Grundriss einer allgemeinen Psychopathologie und Psychotherapie

Thalamus; vgl. auch die Rolle von Jack Nicholson als McMurphy in „Einer flog über das Kuckucksnest“. Der portugiesische Arzt Moniz erhielt für diese brutale.
419KB Größe 6 Downloads 275 Ansichten


ICHS International Cultural-historical Human Sciences Herausgegeben von Hartmut Giest und Georg Rückriem Band 51  

Wolfgang Jantzen Grundriss einer allgemeinen Psychopathologie und Psychotherapie               



                           

 

Wolfgang Jantzen    

Grundriss einer allgemeinen Psychopathologie und Psychotherapie                     Berlin 2015

ICHS International Cultural-historical Human Sciences

‹•–‡‹‡…Š”‹ˆ–‡”‡‹Š‡ǡ†‹‡†‡”—Ž–—”Š‹•–‘”‹•…Š‡”ƒ†‹–‹‘˜‡”’ˆŽ‹…Š–‡–‹•– Ȃ†ƒ•‹•–Œ‡‡ǡ˜‘”ƒŽŽ‡˜‘‡˜Ǥ›‰‘–•‹ŒǡŽ‡•‡ŒǤ‡‘–ǯ‡˜—†Ž‡Ǧ •ƒ†”Ǥ—”‹Œƒ‡–™‹…‡Ž–‡–Š‡‘”‡–‹•…Š‡‘œ‡’–‹‘ǡ†‹‡†‡‡•…Š‡—† •‡‹‡–™‹…Ž—‰‘•‡“—‡–‹‘–‡š–†‡”—Ž–—”—††‡”‰‡•‡ŽŽ•…Šƒˆ–Ǧ Ž‹…ŠŠ‹•–‘”‹•…Š‡‡–‡”‹ƒ–‹‘„‡–”ƒ…Š–‡–Ǥƒ„‡‹‘–†‡”¡–‹‰‡‹–ƒŽ• †‡”‰”—†Ž‡‰‡†‡ ‘”†‡”‡•…ŠǦ‡Ž–Ǧ‡…Š•‡Ž™‹”—‰ˆò”†‹‡ƒŽ›Ǧ •‡†‡”‡•…ŠŽ‹…Š‡–™‹…Ž—‰—†‡„‡•™‡‹•‡‡–•…Š‡‹†‡†‡‡†‡—Ǧ –—‰ œ—ǡ •‘™‘ŠŽ —–‡” ‡‹œ‡Ž™‹••‡•…Šƒˆ–Ž‹…Š‡ •’‡–‡ —† †‡”‡ ›Ǧ –Š‡•‡œ—ò„‡”‰”‡‹ˆ‡†‡”–Š‡‘”‡–‹•…Š‡”‹…Š–ƒŽ•ƒ—…Š‹ ‹„Ž‹…ƒ—ˆ’”ƒ–‹Ǧ •…Š‡ ”‘„Ž‡ŽÚ•—‰‡Ǥ ‹‡ …Š”‹ˆ–‡”‡‹Š‡ ˜‡”Úˆˆ‡–Ž‹…Š– •‘™‘ŠŽ ‡š–‡ †‡” ‡‰”ò†‡” †‹‡•‡• •ƒ–œ‡• ƒŽ• ƒ—…Š ‡—‡”‡ ”„‡‹–‡ǡ †‹‡ ˆò” †‹‡ ڕ—‰ ƒ–—‡ŽŽ‡”™‹••‡•…Šƒˆ–Ž‹…Š‡”—†’”ƒ–‹•…Š‡””‘„Ž‡‡„‡†‡—–•ƒ•‹†Ǥ

 

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: ‹‡‡—–•…Š‡ƒ–‹‘ƒŽ„‹„Ž‹‘–Š‡˜‡”œ‡‹…Š‡–†‹‡•‡—„Ž‹ƒ–‹‘‹†‡”†‡—–Ǧ •…Š‡ƒ–‹‘ƒŽ„‹„Ž‹‘‰”ƒˆ‹‡Ǣ†‡–ƒ‹ŽŽ‹‡”–‡„‹„Ž‹‘‰”ƒˆ‹•…Š‡ ˆ‘”ƒ–‹‘‡•‹† ‹ –‡”‡–—–‡”ǣƒ„”—ˆ„ƒ”Ǥ

