzeigen-Magazin oder für das sogenannte Anliegenmanagment einer Gemeinde („Ein Schlagloch in meiner Straße“). Das alles geht mit unserer Kartenanwendung, weil sie verschiedenartige Informationen bündeln kann. Landkarten sind mächtige Nährböden für Informatio-

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nen – nicht zuletzt, weil jeder Betrachter sie mit seinen persönlichen Erfahrungen und seinem eigenen Wissen über die jeweilige Region im Kopf anreichert. Diese ganzen Informationsmengen kann unsere AGI MapWare als Schnittstelle bändigen. Denn die Nutzer werden immer mobiler, und immer mehr Daten fallen an. Dazu braucht es ein ausbaufähiges Informationsökosystem, das unterschiedliche Inhaltsebenen bündeln kann, intelligente Werbeformate bietet und zugleich einfach in der laufenden Redaktionsarbeit zu bedienen ist. Wir denken, dafür auf dem richtigen Weg zu sein.

Lorenz Matzat Gründer der Agentur lokaler. de, zuvor Mitbegründer der Datenjournalismusagentur OpenDataCity, und GrimmeOnline-Preisträger. [email protected]

Lesetipp Dem Thema Datenjournalismus und seinen Anwendungsmöglichkeiten insbesondere bei lokalen Themen ist auch die nächste Ausgabe unserer 16-seitigen Journalisten-Werkstatt gewidmet.

Autoren dieser Werkstatt sind die Datenjournalisten Julius Tröger („Berliner Morgenpost“) und Sylke Gruhnwald („Neue Zürcher Zeitung“). Mit der Editierfunktion von AGI MapWare können Redakteure schnell Inhalte direkt auf der Karte eingeben und korrigieren; gleichzeitig kann der Editor auch für CrowdsourcingAnwendung genutzt werden.

Die Journalisten-Werkstatt „Datenjournalismus“ wird Ende Juni in „medium magazin“ 7/2014 erscheinen. Bezug: „medium magazin“-Abonnenten erhalten die Werkstatt automatisch und gratis. Interessenten können sie für 4,99 Euro auch über den iKiosk oder [email protected] beziehen.

Auf dem Smartphone bietet GO über sein Hauptmenü verschiedene Kategorien an. Orte für die gewählten Themen sind auf der Karte zu sehen, per Touch erscheint eine Vorschau; in diesem Fall für ein Kino.

Hier sind bei GO alle Vorstellungen in einem Kino zu sehen; über die Sterne rechts können sie bequem auf eine Merkliste gespeichert werden.

Persönliches Exemplar für: [email protected]

Idee 4 | Wie gutes Storytelling funktioniert

Betty als Story

1. Der Text BETTYS ERSTES MAL Betty und Jean haben ein Date – Sie ist fast blind und geistig behindert, er angehender Sexualbegleiter.

Geistig behindert und Sex. Wie lässt sich das erzählen? Benjamin Piel hat dafür den richtigen Dreh gefunden - und den Theodor-WolffPreis 2014 erhalten. Eine Textanalyse von Marie Lampert in drei Schritten. 2 2

°Lokales° ILOKALESI

Sonnabend/Sonntag, 9. November 2013 ·Datum Nr. 262

Bettys erstes Mal Betty und Jean haben ein Date – Sie ist fast blind und geistig behindert, er angehender Sexualbegleiter bp Trebel. Betty ist 73 und Jungfrau. Noch nie hat ein Mann ihren nackten Körper gestreichelt. Betty ist fast blind und geistig behindert. Noch nie hat sie gespürt, wie das kribbelt im Bauch. „Ick hab Mut“, sagt Betty und nickt, „ick hab Mut.“ Es ist Freitagabend im Trebeler Gästehaus. An einem langen Tisch sitzen Behinderte und ihre Betreuer. Kerzen brennen, Kastanien liegen neben bunten Blättern auf der Tischplatte. Einige löffeln Kürbissuppe, andere stehen Schlange am Büfett. „Vorher müssen wir beten“, sagt ein Behinderter mit Bart und faltet die Hände. „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.“ „Ich bin Lothar Sandfort und ich bin behindert“, sagt ein Mann, der in einem Rollstuhl sitzt. „Das sehen wir doch, wenn du da in deinem Rollstuhl hockst“, sagt der Bärtige. Sandfort ist Psychologe und leitet das Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter (ISBB). Heute beginnt ein ErotikWorkshop. Behinderte, die sich nach Sex sehnen, treffen auf Sexualbegleiter in Ausbildung, die ihnen Sex gegen Bezahlung anbieten. „Wenn ihr ein Date haben wollt, müsst ihr zu dem Sexualbegleiter gehen und ihm oder ihr sagen, was ihr haben wollt“, sagt Sandfort, „ihr könnt Sex haben, müsst ihr aber nicht.“ Betty reißt den Kopf nach oben und lacht auf. „Ick freu mir schon“, sagt sie und ihre feuerrot gefärbten Locken wackeln hin und her. Betty kommt aus Berlin-Kreuzberg. „Da schmeißen sie am 1. Mai Flaschen“, sagt sie. Seit Jahrzehnten wohnt sie in einem Behindertenheim in Brandenburg. Früher hat sie in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet, hat Haken an Möbel geschraubt. Seit acht Jahren ist Betty Rentnerin, bekommt 300 Euro im Monat. Sie kann kaum laufen. Langsam setzt sie einen Fuß vor den anderen, krümmt den Rücken, tastet sich an Tischen, Stühlen und Wänden entlang. Betty lebt gerne und redet viel. Ihre kratzige Stimme ist laut. Elf Ringe trägt sie an den Händen, Ohrringe, um den Hals baumelt eine Kette, an der ein

Tantra am Nachmittag: Diese Technik spielt bei den Sex-Workshops für Behinderte in Trebel eine zentrale Rolle. großer Bernstein hängt. Wenn sie ihn ganz nah an ihr Auge hält, kann sie manchmal ein Glitzern sehen. Betty lässt sich von ihrem Betreuer ein zweites Glas Rotwein einschenken. „Ich trinke gerne.“ Betty wünscht sich einen Mann, der sie streichelt und massiert. „Ich will einen, der stark ist, und der sagt dann wahrscheinlich zu mir: ,Zieh dich aus, kleine Maus'“, sagt sie. Jean heißt eigentlich nicht Jean. Aber wenn der Mann aus Zürich als Sexualbegleiter unterwegs ist, nennt er sich so. Jean ist um die 60 und Mathematiklehrer. Seit einiger Zeit bietet er behinderten Frauen erotische Dienstleistungen an, massiert sie von oben bis unten, streichelt sie, erfüllt sexuelle Fantasien. „Sex ist nicht immer drin, denn dafür muss ich selbst erregt sein“, sagt er. Er spricht langsam und mit schweizerischem Akzent, zieht die Wörter lang, seine Stimme ist tief und sanft. Von der Sexualbegleitung hat Jean aus dem Radio erfahren. Jetzt ist er fast fertig mit der Ausbildung. Früher hätte Jean sich nicht vorstellen können, mit Behinderten Sex zu haben. Aber

dann entdeckte er Tantra, lernte neue Seiten der Sexualität kennen. „Ich kann mich sehr gut einfühlen in die Situation der Behinderten, in ihre unerfüllten Sehnsüchte und das gibt mir unheimlich viel.“ Die Dienstleistung, die er anbietet und für die er 90 Euro in der Stunde bekommt, sei Prostitution, ja, aber keine mechanische Verrichtung von Bewegungen, sondern eine tiefe Begegnung zweier Menschen. „Es fällt mir leicht, diesen Menschen Zuwendung zu geben“, sagt er und streicht sich durch den weißen Schnauzbart. Gerne würde er offen damit umgehen, dass er Sex mit Behinderten hat, aber Jean muss vorsichtig sein. Als Lehrer ist es für ihn besonders gefährlich, er fürchtet das Unverständnis. Jean wünscht sich eine Welt ohne dieses Tabu. Seinen vier Kindern hat er davon erzählt, habe kein Doppelleben gewollt. Eine Frau, der er seine Mission gestehen müsste, gibt es nicht. „Guten Freunden habe ich es auch gesagt“, sagt er. Die Freundschaft hat ihm danach niemand gekündigt. In zwei Jahren will er raus aus dem Schul-

dienst, den er oft als Belastung empfindet. „Ick hab Lust und ick hab Mut“, sagt Betty. Jean setzt sich neben sie. „Weißt du, wie alt ich bin?“, fragt sie ihn, „73 – manche sagen, dass ich jünger aussehe.“ – „Ja, das finde ich auch“, sagt Jean. „Hattest du schonmal einen Mann?“ – „Nein, nein, nie.“ – „Ich habe vier Kinder und ich hatte eine Frau, aber jetzt bin ich geschieden.“ Er nimmt ihre Kette zwischen die Finger. „Ein Bernstein?“ – „Ja, den habe ich mir in Zinnowitz gekauft.“ – „Der ist sehr schön“. Betty lacht, nimmt Jeans Hand und hält sie fest. „Wie heißt du?“ – „Jean“ – „Jens?“ – „Nein, Jean, das ist ein französischer Name.“ – „Oh, französisch.“ Sie lacht auf. „Ich will den Mann fragen, ob er mich anfassen will.“ – „Ich bin der Mann.“ – „Aaaaah“, sagt sie und zieht die Augenbrauen hoch. „Wir beide machen das“, sagt Jean. „Von mir aus kannst du alles machen“, sagt sie, beugt sich zu ihm vor und kichert. „Aber das besprechen wir dann unter drei Augen“, sagt Betty. Sie hat nur ein Auge, das andere ist aus Glas. Sie zieht ihre

2 Aufn.: N. Göring

Mundharmonika aus der Tasche und spielt. Weißt du, wieviel Sternlein stehen. „Das ist aber schön“, sagt Jean. Bettys Betreuer Mirko hatte vorgeschlagen, nach Trebel zu fahren. In der Einrichtung, in der er arbeitet, gehen viele Mitarbeiter offen mit dem Thema Sex um. Mirko hat einen Arbeitskreis zum Thema gegründet, lädt Behinderte zu Männerrunden ein, veranstaltet Single-Diskos, bestellt Sexualbegleiterinnen in die Einrichtung. Seitdem reden Betreuer und Behinderte offener über das Thema. „Zum Glück ist die Leitung aufgeschlossen“, sagt er. Aus Trebel würden die Behinderten verändert zurückkehren: „Viele achten mehr auf ihr Äußeres, sind selbstbewusster, ruhiger, weniger aggressiv, tiefenentspannt.“ Am Sonnabendmorgen treffen sich die Behinderten ohne Betreuer mit Lothar Sandfort. Sie sitzen im Kreis. „Alles, was wir hier reden, bleibt geheim“, sagt Sandfort, „denn wir reden jetzt über Sex.“ – „Das ist doch normal“, sagt Betty. „Aber was wir hier machen, das ist nicht nor-

mal.“ – „Im Hotel massieren sie doch auch.“ – „Aber im Hotel geht es um die Muskulatur, hier geht es um das Gefühl im Kopf – wenn es im Bauch und in der Scheide kribbelt, dann ist das Erotik“, sagt Sandfort. „Wenn du ein Date mit Jean haben willst, dann musst du das sagen, du musst dir vorher ein paar Gedanken machen und sagen, was du willst und was du nicht willst“, sagt er. „Ich will, dass er es mir macht, das habe ich ihm schon gesagt“, sagt Betty. „Das ist gut, aber es hört sich so an, als würdest du zum Schuster gehen, um eine neue Sohle an den Schuh machen zu lassen. Du musst schauen, dass es dir dabei gut geht und du musst auch schauen, dass es Jean gut geht.“ Sie sprechen über Kondome und darüber, dass beim Sex Kinder entstehen können, über Aids und andere Krankheiten. „Mit Sex ist das so, dass beide Partner etwas geben und etwas bekommen“, sagt Sandfort, „wir wollen hier kein Bordell sein, sondern wir wollen, dass die, die zu uns kommen, etwas für das richtige Leben lernen. Wenn ihr eine Freundin habt, dann müsst ihr sie ja auch fragen, was sie mag und was nicht.“ Ein paar Stunden später gibt es Tantra-Übungen. Die Behinderten lassen sich massieren und streicheln, liegen auf dem Boden im sanften Licht, genießen die Berührungen. Am Abend haben Betty und Jean ihr Date. Er zieht sie aus, massiert sie. Betty genießt und will ein zweites Date. „Ich will Sexeln“, sagt sie und lacht los. Am Sonntag gibt es das zweite Date. „Ich hatte einen Mann“, sagt Betty, als es zurück nach Brandenburg geht. Betty ist 73, fast blind, geistig behindert. Und keine Jungfrau.

