goldene Mädchen

gegnung mit der Angst zu vertagen. Und Be- quemlichkeit ist mir das Allerwichtigste – zu- mindest in diesem Moment. „Einen noch, dann erzählt sichs leichter!
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Michael Kusserow   

Das 

goldene Mädchen   

Ein surrealistisches Großstadtmärchen    Roman    © 2010   AAVAA e‐Book Verlag UG (haftungsbeschränkt)   Quickborner Str. 78 – 80, 13439 Berlin   Telefon.: +49 (0)30 565 849 410  Email:  [email protected]  Alle Rechte vorbehalten  1. Auflage 2010  Lektorat: Sabine Lebek, Berlin    Covergestaltung  Laura‐Maria Lorent / Tatjana Meletzky    Printed in Germany   ISBN 978‐3‐86254‐044‐0 

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                      Alle Personen und Namen sind frei erfunden.   Ähnlichkeiten mit lebenden Personen   sind zufällig und nicht beabsichtigt.                             

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                           für Sophie                               5

                        „Hast  du  wirklich  alle  Deine  Sterne  aufgehen  las‐ sen?  Warst  du  wirklich  bemüht,  Dir  das  Herz  aus  dem Leib zu schreiben?“        – J.D. Salinger 

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Kapitel 1     Es  war  ein  langer  Weg  bis  zu  der  Erkenntnis,  dass  nichts  im  Leben  uneingeschränkt  wahr  ist.  Die  Verirrungen  des  Geistes  locken  ohne  Unter‐ lass  in  Richtungen,  die  mit  prächtigem  Schillern  ein  besseres  Leben  vorgaukeln,  alles  völlig  ab‐ sichtslos, zu keinem Zweck. Es passiert einfach.   Betrachte  ich  die  kargen  Landschaften  um  mich herum, den wild aufwirbelnden Staub und  Dreck der Einöde, dann frage ich mich, ob hinter  der  blutroten  Sonne  am  Firmament  eine  gottes‐ ähnliche Figur lauert, die mal an dem einen, mal  an  dem  anderen  Faden  ziehend  dem  Ganzen  doch  eine  Absicht  gibt.  Eine  verrückte  Absicht,  die  zu  verstehen  weder  sinnvoll  noch  erstre‐ benswert ist.   Ich  blicke  zu  der  kleinen  Schrottmühle,  mei‐ nem  guten,  alten  fahrbaren  Untersatz,  der  mich  bisher  nicht  einmal  im  Stich  gelassen  hat.  Auf  Autos  ist  Verlass,  sie  schwätzen  nicht,  verwei‐ gern  nicht  ohne  weiteres  ihren  Dienst  und  sind  einfach im Umgang, wenn einige überschaubare  Regeln begriffen worden sind. Solche Regeln gibt  es bei Menschen nicht, sie funktionieren fern von  ihnen,  allenfalls  ist  ihr  Handeln  und  Tun  in  7

Wahrscheinlichkeiten  zu  erfassen,  doch  das  ist  ungenau – viel zu ungenau.   Meine  müden  Knochen  gähnen  lautstark  auf.  Ich erhebe mich vom Felsvorsprung und schlen‐ dere  zu  meinem  Auto  hinüber.  Trockener  Schmutz  liegt  in  meiner  Nase,  es  riecht  nach  Freiheit, einer großen alles umfassenden Freiheit  und  doch  ist  nichts  und  niemand  wirklich  frei.  Momente vergehen und kein Mensch kann etwas  anderes tun, als sie zu genießen, mit ihnen zu le‐ ben.  Sie  sind  nicht  veränderbar,  genauso  wenig  ist es möglich sie festzuhalten, sie vollständig zu  begreifen.   Und  da  dies  mir  verwehrt  bleibt,  bin  ich  auch  nicht  frei  –  nicht  frei  in  meinen  Möglichkeiten,  nicht  frei in dem, was ich will und sein  möchte.  Ich  bin  eingeschränkt,  dem,  was  vorstellbar  ist,  gegenüber  unvollkommen  und  doch  frage  mich  immer wieder, wie es funktionieren soll – wie es  klappen  kann,  einen  Moment  der  scheinbaren  Freiheit  zu  genießen?  Einen  Moment,  in  dem  sich alles so zu fügen scheint, wie es soll – sei es  aus Zufall, aus Schicksal  oder  göttlicher  Spinne‐ rei.   Mit  einem  rostigen  Klacken  ziehe  ich  die  Tür  meiner  Schrottmühle  auf.  Ein  muffiger  Geruch  8 