   Wolfgang Jantzen Grundriss einer allgemeinen Psychopathologie und Psychotherapie   ̹ʹͲͳͷǣ‡Šƒ•‡†‹ƒ „ Ȉ‡”Žƒ‰Ȉ‡”Ž‹    ™™™ǤŽ‡Šƒ•Ǥ†‡Ȉ™™™Ǥ‹…ŠǦ•…‹‡…‡•Ǥ†‡  ǣͻ͹ͺǦ͵Ǧͺ͸ͷͶͳǦ͹ͷ͵ǦͶ   ”—…ǣ†‘…—’‘‹– „ Ȉƒ”Ž‡„‡

Einleitung: Psychopathologie als relationale Wissenschaft1 Wolfgang Jantzen "Ich glaube, man muß vor allem die Kraft haben, die Angst selbst zu ertragen, daß die dauernden Probleme eines Menschen, der vom therapeutischen Prozeß betroffen ist, auch lebenslang andauern können, ohne daß er als "chronisch" definiert wird" (Antonio Slavich 1983, 36).

Ab Ende der 60er des vergangenen Jahrhunderts gab es Entwicklungen in der Behindertenpädagogik (damals noch durchgängig Heil- bzw. Sonderpädagogik) ebenso wie in der Psychiatrie, die den Horizont einer allgemeinen Krise aufscheinen ließen. Verschiedene Erklärungsmodelle begannen in Widerspruch zueinander zu treten. Zum einen auf Sozialität des Psychischen und Entwicklung orientierte Zugänge, die sich am radikalsten im sogenannten Roten Gürtel Norditaliens in der Diskussion um den politischen und praktischen Prozess der Auflösung der psychiatrischen Anstalten und der Sonderschulen bündelten, zum anderen aber im Kontext des medizinischen Modells auf Biologisierung und Ausgrenzung aufbauten. Im Kontext eines gesellschaftlichen Aufbruchs, in der BRD gekennzeichnet durch den Übergang zunächst zur großen, dann zur sozialliberalen Koalition, der international sich in vielen Ländern vergleichbar artikulierte und in der Studentenbewegung von 1968 national wie international vielleicht seine deutlichste Akzentuierung fand, entfaltete sich ebenso in der Psychiatrie (Mannheimer Kreis, Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie = DGSP) wie in der Behindertenpädagogik eine Auseinandersetzung um „biologisch“ (angeboren, endogen, hirnorganisch usw.) oder „sozial bedingt“. Durch das Aufgreifen dieses Gegensatzes im Ausstrahlungsbereich der sozialen Bewegungen der späten 60er/frühen 70er des vergangenen Jahrhunderts und im Kontext der Studentenbewegung einer 1

Bezogen auf die Paradigmadiskussion verfasst unter Verwendung von Jantzen 2005.

