Gott schläft in Masuren - PDFDOKUMENT.COM

Aber er hat Unruhe über unser Dorf gebracht. Wenn er Alkohol trank, sah er ... Seine Hände waren unruhig, als wollte er Feuer legen. Es hat niemand gegeben, ...
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Hans Hellmut Kirst

Gott schläft in Masuren Roman

Kommunikations- und Verlagsgesellschaft mbH

ISBN 978-3-942932-02-8

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Hans Hellmut Kirst

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»Du wirst deinen Mund halten, Frieda«, sagte der schwere Mann, der beim Frühstück auf der Terrasse saß. »Reden macht die Toten nicht lebendig. Wir wollen ihn in Ruhe lassen, damit wir hier in Ruhe leben können. Hast du mich verstanden?« »Ich heiße nicht Frieda«, sagte die Frau, die ihm gegenüber auf der Kante eines Stuhles hockte. »Ich heiße Elfriede.« Der schwere Mann verzog sein Gesicht und lachte lautlos. Er belud seine Gabel mit Rührei und führte sie zum weitgeöffneten Mund. Er verschluckte sich nicht; nur das rhythmische Wippen seines Bauches hörte auf. Er kaute mit Genuß und betrachtete dabei nahezu liebevoll den Räucherschinken, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Hast du mich verstanden?« fragte der Mann abermals. Und als die Frau keine Antwort gab, fügte er gedehnt, nach geringer Pause, sanft fordernd hinzu: »Elfriede?« »Was willst du eigentlich von mir, Leberecht?« fragte die Frau. »Du hast es ja nicht getan! Während es geschah, warst du mit mir im Garten.« »Und weil ich mit dir im Garten war«, sagte der dicke Mann und säbelte aufmerksam an seinem Räucherschinken herum, »kannst du getrost Johann zu mir sagen.« Johann Leberecht blinzelte ihr zu, hob eine dicke, rosige Scheibe Schinken hoch und hielt sie ihr entgegen. »Du kannst deine Schweine alleine aufessen«, sagte Elfriede Materna und lehnte sich zurück. Wieder lachte der schwere Mann lautlos. »Das ganze Dorf frißt meine Speisekammern leer. Ich habe mich langsam daran gewöhnt, alle Mägen von Maulen zu füllen. Du brauchst dich nicht zu zieren.« »Habe ich mich jemals geziert?« fragte die Frau und sah ihn voll an. »Nein«, sagte Johann Leberecht, der Gutsbesitzer, und seine blanken Augen wurden klein, als blende sie die Morgensonne. »Auch damals im Garten nicht.« »Auch damals nicht«, sagte Elfriede Materna hart. »Sie haben ihm den Schädel gespalten, und ich war mit dir im Garten.« Leberecht nickte gewichtig und sah dabei prüfend auf die fettblanken Würste, die in der Schale vor ihm lagen. »So ist das«, sagte er. »Der eine liebt, der andere stirbt, einer schläft, ein anderer trinkt sich besinnungslos – und alles geschieht in der gleichen Sekunde.« Er spaltete ein Stück Wurst ab und warf es seiner Dogge zu, die neben ihm lag und mechanisch ihren Rachen aufklappte. »Ich habe gestern ein Kalb geschlachtet. Und die Kuh, der das Kalb gehörte, stand zur gleichen Zeit brünstig auf dem Hof und ließ sich bespringen.« »Wir sind keine Tiere.« »Nein«, sagte Leberecht gedehnt. »Wir sind Menschen. Das ist oftmals schlimmer.« Er sah über den vollbeladenen Tisch, an Elfriede Materna vorbei, in den Garten hinein, wo die Morgensonne den Nachttau auftrocknete. Auf den weiten Feldern stand das Korn; die Halme trugen schwer. Wälder wanden sich wie Kränze um die Äcker. Das Land lag breit und behäbig da. Die Sonne warf sich brütend darauf. »Wir leben im letzten der Menschheit noch verbliebenen Winkel des Paradieses«, sagte er. »Wir müssen uns das bewahren.« »Das soll ein Paradies sein?« fragte die Materna robust. »Das ist eine Mörderhöhle!« Der dicke Mann sah sie lange prüfend an, und in seine Augen trat ferne Trauer. »Elfriede«, sagte er, »du bist hier aufgewachsen. Du bist hier geboren worden; neunzehnhundertfünf, glaube ich, vor achtundzwanzig Jahren. Deine und auch meine Welt beginnt hier und ist auch hier zu Ende; sie reicht, wenn wir sehr weit greifen, höchstens bis nach Allenstein. Es ist unsere Welt, Elfriede. Wir wollen hier in Ruhe leben.« »Und in aller Ruhe schlagt ihr Menschen tot!« »Du warst es, die ihn hierher geschleppt hat«, sagte der Gutsbesitzer ruhig. »Du hast ihn geheiratet, und er hat dich geschlagen; du hast für ihn gearbeitet, und er ging zu anderen Frauen.« »Was geht dich das an? Ich bedauere, daß ich dir das jemals gesagt habe. Warum ließ man mich nicht leben, wie ich wollte? Es ist mein Leben! Ich kann damit machen, was ich für richtig halte.« 1