von  abgestandenem  Zigarettenqualm  und  kalt  gewordenem  Schweiß  weht  mir  entgegen.  Teil‐ nahmslos wedele ich ihn weg. Im Innenfach der  Tür  stehen  sie  –  drei  Flaschen  mörderischster  Stoff  –  zubereitet  von  den  Göttern  (sofern  es  sie  gibt) zum Suff und für die Heiterkeit in einzigar‐ tigen  Momenten  für  den  Einzelnen  (sofern  es  den gibt). Trocken greife ich nach der ersten der  drei Pullen, die sich mit einem feinen Klirren aus  der Wagentür in meine Hände begibt. „Ja, das ist  ein  Stoff!“,  raune  ich  und  betrachte  dabei  das  goldene  Flimmern  im  dickbauchigen  Glas.  „Ein  Stoff für Helden!“, huste ich hinterher, während  ich  mit  meinem  Gesäß  die  Wagentür  zuknallen  lasse.   Der Wagen ist weiß. War es zumindest einmal.  Gibt  es  so  etwas  wie  schmutzfarben?  Wahr‐ scheinlich  nicht,  denn  Schmutz  kann  unter‐ schiedlich  farbig  sein.  Außerdem  würde  ich  nie  behaupten meine Schrottmühle wäre schmutzig.  Mir  gefällt  „so  ähnlich  wie  weiß,  bloß  dunkler“  besser. Das ist zwar etwas lang, aber trifft es ge‐ nau.   Ich schraube den Deckel des Stoffes mit einem  Schwung auf, genieße einen Moment das schnel‐ le Geräusch, frage mich, wo es schon wieder hin  9

ist  und  stapfe  wieder  hinüber  zum  aussichts‐ spendenden Felsvorsprung.   Es  wird  kälter,  die  Nacht  naht,  der  blutrote  Kreis am purpurnen Himmelszelt ist am Sterben.  Und  was  ist  mit  der  spinnenden  Figur,  die  sich  hinter ihm versteckt? Geht die etwa in den Ster‐ nen auf? Der Deckel ist geradezu dafür prädesti‐ niert,  ihn  als  Trinkgefäß  zu  missbrauchen  –  tief  und  stabil.  Ein  kleiner  Schluck  Goldenes  und  gleich sitzt es sich viel wärmer am Abgrund des  alles  verschlingenden  Tals  aus  Erde,  Sand  und  grauen  Felsen,  gegenüber  der  untergehenden  Sonne,  im  Rücken  meine  geliebte  Schrottmühle,  die in ihrem Heckraum ein gemeines Geheimnis  birgt.   Jede Geschichte beginnt mit einem Geheimnis.  Etwas  ist verdeckt  –  verborgen  –  nicht  zu  sehen  und nimmt im Laufe des Erzählens immer mehr  Konturen  an,  bis  es  ganz  deutlich  vor  einem  steht  und  die  Meinung  entsteht,  das  Geheimnis  sei  gelüftet.  Doch  wie  ich  eingangs  bemerkte,  gibt es keine allgemeingültigen Wahrheiten. Das,  was  verborgen  ist,  bleibt  auch  dort  verborgen.  Versteckt  hinter  der  Alltäglichkeit,  dazu  ver‐ dammt, nie voll und ganz enttarnt zu werden. 

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 Eine  Decke  wäre  nicht  schlecht.  Ein  warmer  Schluck  Goldenes  und  gleich  erhebt  es  sich  viel  leichter.  Im  Kofferraum  meiner  Schrottmühle  sind ein paar Decken über dieses Ding gestapelt.  Dieses geheimnisvolle Ding im Kofferraum mei‐ nes kleinen schmutzfarbenen Autos. Ich bin ger‐ ne ungenau, wenn ich etwas getrunken habe und  wenn  ich  „etwas  getrunken“  sage,  dann  meine  ich Goldenes, alles andere ist nur schnödes Auf‐ tanken.   Forsch  trete  ich  auf  den  staubigen  Boden  –  Schritt  um  Schritt  puffen  Wolken  hinter  meinen  Tritten  auf.  Gewanke  ist  gar  kein  Ausdruck  für  diese torkelnde Darbietung. „Wahrlich ein Trank  der  Götter!“,  singe  ich  lauthals  in  unmelodi‐ schem Tonfall und schlingere dabei meinem Ziel  nah und näher.   „Decken, wo sind denn nur die ganzen Decken  hin“,  stammele  ich,  während  meine  Hände  bar  jeder  Vernunft  an  dem  Schloss  des  Kofferraums  meiner Schrottmühle rumfummeln. „Decken – es  ist  kalt!“  Die  Angst  verdränge  ich,  noch  ist  der  Moment einer kleinen, unbedeutenden Wahrheit  nicht gekommen, doch musste ich, um nicht wei‐ ter zu frieren, ihr direkt ins Gesicht blicken. 