V

z.T. erneuten Orientierung an marxistischen Denktraditionen fächerte sich die Neuwahrnehmung der sozialen Bedingtheit von Behinderung so auf, dass Bleidick sie 1976 meinte, in vier konkurrierende Paradigmen: medizinisch, interaktionistisch, systemtheoretisch und gesellschaftstheoretisch, unterscheiden zu können. Zudem wurde dem Fach wenig später durch Bürgerrechtsbewegungen behinderter Menschen (z.B. die ca. ab 1980 zu datierende Krüppelbewegung) sowie durch Eltern und Angehörige, die zunehmend umfassende Partizipation statt Ausgrenzung einklagten, damit konfrontiert, systematisch Unterdrückung statt soziale Gerechtigkeit und Befreiung zu organisieren und zu praktizieren. Wissenschaftstheoretisch betrachtet treten damit Anomalien in eine Diskussion ein, die bis dahin durch „Denkkollektive“ (Fleck 1980) längst bestimmter „Leitdifferenzen“ (Luhmann 1984) bestimmt worden war. Die dabei entwickelten „Denkstile“ (Fleck a.a.O.) sind keineswegs nur durch den Gegenstand bestimmt. Immer erfolgt die Auseinandersetzung des einzelnen Wissenschaftlers mit dem Gegenstand über das Denkkollektiv vermittelt. Dem „Zeitgeist“ geschuldet gehen bestimmte Diskurse in unseren „Habitus“ (Bourdieu) ein. Sie sind einerseits blinde Flecken und richten andererseits das Denkvermögen auf Neues aus. So ist es sicherlich ebenso wenig zufällig, dass zum Zeitpunkt der französischen Revolution optimistische Programme der Anthropologie (Moravia 1989) die wissenschaftliche Dimension unseres Faches bestimmen, wie sie bei Itard und später Séguin auftauchen, dass aber andererseits ab der Niederlage der bürgerlichen Revolution von 1884/49 und insbesondere im kaiserlich-wilhelminischen Deutschland sich anthropologische Dogmen formen, die ebenso naturwissenschaftlichem Fortschritt wie demokratischem Rückschritt geschuldet sind und sich in der Konstituierung von Dimensionen der „Bildungsunfähigkeit“, „Unerziehbarkeit“ und „Unverstehbarkeit“ konfigurieren (vgl. Jantzen 1982). Und wiederum vergleichbar ist die Situation nach der russischen Revolution, innerhalb derer die Dimension der Zukunft stark die Entwicklung der Theorien im Bereich der Humanwissenschaften bestimmt: Entsprechend spielt die Dimension der Zukunft im Sinne einer „vorauseilenden Widerspiegelung“, „Modell der möglichen Zukunft“ bzw. der steuernden Rolle von Motiv und Ziel in den Theorien von Anochin, Bernstein und Leont'evs, aber zuvor schon in Vygotskijs Neuformulierung der Behindertenpädagogik (Vygotskij 1993) eine entscheidende Rolle.

VI

Vergleichbares ergibt Toulmins (1994) wissenschaftshistorische Analyse der Erkenntnisentwicklung in der Philosophie. Insbesondere auf Montaigne und Descartes bezogen bringt Toulmin humanistische und formalistische Tendenz in der Wissenschaft mit den sozialen Situationen von Krieg und Frieden in Verbindung. Paradigmen und Paradigmenwechsel drücken demnach immer zweierlei aus: (1) Sozialhistorische Übergänge im Wissenschaftsprozess auf der Basis von Anomalien, die aber auf Grund der je vorhandenen historisch bedingten blinden Flecken wahrgenommen oder nicht wahrgenommen werden, und (2) inhaltliche Übergänge in der notwendigen Verallgemeinerung des Wissens eines Faches, die jeweils dann auftreten, wenn das komplexe Wissen einer Ebene nicht mehr aus den Wechselbeziehungen dieser Ebene erklärt werden kann, wenn also Widersprüche auftreten, die nach einer neuen Erklärung verlangen. Ersichtlich hat Bleidick weit eher das sozialhistorische Auftreten von Tendenzen vor Augen, die er im Rückgriff auf Kuhn (1967) als inkommensurabel, aufeinander nicht durch Diskussion beziehbar, hyperstasiert, als die gesetzmäßige Entwicklung des Prozesses der Wissenschaft, der bei Kuhn als Entwicklung eines Theoriekerns aufscheint. Und nicht nur dies, aus einem historiographischen Begriff der Wissenschaftsgeschichte wird „ein moralisch hoch geladener Schlachtbegriff der aktuellen Auseinandersetzung. Ein deskriptiver Begriff wird präskriptiv gebraucht“ (Hillenbrand 1999, 245). Insofern müsste eine Wissenschaftsgeschichte der Behindertenpädagogik, so Hillenbrand (ebd.), den Paradigmabegriff verwerfen, wenn die „verdrängte, jedoch nachweisbare Kontinuität des Integrationsgedankens ... bis heute anerkannt wird“. Genau dies Herangehen aber reduziert Paradigma auf eine bestimmte Haltung der Wissenschaft zu ihrem Gegenstand, ohne dessen Gesetzmäßigkeiten als (relativ) unabhängig vom Akt der Erkenntnis zu rekonstruieren. „Für Kuhn besitzen die in einer Theorie behandelten Objekte keine Existenz unabhängig von dieser Theorie“ so Hillenbrand bezogen auf Kuhn (ebd.). Wenn aber für eine Historiographie der Behindertenpädagogik Integration von Anfang an als durchgängiges Paradigma existiert, wird lediglich das soziale Verhältnis zum Objekt (humanistisch vs. formalistisch; Integration vs. Sonderpädagogik), nicht aber das Objekt selbst als unabhängig von der Theorie artikuliert. Es bleibt als Objekt ein bestimmtes, ohne je ein bestimmendes, also Subjekt werden zu können. VII