»Gewiß. Aber er hat Unruhe über unser Dorf gebracht. Wenn er Alkohol trank, sah er Blut; und er war oft betrunken. Seine Hände waren unruhig, als wollte er Feuer legen. Es hat niemand gegeben, den er in seine Augen sehen ließ.« »Aber ich bin seine Frau!« »Er liegt seit Monaten unter der Erde; der einzige Ort, wo er Ruhe findet.« »Nun gut – ich war seine Frau; aber du bist sein Mörder!« »Ich bin nicht gewalttätig«, sagte der dicke Mann; und er schien traurig über das zu sein, was er sagte. »Ich habe oft auf ihn eingeredet, aber er war unbelehrbar. Allein deinetwegen habe ich ihn unter meinen Schutz gestellt, doch er glich einem reißenden Tier. Als ich meine Hand von ihm wegzog, starb er.« »Du gingst mit mir in den Garten, weil du wußtest, daß sie ihn auf dem Tanzboden erschlagen würden. Du lagst mit mir zusammen, und dabei dachtest du: Jetzt, jetzt werden sie ihn umbringen.« »Habe ich dich gezwungen?« »Nein.« »Hast du jemals erlebt, daß ich Dinge tue, zu denen es mich nicht drängt?« »Nein.« »Gab es Augenblicke, in denen du den Tod deines Mannes gewünscht hast?« Elfriede Materna antwortete nicht. Sie zog das dünne Tuch, das sie um die Schultern trug, über der vollen Brust zusammen. Sie starrte auf die gescheuerten Bodenbretter, über die weißer Sand gestreut war. Ein dumpfer Geruch aus Fäulnis und Wasser stieg zu ihr hoch. »Wir alle«, sagte Johann Leberecht, »haben manchmal Stunden, in denen wir morden könnten; und gar nicht selten sind wir es selbst, den wir morden möchten. Das machen die heißen Sommertage, die in unserem Blut kochen; oder die langen Winternächte, die uns um den Schlaf bringen. Wir wissen, daß auch wir wie die Tiere Triebe haben. Wir sind inmitten der Natur und damit Gott nahe. Wir wissen noch um die Funktion der Schöpfung – oder wir ahnen sie doch wenigstens.« »Was willst du von mir?« »Als ich damals, in jener Nacht, mit dir in den Garten ging, dachte ich nur an dich.« »Ich bin nicht die einzige.« »Damals dachte ich nur an dich! Was ich auch immer tun mag – es geschieht nur, weil alles in mir danach verlangt. Es wird zur Natur. Wir hier, im letzten Winkel dieser Erde, wir leben noch im Schoß der Allmacht. Und ich will, daß wir noch lange so leben können. Es ist ein schweres Glück – aber es ist Glück. Ich lasse mir das nicht zerstören!« Leberecht legte seine Hände vor sich auf den Tisch. Sie waren schwer und stark; die Adern traten an ihnen hervor. Es war, als verberge er unter ihnen ein Kleinod, das er nicht freigeben wolle. Aber unter diesen Händen war nur das nackte Holz. Die Frau erhob sich. Der leuchtend blaue Himmel umrahmte ihr braunes Gesicht. Ihre Brust trat hervor, und sie neigte sich ihm entgegen. »Leberecht«, sagte sie ruhig, »dir gehört das ganze Dorf und alle Ländereien ringsherum; die Männer hören auf dich, und mit den Frauen kannst du machen., was du willst. Aber mich, Leberecht, mich hast du nicht gekauft!« Johann Leberecht streckte sich, dabei ein wenig ächzend, in seinem Stuhl aus und sah zu ihr hoch. »Ich hätte mich mehr um dich kümmern sollen«, sagte er, »nicht nur damals, in jener Nacht.« »Sie wird sich nicht wiederholen.« »Ich weiß es.« »Für dich nicht, und für niemanden.« »Ich wünsche dir das nicht«, sagte der Gutsbesitzer. »Du sollst leben und lieben, Elfriede. Bei uns. Du trinkst die Milch von unseren Kühen, dein Magen verdaut, was auf unseren Feldern wächst, die Luft unseres Landes steckt in allen deinen Poren – du bist auf unserem Acker gewachsen. Vergiß das nicht. Und wer dich lieben will, der muß mit beiden Beinen auf dieser Erde stehen, der muß hier leben können und auch hier sterben wollen. Er muß sich wie ein Saatkorn fühlen, muß ein Baum werden, den man nicht mehr verpflanzen kann.« »Was willst du damit sagen?« 2

»Gieß uns einen Schnaps ein«, sagte der Gutsbesitzer und bewegte seine fleischige Hand in die Richtung, wo eine Kruke voll Getreidekorn stand. »Das wird uns verdauen helfen – das, was ich gegessen habe, und das, was in deinem Kopf festklebt.« Elfriede Materna nahm das gefüllte Gefäß aus Ton, entkorkte es und kippte es über zwei große Gläser. Die weiße, klare Flüssigkeit erfüllte die Morgenluft mit scharfem Geruch. Johann Leberecht atmete tief durch Mund und Nase. Er schnaufte voll Behagen. Er hob das Glas gegen die Sonne und lächelte ihr zu; dann legte er den Kopf zurück und ließ den Schnaps langsam in sich hineinfließen. Er schüttelte genußvoll seinen massigen Körper, und der Stuhl unter ihm ächzte. »Wir sind hier glücklich«, sagte er, »Miteinander. Man muß in uns aufgehen, oder man wird absterben. Wir leben, abseits der Straßen und fern von den Städten, in unserer eigenen Welt. Und wir leben gut. Das soll so bleiben. Tu, was du kannst, damit es so bleibt.« Und er lauschte auf das fröhliche Gebrüll der Kühe, die sich zur Weide schaukelten; sie stießen mit ihren steifen Beinen den Staub hoch, der sich über den Garten legte. Die Dogge zu den Füßen des Gutsbesitzers hob den Kopf und legte ihn sanft gegen seine Hand, die herunterhing. »Was soll ich tun?« fragte Elfriede Materna. »Den Mund halten! Du weißt nur, daß er tot ist; sonst nichts. Du hast niemals etwas gehört von Vermutungen, Verdächtigungen und solchen Dingen. Er ist tot; das ist alles. Du beantwortest also keinerlei Fragen.« »Es stellt niemand Fragen.« Er erhob sich schwer. »Wir bekommen einen neuen Gendarmen nach Maulen. Der alte hat mehr gesoffen, als er vertrug; er wird frühzeitig pensioniert. Als Amtsvorsteher weiß ich ungefähr, was in den Hirnen des Landrats und seiner Trabanten von der Kreisverwaltung vor sich geht. Es ist damit zu rechnen, daß sie den Neuen scharfmachen werden. Und möglich sogar, daß es einer von der Sorte ist, den man erst gar nicht scharfzumachen braucht.« Sie sah ihn fest an. »Du hast Angst?« »Stimmt«, sagte Leberecht. »Ich habe Angst – um ihn. Er weiß nicht, was ihm blüht, wenn er hier Schwierigkeiten macht. Und ich will auch nicht, daß du zum zweitenmal in eine Sache hineingerätst, bei der es keine Zwischenlösungen mehr gibt. Möglich, daß du dann mit heiler Haut nicht mehr herauskommst.« Der Zug erreichte, wie fahrplanmäßig vorgesehen, pünktlich um sieben Uhr neununddreißig die Station Martinswalde. Die Lokomotive gurgelte gelangweilt und stieß Dampf aus. Drei Personen verließen ihre Abteile. Der Gendarmeriehauptwachtmeister Thiele sprang als erster auf den Bahnsteig. Er trug einen Tschako und legte grüßend seine Hand an. Der Bahnhofsvorsteher von Martinswalde, der einzige diensttuende Beamte, der hier zugleich Kartenverkäufer, Weichensteller und Kontrolleur war, achtete nicht auf diese wohlgelungene Demonstration militanter Höflichkeit; er stellte sich breitbeinig in Positur, befingerte kurz sein unrasiertes Kinn und machte Anstalten, den Zug abzupfeifen. »Erlauben Sie«, sagte der Gendarm Thiele gemessen und unverbindlich. »Zuerst mein Pferd.« Der Bahnhofsvorsteher brummte unverständlich vor sich hin und klemmte sich unwillig den Winkerstab unter den Arm. Er legte die rote Mütze auf den Rollwagen, der einsam auf dem Bahnsteig stand, und knöpfte seinen Rock auf. »Ein Pferd haben Sie also auch«, sagte er. Paul, das Pferd, also benannt zu Ehren des zur Zeit amtierenden Reichspräsidenten und ehemaligen Heerführers, wurde umständlich entladen, während von den neun Passagieren des Zuges vier gelangweilt zusahen. Der Gendarm überprüfte sachverständig seinen Braunen; er überzeugte sich mit sicheren Griffen vom Sitz des Sattels und des Zaumzeuges, wobei er mehrmals kurz nickte. Dann wandte er sich an den Bahnhofsvorsteher, Rangiermeister und Schaffner, legte erneut seine Hand grüßend an den Tschako und sagte: »Alles in Ordnung.« Der Vorsteher, Kontrolleur, Weichensteller und Kartenverkäufer ließ den Zug abfahren. Dann ging er, weitaus gestraffter, als es sonst seine Art war, mit leicht vorgewölbter Brust auf den Gendarmen zu. »Sind Sie etwa der Neue?« fragte er. 3

