Gewahrsein.entwickeln.und.Kommentar.zu.Milarepas.Vajragesaenge.Remetschwiel. August.2015


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„Gewahrsein entwickeln“ und Kommentar zu Milarepas Vajragesängen

Gruppenretreat mit

Lama Tilmann (Lhündrup)

Seminarhaus Remetschwiel, 29. August - 6. September 2015 Das Retreat fand mit Ausnahme der Gespräche im Rahmen der Unterweisungen im Schweigen statt. Die Abschrift ist ein Gemeinschaftsprojekt. Koordination Lisa Aigner.

Teil A ) Unterweisungen und Meditationen Einführung......................................................................................................1 Meditation - unser Anliegen Meditation - Grundübung Meditation - Strom des Erlebens Meditation – Strom des Erlebens mit dem Atem verbinden Gewohnheitstendenzen wahrnehmen Karma und karmische Reinigung

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Gleichzeitiges Entstehen und Befreien .........................................................7 Selbstbefreiung des Leids Die Schattenseiten akzeptieren Meditation - Wandel Nicht-Beständigkeit Bedingtes Entstehen Nicht-Selbst Prozesshafte Natur des Seins Konventionelle Wirklichkeit Erinnerungen sind neues Erleben

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Stützen für die Meditation ..........................................................................18 Meditation - Verbinden mit dem Herzensanliegen Verschiedene Meditationsstützen

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Frei von Hoffnung und Furcht....................................................................22 Meditation - Anhaftung und Ablehnung Meditation - Äußeres Objekt Gefühlstönungen Meditation - gelöstes Sein Gelöstes Sein im Alltag

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Sein ohne Trennung .....................................................................................31 Meditation - Zeitloses Gewahrsein Grundspannung im Sein Entspanntes Sein Meditation - Anstrengungsloses Sein

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Guru Yoga .....................................................................................................37 Meditation - Guru Yoga Erklärungen zum Guru-Yoga

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Sechs Dharmas von Tilopa ..........................................................................40 Meditation - Verbindung mit Raum und Zeit Mit dem Segen verbinden - Yidampraxis Erklärungen zur Meditation über den Raum Erklärungen zur Meditation über die Zeit Flexibilität des Geistes Die Sechs Dharmas von Tilopa

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Praxis mit den fünf Elementen ...................................................................50 Barlung - Meditation Meditation - Die fünf Elemente Fünf Elemente des zeitlosen Gewahrseins Die fünf Buddhafamilien Zusammenfassung

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Tonglenpraxis ...............................................................................................56 Tonglen – Herzatmen Meditation - Tonglen mit sich selbst Fragen zur Tonglenpraxis mit sich selbst

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Herausforderungen im Alltag vorbereiten ................................................61 Meditation - Herausforderungen vorbereiten Innere Ausrichtung durch Gebete Umgang mit Herausforderungen im Alltag Emotionale Muster bemerken Umgang mit emotionalen Muster im Kontakt im anderen

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Vorbereitungen auf den Sterbeprozess ......................................................69 Meditation - der letzte Ausatem Tägliches Sterben als Übung Dharma-Praxis zur Vorbereitung auf das Sterben

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Teil B) Kommentar zu Milarepas Vajragesängen Die 30 Leitsätze von Milarepa.....................................................................74 1. Drei Juwelen 2. Vertrauen 3. Gedanken 4. Stolz 5. Üble Nachrede 6. Eifersucht 7. Alkohol 8. Vier reinigenden Kräfte Erklärungen zu OM MANI PEME HUNG 9. Verdienst 10. Nicht-heilsame Handlungen aufgeben 11. Mitgefühl 12. Frei von Ablenkung 13. Sechs Yogas von Naropa 14. Methoden des geheimen Mantrayana Symbole des Tantra am Beispiel der Vajrayogini 15. Schädliches Streben nach Gewinn, Ehre und Ruhm 16. Abgrund Eigenlob 17. Geist zähmen 18. Erleuchtete Geisteshaltung kultivieren 19. Beste Sicht 20. Tantrische Methoden

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21. Arbeit mit den Energiebahnen 22. Zeitloses Gewahrsein 23. Auf verwirklichte Meister stützen Lehrer im Westen 24. Kostbares Menschenleben 25. Geist betrachten 26. Kein Frieden in Samsara 27. Vorteile des Leides 28. Geist verstehen 29. Geschäftigkeit aufgeben 30. Tiefgründigste Unterweisung

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Teil A ) Unterweisungen und Meditationen Einführung Meditation - unser Anliegen Zu Anfang der Meditation nimmt man Zuflucht. Aber wir machen das anders. Wir besinnen uns darauf, was eigentlich unser Anliegen ist. Bei dieser Kontemplation sind zwei Ebenen zu unterscheiden:

- das unmittelbare Anliegen (z.B. sich einfach erholen, Geistesruhe entwickeln, in Mahamudra hinein finden) und

- das tiefere Anliegen. Wir schauen jetzt, was auf diesen Ebenen unsere Anliegen sind: Weshalb bin ich als einzelner Mensch jetzt gerade hier? Was suche ich? Was wünsche ich mir? Was möchte ich in mir entwickeln und hervorkommen lassen? Mit welchem Herzensanliegen bin ich heute da? … Wenn es euch möglich ist, die innere Qualität zu benennen, die für euch gerade vorrangig ist, z.B. ein weicherer Umgang mit mir selbst, Natürlichkeit, liebevolles Sein, fließendes Sein, dann lade ich euch ein, diese Qualität jetzt schon zu spüren, als würde sie gerade im Geist Einzug halten... Ich gehe davon aus, dass ihr wohltuende Qualitäten im Bewusstsein, im Herzen tragt. Da könnt ihr diese wohltuende Qualität jetzt schon spüren, anklingen lassen … Wir erlauben uns, ganz zu dem zu werden, es ganz zuzulassen, vielleicht auch verbunden mit einer inneren Vorstellung. Wenn ihr euch zum Beispiel „Frische“ als Qualität gewählt hättet, dann könnt ihr euch vorstellen, barfuß über eine Wiese zu laufen, in der Frische des Morgens…. Dieses innere Gefühl kann sich jetzt schon einstellen. Wir haben so die Möglichkeit, uns mit wohltuenden Qualitäten zu verbinden … Und dann sitzen wir noch eine Weile in dieser Qualität bzw. diesen Qualitäten - lassen sie nachwirken … Wir befreien uns aus allem Greifen und Festhalten … Lasst nun noch weiter alles Festhalten an einem ruhigen oder frischen oder liebevollen Geisteszustand los, sodass sich das zeigen kann, was jetzt gerade ist – einfach so … Nun lade ich euch ein, die Augen zu öffnen, falls sie nicht ohnehin offen sind – vielleicht ein paar ganz kleine Bewegungen zu machen ... Danke. *** Ich heiße euch alle ganz herzlich willkommen zu diesem Mahamudra-Retreat! Mahamudra bedeutet eigentlich so etwas wie ‚natürliches Sein’ – im Sinne von so natürlich, dass da kein Greifen ist. maha bedeutet groß und mudra hat zwei Bedeutungen: zum einen Geste, zum anderen Siegel. Hier bedeutet es ‚Das große Siegel der nicht fassbaren Natur aller Phänomene‘, der sogenannten Leerheit. Wenn man im Mahamudra ist, ist da kein Greifen, kein Fixieren – wir sind im Fließen. Darum geht es im Großen und Ganzen in diesem Kurs, und darum geht es mir auch in meinem Leben: Wie kann ich von einer Situation, von einer Herausforderung zur anderen fließen? Ich lade euch ein, nicht zu forcieren. Die Retreats werden immer dann schwierig, wenn wir uns forcieren und denken, jetzt müsse etwas Besonderes passieren. Wenn wir uns unter Druck setzen, betreiben wir subtile Selbstausbeutung. Vor allem, wenn ihr womöglich schon müde hier angekommen seid, braucht ihr Ruhe. Ihr müsst euch auch den Raum geben zu schlafen, zu entspannen, euch ins Gras zu legen, einen Spaziergang zu machen. Wir werden ab heute Abend hier im Haus schweigen. Aber sobald ihr außer Hörweite seid, endet der Schweigezaun und ihr könnt sprechen. Das heißt, ihr könnt auch miteinander einen Spaziergang machen und euch in tiefem Austausch üben, oder in fließendem Sein. Nach Möglichkeit sprecht nicht über all die vielen

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Informationen oder Probleme, sondern über etwas, das mit der Praxis oder der gegenwärtigen Situation zu tun hat. Das finde ich ganz wichtig und schön. Da könnt ihr euch zuzwinkern und sagen: Hast du Lust, einen Spaziergang zu machen? Wenn ihr Sprechbedarf habt und könnt euch aufmachen und die Gehmeditation für die Kommunikation nutzen. Aber hier im Gartengelände und im Parkplatzbereich ist geschützte Zone. Für notwendige Kurzabsprachen flüstert bitte, damit die anderen nicht gestört werden. Da wir eine bunt gemischte Gruppe sind, machen wir eine Vorstellungsrunde. Bitte nennt euren Namen, woher ihr kommt und was euer Anliegen ist. – Vorstellungsrunde – Jetzt lade ich euch ein, während dieser acht Tage Hüterinnen und Hüter eures eigenen Anliegens zu sein. Nachdem, was ich in der Vorstellungsrunde gehört habe, erscheint es mir möglich, dass alle eure Anliegen in diesem Retreat Platz haben. Wir lernen, uns im Retreat immer neu zu erinnern „Was ist denn jetzt mein Anliegen?“ Da kann es sein, dass das ursprüngliche Anliegen, das ihr gerade formuliert habt, immer wieder auftaucht und sich bestätigt, oder ihr merkt, dass es sich entwickelt. Es bekommt eine neue Färbung, zum Beispiel kommt aus dem Vertrauen ein Bedürfnis nach tieferem Loslassen, ein Bedürfnis danach, ins gelöste Sein einzutauchen. Oder es entwickelt sich aus der Furchtlosigkeit der Mut und über den Mut hinaus ein Denken, das gar nicht mehr in Hoffnung und Furcht gefangen ist. Da merkt ihr vielleicht Entwicklungsbögen, die ihr innerlich macht. Diese verschiedenen Entwicklungsbögen können alle gleichzeitig stattfinden. Jeder ist persönlich eingeladen auf seine Praxis zu achten, sodass jene, die Ruhe suchen, sich die Ruhe gönnen, jene, die Achtsamkeit üben möchten, die Achtsamkeit üben, jene, die das fließende Sein üben möchten, sich immer wieder daran erinnern. MIr hat das gerade sehr gut getan, zu hören, mit welchen Anliegen ihr da seid und ich werde mich bemühen, euch darin zu unterstützen.