Folgen wir Toulmins Überlegungen jedoch über die sozialhistorische Seite der Entwicklung hinaus, so stoßen wir auf eine naturwissenschaftlicherkenntnistheoretische Argumentation, die in den Mittelpunkt eines Paradigmawechsels ein neues „Ideal der Naturordnung“ (Toulmin 1981) stellt. Wir müssen demnach bei der Rekonstruktion der Behindertenpädagogik als Humanwissenschaft in dieser Hinsicht ihr Herzstück behandeln: Ihre erklärenden Ideen und ihre Ideale. Welches ist das Regularitätsprinzip oder das Ideal der Naturordnung, um das herum Behindertenpädagogik als Wissenschaft aufgebaut wurde und aufgebaut werden kann? Schwankend je nach Verlauf der Zeiten zwischen „nature“ und „nurture“ wurde m.E. dreimal in der Geschichte des Faches versucht, Behindertenpädagogik nicht nur auf eine nur oberflächlich diese Zweifaktorentheorie überwindende dritte Dimension des „Persönlichen“ zu gründen (so z.B. innerhalb der Psychologie W. Stern), sondern dieses Persönliche selbst als Selbstorganisationsprozess des Psychischen unter natürlichen, und sozialhistorischen Voraussetzungen zu begreifen. Dreimal wurde hierfür eine Relation in den Mittelpunkt gestellt, die das soziale Verhältnis Behinderung konstituiert und es als Prozess der Selbstähnlichkeit auf den verschiedenen Ebenen der Analyse, biologisch, psychologisch und sozialwissenschaftlich untersuchbar macht. Dies ist die Relation der Isolation durch den Defekt (Séguin) bzw. den Kern der Retardation (Vygotskij) bzw. die (körperlich, psychisch und sozialen) isolierenden Bedingungen (Jantzen). Die von Bleidick unterschiedenen medizinischen, interaktionistischen, systemtheoretischen und gesellschaftstheoretischen Herangehensweisen, wären demnach keine Paradigmen, weder im Sinne von Kuhn noch von Toulmin. Sie würden aber auf „Einheiten der Variation“ (Toulmin 1974) verweisen, die in einen gesellschaftlichen Wandel von formalistischen zu humanistischen Tendenzen eingebettet sind, der seinerseits als Übergang von Separation zu Integration erscheint. Insofern hätte die materialistische/kulturhistorische Behindertenpädagogik tatsächlich einen radikalen Paradigmenwechsel bezogen, wie dies Feuser hervorhebt: Bleidick bliebe einem (ontologischen) Paradigma von Normalität und Ausgrenzung verpflichtet, die er vorfindet und in humanistischem Anliegen in Stückwerkstechnologie zu bewältigen versucht, Feuser und Jantzen jedoch der Ausarbeitung eines (ontogenetischen) Paradigmas von Isolation (und Dialog – so Feuser 2000) verpflichtet. Im vorliegenden Buch (S. 64) drückt sich diese Sicht vor allem im folgenden, umgewandelten Zitat von Alexander Lurija aus: VIII

„Die gesellschaftlichen (und das Individuum isolierenden) Formen des Lebens zwingen das Gehirn auf neue (pathologische) Weise zu arbeiten sie lassen qualitativ neue funktionelle (pathologische) Systeme entstehen.“ (Luria 1978, 647; Einfügungen W.J.)