Gendarm Thiele bestieg, mit schönem Schwung, das Pferd Paul. Der Sattelgurt knarrte. Der Braune schnaubte durch die Nüstern, was nahezu verächtlich klang. »Ich übernehme den Bezirk Maulen, jawohl.« Der Vorsteher schob seine rote Mütze in die Stirn, um so gegen die Sonne abblendend besser sehen zu können. Der Mann, der auf dem Rücken von Paul saß, war stattlich von Natur, breit und gedrungen, fast kantig. Das verwaschene Dunkelgrün seiner Uniform zeigte kein Stäubchen und keinen Flecken. Das braune Koppelzeug, an dem die Pistole hing, war frisch gewichst und glänzte matt. Unter dem Tschako befand sich ein braunes, energisches Gesicht mit einem kleinen Schnurrbart. Das Kinn war ein wenig vorgereckt. Nur die blauen Augen glänzten überraschend friedlich. Gendarm Thiele würdigte den Bahnhofsvorsteher keines Blickes mehr. Er zog aus dem linken Rockaufschlag eine Landkarte, schlug sie auf und begann sich zu orientieren. Er machte zunächst aus, wo Norden war; und sodann verglich er die Zeichnungen mit dem Gelände. Er sah die Chaussee entlang, zu den sanft aufsteigenden Hügeln hin, auf denen Wälder standen. Dort hinten also, neun Kilometer entfernt, lag Maulen. »Los, Paul!« befahl der Gendarm. Und gehorsam setzte sich das Pferd in Bewegung und stampfte kleine Staubwolken aus der trockenen Landstraße. Thiele registrierte alles, was er sah. Fast schien es, als besichtige er einen Tatort. Der Bahnhof Martinswalde, so stellte er fest, aus einem Schuppen und einer Verladerampe bestehend, wo zweimal täglich ein Zug hielt, war zwar baufällig, aber immerhin, vermutlich im vorigen Sommer, frisch gestrichen worden. Geringer Verkehr. Der Ort Martinswalde, aus etwa dreißig bis fünfunddreißig Häusern bestehend, lag in eins Komma zwei Kilometer Entfernung links von der Chaussee. Erster Eindruck: vernachlässigte Bauten, Zäune und Straßen; aber dennoch offenbar arbeitsame Bevölkerung. Niemand stand tatenlos herum. Die keineswegs als gepflegt zu bezeichnende Chaussee, die voller Schlaglöcher war, bog hinter Martinswalde scharf nach rechts ab und stieg dann langsam an. Rechts und links Felder: Kartoffeln und Getreide, im Verhältnis etwa von drei zu zwei. Vereinzelte Wiesen. Wälder überall. Drei Komma sieben Kilometer nordwestlich mußte, laut Karte, ein See liegen, Wangensee genannt. In der Ferne rauchte der Schornstein einer Brennerei. Nach genau dreiundvierzig Minuten, was ein Blick auf die ererbte Taschenuhr verriet, erreichte der Gendarm Thiele auf seinem einsamen Ritt durch seinen neuen Bezirk das Dorf Seefeld, zwei Komma neun Kilometer vor Maulen. Er zählte die Häuser; es waren dreiundzwanzig. Er verglich die Aufzeichnungen, die er sich in der Kreisstadt gemacht hatte, und stellte befriedigt fest, daß sie stimmten. Seefeld, stand dort, dreiundzwanzig Häuser, siebenundachtzig Einwohner, ein Friedhof, eine Fischerei. In unverändert guter Haltung durchritt er dieses Dorf. Die grelle Sonne, die sich höher und höher schraubte, vermochte ihn nicht zu beeindrucken. Winzige Tropfen Schweiß sickerten unbeachtet in seine Kragenbinde. Paul, das Pferd, bewegte sich mit wohltuender Gleichmäßigkeit. Der große, kantige Mann sah auf die Strohdächer der kleinen Häuser hinab, ab besichtige er eine angetretene Kompanie, die er zu übernehmen gedenke. Ein Bauer schaukelte ihm auf einem Kastenwagen entgegen; zwei kleine schwarzbraune, offensichtlich wenig gepflegte Pferde zerrten an den Sielen. Der Bauer, unrasiert, mit weitgeöffnetem Hemd unbestimmbarer Grundfarbe, schien in die Luft zu starren; aber er betrachtete den Gendarmen aus den Augenwinkeln. »Ein schöner Tag«, sagte Thiele und legte die Hand an den Tschako. »Ja, ja«, sagte der Bauer und fuhr weiter. Gendarmeriehauptwachtmeister Thiele, zuletzt unmittelbar in der Nähe von Allenstein stationiert, war erfahren genug, um sich nicht zu wundern. Er kannte die Bauern des Landes, die nur der Schnaps gesprächig machen konnte oder ein falscher Handgriff bei der Arbeit, ein geschickt angelegtes Feuer, eine komplizierte Geburt im Kuhstall. Er wußte darum und rechnete von vornherein damit. Denn er besaß dienstliche Erfahrungen in Hülle und Fülle, und es hatte bisher keinen Bezirk, der ihm anvertraut wurde, gegeben, mit dem er nicht fertig geworden war. Er galt als zuverlässiger und strebsamer Beamter. Er stand kurz vor seiner Beförderung zum Meister der Gendarmerie. Maulen war die letzte Stufe auf diesem Weg. 4