Meditation - Grundübung Ich führe euch in etwas strukturierter Form durch die Grundübung im Mahamudra: i.e. das Öffnen der sechs Sinne. Wir finden in die Geistessammlung und zwar nicht, indem wir Sinne blockieren. Sondern indem wir sie ganz öffnen und in jedem Sinn in dieses nicht-greifende Sein hinein finden. Lasst uns mit dem Körper beginnen – den Körperempfindungen... Wie fühlt es sich an, körperlich zu empfinden? … Und der Schlüssel ist das Wörtchen wie. Wie ist es, zu spüren? Es ist in diesem Fall irrelevant, was wir spüren, sondern nur, wie es ist, zu spüren. Wie ist es, wenn ich in alle Bereich des körperlichen Erlebens die Botschaft schicke: „Ja, es darf alles sein!“. Alle körperlichen Empfindungen sind willkommen und nach keiner einzigen von ihnen wird gegriffen. Es kann sein, dass ihr in dem Moment, indem ihr euch für die Vielfalt der körperlichen Empfindungen ganz auf macht, eine Unmenge von Empfindungen entdeckt, spürt, erlebt, dass es euch fast ein bisschen zu viel wird. Dann lasst auch einfach das zu, das macht überhaupt nichts, das wird sich bald ausgleichen … Gendün Rinpoche sagte, was den Körper angeht sitzen wir wie ein Berg. Damit meinte er, so stabil in unserer Präsenz und unbeweglich in der Qualität von Präsenz wie ein Berg, ein ganz lebendiger Berg. ... Es geht um diese unbeirrbare Präsenz, die alles erlebt, ohne an irgendetwas hängen zu bleiben ... Dann öffnen wir uns ganz bewusst das Hören für alle Klänge und Geräusche. Auch da gilt dieselbe Grundhaltung: Alles darf sein … Wie ist es, hörend gewahr zu sein? Wenn wir keine Abwehr und kein Anhaften aufbauen, was die Hörerlebnisse, die Hörempfindung aufbauen: Wie ist es, einfach hörend gewahr zu sein? ... Hört ihr auch die ganz feinen Geräusche – vielleicht euren eigenen Atem? ... Es ist so viel los im Höruniversum, im Klanguniversum ... Ruhe entsteht, wenn wir nicht mehr nach den Hörempfindungen greifen... Dieselbe Haltung wie der lebendige Berg der Körperempfindungen – so ist da eine ganz lebendige Welt des Hörerlebens … Und dann nehmen wir noch das Sehen hinzu. Dafür ist es wichtig, die Augen zu öffnen. Versucht einmal, nur Farben wahrzunehmen, noch keine Objekte oder definierte Gegenstände, sondern einfach nur Farbe, Licht und Schatten... Und weitet diese Wahrnehmung bis an den Rand des Gesichtsfeldes aus. Ist es möglich, sehend gewahr zu sein, ohne zu fixieren? Beim Sehen können wir gut üben, wie es sich anfühlt, den Zoom einzuschalten, also genau hinzuschauen, zu erkennen und dann wieder loszulassen und in ein weiteres Schauen zu gehen.

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Das ist dasselbe, was wir mit dem Hören machen, wenn wir manchmal stärker fokussieren und dann wieder weiter machen. Es ist dasselbe, was wir mit den Körperempfindungen machen: mal genauer hin spüren und dann wieder den ganzen Körper wahrnehmen … Und dann geht es im Mahamudra so weiter, dass wir sehen, hören, spüren als Einheit zulassen - dass wir das, was unser Gehirn ohnehin macht - die Synthese - zulassen ... Wie ist es, geeint hier zu sein und dabei auch noch zu riechen und eventuell etwas zu schmecken? Das sind die sog. fünf äußeren Sinne. Ich bin jetzt für einige Minuten still und lade euch einfach ein, da ganz gelöst hinein zu entspannen – in jede Erfahrung der fünf äußeren Sinne, die auftaucht … Auch wenn es uns dann mal so gehen sollte, dass wir müde werden, dann brauchen wir nicht dagegen zu kämpfen, es sei denn, wir möchten das. Stattdessen können wir spüren, wie es ist, gerade so zu sein … Und dann wenden wir unsere Aufmerksamkeit dem sechsten Sinn zu, das ist das Denken, Fühlen, die innere Bilderwelt, die Vorstellungen, Emotionen. Wir können das mit der Frage eröffnen: Wie ist es, jetzt, als fühlender Mensch präsent zu sein? Wie fühle ich mich? Was geht in mir vor?… Alle Denk- und Fühlbewegungen sind willkommen. Alle Stimmungen dürfen sich zeigen... Obwohl vielleicht gar nichts benennbar ist, so ist da doch ein ganz klares Fühlen, Spüren… In diesem inneren Fühlen unterlassen wir es, das irgendwie präziser machen zu wollen, sondern bleiben ganz präsent auch wenn die Gefühle vage oder schnell weg sind... Zulassen und gewahr bleiben … Und zum Abschluss noch einige ganz gelöste, geschmeidige Atemzüge... Schaut zum Abschluss noch einmal, ob sich nicht doch ein Fixieren eingeschlichen hat … *** Was wir gemacht haben, nennt sich „das Öffnen der sechs Sinne“, als eine Übung vorwiegend der Geistesruhe mit einem geringen Anteil an Einsichtsmeditation. Das findet ihr auch beschrieben in dem Standardwerk Mahamudra – Ozean des wahren Sinnes auf Seite 148 – 152.1 Ich möchte, dass ihr euch an diese Grundübung des Öffnens der sechs Sinne erinnert, denn auf diese Übung könnt ihr immer wieder zurückfallen. Es wird euch passieren, dass ihr in den ganz stillen Phasen, in denen nicht angeleitet wird, plötzlich nicht mehr wisst, wie ihr eigentlich meditieren sollt. Und dann könnt ihr den Körper spüren, hören, sehen, riechen, schmecken und das Innere fühlen, die inneren Bewegungen, Stimmungen, das rein geistige Bewusstsein und da hinein diese Erlaubnis bringen, dass alles sein darf. Wenn wir all unsere Empfindungen zulassen, dann bedeutet das, dass wir unser ganzes Sein zulassen. Das haben einige von euch mit ‚nicht manipulieren’ ausgedrückt – genau darum geht es, das ist die konkrete Umsetzung. Wenn wir eine Empfindung nicht haben wollen und sie wegstoßen und dafür eine andere haben wollen und herbeiholen, dann sind wir im subtilen Manipulieren: Dies will ich und das will ich nicht. Dann sind wir in der Selbstmanipulation. Es ist eine sehr anspruchsvolle Grundübung, da sie euch kein festes Meditationsobjekt gibt. Wer ein festes, greifbareres Meditationsobjekt braucht, kann das alles mit dem Atmen verbinden. Wir bleiben beim Atem und die anderen Empfindungen kommen von selber. Wir lassen sie zu und kehren immer wieder zum Atem zurück. ***

Meditation - Strom des Erlebens Bevor wir Zuflucht nehmen und die Gebete singen, verbinden wir uns mit dem heutigen Herzensanliegen, das vielleicht an das, was uns gestern wichtig war anknüpft. Nehmen wir einen Moment, um das noch einmal tief zu spüren: Worum geht es mir eigentlich jetzt? Und welche Qualität kommt in diesem Herzensanliegen zum Vorschein? … Egal, um welche Herzensqualität es sich handelt, wenn sie frei ist von Greifen, von einem ‚ich will‘, dann wird es eine erwachte Qualität. Mit dieser inneren Ausrichtung auf die erwachte Qualität, die uns besonders 1

Karmapa Wangtchug Dordje: Mahamudra. Der Ozean des wahre Sinnes. übers. v. Henrik Havlat, 2009 (überarbeitet), Edition Octopus, Münster.