Wann aber und wo ist der Ort dieses Paradigmenwechsels zu konstatieren, in dessen Kontext dieses Buch steht, das als erste Ausführung des neuen Paradigmas in Form einer Monographie seine umfangreiche Fortführung in den beiden Bänden meiner „Allgemeinen Behindertenpädagogik“ findet (Jantzen 1987, 1990; erneut 2007) sowie seine weitere Ausarbeitung in zahlreichen Buch- und Zeitschriftenpublikationen nach diesem Zeitpunkt.2 Wenn man von einem Systemprogramm der materialistischen Behindertenpädagogik sprechen wollte, so wurde dieses erstmals bei der Dozentenkonferenz 1975 in Reutlingen von mir zur Diskussion gestellt und 1976 unter dem Titel „Materialistische Erkenntnistheorie, Behindertenpädagogik und Didaktik“ publiziert. Das diesem Aufsatz vorangestellte Zitat des französischen Philosophen Lucien Sève formuliert in hervorragender Weise den Entwicklungswiderspruch, den es im Sinne der Entwicklung einer synthetischen Humanwissenschaft zu bewältigen gilt: „Sind die großen Menschen, Ausnahmen einer Epoche insofern, als die gewaltige Mehrheit der übrigen Menschen durch die gesellschaftlichen Bedingungen verkrüppelt wird, nicht in gewissem Sinn die normalen Menschen dieser Epoche, und ist der Regelfall der Verkrüppelung nicht gerade die Ausnahme, die Erklärung verlangt?“ (Sève 1972, 203)

Der auf der Arbeit von 1975 (Jantzen 1976) aufbauende Weg der Entwicklung war kein leichter. Ganz abgesehen von der nahezu völligen Ignoranz bzw. dem offenen Unverständnis großer Teile des Faches bis hin zu (meist versteckter) Verunglimpfung war es ein steiniger und z.T. einsamer Weg. Bei den beiden neurowissenschaftlichen Kapiteln der Allgemeinen Behindertenpädagogik (Jantzen 1990, Kap. 7 und 8) hatte ich das Gefühl, um es metaphorisch auszudrücken, mich in der Eiger-Nordwand verstiegen zu haben, um nur auf eine Station dieses Weges zu verweisen. Dieser Weg, wie in diesem Buch durchgängig mit eigener Praxis vermittelt, führte zunehmend zu Klärung der wechselseitigen Verhältnisse unterschied2

Zu Fragen der Psychopathologie vgl. auch Jantzen & Meyer 2014.

IX

licher Theorien und Erklärungstücke, so auch in meinen Beiträgen zum Enzyklopädischen Handbuch der Behindertenpädagogik (Jantzen et al. 2009-2014) und nochmals durch die zunehmende Kenntnis der Diskussionen des Südens, durch die Arbeiten von Enrique Dussel und Boaventura de Sousa Santos, sowie in letzter Zeit Walter Mignolo und Anibal Quijano (vgl. Aguiló 2013, Aguiló & Jantzen 2014, Feuser & Jantzen 2014, Jantzen 2013, 2015), aber auch durch meine beiden Aufenthalte in Brasilien 2009 und 2010 (vgl. Jantzen 2012). Auf diesem Weg, der durch zahlreiche Humanwissenschaften führte, ging es um Ausweitung der praktischen Erfahrung, Entwicklung und Justierung eines begrifflichen Apparates, der in der Lage war, Fragen der Praxis zu durchdenken und neu zu generieren. Aber es ging auch um permanente methodologische Reflexion dieses Weges. Das vorliegende Buch liefert, so denke ich einen guten Eindruck in die Mühen des Denkens und der Praxis auf dem Weg zur „Allgemeinen Behindertenpädagogik“ und danach. Es liest sich teilweise wie ein Arbeitsjournal, so z.B. in den verschiedenen modellhaften Abbildungen, die zum Teil identisch in die „Allgemeine Behindertenpädagogik“ übernommen wurden, teilweise als erste Problemskizzen tiefgreifende Überarbeitung erfahren haben bzw. verschwunden sind. So greife ich hier z.B. noch auf eine Differenzierung von Ersten und Zweiten Signalsystem zurück (S. 23), die später keine Rolle mehr spielt, tue ich mich noch theoretisch schwer mit der Kategorie des sozialen Ausschlusses, die wenig später fest in unserem Denken justiert ist. Aber das zeigt auch, dass es niemals um irgend eine Form von Eklektizismus ging, sondern immer um das systematische Neudenken des Gesamtzusammenhangs. Wenn ich hier von unserem Denken rede, so ist dies der Arbeitszusammenhang des Studienganges Behindertenpädagogik, insbesondere vermittelt über das von Georg Feuser und mir langjährig betriebene Doktorandenkolloquium und die durchgängige Realisierung und Beibehaltung des Projektstudiums begleitet insbesondere durch das diesem Grundriss zeitlich folgende „Jahrbuch für Psychopathologie und Psychotherapie“, das von 1990- 1993 in insgesamt 11 Bänden erschien.3 3