Thiele lächelte karg und richtete sich, obwohl das kaum nötig war, noch ein wenig mehr auf. Das Pferd Paul keuchte jetzt schwer den kurzen Berg hinauf; und kaum war die Mitte erreicht, wurde Maulen gesichtet. »Bleib stehen, Paul«, sagte der Gendarm. Paul blieb gehorsam stehen und nickte heftig mit dem Kopf. Thiele sah sich um. Niemand war in seiner unmittelbaren Nähe; drei Menschen arbeiteten, in einer Entfernung von mehr als einem Kilometer, auf dem Felde. Der Gendarm hob mit einer sicheren, fast kraftvollen Bewegung seinen Tschako vom Schädel. Ein rotangelaufener, tiefeingepreßter Streifen zog sich um seine Stirn. Die kurzgeschnittenen Haare klebten vor Schweiß. Seine blauen Augen waren groß und sanft; und sie verschlossen sich jetzt ein wenig vor der grellen Sonne. Thiele zog ein blütenweißes Taschentuch aus seiner Hose, entfaltete und betrachtete es. Dann faltete er es wieder zusammen und steckte es weg. Er griff tief in die andere Hosentasche hinein und förderte ein blaues, erheblich zerknülltes Taschentuch ans Sonnenlicht. Hiermit tupfte er sich die Stirn, das Gesicht und den Hals ab. Dabei betrachtete er Maulen. Der erste Anblick des Dorfes, in dem er seine neue Wohnung beziehen sollte, befriedigte ihn. Maulen sah gepflegter aus als die Dörfer, durch die er bisher geritten war. Er sah sogar einige Steinhäuser, die mit Dachziegeln abgedeckt waren. Die Kirche war klein, aber weithin sichtbar. Dicht daneben befand sich, laut Lageplan, die Schule; ihr unmittelbar gegenüber stand das Diensthaus, in dem er wohnen würde und wohin er vorgestern bereits seine Tochter als Vorkommando in Marsch gesetzt hatte. Weiter rechts lag das Gasthaus mit Tanzsaal. Ganz hinten beherrschte das Gutshaus Maulen, mit Brennerei und Molkerei, mit Ställen, Scheunen und Lagerhäusern, die Landschaft. Maulen beim Wangensee, neun Kilometer von der Bahnlinie entfernt, zwölf Kilometer abseits der Hauptstraße nach Allenstein, seit 1863 als Amtsbezirk registriert. Poststation und Kirchspiel. Dreihundertsiebenundsechzig Einwohner laut Volkszählung vom vorigen Jahr, 1932. Bevölkerung; preußisch in der Gesamtheit und evangelisch zu dreiundsiebzig Prozent. Vom Rest waren katholisch vier Prozent und unbestimmter Religionsart neun Prozent; ganze dreizehn Prozent aber gehörten einer Sekte an, die ausgedehnt und immer kniend zu beten pflegte und den Alkohol mied. »Wir wollen nicht zögern, Paul«, sagte der Gendarm zu seinem Pferd, nachdem er den Tschako wieder aufgesetzt hatte. Paul trabte los, von ein paar liebevollen Schlägen auf den Hals dazu angespornt. Thiele wölbte seine Brust und zog das Kinn an. Er ritt an der Schmiede vorbei, die am Ortseingang stand. Er grüßte den Schmied mit der ihm eigenen Korrektheit und keinesfalls unfreundlich, der aber zog sich schnell zurück. Thiele lächelte nur kurz und ritt auf die Kreuzung zu. Er warf einen prüfenden Blick auf die Kirche, einen weiteren auf die Schule, aus der, wie ihm zur Begrüßung, ein Lied erklang von der Heimat, die man im Herzen trage und die man nie vergessen könne. Eine geringe Rührung drohte ihn zu überfallen; selbst Paul mäßigte sein an sich schon nicht sehr scharfes Tempo. Ein Hund unbestimmbarer Rasse wetzte über die Straße. Ein zweiter folgte ihm. Zwei weitere setzten hinterher. Das Pferd Paul schnaubte unwillig. Und der Gendarm fragte sich: Ob die wohl alle Hundesteuermarken tragen? »Gott segne dich!« rief eine krächzende Stimme von der Kirchhofsmauer her. »Ich danke«, sagte der Gendarm und legte automatisch seine Hand an den Tschako. Er blinzelte, gegen die starke Sonne, auf den Mann zu, der ihn angesprochen hatte. Langsam sank die grüßende Hand abwärts. Der Mann an der Kirchhofsmauer öffnete seinen Mund mit den vielen Zahnlücken weit und hielt eine Schnapsflasche hoch wie eine Standarte. Seine spärlichen, verfilzten Haare umstanden den Kopf wie ein Gesträuch, und der Bart wucherte wild. »Gottes Segen über dich!« rief der Mann und schüttelte dem Gendarmen seine Flasche entgegen, so daß der Schnaps Blasen schlug. »Wie heißen Sie?« fragte der Gendarm forschend. Er beugte sich, gereckt im Sattel, zurück, als müsse er dem Dunst ausweichen, der ihm entgegenströmte, obwohl der Mann an der Kirchhofsmauer, einige Meter von ihm entfernt, dastand. »Ich bin Grczesch«, sagte der Mann. »Fritz Grczesch. Aber alle nennen mich Fritschu.« »Und Sie besaufen sich am hellen Tag?« fragte der Gendarm streng. 5