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am Herzen liegt, lade ich euch ein die Zuflucht, die vier Unermesslichen und das Gebet an die Linie zu singen. Rezitation: Zuflucht, Vier Unermessliche, Gebet an den Lama Wir lassen die Zuflucht in uns verschmelzen und erlauben ihr, in uns weiter zu meditieren, als würde der Buddha in uns meditieren. Dabei hilft es, sich vorzustellen: Wie würde ich denn als Buddha heute morgen hier sein? Vermutlich könnte ich mich einfach fallen lassen, mich dem Strom des Seins ohne Weiteres anvertrauen und einfach erst einmal spüren … Und dabei entsteht vielleicht aus der Buddha-Perspektive ein Wahrnehmen in den sechs Sinnesbereichen: Körper spüren, hören, sehen, riechen, schmecken und das innere Gewahrsein von dem, was an inneren Bewegungen vor sich geht. Versucht einmal, ob ihr euch selbst durch die sechs Bereiche lenken könnt, ich helfe danach noch etwas mit … Wahrnehmen, ohne etwas daraus zu machen, ohne etwas daran zu knüpfen … Wir entdecken dabei, dass wir ganz präzise wahrnehmen können und dabei total entspannt bleiben. Präzision und Entspannung zusammen … Manchmal ist die Aufmerksamkeit im körperlichen Erleben – mal im Hören, mal im Sehen – manchmal erscheint alles wie zugleich da zu sein. Manchmal haben wir sogar das Gefühl, da ist gar nichts Besonderes, das wahrgenommen wird; es ist einfach nur so sein, ohne Benennen ... Vielleicht möchtet ihr einmal darauf achten, wie das Wahrnehmen unaufhörlich weiter geht, nie unterbrochen ist, obwohl uns bewusst gar nichts Besonderes gewahr wird. Das Wahrnehmen braucht gar keine besonderen Erfahrungen ... Da dieses Wahrnehmen, dieses Gewahrsein, von selber stattfindet, brauchen wir uns auch gar nicht anzustrengen, wir lassen es einfach zu ... In diesem Gewahr-sein ist wie ein Gefühl von Fließen, von Kontinuität, obwohl nicht wirklich etwas fließt. Es ist eine Entdeckung, eine Erfahrung von durchgehend-kontinuierlichem Sein, einer Seinsqualität, die sich durch alle Erfahrung hindurch zieht. *** Wenn euch etwas in der Meditationsanleitung anspricht, etwas das euch hilft, dann empfehle ich euch sehr, eine Notiz zu machen, damit ihr es mit nach Hause nehmen könnt. In dieser kleinen Meditation haben wir die Sinneswahrnehmungen der sechs Sinne mit einer grundlegenden Einstellung des Nicht-Ergreifens, des Nicht-Fixierens verbunden und es entfaltet sich das, was man in Pali vedana nennt. Es sind Gefühlstönungen, verschiedenen Empfindungen, die auftauchen und sich entfalten wie ein Strom – ein Strom des Erlebens. Solange wir noch in der Beobachter-Perspektive sind, kommt es uns vor wie ein Strom der Erfahrungen. Aber je entspannter wir sind und je mehr wir uns darauf einlassen, desto mehr haben wir das Gefühl, dass unser ganzes Sein strömt, dass sich das Erleben die ganze Zeit fortsetzt und wir gar nichts zu tun brauchen. Im Mahamudra nehmen wir die Buddha-Perspektive ein, das heißt wir versuchen, immer wieder so zu meditieren, als wären wir schon erwacht. Das ist nämlich die entspannteste Grundhaltung, die wir finden können. Wenn wir nicht mehr einer Karotte hinterher eilen, wenn wir nicht mehr versuchen, jemand zu sein, irgendwie oder irgendwann mal zu erwachen, sondern uns sagen: ‚Jetzt ist das Sein schon so, wie es ist.‘ Die weiteren Anleitungen habe ich euch einfach so gegeben, dass wir uns immer wieder vertrauensvoll hinein entspannen können in: ‚Das Sein vollzieht sich ja von selbst. Wahrnehmen findet ja ohnehin statt. Und wenn sich das Wahrnehmen von Greifen und Fixieren befreit, wird es auch unverschleiert, es wird präzise, es ist klar. Wir brauchen uns nicht darum zu kümmern, sondern nur zulassen.‘ Eigentlich ist die Praxis also, den Strom des Erlebens zuzulassen, wahrzunehmen, im wahrnehmenden Sein aufzugehen und uns dahinein immer noch weiter zu entspannen. Da entdecken wir dann, dass wir doch immer noch etwas tun und uns ausrichten wollen. Hier noch ein bisschen schärfer werden und da noch genauer hin fühlen... Da passiert eigentlich alles von selbst und wir brauchen nichts zu tun. Das ist die Grundhaltung im Mahamudra.

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Wenn wir ein bisschen müde sind oder der Geist unruhig und flatterig wird, gibt es Methoden und Übungen. Wir können zum Beispiel aufstehen und im Stehen meditieren, was den Geist sofort etwas klarer macht. Wenn es nun gleich weiter geht, könnt ihr gern im Stehen meditieren. Ihr könnt gern die Haltung einnehmen, die für euch am angenehmsten ist. ***

Meditation – Strom des Erlebens mit dem Atem verbinden In dieser zweiten Sitz-Periode möchte ich dieselben Seinsqualitäten, die wir eben praktiziert haben, mit dem Atem verbinden. So habt ihr eine kleine Stütze oder einen Anker mit dem es möglich ist, in dieses einfache Sein hinein zu finden. Allein schon dadurch, dass ich den Atem erwähne oder an ihn denke, richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf die Atemempfindungen – gerade so, wie sie sind … Der ein- und ausstreichende Atem löst Empfindungen im Körper aus: das Heben und Senken des Brustkorbes, die Ausdehnung im Bauchbereich. Empfindungen, die bis in den Rücken hinein gehen, auch dort findet dieses Ausdehnen und Zusammenziehen statt. Das Ein- und Ausatmen können wir wie Wellen erleben. Wellen von ähnlichen Empfindungen die uns spüren lassen, dass wir einatmen und Wellen von Empfindungen im ganzen Körper, die uns spüren lassen, dass wir ausatmen … Das Wort ‚Atem‘ selbst ist eine Vorstellung, aber wie es sich anfühlt, in den Nasenflügeln, im Brustbereich, im Bauchbereich: das ist unmittelbares Erleben. Um in dieses unmittelbare Erleben zu kommen, können wir uns fragen: Wie fühlt es sich jetzt gerade an zu atmen? Wie ist es zu atmen?... Und während wir so dieser Atemempfindungen gewahr sind, ist zugleich dieselbe Seinsqualität wie vorhin in der Meditation ohne Stütze, ohne Anker spürbar. Durchgehendes Gewahrsein … Wenn ich spüre, dass ich den Anker einsetzen möchte, dann gebe ich den Atemempfindungen etwas mehr Aufmerksamkeit. Wenn der Geist auch so einfach im gewahren Sein präsent bleibt, dann kann ich den Anker zurücktreten lassen und brauche ihn weniger einzusetzen ... Falls zum Beispiel dieser schnurrende Kater hier im Raum eure Aufmerksamkeit anzieht, achtet einmal darauf, wie es mit dem Gewahrsein ist. Interessiertes Gewahrsein? … Wie ist es, wenn der Geist zu Sinneseindrücken hingezogen ist? Wie ist es, wenn sich diese Anziehung entspannt? … Wichtig für uns als Meditierende ist, jeweils selber entscheiden zu lernen, wie viel Aufmerksamkeit wir einer Sinneserfahrung schenken. Wollen wir ihr unsere ganze Aufmerksamkeit schenken oder ist es nicht so wichtig? Können wir es lassen und wenden uns anderem zu? Was ist für mich wichtig? Da gibt es keine Regel, sondern jeder entscheidet selber, was wichtig ist. - Rezitation: Widmungsgebete *** Das Prinzip, das wir in dieser Meditation geübt haben – sie wird bestimmt als die „Schnurrender- KaterMeditation“ in die Annalen eingehen -, ist die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit dorthin zu richten, wohin ich sie haben möchte. Wir haben ja mit dem Atem angefangen und wir haben vielleicht gemerkt, dass wir die Aufmerksamkeit auf den Atem richten können. Wir können es aber auch sein lassen. Das ist ja noch relativ einfach, weil der Atem so etwas Vertrautes ist. Dann kommt ein Kater mit seinem Schnurren und wir können die Aufmerksamkeit auf den Kater richten. Wir können es aber auch sein lassen, auch das ist möglich. Was ein Mensch erlebt und wie sein Lebensweg verläuft hängt im Wesentlichen damit zusammen, wohin er seine Aufmerksamkeit richtet. Tatsächlich hängt es damit zusammen, welchen schnurrenden Katern in meinem Leben ich Aufmerksamkeit gebe. Denn dann wird diese Erfahrung groß, sie wird zu der bestimmenden Erfahrung. Wenn ich dieser Erfahrung keine Aufmerksamkeit schenke, sondern bei etwas anderem bleibe, wird dieser andere Bereich stärker und groß. An diesem Richten der Aufmerksamkeit, womit wir gewahr sind entscheiden sich eigentlich Lebenswege. In der Meditation geht es unter anderem um diese Fähigkeit, die Aufmerksamkeit dorthin richten zu können, wo ich tatsächlich Kraft hineingeben möchte. ***