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 „Da  sind  ja  die  Decken.“  Was  ich  nicht  mehr  wusste  war,  dass  ein  riesiger  Berg  an  Überzieh‐ klamotten  den  Gegenstand  meiner  Angst  ver‐ deckt. Es ist bequem nur die Decken zu nehmen,  den Kofferraum wieder zu schließen und die Be‐ gegnung  mit  der  Angst  zu  vertagen.  Und  Be‐ quemlichkeit  ist  mir  das  Allerwichtigste  –  zu‐ mindest in diesem Moment.    „Einen noch, dann erzählt sichs leichter!“, ulke  ich im Suff vor mich hin und kippe es mir hinter  die  Binde.  Sollte  ich  mir  noch  das  Schießeisen  aus  dem  Handschuhfach  nehmen?  Besser  nicht.  Der  Geruch  der  hereinbrechenden  Nacht,  dieses  bestrickende Gemisch aus  ganz  heiß  und  außer‐ ordentlich  kalt,  könnte  vom  Duft  der  befreien‐ den Gewalt meines Schießeisens gestört werden.  In  der  Ferne  höre  ich  ein  Tier  heulen.  Ich  heule  zurück  und  setze  mich  wieder,  eingemummt  in  Decken, friedlich beisammen mit dem Gesöff der  Götter.   Was habe ich geheult, gelitten. Undank ist der  Welten  Lohn,  sagten  meine  Eltern  einst.  Aber  wieso  meine  Eltern?  Die  kommen  in  der  Ge‐ schichte eigentlich gar nicht vor. Eines Tages löst  sich  das  Kind  aus  dem  elterlichen  Bau  und  be‐ gibt sich auf eine ganz eigene Reise, um einen ei‐ 12 

genen Bau zu finden, um sich abzunabeln und es  anders zu machen – einfach anders. Nicht besser,  nicht schlechter – einfach anders.   Trauer  steigt  mir  in  die  Augen.  Die  Verirrun‐ gen  des  Geistes  sind  wieder  einmal  nah,  näher  als mir lieb ist. Aber das gehört dazu, das Erzäh‐ len einer Geschichte löst unweigerlich die konfu‐ sesten  Gefühle  in  einem  aus.  Die  vermeintliche  Freiheit scheint dabei von besonders starker Prä‐ senz. Es gilt aber auch Regeln einzuhalten. In ei‐ ner Geschichte muss gekürzt, gestrichen, verein‐ facht  werden.  Ich  kann  nicht  alles  erzählen,  selbst  wenn  ich  mir  den  Verstand  aus  meinem  Leib  reißen  und  ihn  meinem  Publikum  vor  die  Füße  werfen  würde,  wäre  nicht  zu  erkennen,  was alles darin vor sich gegangen ist. Und doch  muss ich mich mitteilen. Ich muss, weil mir sonst  etwas  ganz  anderes  meinen  Verstand  aus  mei‐ nem  Leib  reißt:  Mein  guter  alter  Freund,  der  Wahnsinn.   Die  glutrote  Kugel  ist  dem  Untergang  nahe.  Irrwitzige  Farbenspiele  erfüllen  das  Tal  aus  e‐ lenden Trümmern und bizarren Felsformationen  zu  meinen  Füßen.  Sie  lassen  alles  ganz  anders  aussehen als am Tage und auch als in der Nacht.  Der  richtige  Moment  um  mit  dem  Erzählen  zu  13

beginnen. Ich spüle noch einen Becher Goldenes  meinen endlosen Rachen hinunter.                                                   14 