Fritschu Grczesch grinste ihn freundschaftlich an. »Sich am hellen Tage besaufen ist Sünde. Ich weiß das. Und ich meide die Sünde. Ich habe mich schon in der Nacht vorher besoffen.« »Sie sind ein Trinker!« sagte der Gendarm. »Wer leben will, muß trinken«, krähte Fritschu Grczesch. »Und wer trinkt, muß Wasser lassen.« Er machte Anstalten, letzteres zu tun. Selbst das Pferd Paul wandte sich ab und setzte sich wieder in Bewegung. Der Gendarm Thiele beschloß, nichts gesehen zu haben. Er wußte aus Erfahrung, daß mit Trunkenbolden kein Staat zu machen war; Aktionen gegen sie entbehrten nicht einer gewissen Lächerlichkeit. Derartige Kreaturen erledigte ein kluger Polizeibeamter ganz nebenbei, sozusagen mit der linken Hand. Ein Mensch wie dieser war unwürdig, Gegenstand einer ersten Amtshandlung im neuen Bezirk zu werden. Doch Thiele beschloß, sich zwecks weiterer Nachforschung folgende Fragen zu merken: Wer ist Fritz, genannt Fritschu Grczesch? Warum arbeitet er nicht? Wenn er nicht arbeitet – woher hat er das Geld, sich zu besaufen ? Was treibt ihn zum Alkohol? Ist er gesprächig, wenn er Alkohol getrunken hat; und, wenn ja, was kann er erzählen – insbesondere in punkto Materna? Er ritt auf das kleine, zweistöckige Haus zu, das der Kirche und Schule schräg gegenüberlag und vor dem ein Schild mit einem Adler prangte, der von einer Schrift eingerahmt war, die besagte: Preußische Gendarmerie – Gendarmerieposten Maulen. Paul wieherte. Die Tür des Hauses öffnete sich, und Eva, die Tochter des Gendarmen Thiele, lief ihm entgegen. »Vater!« rief sie. »Gut, daß du da bist. Es ist schön hier.« Der Gendarm sprang vom Pferd, ging leicht in die Kniebeuge und straffte sich dann. Er übergab Paul seiner Tochter. Er tätschelte ein wenig, vorsichtig-liebevoll, ihre vollen Wangen. »Alles in Ordnung?« fragte er sodann. »Alles«, sagte sie eifrig. Und sie fügte hinzu: »Nicht wahr, Vater – es ist schön hier.« »Das«, sagte der Gendarm, »wird sich erst noch herausstellen.« Der Pfarrer Bachus bewegte sich umständlich auf das Gutshaus zu. Seine Hamsterbacken schaukelten. Der schwarze Rock hing schlaff an seinem Körper herunter. Nur der Spitzbauch wölbte sich unternehmungslustig hervor und straffte die Hose. Sobald Bachus aber sprach, wirkte er würdig. Er verkündete an der Tür des Gutshauses sein Verlangen, Herrn Leberecht zu sprechen; und zwar, wenn möglich, sofort. Es wurde ihm bedeutet, Herr Leberecht sei im Pferdestall, und zwar bei der Stute Rosa, die fohlen wolle. Pfarrer Bachus äußerte erst gar nicht den Wunsch, Frau Leberecht seine Aufwartung machen zu dürfen; er wußte, daß sie immer, wenn er sich anmeldete, vorgab, krank zu sein, und daß diese Krankheit von der Sekte Mosis herrührte. Sie war also ein verirrtes Schaf; aber das nahm er nicht sonderlich tragisch. Die Zeiten waren lange vorbei, wo er noch um labile Seelen kämpfte. Jetzt war ihm die Hauptsache, daß die sonntägliche Kollekte gute Einnahmen brachte, daß der Pachtzins für die Pfarräcker rechtzeitig einlief und daß Gutsbesitzer Leberecht nicht knauserig war. Und Leberecht war der Kirche und seinem Pfarrer zugetan. Als er Bachus im Pferdestall bemerkte, winkte er ihm zu. »Kommen Sie, Pfarrer«, sagte er. »Setzen Sie sich auf die Futterkiste; Im Eimer steht eine Flasche Schnaps.« »Ich wollte mit Ihnen die Sonntagspredigt besprechen, Herr Leberecht.« Der Gutsbesitzer zeigte sich nicht im mindesten verwundert; er empfand den soeben vorgetragenen Wunsch als selbstverständlich. In Bachus war ein starkes Bedürfnis nach Obrigkeit. Er wollte, wie die Bibel es befahl, dem Kaiser geben, was des Kaisers ist; in Ermangelung eines solchen hielt er sich an Leberecht, der keinerlei Veranlassung sah, diesen geistlichen Irrtum aufzuklären. Leberecht tätschelte liebevoll der trächtigen Stute die Flanken. Das Tier mit den großen, schwermütigen Augen neigte den Kopf zu ihm hin. »Sie kann nicht fohlen, das arme Tier«, sagte Leberecht. »Seit zehn Stunden will die Gebärmutter ausstoßen, aber das Tier sträubt sich dagegen. Es schämt sich.« »Vor Ihnen?« fragte Pfarrer Bachus. Er ließ sich auf die Futterkiste nieder und erwartete, daß sein humorvoller Einwurf mit einem gutsherrlichen Lächeln quittiert werde. Aber Leberecht beachtete ihn nicht. 6