Die Bilder Die Bilder auf dieser Seite hat Nancy Göring gemacht. Die 29-Jährige studiert an der Ostkreuzschule für Fotografie und Gestaltung in Berlin und arbeitet gerade an ihrer Abschlussarbeit zum Thema Sexualbegleitung. Göring fotografiert analog.

„Wir sind eine große Selbsterfahrungsgruppe“ Lothar Sandfort bildet in Trebel als einziger in Deutschland Sexualbegleiter für Behinderte aus bp Trebel. Behinderte sehnen sich nach Sex. Für viele ist es aber fast unmöglich, welchen zu haben. Der Frust ist bei vielen groß. Die EJZ sprach mit dem Psychologen Lothar Sandfort, dem Gründer des Instituts zur Selbst-Bestimmung Behinderter (ISSB), über das Tabuthema. EJZ: Frustriert Sie der Umgang mit Sex in Behinderten-Einrichtungen? Lothar Sandfort: Ja, sehr. Ich habe ein schlechtes Bild vom Betreuungssystem. Aber es gibt Hoffnung, Menschen, die das Thema anpacken. Leider sind es zu wenige. In den Einrichtungen ist Sexualität ein Dauerthema – zumindest im Empfinden der Behinderten. Doch viele Betreuer haben panische Angst vor Übergriffen oder Schwangerschaften in ihren Einrichtungen. Aus Hilflosigkeit schweigen sie das Thema tot. Nicht wenige Einrichtungen haben sich noch nie hilfreich mit dem Thema auseinandergesetzt. Und setzen Medikamente ein. Leider auch das. Dabei lassen sich

die Sehnsüchte auf Dauer gar nicht wegmedikamentieren. Satt und sauber sollen die Behinderten sein – das ist viel zu wenig. An Ihrem Institut zahlen Behinderte 90 Euro und bekommen dafür eine Stunde Sex. Das ist ungefähr auch der Nettopreis in den Studios. Die Sexualbegleiterinnen brauchen das Geld zur Identitätsfindung – dass die Frauen den Behinderten aus Mitleid helfen wollen, muss aus ihren Köpfen raus. Die Behinderten brauchen das Geld zur Abgrenzung – wenn sie zahlen, dann müssen sie nicht dankbar sein, und sie merken, dass sie eine Dienstleistung bekommen.

traditionellen Prostitution? Die traditionelle Prostitution verkauft Illusionen, bei uns passiert das Gegenteil. Die Sexualbegleiterinnen sind zur Wahrheit verpflichtet. Wenn ein Behinderter nicht gut riecht, dann sagt die Sexualbegleiterin ihm das, damit er es ändern kann. So etwas würde in der traditionellen Prostitution kaum passieren. Wir sind kein Bordell, sondern ein diagnostisch-therapeuthisches Institut.

Kommt diese Botschaft an? Nur schleppend. Behinderte sind darauf getrimmt, dankbar sein zu müssen. Das steckt ganz tief drin, weil die Gesellschaft es ihnen einimpft. Wer dankbar sein muss, verliert die Freiheit, dankbar sein zu können.

Glauben Sie, dass es weniger Vergewaltigungen – wie kürzlich in Wustrow – gäbe, wenn man offensiver mit dem Thema umginge? Davon bin ich überzeugt. Leider verweigern sich viele Einrichtungen dem Thema. Im Landkreis arbeite ich nur mit einer einzigen zusammen. Dass ein Behinderter auf die Idee kommt, sich Sex nehmen zu müssen, weil niemand ihm eine andere Möglichkeit gezeigt hat, ist schlimm.

Worin besteht eigentlich der wesentliche Unterschied zur

Was treibt aus Ihrer Sicht nichtbehinderte Frauen an, Sex mit

Behinderten zu haben? Die meisten sind in den Wechseljahren, zeitgleich verändern sich die Rollen als Mutter und Partnerin radikal. Sie haben nun in einer neuen Lebensphase erstmals das Gefühl, wirklich zu sich kommen zu können, wünschen sich aber weiterhin, jemandem etwas Lebenswichtiges geben zu können. Bei uns lernen sie, Behinderten zu begegnen und ihnen ehrliche Erfahrungen zu vermitteln, die nicht immer einfach zu verkraften sind. Mein Ziel ist es, dass die Behinderten nicht ihrer Krisen beraubt werden. Erfolgreich durchlebte Krisen stärken. Im Grunde genommen sind wir eine große Selbsterfahrungsgruppe. Warum sind 90 Prozent der Behinderten, die zu ihnen kommen, Männer? Behinderte Frauen sind genauso oft frustriert, zeigen das aber anders. Sie neigen zu Depressionen, Männer sind eher aggressiv – die Bereitschaft bei Betreuern und Eltern, auf die Aggressionen zu reagieren und professionelle Hilfe zu holen, ist größer. Außerdem

sind 80 Prozent der Betreuer weiblich. Für viele Frauen passen Frauen als Kundinnen von Prostitution einfach nicht ins Bild. Was ist, wenn sich Behinderte in Sexualbegleiterinnen verlieben? Das passiert fast ausschließlich Körperbehinderten. Die müssen dann da durch und erleben mit unserer Hilfe, dass es ein Leben nach dem Liebeskummer gibt. Das stärkt sie. Wir fördern ein Recht auf Liebeskummer. Wie viele Sexualbegleiterinnen haben Sie schon ausgebildet? Um die 80. Aber nur etwa zehn sind zeitgleich aktiv. Es gibt nur wenige, die das langjährig machen. Die meisten hören nach eineinhalb Jahren wieder auf, wenn sie ihren Lebensumbruch erfolgreich hinter sich haben. Sie sind nach einem Unfall querschnittgelähmt. Wie sind Sie nach dem Unfall mit ihrer Sexualität klargekommen? Es hat acht Jahre gedauert, bis ich meine Sexualität umorganisiert hatte. Ich hatte das Glück, die

Lothar Sandfort sitzt seit einem Autounfall im Rollstuhl. richtigen Menschen kennenzulernen. Das Thema war damals ein großes Tabu. Ist es noch immer. Nicht ganz. Wir beide reden zum Beispiel öffentlich darüber. Ich bin aber dennoch oft traurig, wenn mir bewusst wird, wie langsam es voran geht. Das ISSB gibt es mittlerweile seit 14 Jahren – wie wenig sich seitdem verändert hat, frustriert mich manchmal gewaltig. Aber es gibt Hoffnung.

Benjamin Piels Text erschien in der „ElbeJeetzel-Zeitung“ am 9. November 2013, Seite 2, flankiert von einem Interview mit Lothar Sandfort.

Trebel. Betty ist 73 und Jungfrau. Noch nie hat ein Mann ihren nackten Körper gestreichelt. (Anm.: Direkter kann ein Einstieg kaum sein.) Betty ist fast blind und geistig behindert. Noch nie hat sie gespürt, wie das kribbelt im Bauch. „Ick hab Mut“, sagt Betty und nickt, „ick hab Mut.“ (Die Hauptfigur ist vorgestellt, Ahnungen sind geweckt.) Es ist Freitagabend im Trebeler Gästehaus. An einem langen Tisch sitzen Behinderte und ihre Betreuer. Kerzen brennen, Kastanien liegen neben bunten Blättern auf der Tischplatte. Einige löffeln Kürbissuppe, andere stehen Schlange am Büfett. „Vorher müssen wir beten“, sagt ein Behinderter mit Bart und faltet die Hände. „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.“ (Das Bühnenbild steht.) „Ich bin Lothar Sandfort und ich bin behindert“, sagt ein Mann, der in einem Rollstuhl sitzt. „Das sehen wir doch, wenn du da in deinem Rollstuhl hockst“, sagt der Bärtige. Sandfort ist Psychologe und leitet das Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter (ISBB) in Trebel. Heute beginnt ein Erotik-Workshop. Behinderte, die sich nach Sex sehnen, treffen auf Sexualbegleiter in Ausbildung, die ihnen Sex gegen Bezahlung anbieten. (Fakten zum Kontext.) „Wenn ihr ein Date haben wollt, müsst ihr zu dem Sexualbegleiter gehen und ihm oder ihr sagen, was ihr haben wollt“, sagt Sandfort, „ihr könnt Sex haben, müsst ihr aber nicht.“ Betty reißt den Kopf nach oben und lacht auf. „Ick freu mir schon“, sagt sie und ihre feuerrot gefärbten Locken wackeln hin und her. (Ahnungen verdichten sich.)