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Gewohnheitstendenzen wahrnehmen Was wir heute Morgen praktiziert haben geht schon in Richtung ‚Essenz der buddhistischen Praxis’. Wir haben uns mit gewahrem Sein vertraut gemacht. Es kann verschiedene Geschmäcker bzw. Formen annehmen. Zunächst einmal beschäftigen uns natürlich die Eindrücke der sechs Sinne. Im Alltag sind wir normalerweise so stark mit diesen Sinneseindrücken beschäftigt, dass wir uns wie vergessen. Auch die ganze Kommunikation und all die Aufgaben, die wir zu erfüllen haben gehören dazu. Wir sind völlig hineingezogen in diese Beschäftigung damit, was wir zu tun haben und was wir erleben. Gleichzeitig sind wir in einem so starken Greifen und Fixieren, dass es ziemlich erschöpfend wirkt und sehr viele emotionale Reaktionen auslöst. Mit der Meditationspraxis wenden wir uns diesem Geschehen zu: Was passiert da eigentlich? Was passiert, wenn ich Körperempfindungen habe? Was passiert, wenn ich höre? Hören ist zum Beispiel Grundlage des Kommunizierens und verbunden mit Denken, Fühlen und den davon ausgelösten Impulsen. In all dem ist normalerweise ein extrem hoher Anteil an vorhersehbarer Reaktion. Wir reagieren aufgrund von Gewohnheitsmustern mit „mag ich/ mag ich nicht“ und noch vielen Extra-Mustern. Dieses automatische, vorhersehbare Reagieren auf die verschiedenen Sinneseindrücke und auf das, was in unserem Geist an Denken und Fühlen auftaucht, nennt man Samsara. In Samsara, dem Kreislauf dieser Gewohnheitsmuster, sind wir vorhersehbar. Die Knöpfchen werden gedrückt und die Reaktion läuft ab. Ihr konntet heute morgen schön beobachten, wie automatische Reaktionen abliefen, als der Kater herein kam: zuerst einmal das Wahrnehmen/ Identifizieren, dann das Angezogen-sein oder die Ablehnung. Wir konnten das so gut erkennen, weil wir grundlegend in einem erhöhten Zustand von Gewahrsein waren. So konnten wir deutlicher merken, wie wir auf einen so klaren Sinnesreiz reagieren. Im Alltag überlagern sich aber so viele und schnell aufeinander folgende Sinnesreize. Andererseits sind wir in einem grundlegenden gewahren Sein nicht genügend verankert, sodass wir unserer Reaktionen nicht so detailliert gewahr werden. Diese Reaktionen gestalten dann unser Erleben und unsere Welt so rasant und kräftig, dass wir einen oder auch viele Tage leben, ohne jemals aus diesen Mustern auszusteigen. Wir sind in den drei Grundreaktionen von Anhaften, Ablehnen und Ignorieren, die ständig ablaufen. Z.B. Kaffee mag ich / Tee mag ich nicht; diese Marmelade mag ich / mag ich nicht; dieses Brötchen mag ich / mag ich nicht; den Nachbarn mag ich / mag ich nicht u.s.w. Dieses automatisch sich reproduzierende Verhalten mit automatisch sich reproduzierender Weltsicht - die wiederum aufgrund der Interpretationen und Bewertungen unseres Erlebens in bestimmten Verhaltensweisen resultiert - nennt man Samsara. Meditation ist eine Methode – keine Art des Seins -, um den Fuß in die Tür zwischen die Reaktionsmuster zu kriegen. Wir brauchen so viel Gewahrsein, dass wir das Anspringen eines Musters bemerken und entspannen können. Das ist das Grundlegende, das wir hier eine Woche lang üben werden. Wir versuchen, so gewahr zu werden, dass wir immer wieder anspringende Muster wahrnehmen und aus dem Gewahrsein heraus anders damit umgehen können, als wir es bisher automatisch gemacht haben. Auch wenn es gar nicht nötig wäre, sind wir normalerweise den ganzen Tag dabei, automatische Reaktionen ablaufen zu lassen (Jucken - kratzen, Schmerz - Sitzposition ändern, ...). Eigentlich ist ja auch nichts dagegen einzuwenden. Nur läuft es auch auf emotionaler Ebene so ab. Wir hören eine Kritik und reagieren mit Ablehnung - genau so automatisch. Wir möchten die Kritik weg haben, wie wir das Jucken weg haben möchten. Je weiter es in den emotionalen Bereich hinein geht, desto stärker merken wir, wie viel dukkha, wie viel Leid, damit einhergeht. Wir fühlen uns wie gefangen in unseren automatischen Reaktionen. Beim Meditieren beginnen wir zu lernen, wie wir mehr Raum hineinbringen können: das Erleben taucht auf und wir reagieren nicht sofort. Das ist das erste Innehalten – noch nicht reagieren, sondern warten. Schauen: Was ist jetzt angemessen? Möchte ich mich kratzen? Möchte ich mich bewegen? Möchte ich die Katze zu mir nehmen oder möchte ich sie hinaustragen oder einfach lassen? Wenn ich innehalte und nicht sofort reagiere, tut sich mir ein Fächer von Möglichkeiten auf. Das ist das erste, was wir üben, und es wird allgemein „Entspannung“ genannt. Aber eigentliches hat es gar nichts damit zu tun, dass wir schlaff werden würden oder die innere Aufmerksamkeit nachlassen würde. Wir sind im Gegenteil voll präsent. Aber in dieser Präsenz ist etwas Gelöstes, das nicht automatisch aus der Anspannung heraus reagiert. Dieses gelöste Wahrnehmen nennen wir Entspannung. Das ist die Entspannung dieser Reaktionsmuster. Das ist die grundlegende Übung in allen Traditionen: diese gelöste, wache Präsenz.

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Karma und karmische Reinigung Nun machen wir einen kleinen Ausflug zum Begriff Karma. Wie wir die auftauchende Sinneswahrnehmungen erleben, ist karmisch eingefärbt. Wie wir z.B. den Kater heute morgen erlebt haben. Das Erleben taucht gar nicht neutral auf, denn es gibt selten ein neutral auftauchendes Erleben. Meistens geht bereits eine Gefühlstönung damit einher. Im Buch, das ich mit Fred und Ursula herausgegeben habe (Mahamudra und Vipassana2), gibt es ein Kapitel von Fred über Vedana, Gefühlstönungen. Darin wird sehr schön beschrieben, dass immer Gefühlstönungen mit im Spiel sind, sobald eine Empfindung auftaucht. Schon in ihrem Auftauchen wird eine Empfindung als angenehm/ unangenehm/ wenig relevant erlebt. Das nannte der Buddha ‚das Reif-werden von Karma‘. Die buddhistische Lehre sagt, dass sich Karma, also die Muster der Vergangenheit, ständig darin zeigt, wie Sinneswahrnehmungen mit Empfindungen von angenehm/ unangenehm verknüpft werden. Wenn wir es schaffen, dass solche Reaktionsmuster zwar auftauchen und eine angenehme/ unangenehme/ neutrale Empfindung hervorrufen, wir aber nicht reagieren, nennt man das ‚Karma kann sich erschöpfen‘. Es wird nicht direkt mit einer Reaktion bedacht und dadurch wieder fortgesetzt. Das ist der Beginn der karmischen Reinigung. Es ist gut zu wissen, dass genau das, was wir diese gelöste Präsenz nennen bereits das ist, wodurch sich das aufgrund vergangener Eindrücke entstandene Erleben befreien, sich lösen kann. Viel deutlicher wird das noch wenn wir wahrnehmen, was im sechsten Sinn an Gedanken und Gefühlen auftaucht. Wenn wir in der Meditation auf dem Kissen sitzen, tauchen auch Gedanken auf, und zwar solche, die typisch für uns sind, die uns persönlich etwas angehen. Jene Gedanken, die stärkere Reaktionen in uns auslösen, haben mit unserer Biografie zu tun: damit, was wir in der Vergangenheit erlebt haben; das, worauf wir uns in der Zukunft hinbewegen und das, was uns jetzt gerade beschäftigt. In diesen Gedanken ist die karmische Ladung am stärksten. Wenn wir etwa an einen Streit von gestern denken, dann ist das Denken daran mit einer starken emotionalen Ladung verbunden: das nennt man Karma. Das ist das Karma von gestern. Die Reaktionsweisen, wie wir bereits als Babies begonnen haben zu reagieren, gehen immer wieder auf etwas Vergangenes zurück. Der buddhistische Karma-Begriff geht sogar in frühere Leben zurück, die offenbar mit gestalten wie schon in der Gebärmutter und nach der Geburt Erleben verarbeitet wird. Es geht also um ganz frühe Prägungen. Dies alles nennt man ‚Wirken‘ - was Karma eigentlich bedeutet. Es sind Auswirkungen von vergangenem Erleben. Wir brauchen nicht an vergangene Leben zu glauben, um Karma zu verstehen. Es reicht zu verstehen, dass uns alles, was wir in der Vergangenheit erlebt haben, geprägt hat und zu Reaktionsmustern geführt hat, mit denen wir jetzt zu tun haben. In jene Muster nun bringen wir diese gelöste Präsenz hinein. Wir entspannen diese Muster und ein Raum öffnet sich, in dem wir erst einmal nicht reagieren. Dann können wir bewusst entscheiden, wie wir mit der Situation umgehen wollen. Das nennt man auch Karma, denn es ist auch ein Wirken. Wir setzten neue Wirkungen und dazwischen ist Bewusstheit. Im Ausstieg aus dem Reaktionsmuster öffnet sich ein gewisser Raum, was noch nicht heißt, dass dies die totale Freiheit ist. Wir sind immer noch von unserer Einschätzung der Welt, unseren Prioritäten, unseren Wertvorstellungen etc. geprägt. Dies alles ist bedingt. Aber es gibt diesen offenen Raum der es erlaubt, zum Beispiel aus Liebe zu handeln, etwa den Kater liebevoll vor die Tür zu setzen. Es gibt die Möglichkeit, aus Liebe und Weisheit zu handeln. Dieses Handeln nennt man auch Karma, wie man auch emotionales Handeln Karma nennt, denn auch das bewirkt wieder etwas. ***

Gleichzeitiges Entstehen und Befreien Selbstbefreiung des Leids Sowohl waches, bewusstes Handeln bewirkt etwas, als auch unbewusstes, reaktives Handeln. Beides ist Karma. Das eine ist heilsames Wirken. Das andere, welches reaktiver ist und auf Emotionen aufbaut, hat oft etwas weniger heilsam und erleben es als leidvoll. Wir möchten es eigentlich vermeiden, so unbewusst und reaktiv zu sein, weil sich damit das Alte, Zwanghafte fortsetzt. 2

Tilmann Lhündrup Borghardt, Fred von Allmen (Hrsg.): Mahamudra und Vipassana: Gewahr sein. RetreatUnterweisungen. 2015. Norbu Verlag.