X

In gewisser Hinsicht fand es eine Fortsetzung in den in der Regel zweimal jährlich im Eigenverlag erschienenen Mitteilungen der Luria Gesellschaft von 1994-2009, ab dann Jahrbuch der Luria Gesellschaft (Verlag Lehmanns Media, Berlin)

Geprägt ist der vorliegende Band durch vielfältige vorweg gehende Erfahrungen, unter denen ich besonders eine Italienreise 1978 zusammen mit Georg Feuser und den persönlichen Kontakt mit Franco Basaglia in Triest, mit dem Team von Arezzo, mit Ferruccio Giacanelli in Parma, mit dem Team von Perugia sowie, was den Schulbereich betraf, mit Ludwig Otto Roser hervorheben möchte. Dies spiegelt sich sowohl im Kapitel III des Buches in der Auseinandersetzung mit Normalität und Wahnsinn wider als auch in den in Kapitel IV entwickelten sieben Prinzipien allgemeiner Therapie (134ff.), vielleicht wäre es heute besser hier von sozialpsychiatrischer Arbeit in den Traditionen der Demokratischen Psychiatrie zu sprechen (zu weiteren Erarbeitung von Problemen der Psychotherapie vgl. Jantzen 1990, Kap. 12). Was meine Einschätzung der Psychiatrie allgemein betrifft, so bleibt diese zwiespältig, solange sie noch schwerpunktmäßig biologistisch, kliniks- und anstaltsorientiert stattfindet. Gerade zu regelmäßig treffe ich in diesem Bereich, sowohl im Kontext von Behinderteneinrichtungen als auch im Kontext von Psychiatrie, auf die unreflektierte Vergabe unterschiedlicher Psychopharmaka gleichzeitig nach dem Motto „viel hilft viel“, eine Praxis, die Asmus Finzen u.a. mit der Forderung „Beschränkung auf wenige Präparate“ schon 1981 kritisiert hat (Finzen 1981, 32).4 Es scheint mir, dass diese Praxis der Vielfachvergabe nicht allzu selten jener Logik des Ruhigstellens als Vorgabe von Heilung folgt, die den von Moniz5 ab 1935 praktizierten Frontalhirnzerstörungen (Lobotomie) zugrunde lag: Patienten bis zur Demenz zu reduzieren. Und die Gefahren einer längerfristigen ebenso wie einer Vielfach-Vergabe von Psychopharmaka sind erheblich (Finzen 1981, Lehmann 1996). Und ebenso regelmäßig wie auf die unreflektierte Vielfachvergabe von Psychopharmaka stößt man auf Nebenwirkungen nicht nur dieser Medikamente sondern auch

4

Bezüglich der allgemeinen Problematik von Psychopharmaka stimme ich gänzlich mit Asmus Finzen überein: „Das Medikament löst die Probleme des psychisch Kranken nicht. Aber richtig angewandt, kann es ihm dennoch helfen.“ (Finzen 1981, 5)

5

Lobotomie: chirurgische Trennung der Verbindungen zwischen Frontalhirn und Thalamus; vgl. auch die Rolle von Jack Nicholson als McMurphy in „Einer flog über das Kuckucksnest“. Der portugiesische Arzt Moniz erhielt für diese brutale Eingriffsmethode 1949 den Medizin-Nobelpreis.