(Betty wünscht)

Betty kommt aus Berlin-Kreuzberg. „Da schmeißen sie am 1. Mai Flaschen“, sagt sie. Seit Jahrzehnten wohnt sie in einem Behindertenheim in Brandenburg. Früher hat sie in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet, hat Haken an Möbel geschraubt. Seit acht Jahren ist Betty Rentnerin, bekommt 300 Euro im Monat. Sie kann kaum laufen. Langsam setzt sie einen Fuß vor den anderen, krümmt den Rücken, tastet sich an Tischen, Stühlen und Wänden entlang. Betty lebt gerne und redet viel. Ihre kratzige Stimme ist laut. Elf Ringe trägt sie an den Händen, Ohrringe, um den Hals baumelt eine Kette, an der ein großer Bernstein hängt. Wenn sie ihn ganz nah an ihr Auge hält, kann sie manchmal ein Glitzern sehen. (Ganz und gar Betty-mäßige Umschreibung für „fast blind“.) Betty lässt sich von ihrem Betreuer ein zweites Glas Rotwein einschenken. „Ich trinke gerne.“ Betty wünscht sich einen Mann, der sie streichelt und massiert. „Ich will einen, der stark ist, und der sagt dann wahrscheinlich zu mir: ,Zieh dich aus, kleine Maus‘“, sagt sie. (Leser sind eingeweiht in Sehnsucht und Ziel der Heldin und können nun mitfühlen. Das Mini-Porträt hat Tempo und reichlich Überraschungen.) Jean heißt eigentlich nicht Jean. Aber wenn der Mann aus Zürich als Sexualbegleiter unterwegs ist, nennt er sich so. Jean ist um die 60 und Mathematiklehrer. Seit einiger Zeit bietet er behinderten Frauen erotische Dienstleistungen an, massiert sie von oben bis unten, streichelt sie, erfüllt sexuelle Fantasien. „Sex ist nicht immer drin, denn dafür muss ich selbst erregt sein“, sagt er. Er spricht langsam und mit schweizerischem Akzent, zieht die Wörter lang, seine Stimme ist tief und sanft. Von der Sexualbegleitung hat Jean aus dem Radio erfahren. Jetzt ist er fast fertig mit der Ausbildung. Früher hätte Jean sich nicht vorstellen können, mit Behinderten Sex zu haben. Aber dann entdeckte er Tantra, lernte neue Seiten der Sexualität kennen. „Ich kann mich sehr gut einfühlen in die Situation der Behinderten, in ihre unerfüllten Sehnsüchte und das gibt mir unheimlich viel.“ Die Dienstleistung, die er anbietet und für die er 90 Euro in der Stunde bekommt, sei Prostitution, ja, aber keine mechanische Verrichtung von Bewegungen, sondern eine tiefe Begegnung zweier Menschen. „Es fällt mir leicht, diesen Menschen Zuwendung zu geben“, sagt er und streicht sich durch den weißen Schnauzbart. Gerne würde er offen damit umgehen, dass er Sex mit Behinderten hat, aber Jean muss vorsichtig sein. Als Lehrer ist es für ihn besonders gefährlich, er fürchtet das Unverständnis. Jean wünscht sich eine Welt ohne dieses Tabu. Seinen vier Kindern hat er davon erzählt, habe kein Doppelleben gewollt. Eine Frau, der er seine Mission gestehen müsste, gibt

medium magazin #06/2014 | iW | 18 es nicht. „Guten Freunden habe ich es auch gesagt“, sagt er. Die Freundschaft hat ihm danach niemand gekündigt. In zwei Jahren will er raus aus dem Schuldienst, den er oft als Belastung empfindet. (Bettys Wochenend-Partner ist vorgestellt. Leser ahnen: Der ist okay. Es kann gut gehen mit den beiden.)

(Betty flirtet)

„Ick hab Lust und ick hab Mut“, sagt Betty. Jean setzt sich neben sie. „Weißt du, wie alt ich bin?“, fragt sie ihn, „73 – manche sagen, dass ich jünger aussehe.“ – „Ja, das finde ich auch“, sagt Jean. (Das letzte „sagt“. Ab da läuft der Dialog ein Stück von selbst.) „Hattest du schon mal einen Mann?“ – „Nein, nein, nie.“ – „Ich habe vier Kinder und ich hatte eine Frau, aber jetzt bin ich geschieden.“ Er nimmt ihre Kette zwischen die Finger. „Ein Bernstein?“ – „Ja, den habe ich mir in Zinnowitz gekauft.“ – „Der ist sehr schön.“ Betty lacht, nimmt Jeans Hand und hält sie fest. „Wie heißt du?“ – „Jean.“ – „Jens?“ – „Nein, Jean, das ist ein französischer Name.“ – „Oh, französisch.“ Sie lacht auf. „Ich will den Mann fragen, ob er mich anfassen will.“ – „Ich bin der Mann.“ – „Aaaaah“, sagt sie und zieht die Augenbrauen hoch. „Wir beide machen das“, sagt Jean. „Von mir aus kannst du alles machen“, sagt sie, beugt sich zu ihm vor und kichert. „Aber das besprechen wir dann unter drei Augen“, sagt Betty. Sie hat nur ein Auge, das andere ist aus Glas. (Betty ist eine Wundertüte, das Anti-Klischee schlechthin.) Sie zieht ihre Mundharmonika aus der Tasche und spielt. Weißt du, wie viel Sternlein stehen. „Das ist aber schön“, sagt Jean. Bettys Betreuer Mirko hatte vorgeschlagen, nach Trebel zu fahren. In der Einrichtung, in der er arbeitet, gehen viele Mitarbeiter offen mit dem Thema Sex um. Mirko hat einen Arbeitskreis zum Thema gegründet, lädt Behinderte zu Männerrunden ein, veranstaltet Single-Diskos, bestellt Sexualbegleiterinnen in die Einrichtung. Seitdem reden Betreuer und Behinderte offener über das Thema. „Zum Glück ist die Leitung aufgeschlossen“, sagt er. Aus Trebel würden die Behinderten verändert zurückkehren: „Viele achten mehr auf ihr Äußeres, sind selbstbewusster, ruhiger, weniger aggressiv, tiefenentspannt.“ (Hintergrund/Einordnung vom Profi.)

Serie „Handwerk Storytelling“ Was ist es? „Bettys erstes Mal“ ist der erste Text in unserer neuen Serie „Handwerk Story­ telling“: Künftig finden Sie in jeder Ausgabe der „Ideenwerkstatt“ ein Best-PracticeBeispiel mit besonders gut erzählten Texten aus allen Genres. Wer macht es? Autorin der Serie ist Marie Lampert, die die jeweiligen Texte analysiert, kommentiert und hier erstmals vorstellt. Die Serie entsteht in Kooperation mit dem Portal storytelling.abzv.de der ABZV, dem Bildungswerk der Zeitungen. Was bringt es? Antworten auf die Fragen: Was macht einen guten Text aus? Und welche dabei genutzten Werkzeuge sind für jedermann brauchbar?

(Betty sexelt)

Am Sonnabendmorgen treffen sich die Behinderten ohne Betreuer mit Lothar Sandfort. Sie sitzen im Kreis. „Alles, was wir hier reden, bleibt geheim“, sagt Sandfort, „denn wir reden jetzt über Sex.“ – „Das ist doch normal“, sagt Betty. „Aber was wir hier machen, das ist nicht normal.“ – „Im Hotel massieren sie doch auch.“ – „Aber im Hotel geht es um die Muskulatur, hier geht es um das Gefühl im Kopf – wenn es im Bauch und in der Scheide kribbelt, dann ist das Erotik“, sagt Sandfort. „Wenn du ein Date mit Jean haben willst, dann musst du das sagen, du musst dir vorher ein paar Gedanken machen und sagen, was du willst und was du nicht willst“, sagt er. „Ich will, dass er es mir macht, das habe ich ihm schon gesagt“, sagt Betty. „Das ist gut, aber es hört sich so an, als würdest du zum Schuster gehen, um eine neue Sohle an den Schuh machen zu lassen. Du musst schauen, dass es dir dabei gut geht und du musst auch schauen, dass es Jean gut geht.“ Sie sprechen über Kondome und darüber, dass beim Sex Kinder entstehen können, über Aids und andere Krankheiten. „Mit Sex ist das so, dass beide Partner etwas geben und etwas bekommen“, sagt Sandfort, „wir wollen hier kein Bordell sein, sondern wir wollen, dass die, die zu uns kommen, etwas für das richtige Leben lernen. Wenn ihr eine Freundin habt, dann müsst ihr sie ja auch fragen, was sie mag und was nicht.“ (Hintergrund/Info zum Konzept vermittelt via Dialog.) Ein paar Stunden später gibt es Tantra-Übungen. Die Behinderten lassen sich massieren und streicheln, liegen auf dem Boden im sanften Licht, genießen die Berührungen. Am Abend haben Betty und Jean ihr Date. Er zieht sie aus, massiert sie. Betty genießt und will ein zweites Date. „Ich will sexeln“, sagt sie und lacht los. Am Sonntag gibt es das zweite Date. „Ich hatte einen Mann“, sagt Betty, als es zurück nach Brandenburg geht. Betty ist 73, fast blind, geistig behindert. Und keine Jungfrau. (Es ist fast alles wie am Anfang.)

Kommentare: Marie Lampert. Wir danken Benjamin Piel, Nancy Göring (Fotos) und der „Elbe-Jeetzel-Zeitung“ für das kostenlose Überlassen der Rechte.

Man muss reflektieren, was man mit dem Text will und wohin man mit dem Text will. Sogar das, was man schrecklich findet, kann dann am Ende ganz gut sein. Benjamin Piel, Seite 19 (Interview)

Persönliches Exemplar für: [email protected]

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2. Die Werkzeuge Handwerk und der Hintergrund zu „Bettys erstes Mal“.

Fragen zum Gestalten einer Hauptfigur Warum ist der Text ein guter Text? Eine Story braucht eine Handlung, Anfang, Mitte und Ende. Ein Vorher-Nachher. Einen Helden oder eine Heldin, die ein Ziel verfolgt und uns nahekommt. Einen Autor, der seine Eindrücke filtert und seine Erfahrungen mit den Lesern teilt. Im besten Fall macht er die Sache seiner Heldin zur Sache seiner Leser. Das Rezept für die Superstory gibt es nicht. Aber Handwerkszeug, das sich bewusst einsetzen lässt. Was macht den Text „Bettys erstes Mal“ stark – und was kann man sich handwerklich abgucken? Beherzte Entscheidungen Autor Benjamin Piel trifft mehrere Entscheidungen, die dem Text Spannung, Stringenz und Emotionalität verleihen. Das sind: ● der Fokus auf Betty und „Bettys erstes Mal“ – und der Verzicht auf repräsentative Protagonisten, ● die Chronologie als Dramaturgie, ● Zitate als wesentliches Gestaltungsmittel, ● der Verzicht auf Faktenblöcke und das Auslagern von Informationen ins Interview. Der Autor hat damit zu zwei Mitteln gegriffen, die er eigentlich doof findet: die Chronologie und viele Zitate. Warum er sie dennoch gewählt hat, erklärt er im Interview (Seite 19). Die Hauptfigur und ihr Ziel Betty verfügt über Merkmale, die Protagonisten klassischer Heldengeschichten im Hollywood-Stil ausmachen: Sie verspürt einen Mangel und bricht auf, diesen Mangel zu beheben. Sie verfügt über Mut und wilde Entschlossenheit. Sie begegnet Hindernissen auf dem Weg zum Ziel (das wird nicht erzählt, doch man darf es daraus schließen, dass sie ihr Ziel mit 73 Jahren noch nicht erreicht hat). Sie hat verlässliche Helfer an ihrer Seite. Und Eigenschaften, die ihr die Sympathie der Leser versichern: Lebenslust und eine entwaffnend direkte Schnauze. Betty ist die Heldin des Textes, die uns in Spannung hält und uns durch das Wochenende führt. Wird sie Jean dahin bringen, „dass er es mir macht“?