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

In der Mitte davon wird das Geprägte reif. Das ist es, was wir jetzt erfahren. Wenn wir dann aber gelöst und gewahr genug sind, fallen wir nicht auf jedes Reaktionsmuster rein, sondern nur auf ein paar. Einige erkennen wir und merken: „Ah, nein jetzt nicht!“ Dann entspannen wir erst einmal und schauen, was angemessen ist. So entsteht ein neues Wirken. Wegen dieses zweiten Teils sagte Buddha: „Karma ist deine Zuflucht“. In diesem Sutra über Karma gibt es viele Aussagen, zum Beispiel das Karma unsere Zuflucht ist. Denn in diesem bewussten Wirken gestalten wir unsere Welt und unsere Zukunft. Wo wir jetzt Impulse setzten und unsere Aufmerksamkeit hin lenken, gestalten wir die weitere Entwicklungslinie unseres Lebens: so möchte ich sprechen und reagieren; da steige ich drauf ein; den Pfaden folge ich weiter. Dabei kommen immer wieder die alten Reaktionsmuster zum Vorschein. Sie sind nicht vorbei. Während wir uns weiter entwickeln, brauchen wir wegen diesen Reaktionsmustern immer das Gewahrsein, um die Fähigkeit, uns bewusst zu entscheiden wohin wir wollen, auch umsetzen zu können. Wir können sie anwenden und nutzen, weil wir diese Fähigkeit haben. Um es plastisch zu sagen: Wenn wir über „freien Willen“ sprechen, ist es für einen normalen Menschen eigentlich ein ziemlich illusorischer Begriff. Es gibt im normalen, reaktiven Leben kaum freien Willen. Wenn wir mit Gendün Rinpoche diskutiert haben, meinte er lächelnd: „Naja, vielleicht gibt es 1% freie Entscheidungen im normalen Leben, 99% sind voll reaktiv.“ Was ist also der Prozess des Erwachens? Es ist die Fähigkeit immer mehr freie Entscheidungen fällen zu können. Immer weniger reaktive Entscheidungen und immer mehr bewusst gestaltendes Wirken. Volles, erwachtes Wirken ist 100% frei immer aus Liebe und Weisheit zu handeln. Es ist nicht die x-beliebige Freiheit, alles zu tun, wie zum Beispiel negativ und zerstörerisch zu handeln. Sondern es ist die Freiheit, aus den Qualitäten heraus handeln zu können. Das ist im Buddhismus mit Freiheit gemeint. Gendün Rinpoche sagte: „Ja, ein Buddha ist 100% frei, aus Liebe und Weisheit zu handeln. Aber glaubt nicht, er sei frei in dem Sinne, wie ihr das in der Hippie-Bewegung (zu dieser Zeit war Gendün .Rinpoche in Europa angekommen) meint. Man kann einen Buddha auch als Sklaven des Wohles aller Lebewesen verstehen.“ Sklave ist hier im besten Sinne gemeint, nämlich als ein freiwilliger Diener des Wohles aller – und darin ist er nicht wirklich frei. Denn er wird immer zum Wohle aller handeln und Optionen, die er auch hat, wie z.B. zerstörerisch zu handeln, gar nicht nutzen wollen. Es ist klar, dass ein wirklich freier Menschen, ein Buddha, vorhersehbar zum Wohl der Gesamtsituation wirken wird. Aber wie genau er das tut, das wissen wir nicht, weil wir nicht auf derselben Wellenlänge sind. Da kann es auch sein, dass es zu ganz unkonventionellen Antworten und Handlungen kommt. Das „Wie“ wissen wir nicht. Es ist jedoch vorhersehbar, dass etwas Gutes dabei herauskommt, weil alle Qualitäten zur Verfügung stehen. Es gibt keine automatischen Reaktionsmuster, die ich-bezogenes Wirken bewirken würden (also diese alte Form von Karma). So entsteht die neue Form von Wirken, die man im Tibetischen nicht mehr lé (Karma) nennt, sondern trinlé (erwachtes Wirken). Deswegen kann man sehr unterschiedliche Antworten bekommen, wenn man einen Meister fragt: „Bist du frei in deinem Wirken?“ Sie sind frei, weil sie nicht an Alleinsein, Zweisamkeit, Gruppenzugehörigkeit, ... gebunden sind. Sie können sich frei bewegen, weil es diese emotionale Bedürftigkeit nicht mehr gibt, die befriedigt werden muss. Aber gleichzeitig sind sie völlig Diener der Situation, in der sie sich befinden, in diesem Netzwerk von Beziehungen von Menschen, um die sie sich kümmern. Sie werden mit großer Zuverlässigkeit in diesem Netzwerk heilsam wirken. So jemand ist sehr kontinuierlich und vorhersehbar in der Welt unterwegs. Versteht ihr jetzt die Rolle von dem, was wir Gewahrseins-Schulung nennen? Es geht um den Moment, in dem wir den Fuß in die Tür kriegen. Das Reaktionsmuster heißt, die Tür will zuschlagen – Nein! warten, entspannen, wahrnehmen. Dabei gibt es ganz viele Möglichkeiten: nicht nur zu warten und die Emotion abklingen lassen. Man kann die Natur des Reaktionsmusters/ der Erfahrungen durchschauen, Einsichtsmeditation, Liebe und Mitgefühl ins Spiel bringen... Es gibt viele Möglichkeiten, was wir machen können, wenn etwas reif wird und das Nächste gestaltet werden möchte. In diesem Zwischenraum bewegen wir uns. Im Alltag geht das sehr schnell. Deshalb brauchen wir dafür die Übung, um die wir uns jetzt kümmern. Wir müssen so gewahr sein, dass wir „on the spot“ sind – on the spot gewahr und gelöst. Wenn wir gelöst sind, geht unser Wirken anders weiter, als wenn wir im gestressten Erleben wären, wobei Stress eine andere Übersetzung ist für dukkha/ Leid.

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

Teilnehmer: Es gibt Praktiken, in denen man darum bittet, dass alles Karma und Leid der Lebewesen in mich verschmilzt. Es gibt positives und negatives Karma, wobei die Natur der beiden dieselbe ist. Warum formuliert man das so: Möge alles Karma und alles Leid… Diese Gebete stammen aus dem Lodjong, dem Mahayana-Geistestraining in sieben Punkten – dort werden sie jedenfalls in unserer Linie gelehrt – und sollen die Ablehnung von Schwierigkeiten auflösen. Wenn ich den Wunsch mache: „Möge alles Karma in mir heranreifen“, dann öffne ich mich dafür, sämtliche Erfahrung aller Lebewesen zu teilen, mich vor nichts mehr zu verschließen, und vor nichts mehr davon zu laufen. Das ist der Hammer. Es ist ein so tiefes, umfassendes Gebet, weil es die Schutzwälle auflöst, die beispielsweise lauten: „Ich will mit deinen Problemen nichts zu tun haben“, oder auch „Dein Glück ist mir egal, denn ich will bei mir bleiben“. Durch das Gebet sage ich: „Ich bin bereit, mich auf alles Erleben einzustellen“. Tatsächlich ist es nicht so, dass das Karma anderer in uns reif wird. Aber wir werden durchlässiger, wie eine ganz fein vibrierende Trommel, die mit allem mitschwingt. Das Erleben anderer kann uns erreichen und wir erlauben uns, mitzuschwingen. Meine Frage hat auch noch die Bedeutung: Warum wird sowohl positives als auch negatives Handeln „Karma“ genannt? Weil eigentlich das, was wir positives oder heilsames Karma nennen, nur eine reduzierte Form von Stress ist. Es wird von uns als heilsam erlebt, weil der Stressanteil deutlich geringer ist. Bei dem, was „nicht heilsam“ genannt wird, ist der Stressanteil so erheblich, dass alle merken, dass es keine Befreiung ist. Wir können das gut am Beispiel eines Urlaubs sehen: da gibt es so viele schöne Erfahrungen, an die man sich erinnern kann, die man auch geteilt hat. Wenn man in diese Erfahrungen aber hineinschaut, ist darinnen immer noch IchBezogenheit und eine dualistische Bezogenheit sowie ein gewisse Anspannung. Beispielsweise die Angst, den anderen zu verlieren; die Hoffnung, lange zusammen zu bleiben oder den Moment des schönen Erlebens auszudehnen und vor schädlichen Einflüssen zu schützen. All diese subtilen Formen von Anspannung sind der subtile Stress im heilsamen/positiven Erleben. Es gibt also keine klare Linie zwischen heilsamem und unheilsamem Handeln, nur graduelle Unterschiede. Deshalb ist es eine Einschätzungsfrage, wie viel Stress da beteiligt ist. Das heißt der Hauptschlüssel ist eigentlich das Leid durch das ich die Natur von allem erkenne? Der grundlegende Ausstieg aus Leid besteht darin, dass man die Natur des Erlebens erkennt und nicht mehr in diesem Greifen ist. Wo kein Greifen mehr ist, ist auch kein Leid. Wenn man die nicht-fassbare, nichtgreifbare Dimension des Erlebens erfährt, löst sich im gleichen Moment auch das Greifen auf. Denn niemand greift nach etwas Nicht-greifbarem. Wenn das Erleben des Nicht-fassabaren tatsächlich präsent ist, findet kein Greifen statt. Das ist das Ende dieses Stresses der Samsara charakterisiert. Es ist nicht das Ende von schwierigen Erfahrungen: der Körper zerfällt weiter, kann krank werden usw., Hitze ist Hitze und Kälte ist Kälte. Aber dieser zusätzliche Stress des Sich-Identifizierens, des Fixierens, des Greifens fällt weg. Teilnehmer: Ist das, was du gerade beschrieben hast, auch der Schlüssel dafür, dass ich nicht weggeschwemmt werde, wenn ich mich für mein eigenes Leid oder das Leid aller öffne? Oder anders gefragt: was gibt mir den Halt, da bleiben zu können? Das gerade Ausgeführte ist die Antwort darauf: das Nicht-Greifen ist genau das, was die Stabilität gibt. Wegspülen, wegreißen, überschwemmen kann mich nur etwas, wenn ich es vergegenständliche. Wenn ich nicht mehr im Vergegenständlichen bin, ist es, als ob die Kräfte ohne Widerstand durch mich durch gehen würden. Und solange ich da noch nicht bin, muss ich eben schlau dosieren, was ich mir zumute? Richtig. Das heißt: wir öffnen uns im Maße unserer wachsenden Durchlässigkeit und Gelöstheit. Je gelöster wir sind, desto offener können wir sein. Teilnehmer: Das Leid kann einen förmlich wegreißen, wenn man das Leiden anderer auf sich nimmt oder Mitgefühl hat. Man sollte voller Mitgefühl sein, aber gleichzeitig sollte man nicht mitgerissen werden. Also zuerst sollte man sich ins Zentrum stellen und dann sollte man aber nicht weggeschwemmt werden, nicht wahr? Da möchte ich gern wissen, wie du das machst.