XI

der verobjektivierenden Behandlung von Patient/inn/en, die leider nur allzu oft traumatisierende Folgen für den Prozess des Erlebens haben. In dieser Beziehung weiß ich mich nach wie vor einig mit Franco Basaglia, der in seinen brasilianischen Konferenzen von 1979 hierzu vermerkt: „In diesem Zusammenhang muss man festhalten, dass alle bisherigen Therapien und Behandlungsmethoden den Menschen nicht erlaubten, sich als Subjekte zu erleben. [...] Hierbei geht es nicht primär um Schuld, sondern es ist zwangsläufig die Folge einer allgemeinen Struktur, der sich die Psychiatrie nicht entziehen kann. Nur wenn es der Psychiatrie gelingt, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, indem sie aufhört, Psychiatrie zu sein, und zum Leben wird, zur Beziehung, kann der Versuch einer neuen Wissenschaft vom Menschen, eines neuen Humanismus, Form annehmen. Dieser neue Humanismus braucht jedoch auch neue Inhalte, denn die Logik des Marktes ist mit einer neuen Wissenschaft, einer neuen Vision menschlicher Beziehungen, unvereinbar. Mit anderen Worten: Eine Wissenschaft auf der alten Basis begründen zu wollen, bedeutet […] nichts anderes als das eigene Erbrochene zu essen. […] Stattdessen muss man nach dem suchen, was es den Unterdrückten erlaubt, mit eigener Stimme zu sprechen, Herr seiner Selbst zu werden. Öffnet man die Anstalt, spricht der Kranke endlich mit eigener Stimme, nicht mehr mit der, die der Arzt ihm zugesteht.“ (Basaglia 2002, 133)

Ich fand mich, als ich vor wenigen Wochen auf dieses Zitat stieß, bestätigt mit meiner Kennzeichnung dieser alten Psychiatrie im vorliegenden Buch als „Afterwissenschaft“. Man muss es so nicht formulieren oder mit Basaglia hierauf bezogen „Kotze bleibt Kotze, Scheiße bleibt Scheiße“ (a.a.O.). Dass aber der von Basaglia ebenso wie von uns geforderte neue Humanismus diametral zur verobjektivierenden, ausgrenzenden Sichtweise der alten Psychiatrie ebenso wie Heil- und Sonderpädagogik steht, dies steht außer Frage. Was dann passiert, bleibt zu erkunden. Auf jeden Fall aber gilt: „Utopisches ist [...] nicht unrealisierbar, noch ist es Idealismus. Utopie ist die Dialektisierung in den Akten des Anzeigens und Ankündigens. Der Akt, die entmenschlichende Struktur anzuzeigen, und der Akt, die humanisierende Struktur anzukündigen“ […] „Der Moment in dem jene [die Unterdrückten] diese [die „Grenzsituationen”] nicht mehr als eine Grenze

XII

zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein wahrnehmen, sondern als eine Grenze zwischen dem Sein und dem Mehr-Sein, werden sie jedes Mal viel kritischer in ihrer mit dieser Wahrnehmung verbundenen Aktion.“ (Paulo Freire zit. nach Dussel 2013, 240f.).