Nebenfiguren mit klaren Funktionen Betty hat drei Helfer: Jean, ihren Sexualbegleiter für das Wochenende. Lothar Sandfort, der Erotik-Workshops organisiert und Sexualbegleitern und Behinderten Grundhaltungen für erotische Abenteuer vermittelt. Der so den Rahmen für stimmige und beglückende Erfahrungen schafft. Und Mirko, Bettys Betreuer in ihrer Behinderten-Einrichtung, der das Thema Sexualität als Betreuer-Profi kommentiert. Die Zeichnung von Brigitte Seibold (rechts) zeigt das Teil-Szenario, das Benjamin Piel aus einem ganzen Wochenende mit zwei Dutzend Personen destilliert. Eine vierte Nebenfigur bringt er im zweiten Absatz des Textes – ein „Behinderter mit Bart“. Der hat die Funktion, die heitere Stimmung der Zusammenkunft beizeiten anzuzeigen. Diese vierte Figur würde Piel aus heutiger Sicht allerdings weglassen – zugunsten der noch eindeutigeren Fokussierung auf Betty. Mutiger Fokus – Betty öffnet Herzen Betty ist nicht repräsentativ für die Gruppe von Behinderten, die in Trebel im ErotikWorkshop zusammentreffen. Aber Bettys unverblümtes Begehren öffnet Herzen. Wer wollte ihr die Erfüllung ihres Wunsches verwehren? Wer wollte die Berechtigung ihres Anliegens bestreiten? Und wenn man so weit mitgeht – muss man natürlich auch behinderten Männern ihre Wünsche und deren Erfüllung zugestehen. Betty ist so gesehen eine Agentin, die Leser fasziniert, einwickelt und ihnen eine Haltung fast zwingend nahelegt. Zu einem Thema, über das die meisten vermutlich noch wenig nachgedacht haben. Handlung mit Anfang, Mitte und Ende Die Betty-Geschichte hat das, was Aristoteles von einer Handlung verlangt: Eine Handlung beginnt, nimmt ihren Lauf und endet. Benjamin Piel setzt das Vorher-Nachher pointiert in seinen ersten und letzten Satz. Er schreibt „Betty ist 73 und Jungfrau“ und am Schluss: „Betty ist 73, fast blind, geistig behindert. Und keine Jungfrau.“

Erzählen als Haltung Die Bekanntschaft mit Betty hat den Autor umgehauen (siehe auch Interview mit Benjamin Piel). Seine Leistung besteht darin, dass er seiner Wahrnehmung traut. Er entwickelt eine Form und eine Sprache, diese Erfahrung – von Betty „umgehauen“ zu werden – weiterzugeben und Leser daran teilhaben zu lassen. Das ist die Haltung eines Erzählers – der Impuls, Erfahrungen weiterzugeben. Erzählen versus Informieren Die Eigenart des Textes tritt noch deutlicher hervor, wenn man ihn mit einem anderen Text kontrastiert: Spiegel Online hat im August 2012 über die registrierte Prostituierte Deva Busha Glöckner geschrieben, die Lothar Sandfort ebenfalls zur Sexualbegleiterin ausgebildet hat. http://www.spiegel.de/panorama/ gesellschaft/sex-fuer-behinderte-menschen-die-dienste-einer-sexualbegleiterina-850166.html Glöckner spricht über diese Ausbildung und ihre behinderte männliche Kundschaft. Der Text bietet Hintergrund, Fakten, und benennt – anders als die Betty-Geschichte – die Gegenposition zu Sandforts Konzept: Der zahlende Kunde hat nämlich kein Recht auf bestimmte Leistungen. Die SpiegelOnline-Leser bekommen Informationen. Informationen richten sich an den Verstand. Die Leser von Benjamin Piel bekommen eine Geschichte. Geschichten richten sich darüber hinaus ans Herz. Lernen ohne Herz und Emotion ist im menschlichen Organismus nicht vorgesehen. Ausgelagerte Fakten Benjamin Piel hat Lothar Sandfort Fragen zur Sache gestellt und als Interview auf dieselbe Seite gesetzt. Da geht es um den Unterschied zur traditionellen Prostitution, um den Umgang mit Sex in Behinderten-Einrichtungen, um die Motive von Sex-Betreuerinnen. Und um die Frage, ob ein offensiverer Umgang mit dem Thema Sexualität bewirken könnte, dass es weniger Vergewaltigungen durch behinderte Männer (wie in LüchowDannenberg im Juli 2013) gibt.

Wahl der Protagonisten: Betty und ihre Helfer – Jean, der Sexualbegleiter, Lothar Sandfort, der Workshopleiter, und ihr Betreuer Mirko. Alle Infos im Text werden über diese vier Personen vermittelt. Der Autor hat sie aus zwei Dutzend Workshop-Beteiligten ausgewählt. Absatz Protagonisten

➀➁ ➂













Lothar Sandfort

● Hat meine Hauptfigur ein Ziel, eine Mission, ein nachvollziehbares Motiv? ● Wie kann ich sie den Lesern emotional nahebringen? Welche Seite meiner Hauptfigur löst Überraschung, Resonanz, Mitgefühl aus? ● Trägt die Figur eine Handlung, erlebt sie ein Vorher-Nachher? ● Welche Nebenfiguren brauche ich, um diese Handlung schlüssig darzustellen? ● Worauf müssen Leser verzichten, wenn ich auf diese Person fokussiere? Gibt es gute Gründe, diese Einschränkung in Kauf zu nehmen? ● Kann ich diese Einschränkung z. B. durch Infokästen, ein Interview o. Ä. aufheben?

Linktipp

Betty Jean Betreuer Mirko

Die Personen in der Reihenfolge und Dauer ihres Auftretens. Betty führt als Hauptfigur durch den Text. Die Absätze 6 und 8 hat Benjamin Piel als Dialog-Strecken gestaltet, weil ihre Sprache die Protagonisten charakterisiert. Und weil Sprache ein wesentliches Medium des Workshops war.

Dem Thema Storytelling mit weiteren Analysen von Marie Lampert ist ein Webportal der ABZV gewidmet, das Sie hier finden:

4 www.storytelling.abzv.de

Persönliches Exemplar für: [email protected]

Idee 4 | Wie gutes Storytelling funktioniert

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3. Das Making-of Autor Benjamin Piel über die Hintertür zu seiner Geschichte über „Bettys erstes Mal“, den Spannungsbogen und die Rolle des Begriffs Jungfrau.

Herr Piel, gab es einen speziellen Anlass, den Erotik-Workshop des Instituts zur SelbstBestimmung Behinderter zu besuchen? Benjamin Piel: Es gab eigentlich zwei. Ich habe zufällig von Lothar Sandforts Institut erfahren, bin hellhörig geworden und habe ihn angesprochen. Das war vor eineinhalb Jahren. Damals war Sandfort sehr zurückhaltend, es hatte hier in der Vergangenheit schon Probleme mit dem Thema gegeben. Er war an Öffentlichkeit nicht interessiert, zumindest nicht in der Regionalzeitung. Und dann gab es eine Vergewaltigung hier in der Region. Ein geistig Behinderter hat eine Joggerin vergewaltigt. Da hat Sandfort sich gemeldet und gefragt, ob das nicht ein Anlass wäre, das Thema aufzugreifen, weil es ja unmittelbar um den Umgang mit Sexualität bei Behinderten ging. Und das war die Hintertür, durch die ich reingekommen bin. Wie ging es Ihnen mit dem Thema? Ich hatte im Vergleich zu anderen Terminen eine sehr große Anspannung. Die hat sich erst nach ein paar Stunden gelöst. Ich habe mich ein Stück weit überwinden müssen, mich mit dem Thema und den Leuten auseinanderzusetzen. Was haben Sie erlebt? Da waren ganz tolle Leute, und es war ein super Wochenende mit viel Humor. Ich habe eine selten große Überraschung erlebt. Dass die Auseinandersetzung mit Sexualität so natürlich war, hätte ich mir nicht vorgestellt. Das Thema hat mich persönlich so berührt, dass ich meine Einstellung zum Thema Behinderung verändert habe. Inwiefern? Ich habe erlebt, dass man nicht mit Ernst und Betroffenheit an das Thema Behinderung rangehen muss. Wie locker damit umgegangen wurde, das war für mich das Erstaunlichste an diesem Wochenende. Und dann Betty. Die ist eine so lebensfrohe Frau, die hatte sogar als Person eine gewisse Attraktivität für mich – als 73 Jahre alte behinderte Frau –, das hat mich ziemlich umgehauen.

Und damit hatten Sie Ihre Hauptfigur! Das ging schnell, ja. Lothar Sandfort hatte mich zuvor gefragt, ob ich ein Vorgespräch möchte, oder ob er mir jemanden suchen soll. Das wollte ich nicht, ich wollte unbefangen reingehen und selbst gucken. Betty stach stark heraus, sie ist sehr laut und redet eigentlich ununterbrochen. Dann hat sie ihre Mundharmonika rausgeholt – da war eben Leben! Es war nach fünf Minuten klar, dass sie meine Hauptfigur ist. Betty ist in mehrfacher Hinsicht eine untypische Sex-Kundin. Sie redet andauernd, und sie ist eine Frau! Lothar Sandfort sagt im Interview, dass 80 Prozent seiner behinderten Teilnehmer männlich sind. Wieso präsentieren Sie den Lesern so eine untypische Protagonistin? Eigentlich will man ja etwas über das Allgemeine sagen. Das geht hier vielleicht auf eine etwas unkonventionelle Weise. Betty war in der besonderen Situation etwas Besonderes. Die Situation ist nicht Standard, und sie ist auch nicht Standard. Ich fand, das passte gut. Der behinderte, lustgeile Mann ist ein Klischee. Wenn man eine Frau hat, spielen diese Dinge gar keine Rolle mehr, da hat man ein anderes Bild. Eine alte, behinderte Frau. Die steht für was ganz anderes. Diese Seite ist überraschend. Und ich glaube, dass sich der Text für Leser mit ihr als Protagonistin auch ganz anders öffnen kann. Sie haben ein Solo für Betty geschrieben. Sie hätten eine Nebenfigur – beispielsweise einen schweigsamen Mann – einbauen können, um das Spektrum abzudecken. Warum nur Betty? Ich bin ein Fan davon, ganz klar zu fokussieren. Ich hatte das von Anfang an so geplant. Ich wäre offen gewesen, das zu verändern, aber die Planung hat sich für mich als richtig herausgestellt. Ich glaube, dass man in dieser Zweierkonstellation von Betty und Jean das Gesamtphänomen gut verstehen kann. Wenn ich noch zwei Personen in den Text nehme, wird es eher verwirrend. Das Thema ist an sich schon verwirrend.