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

Als erstes nehme ich alle „sollte“ raus. In meiner Küche steht ein Kärtchen: „Ich bin nicht perfekt und ich arbeite auch nicht daran, es zu sein.“ Ich habe überhaupt kein Programm, wie ich sein sollte. Stattdessen sage ich mir: „Ja, ich kann und darf mitfühlend sein. Es ist mir möglich, ins Zentrum des Geschehens zu gehen.“ Ich kann so durchlässig werden, dass ich nicht mitgerissen werde. Das ist eigentlich eine Einladung an mich selbst. Wenn du aber gar nicht anders kannst? Es gibt viele Leute in helfenden Berufen, die gar nicht anders als mitgerissen werden. Nachdem ich das „sollte“ raus genommen habe, kommt die eigentliche Antwort: Jetzt, wo wir das als Möglichkeit begreifen, merken wir auch, dass wir auch in helfenden Berufen zusätzlich zum Mitgefühl auch das Gewahrsein brauchen, das wir Weisheit nennen. Das Mitfühlen alleine ohne Weisheit führt dazu, dass wir automatisch mit unseren Reaktionsmustern ins Mitfühlen einsteigen. Das heißt ich komme zu einem Kranken ans Krankenbett. Ich fühle mit, wie furchtbar schlecht es ihm geht und in mir fängt es an spürbar zu werden, wie es mir ginge, wenn ich da läge. Das kann so stark werden, dass wir einfach zusammen total verzweifelt sind. Das ist ein sehr starkes Beispiel von mangelnder Weisheit, mangelndem Gewahrsein. Es geht darum, sich in das Erleben einzuschwingen das im Mitgefühl auftaucht. Zum Beispiel wie schlimm die Schmerzen in den Knochen aufgrund von Krebsmetastasen sein müssen. Wir schwingen uns mitfühlend ein und sind gleichzeitig gewahr, was für eine Tortur das sein muss. Gleichzeitig sind wir bewusst das es Wahrnehmungen im Geist sind, die sich selbst befreien und die wir nicht vergegenständlichen müssen. Indem ich sie durchrauschen lasse und nicht nach ihnen greife, behalte ich die innere Freiheit, dem anderen in Liebe und Freude zugetan zu sein. Dann kann ich dem anderen ein wirklicher Helfer oder eine Helferin sein, weil ich im Mitfühlen nicht ins Mitleiden gehe. Ich fühle zwar, aber ich vergegenständliche nicht. Aus dem mitgefühlten, erahnten, erspürten Leid wird kein wirkliches Mitleiden. Es ist präsent ohne von mir als „mein Leid“ erfahren zu werden. Das braucht es: das Durchschauen der Natur des Erlebens. Wir müssen die Natur sowohl der angenehmen wie der unangenehmen Erfahrung durchschauen: da ist nichts Gegenständliches und es entwickelt sich aus sich selbst heraus – ohne unser Zutun – in etwas anderes weiter. Auf Tibetisch heißt es rang dröl, Selbstbefreiung allen Erlebens. Wenn wir absolut nicht greifen, dann befreit es sich total. Auch wenn ein bisschen Anhaften da ist, entwickelt es sich trotzdem weiter. Der Wandel geht ständig weiter – nichts bleibt. Der Einstieg in die Weisheit und das Mitgefühl, welches wir brauchen, ist zu wissen: alles wandelt sich. Das ist unglaublich hilfreich. Wir können mit den schwierigsten Situationen konfrontiert sein, aber die Grundweisheit bleibt: auch das wird sich ändern und ist bereits dabei sich zu ändern. Diese minimale Weisheit brauchen wir. Dieses Gewahrsein des Wandels ist das Einstiegstor in ein Gewahrsein des ständig stattfindenden Stroms des Erlebens, in dem nichts Substanz hat – was wir Leerheit nennen. Das ist die tiefere Weisheit. Es beginnt aber damit, gewahr zu sein, dass sich ohnehin alles ändert. In der beratenden, helfenden Funktion brauchen wir oft nur Zeuge des Wandels zu sein. Wir können anderen helfen zu bemerken, dass das Leiden nicht so solide ist. Selbst jetzt, da ich z.B. Schmerzen habe, kann ich einen Moment der Freude erleben, ein wenig Vertrauen spüren oder eine wunderschöne, besänftigende Erinnerung in mir wachrufen etc. Ich bin mehr als nur diese schmerzhafte Erfahrung. Wir brauchen nur den Zeugen zu spielen für die Prozesse, die in jemandem stattfinden und zu spiegeln: zum Beispiel da ist Trauer, aber gleichzeitig ist da auch Vertrauen. Du spürst in deinem Trennungsschmerz sowohl die Liebe wie auch den Schmerz des Verlassenseins. Wenn wir einfach das Gewahrsein auf die Dynamik des Geschehens halten, können wir schon unglaublich hilfreich sein. - stille Meditation Ich möchte euch bei der Gelegenheit darauf hinweisen, dass wir bei all den Meditationen, die wir jetzt in diesem Retreat machen, nie woanders hingehen. Das heißt jetzt gerade, wo diese Unterweisung zu Ende ist, die unseren Intellekt stimuliert hat, gehen wir mit unserem Erleben nicht woanders hin. Wir bleiben jetzt da in dieser Pause: wie fühlt es sich jetzt an, zu sein, jetzt gerade – wir brauchen keinen besonderen Zustand zu erzeugen. Ein typisches Muster wäre jetzt, weiter darüber nachzudenken, was wir gehört haben. Wenn wir das wollen, können wir das tun. Wir können es aber auch lassen. Von meiner Seite her reicht es, das einfach gehört zu haben und es jetzt zu lassen. Ganz weit und offen kann der Geist sein, obwohl er eben noch ganz im Erfassen war – in dem Moment, wo das vorbei ist: schon wieder ein neues Erleben.

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

Die Schattenseiten akzeptieren Teilnehmer: Ist es ein Widerspruch das Streben zum Erwachen, den Dharma zu leben und die eigenen Schattenseiten zu akzeptieren? Ich finde es ist wichtig die eigenen Schattenseiten zu akzeptieren… aber dann bin ich ein Stück weg vom Erwachen. Frag doch den inneren Lama in dir, den inneren Buddha. Was würde dein inneres Buddha-Sein dir antworten? Ich glaube du weißt die Antwort schon. Spüre einmal hinein. Ist das Akzeptieren der eigenen Schatten ein Teil des Weges des Erwachens oder ist es ein Widerspruch? Es ist schon Teil des Weges. Aber in meiner Vorstellung muss ich meine Schattenseiten aufgearbeitet haben, um zum Erwachen zu kommen. Es ist ein Weg dahin. Genau. Super Antwort. 100 Punkte. Der innere Lama hat sehr schön geantwortet. Jetzt ist die spannende nächste Frage für mich: Was heißt hier aufarbeiten? Weil da kann man sich auch täuschen… Was sagt dein innerer Buddha dazu? Freilegen, integrieren in dem Sinne, dass Teile von meiner Ganzheit sind. Sie haben vielleicht unter widrigen Umständen eine Schale geformt, die mir zunächst nicht behagt. Aber darunter ist ein Kern, der nicht anders ist als all das, was sonst zu mir gehört. Und was wird wohl mit dieser Schale, mit diesen Mustern, diesen Schatten passieren, wenn du dich ihnen dann so integrierend zuwendest? Es wird sich wandeln. Die Richtung kann ich nicht vorhersehen, aber es nie kein Teil von mir. Es kann etwas Schönes, Kraftvolles, Lebendiges werden. Ich möchte aus meiner Erfahrung noch etwas anfügen. Aus unseren jetzigen Schattenseiten - unsere größten inneren Dämonen, womit wir uns immer herumschlagen - werden unsere stärksten Qualitäten entstehen, wenn wir ihnen mit Liebe, Mitgefühl und Weisheit begegnen. Es wird uns in die Lage versetzen, Menschen mit genau solchen Schatten und Dämonen ganz effektiv zu helfen, weil wir diesen Prozess in und auswendig kennen. Wir werden zu Spezialisten. Auch als Erwachte behalten wir noch biographische Merkmale bei. Wir sind von ihr geprägt aber sie behindert uns dann nicht mehr. Wir werden genau in dem Bereich, indem es uns am schwersten fiel, besonders kompetent sein wenn wir diesen Bereich erlöst und befreit haben. ***

Meditation - Wandel Ihr wisst ja beim Meditieren: alle Sinne öffnen und entspannen zugleich – wache Präsenz, ohne etwas zu beabsichtigen … Im Körper spüren, hören, sehen, riechen, schmecken, denken, fühlen. Dabei können wir unser Augenmerk darauf richten, wie alles Prozess ist … Wir entdecken, wie wir selber Prozess sind – durch und durch, ganz und gar. Es gibt keine Ausnahme in irgendeiner Ecke des Erlebens. Alles ist Wandel. Überprüft mal, ob es irgendwo etwas Festes gibt … Selbst der sogenannte Beobachter / die Beobachterin ist Prozess – mal stärker präsent, mal weniger, mal abwesend. Einfach beobachtende Geistesbewegungen, die gar nicht immer da sind … Stets des Wandels gewahr zu sein, ist eines der großen Eintrittstore in die Befreiung. Der Buddha sagte einfach: „Alles, was entsteht, vergeht auch wieder.“ Spätere Lehrer fügten an: „Und es vergeht von selbst. Wir brauchen nichts zu tun, um nachzuhelfen.“ Und um das noch klarer zu machen, sagen die MahamudraMeister: „Alles, was uns gefangen nimmt, was immer uns einengt, was immer für Fixierungen entstehen, befreit sich von selbst.“ ... Den Wandel können wir nicht sehen, sondern nur erleben...