»Stuten sind empfindsamer als Weibsbilder, besonders wenn es edle Stuten sind. Bei einer Frau kann eine ganze Klinik zuschauen. Aber meine Rosa will nicht einmal mich dabeihaben. Und wenn Sie nicht bald gehen, Pfarrer, verzögert sich die Geburt noch mehr.« »Ich wollte nur wissen, ob Sie besondere Wünsche für die Sonntagspredigt haben.« »Predigen Sie nur, was Ihnen richtig erscheint. Allgemeine Lebensregeln, Hinweise auf ein besseres jenseits und Diverses über Vaterlandsliebe – das Übliche also. Flechten Sie diesmal vielleicht ein, daß ich mir wilde Holzdiebstähle verbitte.« »Jeder Diebstahl ist Sünde. Wenn jemand wider die Gebote...« »Nicht gleich so scharf schießen, Pfarrer. Die biblischen Anordnungen sind doch keine Polizeigesetze. Sie wissen, wie ich darüber denke. Wenn einer hungert, wird er was zu essen bekommen – und wenn keiner da ist, der es ihm gibt, soll er es sich nehmen. Wenn einer friert, kriegt er Holz. Wir sind keine armen Leute. Ich will nur nicht, daß die Kerls Raubbau betreiben. Wer einen Baum ohne Erlaubnis umlegt, dem lasse ich den Arsch vollhauen.« »Ich werde das verkünden.« Bachus nickte bereitwillig. »Und was werden Sie Ihren Schäfchen sonst noch auf die Seele binden? Sie machen ganz den Eindruck, als gedächten Sie diesmal Ungewöhnliches zu verkünden.« Und in seine Augen trat prüfende Kühle, als er Bachus lebhaft nicken sah. »Ich gedenke, gegen die Nazis vom Leder zu ziehen. Sie machen sich langsam überall breit. Seit den paar Monaten, die sie an der Regierung sitzen, reißen sie ihre Fressen auf, daß es manchmal sogar bis hierher zu hören ist. Wir können uns auf die Dauer Derartiges nicht bieten lassen. Solches muß einmal gesagt werden. Das ist doch wohl ganz in Ihrem Sinne?« »Trinken Sie einen Schnaps«, sagte Leberecht, »und hören Sie mir dann genau zu.« Er ließ sich dicht neben seiner Stute auf einen Ballen Stroh nieder. Er ächzte ein wenig und schob die Beine auseinander. Seine Hand strich zärtlich über den prallgefüllten Bauch des Pferdes. Pfarrer Bachus entkorkte die Flasche, setzte sie an und trank kräftig. Dann korkte er die Flasche wieder zu und warf sie, mit geübtem Schwung, dem Gutsbesitzer hin. Der trank ebenfalls. »Was diese Nazis anbelangt«, sagte Leberecht sodann, »so spüre ich, daß sie versuchen, ihre Dreckpfoten auch nach uns auszustrecken.« »Und gerade deshalb müssen wir ihnen kräftig auf die Finger klopfen.« Leberecht winkte ab. »Sie sind für einen Barrikadenkämpfer zu friedlich, Pfarrer, und ich bin dafür nicht dumm genug. Wir können einem Stänkerer das Fell gerben, einen Randalierer in den Teich werfen, Verleumder in Jauche baden und dann mit Mehl pudern – das und Ähnliches haben wir alles schon ausprobiert.« »Es soll sogar schon vorgekommen sein, daß einem, der unser Dorf umkrempeln wollte, das Lebenslicht ausgeblasen wurde«, sagte der Pfarrer in einer Art vorsichtiger Empörung. »Ich empfehle Ihnen«, sagte Leberecht kalt, »derartige Vermutungen zu verschweigen.« »Ich gab zu bedenken.« »Es ist gut, Herr Pfarrer. Aber vergessen Sie nicht, daß in solchen Fällen ich für das ganze Dorf zu denken pflege.« »Sie wissen, daß Sie sich auf mich verlassen können«, versicherte Bachus mit Haltung, und seine wunderbare Singstimme erfüllte den leeren Pferdestall, und es klang wie ein feierlicher Schwur. »Für die Obrigkeit, die für uns eintritt, treten wir auch ein. Auch staatliche und kommunale Ordnungen sind gottgewollt, ebenso wie Besitz und Einfluß der einen und die Armut und Bedeutungslosigkeit der anderen. Habe ich mich nicht immer danach gerichtet?« Die Augen von Leberecht glänzten, aber in seinem fülligen Gesicht verzog sich keine Miene. »Um noch einmal auf die bewußte Angelegenheit zurückzukommen: ich kann die ganze Gegend verarmen lassen; ich kann, wenn ich will, das Gasthaus schließen; ich kann die Versetzung des Lehrers betreiben und sogar einen anderen Pfarrer anfordern; ich kann Wege sperren, Brunnen zuschütten und die Fische im Wangensee mit Dynamit an die Oberfläche sprengen. Das alles kann ich. Aber ich kann nicht mit einem ganzen Staatsgebilde Fußball spielen.« »Ich verstehe, Herr Leberecht. Ich werde also die Nazis lieber nicht erwähnen.« 7