Eine Reportage-Regel besagt, dass viel wörtliche Rede die Tonalität und den Textfluss stört. Wieso haben Sie Jean, Betty und Lothar Sandfort so viel reden lassen? Das hab ich in noch keinem anderen Text auch nur ansatzweise so gemacht. Weil ich auch auf dem Standpunkt stehe, Zitate möglichst wenig zu verwenden. Aber ich fand diese Zitate so treffend, dass ich es so machen musste. Die beiden Protagonisten Jean und Betty haben sich über die Sprache kennengelernt. Das war so ein leuchtender Moment, wie sie aufeinander zugehen, wie sie miteinander ins Gespräch kommen, wie sich da auch so eine Vertrautheit entwickelt. Betty konnte in zwei Sätzen alles auf den Punkt bringen! Und er war als Schweizer auch besonders. Das konnte ich nur über den Dialog darstellen, und vor allem auch wertneutral darstellen. Und letztlich bestand diese Veranstaltung ja aus Reden. Das Reden hatte eine ganz besondere Bedeutung. Sie sind sparsam mit Fakten und Hintergrund. Wieso? In der Vorrecherche hatte ich überlegt, Faktenblöcke mit verschiedenen Positionen zum Thema einzubauen. Aber nachdem ich das Wochenende erlebt hatte, waren die Eindrücke so positiv und so lebensfroh, dass ich mir gesagt habe, Fakten hätten diesen ganz besonderen Moment kaputtgemacht. Ich hab mich dann nah an die Geschehnisse gehalten. Und stattdessen das Interview mit Lothar Sandfort dazu gestellt, da haben dann kritische Fragen ihren Platz. Sie setzen voraus, dass Ihre Leser wissen, was Tantra ist. Eine Abhandlung über Tantra wäre das Schlimmste gewesen für den Text … Der Einwand ist gerechtfertigt. In so einem Text dürfte nichts auftauchen, was Fragen aufwirft. Das macht die Leser unlustig. Ihr Schlüsselreiz heißt „Jungfrau“. Er spannt den Bogen zwischen Anfang und Ende. An Ein- und Ausstieg liegt mir wahnsinnig viel. An diesem Anfang kommt man fast nicht vorbei: „Betty ist 73 und Jungfrau.“

Da muss man mindestens den zweiten Satz lesen. An den letzten zwei Sätzen hab ich Ewigkeiten gesessen. Das „keine Jungfrau“ sollte ganz am Ende stehen. Jetzt beim Wiederlesen hab ich gedacht: Der Anfang ist, als würde man einen Pfeil anlegen, der Bogen spannt sich langsam, hält die Spannung und dann ist sehr schnell Schluss. Beim Flug des Bogens waren Sie nicht dabei? Ich wollte nicht in der Situation dabei sein, wenn die beiden sich in ihrem Zimmer treffen, und habe auch nicht danach gefragt. Das ist für mich so intim, das wollte ich auf keinen Fall. Deswegen hab ich mich auf das Kennenlernen konzentriert. Und das baut sich lange auf – und wenn es dann zur Sache kommt, endet der Text mit dem Resultat. Das Resultat ist wichtig. Sie führen Ihre Leser chronologisch durch das Wochenende. Die Chronologie ist normalerweise das Letzte, was ich wählen würde, weil das so

langweilig ist. „Der Bürgermeister begrüßte die Anwesenden …“ – so was macht keinen Sinn. Hier halte ich mich an den Ablauf, um möglichst wenig Brüche und möglichst viel Klarheit zu haben. Das ist das Geländer, an dem sich der Text festhält. Nur da, wo es um Betty geht, ist ein Einschub, und dann ein zweiter für Jean. Beide Protagonisten werden vorgestellt, und später der Betreuer, weil der das Ganze noch aus einer professionellen Sicht kommentiert. Das sind die Blöcke, die die Chronologie durchbrechen. Sie haben also zwei Gestaltungsmittel bemüht, die Sie ganz doof finden – die Chronologie und die vielen Zitate. Ja, schrecklich eigentlich (lacht). Man soll wahrscheinlich kein Mittel verdammen. Am Ende kann alles sinnvoll sein, wenn man gute Gründe hat. Man muss reflektieren, was man mit dem Text will und wohin man mit dem Text will. Sogar das, was man schrecklich findet, kann dann am Ende ganz gut sein.

Benjamin Piel, geboren 1984 in Hagen (Westfalen), ist seit Mai 2012 Redakteur der „Elbe-Jeetzel-Zeitung“ (Landkreis Lüchow-Dannenberg). Er volontierte 2010 bis 2011 bei der „Schweriner Volkszeitung“. Das Gespräch mit Benjamin Piel führte Marie Lampert am 6. Mai vormittags. Am späten Nachmittag erfuhr der Autor, dass er für „Betty“ den Theodor-Wolff-Preis 2014 erhält.

Marie Lampert

ist freie Journalistin und Trainerin, leitet den ABZV-Onlinedienst storytelling.abzv.de. Sie hat Diplompsychologie und Germanistik studiert. [email protected]

Persönliches Exemplar für: [email protected]

Idee 5 | Wie Interviews besser werden

medium magazin #06/2014 | iW | 24

Frager fragen

Check it!

Gute Gespräche sind gut vorbereitet. Wie aber bringen Sie verstockte Interviewpartner zum Reden? Christian Thiele zeigt Ihnen ein paar Tricks.

E

in kleines bisschen Lampenfieber ist erlaubt – das schärft die Sinne. Aber wer sich gut vorbereitet hat, weiß: Er wird dem zu Interviewenden ein interessierter und interessanter Gesprächspartner sein! Weil U-Bahnen ausfallen, Taxis im Stau stehen können, haben Sie sichergestellt, dass Sie rechtzeitig am Ort des Gespräches sind. Sie haben Ihr Aufnahmegerät getestet und aufgebaut. Sie haben bequeme Plätze gewählt, nicht zu hell, nicht zu dunkel, nicht zu laut (Stereoanlagen in Cafés lassen sich leiser drehen! Tische sind verrückbar!). Getränke sind geordert, die Gesprächspartner mit Handschlag und Namen begrüßt („Grüß Gott, Herr Jagger, freut mich sehr. Ich bin XXX von der ZZZ. Hier ist meine Visitenkarte, hier ist ein kleines Geschenk für Sie – danke, dass Sie Zeit für uns haben!“ Oder so ähnlich.). Sie haben Ihr Handy ausgeschaltet. Es kann losgehen!

Der Auftakt setzt den Ton für ein Gespräch. Smalltalken über das Wetter, die Anfahrt etc. schafft ein Beziehungsfundament für das spätere Gespräch. Bei Kreativen schadet es nie, die neue Platte/Film/Buch zu loben – zumindest, wenn es nicht als hohle Floskel daherkommt, sondern konkret und qualifiziert. Der gute Interviewer macht freundlich, aber bestimmt klar: Das Heft hat jetzt er in der Hand! Sie klären also nochmals, zur Sicherheit: Wie viel Zeit haben wir jetzt miteinander? Und dann, Aufnahmegerät an!, geht’s auch wirklich los. Am besten mit einem: „So, dann legen wir mal los!“ o. Ä. Einfach reinrutschen – unprofessionell. Nehmen Sie die Atmo aus dem Aufwärmprogramm mit, aber markieren Sie inhaltlich einen klaren Cut! Wer fragt, führt! Interviewpartner lassen sich

nicht genauso steuern wie ein Modellauto – aber fast genauso: ● Der labertaschige Gesprächspartner lässt sich einbremsen, indem Sie ihm per Kopfnicken klarmachen: Danke, Antwort verstanden! Wenn er Luft holt:

Nutzen Sie die Sprechpause zur Unterbrechung, für überraschende Fragen: So zwingen Sie ihn auf Ihre Gesprächsspur. ● Dem verstockten Schweiger sollten Sie aus dem Herzen reden („War das nicht wahnsinnig traurig, als Sie ...“). Und signalisieren: „Wir haben Zeit, wir können zu den Antworten später noch mal was nachtragen.“ Also: Fragen stellen, die zum Erzählen einladen! Einladen, über andere zu reden! Und Vorsicht mit provozierenden, ironischen Fragen! ● Bei schwammigen Antworten: Die Frage wiederholen, notfalls auch wortwörtlich. Evtl. Antwort überspitzen, überdrehen („Sie wollen also eigentlich damit sagen, dass ...). Nachfragen: „Habe ich das richtig verstanden?“ Oder, ganz offen und ehrlich: „Das habe ich jetzt irgendwie nicht so richtig begriffen. Können Sie mir das noch mal genau erklären …?“ ● Ganz wichtig: Schweigen! Ist im Interview Gold, Silber und Bronze zusammen. Oft kommt noch mehr, als man denkt! Beispiele dafür finden wir Abend für Abend im Geschichts-Fernsehen, wo dem Zeitzeugen nach langem Gewürge und Geschweige und Geatme dann doch noch rausrutscht, warum er damals in die SS eingetreten ist, den Pflasterstein geworfen hat o. Ä. Vor allem aber: Fragen Sie klar und knapp statt kraus und konjunktivisch à la „Mich würde eventuell schon interessieren, ob denn nicht vielleicht …“. Mit stets einer Frage pro Frage – statt Multifunktionsfrage­raketen abzufeuern! Wer konkrete, emotionale Fragen sät, wie: „Welcher Song macht Ihnen sofort Lust aufs Heiraten?“ (Moritz von Uslar an Dieter Bohlen), erntet stärkere Antworten als mit: „Was ist Ihr Lieblingslied?“ Standesbeamte wissen um den großen Vorteil von Ja-Nein-Fragen. Erleichtern sie den Vorgang der Eheschließung doch ungemein. Interviewer allerdings sollten geschlossene Fragen nur sehr dosiert einsetzen. Sie verengen das Informationsangebot und damit

Fragetypen, die zum Reden bringen ● Was haben Sie zuletzt gegoogelt? ● Was sind die letzten drei Dinge, die Sie mit Kreditkarte bezahlt haben? das Gespräch, können schnell in Sackgassen enden. Wer neugierig ist, wer seinen Gesprächspartner öffnen will, in Fahrt bringen, der stellt offene Fragen. Und zwar am besten kurze, wie in der Sesamstraße: Wer, wie, was? Wieso, weshalb, warum? Oft ertragreich sind Tarnfragen, also für jeden leicht zu beantwortende, vermeintliche Allerweltsfragen, die aber eigentlich viel über die zu befragende Person aussagen (können), Beispiele siehe „Check it!“ rechts. Palaver kann das allerschönste Miteinander sein, deshalb: Keine Angst vor ein paar BlablablaFragen.

Entweder-oder-Fragen zwingen Wischi­

waschi-Antworter zu klaren Bekenntnissen. Fiese, gemeine, verlogene Unterstellungen können – in homöopathischer Dosis verabreicht – durchaus lockernde Wirkung haben und einen Menschen zum Reden bringen. Auf „Wie hieß Ihre erste Band?“ musste eine verdutzte Angela Merkel sich erst mal was einfallen lassen. Auch Provokationen sind erlaubt: „War eigentlich jeder halbwegs intelligente DDR-Bürger bei der Stasi?“ oder „Welche Form der Verhütung empfehlen Sie?“ – wieder Moritz von Uslar, wieder im Gespräch mit der damaligen künftigen Kanzlerin Merkel. Und für den Fall, dass der Rausschmiss droht, sollten wir auch stets Kuschelfragen parat haben („Was bedeutet Ihnen Ihre Heimat?“, „Was war der schönste Tag in Ihrem Leben?). Wer sich solch ein buntes Arsenal an Fragewaffen in den Köcher gepackt hat, kann beruhigt in die Interviewschlacht ziehen.