 Kapitel 2     Alles  begann  mit  einer  Lüge.  „Bist  du  der  To‐ tengräber?“, fragte mich eine Stimme, die klang,  als  würde  ein  Sargdeckel  zugeschoben.  Zu  mei‐ ner Erklärung: Ich pflegte damals meine Freizeit  auf  Friedhöfen  zu  verbringen,  warum,  wusste  ich damals selbst nicht genau. Es war eine faszi‐ nierende, morbide Stimmung. Viele haben Angst  vor Friedhöfen, weil dort der Tod allgegenwärtig  ist. Ich hatte es nicht.   „Bist  du  der  Totengräber?“,  fragte  die  scha‐ bende  Stimme  erneut  und  erst  dann  erhob  ich  meinen Kopf. Ich lag an einen Baum gelehnt, vor  mir ein Feld von unbenutzten und noch namen‐ losen Grabsteinen.   „Bist  du  jetzt  der  Totengräber  oder  nicht?!“,  fragte ein Mann, der aussah wie ein Klavierspie‐ ler.  Er  hatte  einen  schwarzen  Frack  an,  der  sich  über seinem Gesäß zu zwei großen Zipfeln teilte.  Ein  ziemlich  hoher  Zylinder  protzte  auf  seiner  knochigen, von Schweißperlen benetzten Stirn.   „Junge,  ich  frage  dich  ein  letztes  Mal!  Bist  du  der  Totengräber…“,  er  atmete  schwer  aus,  als  würde ihn etwas anstrengen, „… oder bist du es  nicht!?“  Ich  sah  gar  nicht  aus  wie  ein  Totengrä‐ 15

ber, damals trug ich meine Haare noch zu roten  Stacheln  aufgestellt.  Ich  war  weder  groß,  noch  kräftig, trug einfach nur ein gelbes T‐Shirt, meine  zerschlissene,  knallblaue  Jeans,  sowie  ein  Paar  schmutzfarbene, zertretene Turnschuhe.   „Ja“,  nickte  ich.  „Ich  bin  der  Totengräber!“  Und  blickte  ihm  mit  ernster  Gelassenheit  in  die  wild  umherspringenden  Augen.  Sie  waren  braun. „Dann komm,  wir  haben nicht  mehr  viel  Zeit,  die  Bestattung  steht  an,  die  Arbeit  macht  sich nicht von alleine.“ Seine Stimme wurde im‐ mer  leiser  je  länger  er  sprach,  was  wohl  daran  lag,  dass  er  sich  auch  immer  weiter  von  mir  wegbewegte, während er das tat.   Ein  jugendlicher  Satz  auf  die  Beine  und  schon  eilte  ich  dem  Klavierspieler  hinterher.  Er  sah  wirklich so aus, als würde er jeden Moment wie  wild  mit  seinen  langstieligen  Fingern  auf  einem  Klavier  rumhämmern.  Ohne  Unterlass  und  mit  bedingungsloser Hingabe. Als gäbe es kein Mor‐ gen  und  das  Gestern  wäre  nichts  weiter  als  ein  nicht  besonders  ernstzunehmender  Traum  ge‐ wesen.   „Weißt  du,  Junge,  die  anderen  warten  schon.  Die  Leiche  ist  hergerichtet,  es  ist  alles  bereit,  du  musst nur noch deine Arbeit tun, mehr verlange  16 

ich  von  dir  nicht.“  Er  kannte  meinen  Namen  nicht, deshalb nannte er mich „Junge“, dabei hät‐ te  ich  ihm  meinen  Namen  gesagt,  wenn  er  nur  gefragt hätte.   Mein  Name  ist  Robert  H.  Pankenheimer,  Frei‐ zeittotengräber,  Gitarrenromancier  oder  auch  romantischer  Zyniker,  wie  es  beliebt.  Aber  er  fragte  nicht,  dabei  stellte  ich  mich  gerne  so  vor.  Das mit dem Totengräber wäre zwar neu gewe‐ sen,  aber  es  passte.  Drei  Bezeichnungen  waren  besser  als  zwei  und  ich  war  gut  im  Improvisie‐ ren.   Der  Friedhof  war  wunderschön.  Ein  Pracht‐ stück  im  Zentrum  der  tosenden  Großstadt.  Die  Hecken  waren  sauber  geschnitten,  die  Bäume  ragten  in  gepflegtem  grün  wie  schöngeistige  Wachtürme  über  die  Gräber,  die  Wege  waren  sauber  ausgefegt.  Wir  kamen  an  einem  steiner‐ nen Brunnen vorbei, über dem an einem Gestell  ein  verbeulter  Eimer  friedlich  vor  sich  hin  bau‐ melte,  als  hätte  kürzlich  jemand  Wasser  ge‐ schöpft. Eine Gruft erhob sich wie aus düsterem  Stein  gehauen  aus  dem  Boden,  Inschriften  einer  mir  nicht  bekannten  Sprache  verzierten  die  ver‐ schnörkelten  Giebel  und  der  für  die  Ewigkeit 

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