»Sie verstehen mich gar nicht«, sagte der Gutsbesitzer und streichelte wieder den Bauch seiner Stute. »Sie sollten die Nazis erwähnen, und zwar positiv; Sie können dabei getrost über sie denken, was Sie wollen.« »Ich soll für diese Ausgeburten der Hölle von der Kanzel herab werben?« »So ungefähr. Und dann erklären Sie bitte, daß auch Sie Ihren Eintritt in die Partei beschlossen haben.« »Ich? Auch? Wieso?« Bachus sprang von der Futterkiste herab. Häcksel hing an seinem schwarzen Gewand, und eine Schicht Kleie hatte sich über seine Schuhe gelegt. »Herr Leberecht«, rief er, »ich begreife Sie nicht. Über zwanzig Jahre leben wir hier beisammen in diesem Dorf. Ich habe Sie am Anfang nicht verstanden, dann aber habe ich erkannt, was Sie wollten, und eingesehen, daß es ein Segen für das Dorf war. Unser Maulen liegt, von Sandflächen umgeben, auf einem riesigen Klumpen fetten Bodens. Wir sind ein reiches Dorf. Und unser Reichtum liegt in Ihren Händen. Sie wollten, daß jeder hier so leben kann, wie er will, daß er tun und lassen kann, was ihm gefällt. Brot für alle ist da, Schnaps auch, die Arbeit ist nicht übermäßig schwer – wir sind glücklich. Nur wenn einer unser schönes, ruhiges Leben abseits der Welt sprengen will, dann jagen wir ihn aus dem Tempel. Ist das nicht so?« »Richtig.« »Und warum wollen Sie uns den Nazis ausliefern?« »Brüllen Sie hier nicht herum, Bachus, Sie machen mein Pferd scheu. Im übrigen liefere ich mich nicht aus, ich komme nur den Nazis zuvor. Wir organisieren hier den Nationalsozialismus auf unsere Weise. Wir gründen eine Ortsgruppe und machen dann, was wir wollen. Ich habe meinen Eintritt in die Partei bereits erklärt. Der zuständige Bonze in Allenstein weinte fast vor Rührung. In einigen Wochen haben wir hier wunschgemäß eine Ortsgruppe gegründet, und dann kann uns die ganze Partei am Arsch lecken.« »Und wer wird Ortsgruppenleiter?« »Wir werden dafür schon einen geeigneten Idioten finden.« Pfarrer Bachus ließ sich wieder auf die Futterkiste nieder. Er fing die Schnapsflasche auf, die ihm der Gutsbesitzer zuwarf; und die Sicherheit, mit der das geschah, ließ auf lange Übung schließen. Er trank und war bemüht, seine Gedanken zu ordnen. »Haben Sie schon den neuen Gendarmen gesehen?« erkundigte sich Leberecht. »Gesehen schon.« »Was macht er für einen Eindruck?« »Fromm scheint er nicht zu sein.« »Ach was! Liebt er den Alkohol? Raucht er? Sieht er den Weibern nach? Hat er irgendwelche Laster?« »Er hat eine Tochter. Sie führt ihm den Haushalt. Seine Frau scheint schon lange tot zu sein.« »Was ist das für eine Tochter, Bachus? Eine Schreckschraube?« »Mitnichten. Das, was man hier ein strammes Mädchen nennt. Sie trägt Zöpfe, ist siebzehn und voll entwickelt.« Gutsbesitzer Leberecht hörte auf, seine Stute zu streicheln. »Woher wissen Sie das so genau?« Der Pfarrer lächelte ungekränkt; er hatte sich im Verlauf der Jahre an die handfeste Betrachtungsweise von Leberecht gewöhnt; und außerdem lebte er ja schließlich mit offenen Augen und Ohren an einem der wenigen Punkte dieser Erde, wo noch alles unverfälschte Natur war; der Herr hatte es so eingerichtet, und es war gut so. »Mein Sohn hat mir das erzählt«, sagte er. »Ihr Sohn«, sagte Leberecht, »arbeitet zuwenig. Sie lasten ihn nicht aus. Er hat die Hände von Stadtbewohnern – sie sind weich, und sein Hirn scheint es mir auch zu sein. Er kommt zu leicht auf dumme Gedanken.« »Das Mädchen lief ihm über den Weg. Wie Sie wissen, wohnt der Gendarm in unserer Nähe. Es handelt sich also sozusagen um nachbarliche Fühlungnahme.« »Passen Sie genau auf, Bachus. Ich will keine Komplikationen. Wenn der neue Gendarm der Mann ist, für den ich ihn nach den mir zugegangenen Informationen halten muß, wird er wie ein Vulkan ausbrechen, wenn Ihr Sohn hinter seiner Tochter her ist, ohne ihr gleich die Ehe zu versprechen. Ich kenne diese Väter ohne Frau; sie lieben ihre Tochter wie das eigene Leben, manchmal sogar wie ihre Laufbahn. Oder sollte etwa die Kleine schon ihre Erfahrungen haben?« »Mein Sohn glaubt das nicht.« 8

»Bachus, wenn Ihr Sohn das etwa leichtfertig ausprobiert – und ich weiß, daß er überall herumspringt –, dann mache ich Sie persönlich haftbar.« »Sie sind doch sonst nicht so«, sagte Bachus mit milder Ironie. »Stimmt«, sagte Leberecht mit starker Stimme. »Sonst bin ich nicht so. Aber der neue Gendarm ist für uns ein fremder Mann. Wir müssen erst sehen, wie er sich entwickelt. Wir können ihn nicht mit Gewalt zu unserer Lebensweise zwingen. Findet er den Weg zu uns – herzlich willkommen! Wird er aber abgeschreckt – und so eine blutjunge Tochter ist ein gefährlicher Punkt –, dann kann es sein, daß er den Anschluß verpaßt. Das muß vermieden werden. Wir haben Probleme genug, die uns zu schaffen machen.« Der Gutsbesitzer erhob sich wieder. Er nahm den Kopf seiner Stute unter die Arme und legte sein fleischiges Gesicht auf die heiße Stirn des Tieres. Seine starken Hände glitten mit großer Zärtlichkeit über das schweißnasse Fell. Pfarrer Bachus erhob sich und verließ den Stall. Er blinzelte himmelwärts. Und die grelle Sonne tat seinen schwachen Augen weh. Nicht nur Energie zeichnete den Gendarmen Thiele aus, auch Planmäßigkeit und nüchterne Überlegung; Eigenschaften, die er als Beamter in schwierigen Bezirken gesammelt und ausgebildet hatte. Er konnte Beschimpfungen über sich ergehen lassen, ohne dabei rot zu werden; wenn er sich in Schlägereien dienstlich einmischen mußte, tat er das kaltblütig und ohne persönliche Anteilnahme. Nur Vorgesetzten gegenüber fühlte er sich unsicher und wurmte sich deshalb. Im übrigen war er bemüht, stets so zu handeln, als seien die Augen der gesamten Einwohnerschaft des ihm anvertrauten Bezirkes ausschließlich auf ihn gerichtet. Ob große Dunkelheit oder sengende Hitze – er war stets vorschriftsmäßig uniformiert. Noch wenn er auf dem Lokus saß, war seine Haltung einwandfrei. Er setzte sich an den Küchentisch und ließ sein karges, kräftiges Mahl auftragen. Im engsten Familienkreis, also dann, wenn lediglich seine Tochter anwesend war, leistete er es sich gelegentlich, den Rock auszuziehen, wobei er jedoch niemals vergaß, das Hemd bis zum Hals zuzuknöpfen. Eva, die Tochter, setzte sich zu ihm und nickte ihm fröhlich zu. »Hoffentlich wird es dir schmecken!« sagte sie. »Es wird mir schmecken«, stellte der väterliche Gendarm fest, »denn ich weiß, daß du ein tüchtiges und wohlerzogenes Kind bist.« Er liebte es, mit Anerkennung nicht zu sparen, vermied es aber, Lob auszuteilen. Er versuchte planmäßig, ihren Ehrgeiz besonders zu wecken, und bezeichnete das als Erziehung. Das »Kind« lächelte zögernd und respektvoll. Einfarbige grobe Leinenkleidung verbarg ihre wohlproportionierte Fülle geschickt. Sie vermied es, die Brust herauszustrecken, denn sie war einmal deshalb getadelt worden, mit dem Hinweis, daß das Vorwölben der Brust Männern, insbesondere Soldaten, vorbehalten sei. Es gab Graupen mit Rindfleisch; und der Vater löffelte das dicke Eintopfgericht mit schöner Regelmäßigkeit, ohne zu verraten, ob er Genuß dabei empfand. Nach dem ersten Teller verlangte er eine Flasche Bier zu trinken, was durchaus ungewöhnlich war. Eva eilte in den Keller; sie wußte, daß er eine prompte Ausführung seiner Anordnungen als selbstverständlich empfand, wobei noch wichtig war, daß auf Exaktheit und Kürze gleichermaßen Wert gelegt wurde. Sie polierte die Flasche blank, griff nach seinem Lieblingsglas, das im Küchenschrank jederzeit griffbereit vorne links zu stehen hatte. Er ließ das Bier sorgfältig hineinrinnen und trank behutsam. »Nicht schlecht«, sagte er dann. »Kräftig gebraut. Bei wem kaufst du ein?« »Bei Wengler.« »Ist er der einzige Kaufmann am Ort?« »Nein. Es gibt noch einen anderen. Der heißt Nowakowski und hat die Gastwirtschaft gepachtet. Aber Kolonialwarenhändler Wengler liegt am nächsten. Gleich neben der Schule.« »Ich wünsche«, sagte der Gendarm, »daß du die Leistungsfähigkeit beider Kaufleute ausprobierst und dann dem besseren, also dem preiswertesten, den Vorzug gibst. Allein die geschäftlichen Vorzüge entscheiden, keinerlei persönliche Sympathie.« »Gewiß, Vater.« 9