Christian Thiele

arbeitet als Autor, Trainer und Coach in München. Sein Buch „Interviews führen“ ist im UVK-Verlag erschienen. www.christianthiele.com

● Was war Ihr erstes Auto? ● Welches Buch liegt auf Ihrem Nachttisch? ● War es nicht wahnsinnig traurig, als Sie …? ● Habe ich das richtig verstanden …? Justin Bieber nutzt intensiv Instagram: Was uns das jetzt sagen soll? Recherchieren Sie auf den Plattformen der Selbstdarstellungen Ihrer jeweiligen Interviewpartner – eine Fundgrube in der Regel, auch wenn es nicht um Justin Bieber geht.

2. Sie haben Wichtiges vergessen: Darf eigentlich nicht vorkommen, denn Sie haben sich ja gut vorbereitet. Aber manchmal merkt man beim Abhören: „Das hätte ich noch fragen müssen!“ Ein Anruf beim Interviewpartner oder seiner

Agentur kostet nicht die Welt – vielleicht wird Ihnen ja eine kurze Nachspielzeit gewährt. Und in der fallen ja bekanntlich gern die entscheidenden Tore … 3. Der Gesprächspartner will nicht zum Schluss kommen: „Eure Eminenz, ich will Sie jetzt gar nicht länger in Anspruch nehmen, und ich glaube auch, ich habe genug für ein schönes Interview!“ 4. Recorderstress (vergessen/kaputt/Batterie leer): Jetzt geht nur High-SpeedMitschreibing. Statt zu lamentieren, machen Sie sich selbst und dem Gesprächspartner klar: Jetzt dauert’s halt ein bisschen länger. Konzentrieren Sie sich auf kurze Fragen und notieren Sie das Wichtigste der Antwort in Schlüsselwörtern. Redigieren für die Verschriftung müssen Sie sowieso.

● Was bedeutet Ihnen …?

Lesetipp

Der kleine Pannenhelfer 1. Der Interviewpartner ist unsympathisch, arrogant, rüpelhaft, unverschämt: Meta-Kommunikation versuchen (eskalierbar, von „Sorry, Herr Williams, aber ich habe den Eindruck, Sie sind müde“ über „Langweile ich Sie?“ und „Aber jetzt bin ich doch extra über den Atlantik geflogen gekommen ...“ bis hin zu „Irgendwie müssen wir jetzt beide unseren Job machen und uns wenigstens 20 Minuten lang wie Profis benehmen“). Notfalls kann man auch mal aufstehen, gehen und dann, daheim in der Redaktion, ein Porträt schreiben!

● Was war der schönste Tag in Ihrem Leben?

5. Der Horror: In der Redaktion stellen Sie fest, dass das Aufnahmegerät nicht funktioniert hat. Keine Panik: So sind schon die allerbesten Interviews entstanden! Suchen Sie sich einen ruhigen Ort und befragen Sie intensiv Ihr Gedächtnis: Was waren die wichtigsten Themen, was die stärksten Zitate? Die Reihenfolge ist erst mal egal, Hauptsache, Sie haben die Schlüsselaussagen, aus denen Sie später die Gesprächsdramaturgie montieren können. 6. Drei Allzweckwaffen: Sie haben die letzte Antwort schlicht verpennt. Oder treten gerade auf der Stelle: Es gibt Allzweckwaffen, die immer einsetzbar sind, jede Frage präzisieren und gleichzeitig eine kleine Atempause verschaffen: ● Warum sagen Sie das? ● Wie meinen Sie das? ● Zum Beispiel?

Weitere Tipps zum Thema lesen Sie in unserer 16-seitigen Journalisten-Werkstatt „Das Interview“ von Christian Thiele – zu beziehen hier im Shop, einfach klicken: newsroom.de/shop Journalisten Werkstatt

INHALT Interviews statt Unterviews 2-3 Fleiß gewinnt: Vor dem Gespräch 4-5 Immer schön gelenkig bleiben: Im Gespräch 6-7 Pannenhilfen 8 Ganz große Gespräche 9 Auf allen Kanälen 10-11 Nach dem Gespräch 12-13 Gefragte Frager über das Fragen 14-15

Gute Gespräche

Das

Interview magazin für journalisten

Der Österreichische

Schweizer

MEDIUM MAGAZIN

1

Persönliches Exemplar für: [email protected]

Idee 6 | Wie der Neustart gelingt

medium magazin #06/2014 | iW | 26

Umbruch ins Ungewisse

Umbruch ins Ungewisse Was ist es? Teil 1 unserer neuen Serie über eine berufliche Neuorientierung. Wer macht es? Ralf Heimann. Er ist Redakteur der „Münsterschen Zeitung“ und Bestseller­ autor des Buchs „Die tote Kuh kommt morgen rein“ (Fischer 2013). Im Mai hat er gekündigt. Ende August wird er die Zeitung verlassen. Jetzt bereitet er sich auf einen Neustart vor. In „medium magazin“ beschreibt er künftig in monatlichen Folgen, wie er sich um­orientiert, welche Chancen sich auftun und auf welche Probleme er dabei stößt.

Wie der Zeitungsredakteur Ralf Heimann sich einen neuen Beruf sucht – oder mehrere. In dieser Serie beschreibt er fortan für „medium magazin“, wie es ihm dabei ergeht und welche Hürden zu meistern sind. (Teil 1)

W

enn all das stimmen würde, was in den E-Mails aus den letzten Tagen steht, könnte ich richtig stolz auf mich sein. Am 12. Mai habe ich nach zehn Jahren bei der „Münsterschen Zeitung“ gekündigt. Danach schrieben viele Freunde, Kollegen und einige Menschen, die ich so erst kennengelernt habe. In einigen Mails stand, das sei ja schon sehr mutig. Festangestellt. Unbefristet. Und dann einfach so zu gehen. Wow! Mutig. Ja, den Eindruck hatte ich vorher auch. Deswegen hat die Entscheidung auch so lange gedauert. Auf den ersten Blick ist das ein großer Schritt. Im Journalismus herrscht nicht gerade Fachkräftemangel. Man kündigt, und wenn man sich mit etwas Pessimismus vorstellt, wie es danach weitergeht, sieht man eine Sozialbehörde. Ein bisschen so war das jedenfalls bei mir. Dass ich keine Sozialbehörde mehr sehe, liegt vor allem daran, dass ich mich von ein paar Gedanken gelöst habe. Zum Beispiel von diesen hier: „Man geht fünf Tage die Woche zur Arbeit und hat manchmal einen Sonntagsdienst.“ „Man hat genau einen Beruf.“ „Wenn man etwas nicht ändern kann, muss man sich damit abfinden.“ Es gibt so viele Menschen, die sich ständig über ihre Arbeit beschweren, die ihre Kollegen hassen und schon morgens um elf hoffen, dass der Tag endlich vorbeigeht. So ist das bei mir nicht. Ich langweile mich eigentlich nie bei der Arbeit. Ich mag meine Kollegen. Mit einigen bin ich befreundet. Ich werde dafür bezahlt, dass ich Dinge herausfinde und sie aufschreibe. Ich be-

komme Geld dafür, dass ich etwas lerne. Und manchmal werde ich für meine Arbeit gelobt.

Kann man von einem Beruf noch mehr erwarten?

Nein. Oder vielleicht doch. Wenn ich ganz ehrlich bin, beschäftige ich mich ja oft mit Themen, die mich, wie soll ich sagen, jetzt nicht so brennend interessieren. Und damit meine ich vor allem den Füllkram, der verhindern soll, dass in der Zeitung weiße Flecken bleiben. Wöchentlich wiederkehrende Ankündigungen von wöchentlich wiederkehrenden Sprechstunden. Pressemitteilungen von Firmen, die einen von hunderttausend Branchenoscars gewonnen haben. Irgendwas aus dem Postfach. Es darf ja auch nicht zu lange dauern. Man muss ja auch noch was schreiben. Und das ist das nächste Problem. Ich schätze, viele Lokalreporter kennen das. Nach anderthalb Stunden scheitert eine Recherche, aber die anderthalb Stunden sind jetzt dummerweise auch rum. Dann schreibt man die Geschichte trotzdem. Die Seite muss ja schließlich voll werden. Und mit pseudoprofessioneller Reporter-Sprache lässt sich ja doch einiges kaschieren. Manchmal treffe ich mich eine Stunde lang mit Menschen, und daraus entsteht ein Porträt über ein komplettes Leben. Dann gibt es die Ein-Anruf-Geschichten: Irgendwas muss recherchiert werden, und kommt die Frage: „Hat einer Zeit? Das ist ein Anruf.“ Oder die vielen Pressemitteilungen, die „nur mal schnell auf Länge gebracht“ werden müssen.

Dazu kommen Texte von freien Mitarbeitern, wie ich selbst früher einer war. Und in den ersten Monaten war das oft so: Keine Ahnung, wie man einen Zeitungsartikel schreibt, aber fünf Termine an einem Wochenende. Welcher Redakteur soll das dann noch retten?

Was bringt es? Inspirationen für Leser – egal ob sie sich schon selbst im Umbruch befinden oder darüber nachdenken, oder einfach nur wissen wollen, wie es einem ergeht, der in diesen Zeiten freiwillig seinen Job kündigt. Lesestoff aus dem Lokaljournalismus: In jeder Folge wird Ralf Heimann seine individuelle mit allgemeingültigen Erfahrungen ergänzen. Sowie in Teil 1: Tipps für PR-Leute: Wie man garantiert in die Zeitung kommt – und garantiert nicht.

Das ist die eine Seite.

Es gibt natürlich auch noch eine andere. Bei Lokalzeitungen arbeiten hervorragende Reporter, die großartige Geschichten schreiben. Sie sind nicht das Problem. Das Problem ist die Zeitung selbst. Sie erscheint jeden Tag. Sie hat jeden Tag ungefähr den gleichen Umfang. Deshalb kann man nicht mal fünf Lokalseiten streichen, wenn es nichts zu berichten gibt. Die Zeitung kann sich nicht ändern. Und natürlich ändert sich auch das Konkurrenzblatt nicht. Alle haben die Sorge, der Leser könnte dann dorthin gehen, wo alles ist, wie es immer war. Die Zeitungen finden ja eigentlich auch gut, was sie machen. Und schuld an der Krise ist ja eh das Internet. Florian Lensing-Wolff, der vor drei Jahren gestorbene Alt-Verleger der „Münsterschen Zeitung“, hat 2005 in einem Interview gesagt: „Von Ausnahmen abgesehen wird auf lange Sicht am Ort nur eine Lokalzeitung überleben.“ Seitdem habe ich die Sorge, dass das stimmen könnte. Die „Münstersche Zeitung“ ist die kleinere von zwei Zeitungen in Münster. So sah bis zum 12. Mai meine Zukunft aus. Journalismus, von dem ich nicht überzeugt bin. Eine Perspektive, die ich für ungewiss halte. Und blöderweise noch 30 Jahre, in denen ich Geld verdienen muss.  >>>

Als der Blumenkübel umfiel … Im August vor vier Jahren berichtete die Lokalzeitung in Neuenkirchen (bei Münster) mitten im Sommerloch über einen zerstörten Blumenkübel vor einem Altenheim. Ralf Heimann twitterte: „In Neuenkirchen ist ein Blumenkübel umgefallen.“ Im Internet wurde der Blumenkübel so zum Synonym für den Sack Reis in China. Auf Heimann wurde durch den Blumenkübel ein Buchagent aufmerksam. Und die Geschichte mit „Die tote Kuh kommt morgen rein“ nahm ihren Lauf.