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

Manchmal erscheint uns Wandel so, als würde ständig Neues entstehen: immer neues Körpererleben, immer etwas anderes, als eben noch. Immer neue Hör-, Seh- und Geruchswahrnehmungen, Geschmäcker, Gedanken, Gefühle, Bilder – immer wieder neu … Diese Art, Wandel wahrzunehmen, ist das Gefühl „da passiert ständig etwas“. Wenn wir unseren Atem nehmen, so geschieht ständig das neue Atemerleben. Im Herzen pocht es, immer wieder neues Poch-Erleben. Vielleicht schwitzt ihr, auch dieses Schwitz-Erleben gestaltet sich ständig neu ... Nicht einmal einen Gedanken, den ich selber erzeuge, kann ich festhalten, ich muss ihn immer wieder neu erzeugen. Nicht einmal ein Gefühl, das ich habe, kann ich festhalten, ich muss es immer wieder neu erzeugen. Um ganz sicher zu gehen, versucht doch selber einmal, euch auch nur für ein paar Sekunden nicht zu verändern ... Wenn wir aus dieser Perspektive schauen, dann enthüllt sich Wandel als ein ständiges Vergehen – nichts bleibt ... Die erste Perspektive von Wandel ist ständiges Entstehen. Die zweite Perspektive: ständiges Vergehen. Die dritte Perspektive ist: es gibt weder Entstehen, noch Vergehen. Wenn wir von Entstehen sprechen, müsste wenigstens für einen Moment etwas fassbar sein, etwas bleiben – auch nur für einen Moment. - Wo ist denn etwas, was bleibt? … Diese Perspektive heißt im Tibetischen schadrö – Entstehen und Befreien – Befreien im Entstehen – die Gleichzeitigkeit von Entstehen und Wandel. Um dies zu erleben, müssen wir die beobachtende Position loslassen und ganz zum Erleben werden – ganz sein – ohne Distanz … Bleibt ganz in diesem durchlässigen, wachen Erleben, auch wenn ich jetzt die Klangschale anschlage. ***

Nicht-Beständigkeit Wir sprechen in dieser Dharma-Sprache oft von „Vergänglichkeit“ – das ist nicht der beste Ausdruck, den wir benutzen können. Pali anicca oder Sanskrit anitya bedeutet eigentlich „nicht ewig, nicht beständig“. Auf Deutsch wäre Unbeständigkeit, Nicht-Beständigkeit eine deutlich bessere Übersetzung. Diese Unterweisung über die Nicht-Beständigkeit unseres Erlebens ist ein direktes Antidot, ein Heilmittel, für unsere irrige Annahme von Beständigkeit. Aus Hoffnung und Furcht wünschen wir uns Beständigkeit, in die wir uns entspannen könnten. Und so manche Religionen versuchen, uns ein Angebot von Beständigkeit zu geben – Seele, Gott, Brahman, Atman, Beten zu etwas Beständigem. Das ist zwar gut gemeint, entspricht aber nicht dem Erleben. Das, was beständig ist, sind nur die Qualitäten des Erlebens und kein Etwas. Beständig ist nur, dass Wahrnehmen ständig stattfindet und dass die Qualitäten dessen, was wir erleben, nicht fassbar sind. Das Nicht-Fassbare ist in seiner Nicht-Fassbarkeit auch beständig – aber es ist kein Etwas. Auch Wandel ist beständig, aber Wandel ist kein Ding, sondern eine Idee – eine beständige Qualität des Seins. Buddha wollte aufräumen mit dem Glauben an ein beständiges Ich, eine beständige Seele, ein beständiges Gegenüber, eine beständige Liebe, beständige Beziehungen, beständige Umwelt. Dies alles gibt es nicht. Liebe ist per se Prozess. Alle von uns haben versucht, unsere Liebe beständiger zu machen. Dabei können wir uns nur dem Prozess des Liebens übergeben. Wir können nichts festhalten: wir können den Körper nicht beständiger machen, denn wir werden unweigerlich älter; wir können keinen Gedanken, kein Gefühl beständiger machen – sie alle entwickeln sich weiter, setzen sich fort. Die Lösung Buddhas war einen andere Lösung als die der geistigen Tradition seiner Zeit. Er hat nicht versucht, etwas Beständiges zu geben, sondern sagte: „Schaut hinein in den Wandel, bis ihr ganz vertraut damit werdet, sodass ihr keine Angst mehr vor dem Wandel habt.“ Es geht darum, diese grundlegende Angst vor der Unbeständigkeit aufzulösen. Da ist gar nichts Gefährliches – die Unbeständigkeit des Seins ist gleichzeitig auch das Geschenk des Seins. Wenn die Dinge beständig wären, zum Beispiel jetzt hier im Saal, wäre das der Tod von uns allen. Wir würden nicht mehr weiter atmen, nicht mehr weiterdenken, uns nicht mehr weiter bewegen, die Hörerfahrung, die Seherfahrung, ... alles würde beständig sein. Wollten wir das? Nein! Das Geschenk des Lebens ist Wandel – Leben ist Wandel. Es gibt Leben nicht ohne Wandel.

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

Wandel ist ein schönes Wort. Wandel ist ein neutrales Wort, weil es nicht sagt, dass mit dem Wandel etwas verkehrt wäre (wie die Unbeständigkeit, die unseren Wunsch nach Beständigkeit ausdrückt und diesen verneint), sondern einfach beschreibt: alles wandelt sich. Auch Prozess ist heute ein Ausdruck, den viele gut annehmen können: die prozesshafte Natur des Seins, die prozesshafte Natur des Ichs, die prozesshafte Natur von Beziehungen, auch Gottesglaube ist Prozess und der Gott, an den jemand glaubt, ist auch Prozess, weil sich ständig ein neues Erleben von dem scheinbar Beständigen einstellt. Es ist gut, wenn wir das ganz tief erforschen. Für mich ist das die große Meditationsaufgabe in meinem Leben: immer in diesem dynamischen Erleben aufzugehen und mich nicht gegen die Unbeständigkeit zu sträuben. Ich bin ohnehin Verlierer, wenn ich das tue, weil es nicht geht. Ich kann nur mich selbst als unbeständig, als Wandel erkennen. Und alles andere um mich herum auch. In diesem Wandel nutze ich die Kräfte des Wandels, um das Leben zu gestalten.

Bedingtes Entstehen Damit schließe ich an die Unterweisung über das „Entstehen und Befreien“ an: das Hineinwirken in eine sich wandelnde Situation nennt man bedingtes Entstehen. Wir nutzen das bedingte Entstehen von allem Erleben, um mit unseren Geisteskräften hineinzuwirken. Das ist unser kleiner Anteil am bedingten Entstehen der Situationen. Aber viele andere Bedingungen, die wir nicht verändern können, die von weit her kommen, wirken ebenso auf uns ein. Wir können unsere Geisteshaltung etwas ändern – auch das ist Prozess. Jetzt gerade spreche ich und ihr hört. Natürlich beeinflusse ich dabei euer Erleben, sowie mein eigenes Erleben. Das ist Beeinflussen, aber ich kann euch nicht zu irgendeinem Erleben zwingen, denn in euch sind ja noch andere Kräfte aktiv. Das heißt jeder hat sein eigenes Erleben, obwohl von mir eine massive Beeinflussung kommt. Aber jeder hat so viele andere Kräfte in sich aktiv, dass in dem einen das vorbei rauschen mag, der andere ganz offen dafür ist. So entstehen jede Menge unterschiedliche Erfahrungen aufgrund dessen, was wir jetzt in derselben Situation miteinander teilen. Das bedeutet „den Wandel nutzen“: es kann in jedem Moment eine neue Erfahrung entstehen. Wenn geschickte Worte und Geisteshaltung benutzt werden, dann kann im jetzigen Moment eine ganz offene, freie Erfahrung entstehen. Eine Erfahrung von Weite und Raum, wo vorher Enge war. Das ist möglich, weil nichts Substanz hat. Ich kann gerade noch ärgerlich gewesen sein und im nächsten Moment Weite erfahren, weil der Ärger keine Substanz hat. Das gilt für alle anderen Geisteszustände auch. Auch die Liebe hat keine Substanz – ich kann nach einem Moment der Liebe im nächsten Moment Ärger erfahren. Das gilt für alles, alles ist Prozess, nichts hat Substanz. Es gibt drei Blickwinkel. Der eine Blickwinkel ist: ständiges Entstehen – da passiert immer etwas. Der zweite Blickwinkel ist: ständiges Vergehen. Was auch immer ich gerade erlebe, es ist schon vorbei. Wenn ich es noch benenne und noch dabei bin es erleben zu wollen, ist es ja schon vorbei. Versucht mal, einen Einatem voll und ganz zu erleben. Um ihn voll und ganz zu erleben, hätten wir ihn gern noch ein zweites Mal und ein drittes Mal, aber er ist schon vorbei. Schon kommt der Ausatem und der nächste Einatmen. Erleben ist so voll wie es ist und es ist eben immer nur das, was sich gerade vollzieht. Der Anfang des Einatems ist schon vorbei, dann kommt die Mitte … Es lässt sich nicht wiederholen. Wenn wir mehr erleben wollen, an den Erfahrungen haften, dann haben wir das Gefühl, dass die Erfahrungen viel zu schnell vergehen. Wir haben das Gefühl, gar nicht dazu zu kommen, das Zwitschern des Vogels genießen zu können, weil es schon wieder vorbei ist. Wenn ich mich dem Erleben mit diesem Blickwinkel zuwende, dann habe ich das Gefühl: ständiges Vergehen, ich bin ständig hinterher. Wenn ich mich mit dem ersten Blickwinkel der Sache zuwende, habe ich das Gefühl: ständiges Entstehen, ich bin überwältigt, weil so viel kommt. Aber eigentlich entsteht oder vergeht gar nichts – das ist die dritte Perspektive. Um davon sprechen zu können, dass etwas entsteht, müsste es ja wenigstens für einen winzigen Moment bleiben, denn sonst ist es ja gar nicht entstanden. Da es aber nicht einmal für einen winzigen Moment bleibt, kann man nicht wirklich von einem Entstehen sprechen. Denn etwas Existierendes, was entstanden ist, muss ja irgendwie beschreibbar sein, irgendwie greifbar. Die Merkmale müssen wenigstens für einen Moment stabil sein. Aber weder im Körpererleben, noch im Hörerleben, noch im Seherleben, noch im Denkerleben usw. ist irgendetwas nur für einen Moment stabil. Deshalb ist es Unsinn, von Entstehen und Vergehen zu sprechen – das gibt es gar nicht. Deshalb gibt es den Ausdruck shadrö im Tibetischen, also „Befreiung im Entstehen“, was so viel wie „Vergehen im Entstehen“ bedeutet. Es wandelt sich, es befreit sich, es löst sich bereits in die nächste