Bliebe ein kleiner Nachtrag: Mitte der 1980er Jahre erschien eine zweite Auflage des Buches. So etwas erfreut jeden Autor. Nach kurzer Zeit war sie jedoch vom Markt verschwunden. Mehrfache Anfragen beim Verlag und der Verlagsleitung erbrachten keinerlei Antwort. Aber auch eine Nachfrage beim Nachfolgeverlag nach dem Zusammenbruch des, wie sich später herausstellte, von der DDR mit finanzierten Pahl-Rugenstein-Verlags blieb ergebnislos. Auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen während meiner Gastprofessur 1987/88 auf dem Wilhelm-Wundt-Lehrstuhl der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig liegt es nahe, eine entsprechende Intervention hinter dem Verschwinden der zweiten Auflage zu vermuten. Nach alledem, was ich heute über die DDR weiß, kann ich dies nur als Ehre betrachten. Auf diesem Hintergrund ganz herzlichen Dank an die Herausgeber der Reihe, Georg Rückriem und Hartmut Giest, dass nun eine Neuauflage erfolgen kann.

Literatur: Aguiló Bonet, A. J. (2013): Die Würde des Mülls – Globalisierung und Emanzipation in der sozial- und politischen Theorie von Boaventura de Sousa Santos. Berlin: Lehmanns Media Aguiló Bonet, A. J. & Jantzen, W. (2014): Inklusive Erziehung und Epistemologie des Südens: Beiträge zur Behindertenpädagogik. In: Behindertenpädagogik 53, 1, 4-29 Basaglia, F. (2002): Die Entscheidung des Psychiaters. Bilanz eines ebenswerks. Bonn: Psychiatrie-Verlag Bleidick, U. (1976): Metatheoretische Überlegungen zum Begriff der Behinderung. Zeitschrift für Heilpädagogik, 27, 7, 408-415 Dussel, E. (2013): Die Bewusstmachung (»concientización«) in der Pädagogik von Paulo Freire. In: Behindertenpädagogik 52, 3, 229-242 XIII

Feuser, G. (2000): Zum Verhältnis von Sonder- und Integrationspädagogik eine Paradigmendiskussion. In: Albrecht, F. u.a. (Hrsg.): Perspektiven der Sonderpädagogik: disziplin- und professionsbezogene Standortbestimmungen. Neuwied: Luchterhand, 20-44 Feuser, G. & Jantzen, W. (2014): Bindung und Dialog. In: Feuser, G., Herz, Birgit & Jantzen, W.(Hrsg.): Emotionen und Persönlichkeit. Stuttgart: Kohlhammer, 64-90 Finzen, A. (1981): Medikamentenbehandlung bei psychischen Störungen. Rehburg-Loccum: Psychiatrie-Verlag, 4. Aufl. Fleck, L. (1980): Erfahrung und Tatsache. Frankfurt/M.: Suhrkamp Hillenbrand, C. (1999): Paradigmenwechsel in der Sonderpädagogik? Eine wissenschaftstheoretische Kritik. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 50, 5, 240-246. Jantzen, W. (1976): Materialistische Erkenntnistheorie, Behindertenpädagogik und Didaktik. In: Demokratische Erziehung 2, 1, 1529 Jantzen, W.: (1982): Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesens. München: DJI Jantzen, W. (1987): Allgemeine Behindertenpädagogik Bd. 1. Sozialwissenschaftliche und psychologische Grundlagen. Weinheim: Beltz (2. Aufl. 1992) Jantzen, W. (1990): Allgemeine Behindertenpädagogik Bd. 2. Neurowissenschaftliche Grundlagen, Diagnostik, Pädagogik und Therapie. Weinheim: Beltz. Jantzen, W. (2005): Methodologische Aspekte der Behindertenpädagogik als synthetische Humanwissenschaft. In: Horster, D. et al. (Hrsg.): Sonderpädagogische Professionalität. Wiesbaden: VS, 69-85. Erneut in: Schriften zur kulturhistorischen Psychologie. E-Journal Tätigkeitstheorie – Journal für tätigkeitstheoretische Forschung in Deutschland. Heft 11. Berlin: Lehmanns Media 2014 http://www.uni-potsdam.de/u/grundschule/ giestweb/wb/media/download_gallery/heft_11.pdf Jantzen, W. (2007): Allgemeine Behindertenpädagogik Bd. 1 und 2. Unveränderter Nachdruck. Berlin: Lehmanns Media

XIV