»Hat dieser Wengler eine Preistafel aushängen?« »Ich weiß es nicht. Ich habe keine gesehen.« Der Gendarm Thiele legte seinen Löffel behutsam auf den Tellerrand. »Jeder Gewerbetreibende«, sagte er, »ist verpflichtet, eine Preistafel anzubringen, und zwar an einem gut sichtbaren Ort.« »Ich werde sie übersehen haben, Vater.« »Sie muß so angebracht werden«, erklärte der Gendarm, »daß sie nicht zu übersehen ist. Bitte, achte in Zukunft darauf.« Er aß mit gleichmäßigen Bewegungen weiter. Als er wieder einen Schluck Bier trank, sah er zum Fenster hinaus. Er sah einen Ausschnitt des Gartens, dann die geteerte, schwarzbraune Bretterwand des Schuppens, an der das Fahrrad seiner Tochter lehnte. Ein Junge saß daneben im Sand und putzte es. »Wer ist dieser Knabe?« fragte der Gendarm und stellte sein Glas auf den Tisch. »Das ist Karlchen.« »Wer ist Karlchen?« »Ein Waisenkind. Karlchen hat keine Eltern und wird reihum vom ganzen Dorf verpflegt. Er ist ein netter, hilfsbereiter Junge.« Der Gendarm richtete sich auf. »Ein Waisenkind«, erklärte er, »muß entweder feste Pflegeeltern haben oder ist in eine Anstalt zu überweisen. Eine andere Lösung ist nicht gesetzmäßig. Er soll mal hereinkommen.« Eva erhob sich wortlos. Sie wußte, daß Einwand oder gar Widerspruch völlig vergeblich waren. Sie holte Karlchen in die Küche und stellte ihn vor dem Gendarmen auf. Karlchen war etwa zehn Jahre alt, hatte ein lustiges Sommersprossengesicht und wildwachsende, strohblonde Haare, die wie ein frischer Bohnerbesen seinen Kopf krönten. Er schien unter einer Schüssel geschoren worden zu sein. Er lächelte den Gendarmen freundlich an. »Komm näher, mein Sohn«, sagte der Gendarm. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.« »Ich habe keine Angst vor dir.« »Wie heißt du?« »Karlchen.« »Du heißt also Karl. Und weiter?« »Nur Karlchen.« »Hast du keine Eltern?« »Nein. Nie gehabt. Ich bin allein. Ich habe nicht einmal einen Hund – und ich möchte doch so gerne einen haben. Alle in Maulen haben Hunde – warum hast du noch keinen?« »Es ist ein netter, lieber Junge«, sagte Eva. »Du bist auch sehr lieb und sehr nett«, versicherte Karlchen treuherzig und nickte ihr zu. Der Gendarm räusperte sich. »Bei wem bist du in Pflege?« »Bei allen. Beim ganzen Dorf.« »Bei wem wohnst du? Wo schläfst du?« »Überall.« Der Gendarm war ehrlich betrübt. »Aber du mußt doch einen festen Platz haben, wo deine Sachen sind. Jemand muß doch da sein, der die Verantwortung für dich trägt. Irgendwo steht doch ein Bett, in dem du schläfst.« »O ja«, versicherte Karlchen. »Jetzt bin ich beim Schmied. Nächste Woche soll ich dann zum Bauern Demski ziehen. Aber am liebsten möchte ich bei Eva bleiben.« »Zustände!« murmelte Thiele. »Wie im Dreißigjährigen Krieg.« »Warst du im Dreißigjährigen Krieg?«, wollte Karlchen wissen und schob sich neugierig näher. »Nein«, sagte der Gendarm. »Aber ich möchte gerne wissen, wer dein Zigeunerleben auf dem Gewissen hat.« »Was ist das – ein Zigeunerleben?« »Wer ordnet eigentlich an, daß du von einem zum anderen ziehst?« »Der Leberecht. Wer denn sonst?« »Es ist gut«, sagte der Gendarm gemessen und behielt das, was er dachte, taktvoll für sich. »Wasch dem Kind die Hände, Eva; und dann gib ihm etwas zu essen.« 10