Für wen geeignet? Für alle, die sich hier mehr als Lehrbuch­ anleitungen a la „So machen Sie sich selbstständig“ erwarten. Ralf Heimanns Tipp für Kollegen: Lassen Sie sich keine Tipps geben.

Persönliches Exemplar für: [email protected]

Idee 6 | Wie der Neustart gelingt Die Frage wäre: Was ist jetzt mutig?

Wäre es nicht viel mutiger zu riskieren, in seinem Beruf ein unglücklicher Mensch zu werden? Wäre es nicht mutig, die Gefahr in Kauf zu nehmen, irgendwann auf der Straße zu stehen? Ich kenne ein paar Leute, die ihren Job verloren haben, darüber in eine tiefe Krise gestürzt sind und Jahre gebraucht haben, da wieder rauszukommen. Das ist nicht immer so, aber es kann passieren. Ich kenne andere, die gekündigt haben, um etwas Neues zu beginnen. Nicht alle waren erfolgreich. Aber keiner von ihnen sagt: Das hätte ich besser mal sein gelassen. Vor ein paar Wochen habe ich mir die Frage gestellt: Was kann im schlimmsten Fall passieren? Mir fiel eigentlich nur eins ein: Ich könnte krank werden. Ich habe etwas Geld gespart. Es würde nicht bis zum Ende des Jahres reichen, aber für ein paar Monate. Danach könnte es passieren, dass ich vorübergehend in einem anderen Beruf arbeiten muss. Aber auch nur, wenn alles schiefläuft. Während meines Studiums habe ich Fenster geputzt. So einen Job findet man innerhalb einer Woche. Daran wäre nichts Schlimmes. Außerdem zwingt mich niemand, jeden Tag die gleiche Arbeit zu machen. Und es ist ja doch einiges möglich mit dem, was man als Journalist so gelernt hat. Zwei Wochen nach meiner Kündigung weiß ich: Für Print-Redakteure, die sich ein bisschen im Internet auskennen, gibt es einen Markt. Und damit meine ich nicht nur mich. Wenn man eine Festanstellung im Lokaljournalismus sucht, schränkt das die Möglichkeiten natürlich stark ein. Ich bin weder auf eine Festanstellung fixiert noch auf Journalismus. Ich wollte wissen, was möglich ist. Und das findet man vermutlich nicht heraus, wenn man in Stellenanzeigen blättert. Die meisten Jobs kommen so weit ja gar nicht. Man kann natürlich auch selbst eine Stellenanzeige aufgeben. Nur viele suchen da gar nicht erst. Außerdem muss man mitteilen, was man haben möchte. Das wollte ich nicht. Es sollte auch auf Möglichkeiten hinauslaufen können, an die ich nicht gedacht hatte. Ich habe angefangen zu lesen. Ein paar PDF-Dateien habe ich auf dem Desktop in einen Ordner gelegt. Den Ordner habe ich „Operation Harakiri“ genannt.“ Warum, kann ich gar nicht mehr sagen. Ich hielt

meinen Plan wohl für ziemlich verwegen. Im Nachhinein ist der Titel lächerlich. Es geht ja um einen Jobwechsel, nicht um Leben und Tod. Aber für den Blog ist er deshalb ganz gut. Er erinnert mich daran, dass es vielleicht gar nicht gut ist, das alles so wichtig zu nehmen. Ein Blog hat im Vergleich zu einer Bewerbung einen großen Vorteil. Man muss sich nicht selbst beschreiben. Das erledigen die Blogeinträge. Und sie machen das viel besser. Alte Reporterregel: Show, don’t tell.

medium magazin #06/2014 | iW | 28

Lesetipp

Check it! ZEHN TIPPS VON RALF HEIMANN FÜR PR-LEUTE. Jetzt kann ich’s ja sagen: Wir Zeitungsredakteure haben wenig Zeit, immer viel zu tun, und wir funktionieren nach bestimmten Mechanismen. Wenn Sie diese verstanden haben, können Sie uns schamlos benutzen. Dazu ein paar natürlich vollkommen ernst gemeinte Tipps.

Es war kein Schritt ins Ungewisse.

Es war eine günstige Situation. Das Buch, das ich geschrieben habe, hat mir die Entscheidung etwas erleichtert. Wenn ein Lokaljournalist ein Buch über seinen Beruf schreibt und dann kündigt, ist es ja nicht ganz unwahrscheinlich, dass darüber jemand berichten wird. Das ist dann zum Glück auch passiert. Acht Wochen lang habe ich alles vorbereitet. Die Idee. Den Plan. Den Blog. Es war ein bisschen wie mit einer Geschichte, die man gerne schreiben möchte. Ich habe recherchiert. Ich habe mit Menschen gesprochen, die so eine Entscheidung hinter sich haben und wissen, womit man rechnen muss und womit man rechnen kann. Einige von ihnen arbeiten für Unternehmen. Einige leben vom Journalismus. Einige machen beides. Auf eine dieser Möglichkeiten wird es bei mir wohl auch hinauslaufen. Ich weiß noch nicht genau, was ich will. Aber ich weiß, was ich nicht will. Ich mache Journalismus zwar mit Spaß, aber nicht aus Spaß. Ich will nicht als Journalist für Billig-Löhne arbeiten. Wenn das nicht geht, arbeite ich in einem anderen Beruf – oder in mehreren. Dieser Plan kann eigentlich nicht scheitern. Ich habe das Scheitern ja als Möglichkeit eingeplant. Das kommt mir sehr klug vor, aber das macht es mir auch unheimlich. Man weiß ja, wie solche Geschichten oft ausgehen, wenn man sich selbst für klug hält. Vielleicht ist es deshalb ganz gut, dass ich auch Zweifel habe. Nicht so viele, dass ich mir Sorgen machen würde. Aber doch so viele, dass ich nicht euphorisch bin. Ich bin gespannt auf das, was jetzt kommt. Und das ist ein gutes Gefühl.

Ralf Heimanns Buch: „Die tote Kuh kommt morgen rein“. Fischer Scherz (2013), 336 Seiten, ISBN 978-3651000568 X

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Wie man garantiert in die Zeitung kommt

Wie man nicht in die Zeitung kommt

● Ortsmarke: Sie müssen einen Text über die globale Erderwärmung im Borkendorfer Lokalteil platzieren. Das ist nicht so schwer. Setzen Sie vor den Text die Ortsmarke „Borkendorf“. Verwenden Sie in der Pressemitteilung ein paar Mal die Formulierung „in Borkendorf und auf der ganzen Welt“. So ist der lokale Bezug hergestellt. Dann kann eigentlich nichts mehr schiefgehen.

● Imperative: Kritische Situation. Neues Bauprojekt. Der Name des Investors soll unter keinen Umständen in der Zeitung stehen. Schreiben Sie dem Lokalredakteur den Namen des Investors auf einen Zettel. Sagen Sie den Satz: „Das müssen Sie unbedingt schreiben.“ Erinnern Sie ihn noch zwei Mal daran. Machen Sie sich keine Sorgen.

● Superlativ: Ein Kunde will mit seinem Hundesalon in die Zeitung. Jetzt brauchen Sie einen Superlativ. Rufen Sie in der Redaktion an und fragen Sie, ob Interesse besteht an einer Story über den modernsten Hundesalon der Stadt. Sagen Sie, das Konzept sei in dieser Form absolut neu. Sagen Sie, es sei der einzige Hundesalon der Stadt, in dem für Kunden iPads zur Verfügung stehen. Bringen Sie zum Termin Ihr iPad mit.

● Das Dossier: Vor drei Wochen haben Sie dem Lokalredakteur versprochen, sich zu melden, sobald klar ist, ob Auto Weber die Krise überstehen wird. Jetzt müssen 15 Leute entlassen werden. Was tun? Erstellen Sie ein Dossier. Hängen Sie 15 bis 20 Dokumente über das Unternehmen an eine Mail, dazu zehn bis 15 Fotos. Schicken Sie Informationen zur Firmengeschichte, zu allen verfügbaren Auto-Modellen, irgendwelche alten Presseberichte und eine mindestens sechs Seiten lange Meldung, in der irgendwo auch etwas über die Entlassungen steht. Im Anschreiben nehmen Sie Bezug auf das Gespräch vor drei Wochen und sagen, Sie hätten da mal ein paar interessante Infos zusammengestellt. Kein Mensch wird diese E-Mail jemals öffnen.

● Die Konkurrenz: Der Schraubenfabrikant Winter meldet sich jetzt schon zum fünften Mal an, weil er mit seiner neuen Maschine in die Zeitung will. Sie wissen genau: Dafür werden Sie keinen Lokalredakteur gewinnen. Oder vielleicht doch. Rufen Sie in der Redaktion an und geben ganz informell einen freundschaftlichen Tipp. Beim Winter soll ja so eine neue, ziemlich außergewöhnliche Maschine stehen. Vergessen Sie nicht zu sagen, dass die Konkurrenz an der Geschichte auch schon dran ist. ● Exklusiv: Der Türrahmenhersteller Möhrchen hat zwei neue Dienstwagen bestellt. Rufen Sie bei der Zeitung an. Sagen Sie, Sie hätten da vielleicht eine interessante Geschichte für die lokale Wirtschaft. Es gehe um eine größere Investition. Dann machen Sie eine kurze Pause und fügen mit leicht gedämpfter Stimme an: „Exklusiv natürlich.“ ● Pressekonferenz: Ihr Auftraggeber hat eine Image-Kampagne gestartet. Er will damit in die Zeitung. Aber darüber wird keine Redaktion schreiben. Es sei denn, Sie machen eine Pressekonferenz. Kündigen Sie ein paar wirklich interessante Zahlen an. Es wird jemand kommen. Stellen Sie kurz die alten Geschäftszahlen vor und reden dann einfach nur noch über die Image-Kampagne. Lassen Sie sich überraschen.

Ralf Heimanns Blog:

„Operation Harakiri“: www.operation-harakiri.de

„Wir schicken wen“: http://wir-schicken-wen.tumblr.com

● Hintergrund-Infos: Ihr Auftraggeber hat den Geschäftsführer entlassen. Es gab Ärger. Sie müssen jetzt erklären, dass der Chef geht, aber mehr soll nicht in der Zeitung stehen. Rufen Sie in der Lokalredaktion an und sagen: „Wenn Sie mir versprechen, dass Sie das nicht schreiben, kann ich Ihnen mal die Hintergründe erklären.“ Es wird niemand Nein sagen. Erzählen Sie dem Lokalredakteur die ganze Geschichte bis in alle schmutzigen Einzelheiten. Sagen Sie am Ende noch mal, das sei jetzt aber nur so für den Hintergrund. Sie werden nie wieder davon hören. ● Exklusiv-Infos: Ihr Auftraggeber hat bei der Baugenehmigung für ein in der Stadt gut sichtbares Gebäude etwas nachgeholfen. Er befürchtet, der zu erwartende Zeitungsbericht könnte Fragen aufwerfen und das Ganze so auffliegen. Schicken Sie am Freitag eine Stunde vor Redaktionsschluss eine kurze Mitteilung über den Neubau. Schreiben Sie dazu, dass es eine Exklusivmeldung ist. Am Samstag wird die Meldung so in der Zeitung stehen. In der Morgenkonferenz am Montag jemand auf die Frage, ob man da noch mal was machen müsste, antworten: „Hatten wir doch schon.“ In der Konferenz der anderen Zeitung wird der Satz fallen: „Kann man machen, muss man aber nicht.“ ● Fax: Wenn Sie völlig ratlos sind, wie Sie etwas verheimlichen können, schicken Sie ein Fax. Später können Sie problemlos behaupten, Sie hätten die Medien rechtzeitig informiert. Aber mit ziemlicher Sicherheit wird sich auf dieses Fax nie jemand melden.

Persönliches Exemplar für: [email protected]

Idee 7 | Wie Ethik praktisch wird

Das Leben steckt voller Teufel! Journalisten müssen hart daran arbeiten, damit sich unsere Gesellschaft nicht in eine Hölle verwandelt.

D

ante hat bekanntlich die Philosophinnen und Philosophen in die Hölle verbannt, wohl weil sie zu neugierig sind, zu viele Fragen stellen, sich nicht mit den ersten Antworten zufriedengeben. Dazu kommt, dass sie sich der Wahrheit verpflichtet fühlen. Entspricht dies nicht präzise dem Lebensgefühl von Journalistinnen und Journalisten? Sokrates hat seine philosophische Tätigkeit des Fragens mit drei Bildern charakterisiert – dem Bild einer Stechmücke, eines Zitterrochens und einer Hebamme. Die Stechmücke ist lästig und lässt sich nicht leicht abwimmeln; der Zitterrochen sendet elektrische Impulse aus und lähmt sein Gegenüber; die Hebamme (um es zur Erheiterung ungeschickt auszudrücken) legt nichts in Menschen hinein, sondern holt das, was im Menschen ist, heraus. In gewisser Weise treffen diese Bilder wiederum auf den Journalisten zu, der hartnäckig Fragen stellt und Informationen herauskitzeln will.

Was hat das mit Ethik zu tun?

Ethik ist das Fragen nach dem, was man dürfen können soll und müssen sollte. Ethik stellt mit Blick auf die Journalistinnen und Journalisten die Fragen: Was ist ein (sittlich) gutes Leben als Journalist? Welchen Charakter soll eine Journalistin haben? Welche Handlungen soll ein Journalist unterlassen, was soll er hingegen tun? Ethik zieht die Grenze zwischen Geboten und Verboten und die Grenze zwischen dem, was erwünscht und lobenswert ist, und dem Tadelnswerten. Das klingt weltfremd und bevormundend, aber eben deswegen sind ja die Philosophen in der Hölle. Freilich scheint es sinnvoll zu sein, sich die Frage nach Berufs­ethos und dem „decent life as a journalist“ zu stellen. Leo Hickman hat sich diese Frage für das Leben als Ganzes gestellt. Hickman, ein Journalist des „Guardian“, wollte bekanntlich „ein Jahr ethisch korrekt“ leben. Dieses

medium magazin #06/2014 | iW | 26 vor allem ökologisch angelegte Experiment hat er in seiner Kolumne beschrieben und über das Medium der Zeitung auch entsprechende Reaktionen von Lesern erhalten; sein ganzes Leben wurde unter die Lupe genommen („a life stripped bare“ ist denn auch der englische Titel des Buches!) und entsprechend verändert. Nun meine bange Frage: Was würde sich im Leben eines Journalisten ändern, wenn er den Entschluss fassen würde, „ethisch korrekt zu leben“? Würde sich dies auf den Umgang mit Zeit, Sprache, Ressourcen, Sorgfalt, Wahrheit und Wahrhaftigkeit auswirken? Einen Versuch wäre es sicher wert. Journalisten sind ohnehin experimentierfreudig; um nur noch ein Beispiel zu nennen: Die amerikanische Journalistin Judith Levine hat ein Experiment mit „no shopping“ durchgeführt und sich bemüht, ein ganzes langes Jahr ohne unnötigen Konsum zu leben. Ein Jahr ethisch korrekter Journalismus? Es wäre den Versuch wert.

Auch Philosophen unternehmen gerne Versuche, freilich: Die wahren Abenteuer

sind hier im Kopf und werden in Form von Gedankenexperimenten abgehandelt. So könnte man fragen: Wie sieht die Arbeit eines Journalisten in „möglichen Welten“ aus – die Arbeit einer Journalistin in Huxleys „Schöner Neuer Welt“ oder der Alltag eines Journalisten in Orwells „1984“? Auch hier stoßen wir auf ethische Herausforderungen. Wenn Philosoph und Journalistin schon die Nähe zur Hölle teilen, so könnten wir auch fragen, welche ethischen Fallen sie teilen. In der antiken Philosophie wurde hier als erste Versuchung für den Philosophen die Käuflichkeit genannt, die natürlich Wahrhaftigkeit und Tapferkeit abwürgt; zweitens die Versuchung des Geltungsdrangs, der nicht die Sache und das Argument in den Vordergrund rückt, sondern die eigene Ehre; drittens die Versuchung der Geschwätzigkeit, des unachtsamen Umgangs mit Sprache und Wörtern. Und es scheint in der Philosophie die Pointe zu gelten, dass diejenigen, die sich auf diese Weise ein angenehmes Leben zu schaffen versuchen, ethisch versagt haben und die Hölle zumindest verdienen. Sind diese Fallen nicht auch „traps for journalists“?

Bleiben wir beim Bild der Hölle. Ich möchte den aufmunternden Gedanken formulieren, dass Journalisten daran arbeiten (mögen), dass sich unsere Gesellschaft nicht in eine

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Idee 7 | Wie Ethik praktisch wird

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Hölle verwandelt. Wie das? Der albanische Schriftsteller Ismail Kadare beschreibt in seinem viel gelesenen Roman „Der Palast der Träume“ die Hölle. Er beschreibt sie als ein Ministerium, als ein riesenhaftes und unübersichtliches Gebäude mit schlecht beleuchteten Gängen, in denen wichtigtuerische Menschen, mit Akten bewaffnet, von Zimmer zu Zimmer huschen. Auch der Protagonist wird in diesem Labyrinth herumgeschickt – und er darf eine Frage nicht stellen: Die Frage „Warum?“. Hölle ist der Ort, an dem die Frage nach dem „Warum“ nicht gestellt werden darf. Journalisten kämpfen kraft ihres Berufsethos gegen das Ende des Fragens an. Ein zweites Bild: Sartre beschreibt die Hölle bekanntlich als geschlossene Gesellschaft. Auch hier wirkt der Journalismus als Gegenmittel: Journalisten vermitteln einen Eindruck von der Offenheit der Welt, die ganz anders sein könnte. Sie vermitteln Weite und einen Sinn für Alternativen. Kurzformel: Fatalisten sind schlechte Journalisten – ebenso engstirnige oder bornierte Menschen. Ein drittes Bild: C. S. Lewis beschreibt in seiner Parabel „Die große Scheidung“ die Hölle als einen Ort des nebelhaften und konturlosen Einheitswetters; als einen Ort, an dem es keine Farben gibt, als einen Ort, an dem den Menschen nichts wirklich wichtig ist. Journalisten, so könnte man sagen, verhindern diese Hölle, bringen Farbe ins Leben, schaffen Gewichtungen und bieten Konturen – das freilich nur, wenn ihnen selbst etwas wirklich wichtig ist. Der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt hat diesen Gedanken geäußert: Das Leben eines Menschen kann gelingen, wenn es etwas gibt, was ihn mit Sorge erfüllt, was ihm also wichtig ist. Die Gretchenfrage: Was ist es, das Journalisten wirklich wichtig ist? Eines steht außer Streit: Der Journalismus ist wirklich wichtig, denn er trägt dazu bei, dass Gesellschaften sich nicht in Höllen verwandeln. Und warum nun ist eigentlich die Ethik wichtig?

Clemens Sedmak ist Professor für Sozialethik in Salzburg und London sowie Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg.

15 Tipps für Journalismus mit Charakter

#06/2014

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ideenWerkstatt ● Medienethik ist kein starrer Verbotskatalog, sondern hilft, der Verantwortung des Berufs gerecht zu werden.

● Lassen Sie Bilder sprechen. Aber bedienen Sie (gerade bei sensiblen Themen) keine Klischees.

● Täglich treffen Sie Entscheidungen von Einfluss auf die öffentliche Meinung. Machen Sie sich (und Ihrer Leserschaft) Ihren Standpunkt bewusst!

● Wahren Sie Grenzen, in Wort und Bild. Nicht alles, was Sie hören und sehen, sollten Sie berichten.

● Ethische Fragen betreffen oft Grenzfälle der Berichterstattung und können unangenehm sein. Gerade dann ist es wichtig, sich ihnen zu stellen. ● Genauigkeit vor Geschwindigkeit. Recherchieren Sie kritisch, überprüfen Sie Ihre Quellen! ● Fehler können passieren. Wenn sie passieren, folgt die Richtigstellung umgehend und deutlich. ● Kein Thesenjournalismus. Wer über eine Geschichte schon geurteilt hat, neigt dazu, abweichende Sachverhalte und Meinungen zu ignorieren. ● Bei der Wahrheit bleiben. Wenn These und Geschichte voneinander abweichen, ist die These anzupassen, nicht die Geschichte! ● Darstellen, nicht entstellen. Wort und Bild sind nicht geschützt gegen Umdeutung und Manipulation. Das betrifft Ihre Quellen ebenso wie Ihre Berichterstattung. Arbeiten Sie sorgfältig – auch unter Zeitdruck.

● Schützen Sie Betroffene, auch vor sich selbst. Führen Sie niemanden vor. ● Skandal! Je sensationeller der Anlass, desto wichtiger ethische Standards wie Genauigkeit. Glauben – und schreiben – Sie nicht alles. ● Halten Sie sich an Off-Records-Vereinbarungen (und brechen Sie diese nur in begründeten Fällen). ● Journalistische Ethik braucht Diskussion und Konsens. Sprechen Sie mit Kolleg­ Innen, holen Sie sich Rat, orientieren Sie sich an gängigen Richtlinien. ● Ethik im Journalismus ist eine Frage der persönlichen Haltung. Oft entscheiden nicht Sie, worüber Sie schreiben – wohl aber, wie Sie es tun!

„Was ist, wenn wir unsere Konferenzen abschaffen?“ Markus Horeld, Zeit Online, Seite 9

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