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

Erfahrung, während es entsteht. Das macht Sinn. Das ist, was mit „Fließen“ gemeint ist, mit fließendem Sein, nämlich dass wir eins werden mit diesem sich ständigen Wandel. Wer damit vertraut wird erkennt, dass nichts von all dem fassbar ist und dass sich die Natur des Seins dem Benennen und Beschreiben entzieht. Da tun sich für unseren haftenden Geist manchmal Abgründe auf: Gibt es nicht irgendwo eine rettende, stabile Insel, von der aus ich mich dem Wandel dann zuwenden kann?

Nicht-Selbst Was wir den Beobachter nennen kann verschiedene Funktionen einnehmen: Reporter, Journalist, Richter, was auch immer. Es ist ein Gefühl von einer Instanz in mir, die ich dann naiv „Ich“ nenne, in der es eine Illusion von Beständigkeit gibt. Auch wenn der Rest des Lebens unbeständig ist, aber ich möchte da etwas haben, was beständig ist, und ich nenne es einfach einmal „Ich“ oder Seele – jedenfalls etwas, was mir Sicherheit gibt. Deswegen arbeiten wir in der Meditation damit, auch da hinein zu schauen: Wer meditiert denn da? Wo ist denn dieses Ich? Wo ist sie denn, diese Insel? Wir lösen die Illusion von einem stabilen Ich auf und merken: beobachten ist Prozess, denken ist Prozess, beurteilen ist Prozess, fühlen ist Prozess, meinen, wollen, wissen ist Prozess. Alle Qualitäten, die wir dem „Ich“ zuschreiben, entdecken wir als Prozess. Erkennen ist Prozess – Erkenntnis gibt es gar nicht. Es sind Aufgaben in der Meditation, überall dorthin zu schauen, wo wir spüren, dass da ein Wesenskern sein könnte und entdecken immer nur Prozess. Das ist die zweite große Erkenntnis: Pali anatta, Sanskrit anatman, das Nicht-Selbst, im Sinne von kein stabiles Selbst. Da ist ein Prozess-Ich, so wie es die moderne Psychologie begreift, aber kein stabiles Selbst. Das ist nur eine Folge des Verstehens von Wandel, von Prozesshaftigkeit. Das sind die beiden großen Erkenntnisse: alles ist Wandel/ Prozess und auch das Ich ist Prozess. Das führt zu einer dritten Entdeckung: Immer dann, wenn ich nicht im Einklang, in Harmonie mit dem Wandel bin und mich gegen die Nichtbeständigkeit stäube, entsteht Stress – Pali dukkha (Sanskr. duhkha). Ich entdecke, dass Stress immer entsteht, wenn ich nicht im Einklang mit der Natur des Seins bin, wenn sich dieser Geistesstrom, dieses Erleben künstliche Fixierungen schafft. Fixieren ist ja der Inbegriff des Festhalten-Wollens, sich gegen den Wandel stellen. Dies widerspricht der Natur des Seins und führt naturgemäß zu Stress. Zwischen Vorstellung und Wirklichkeit besteht eine sich immer weiter fortsetzende Diskrepanz. Wenn die Vorstellung des Ichs weit auseinander klafft von der Realität des Prozess-Ichs mit seinen Mustern entsteht ein unglaublicher Stress. Er kommt aus der Vorstellung von dem, der ich sein möchte oder meine zu sein und dem, was mir das Leben spiegelt. Wenn ich meine Partnerin fixiere in einem Bild von „wie sie ist“, aber sie ist anders, während mein Bild gleich bleibt, entstehen laufend Situationen, in denen sie sich nicht gesehen fühlt. Das geschieht aufgrund der Fixierung einer Vorstellung, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Wenn wir unseren Sohn oder unsere Tochter immer noch so sehen, wie er oder sie vor zehn Jahren war, entsteht Stress. Der Stress entsteht auch noch in geringerem Maße, wenn wir auf das fixieren, was gestern war und jetzt die Person aber schon anders ist. Wenn wir sie nicht so wahrnehmen, wie sie jetzt ist, sondern meinen, sie wäre so wie gestern, entsteht auch Stress. Das sind alles Formen von Stress. Da war gerade noch Ruhe und ich will diese Ruhe. Deshalb fixiere ich das als mein begehrtes Objekt. Wenn Lärm kommt entsteht Stress, weil ich auf Ruhe fixiere, die nicht ist. Daraus entsteht dukkha. Jetzt kann man sagen: „Pech gehabt, das Leben spielt nicht mit. Das Leben produziert nicht dasselbe, was ich gerade eben noch fixiere.“ Das einzige, was mir übrig bleibt, ist, die Vorstellung der Wirklichkeit anzupassen. Natürlich brauchen wir Vorstellungen. Ich spreche jetzt ständig mit Worten und Worte sind Vorstellungen. Aber mit den Worten können wir uns bemühen, uns dem wirklichen Erleben anzunähern. Da gibt es den berühmten Hinweis: „Du steigst nie in denselben Fluss.“ Du begegnest nie demselben Partner/ derselben Partnerin. Es geht also darum, auch mit unseren Vorstellungen für das Neue aufnahmebereit zu sein. Dabei kann die Sprache beziehungsweise können uns Unterweisungen helfen. Das reduziert dann den Stress aufgrund des Erkennens der prozesshaften Natur sowie des nicht-stabilen Selbst. Wenn wir uns immer wieder in das frische, neue Gestalten einlassen können und mitmachen, dann fällt schon eine Menge Stress ab. Wenn wir nicht die Hände über den Kopf zusammenschlagen und sagen „Oh nein, ich will nicht diesen Tag schon wieder dieses Gestalten, Wirken und dieses bedingte Entstehen. Es soll lieber so weiter gehen wie gestern.“ Darum geht es in der buddhistischen Lehre. Wir werden immer noch herausgefordert durch Alter, Krankheit und Tod – die unangenehme Erfahrung des Seins. Die Herausforderungen hören nicht auf, aber wir reagieren

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

darauf mit einer Bereitschaft, uns sofort darauf einzustellen und sofort weise und liebevoll damit umzugehen. Das ist Erwachen: das unmittelbare Sein mit den sich wandelnden Umständen ohne inneren Widerstand gegen den Wandel. Ein Gestalten in Richtung Heilsames. Im Bewusstsein des Wandels aber nicht mit der Täuschung, dass, bloß weil ich etwas Heilsames denke, sich dieses auch manifestieren müsste. Ich kann mich nicht gesund denken. Ich kann die Liebe nicht herbei denken. Ich kann sie nur leben und schauen, was die Welt zurück gibt.

Prozesshafte Natur des Seins Ich kann immer wieder gestalten – im Fluss. Ich kann mich selbst, den anderen, die Natur und das vermeintlich Stabile ebenfalls als Prozess begreifen. Eigentlich geht es nur um die prozesshafte Natur des Seins. Das ist das eine große Eintrittstor in die Befreiung. Liebe und Mitgefühl sind andere Eintrittstore. Teilnehmerin: Mir ist ziemlich schnell „Speicherbewusstsein“ eingefallen – gibt es auch das als solches nicht? Auch das Speicherbewusstsein ist, wie jedes andere Bewusstsein, Prozess. In der Naturwissenschaft weiß man heute, dass Gedächtnis Prozess ist. Es gibt kein Lager für Gedächtnisinhalte. Auch kein Lager für heilsame oder unheilsame Handlungen… ... sondern Prozesse, die sich ständig fortsetzen. Und dann muss man wissen, dass wir nicht aller Prozesse bewusst sind. Wir sind uns nur eines Teils der ablaufenden Prozesse bewusst. Aber da läuft eine Menge unbewusst ab und diese unbewusste Speicherung wurde „Speicherbewusstsein“ genannt. Aber ich kann mir durch Meditation aller oder vieler Prozesse bewusst werden? Ich würde jetzt gern aus Erfahrung antworten. Aber ich erlebe, dass ich über Prozesse, die mir früher unbewusst waren, immer bewusster werde. Das Ausmaß dessen, was bewusst wird, nimmt ständig zu. Aber wie viel da noch an Unbewusstem ist, weiß ich nicht. Teilnehmer: Eine Schwierigkeit, die ich sehe, ist, dass theoretisch oder auch praktisch alles im Wandel ist, dass es aber auch viel Stabilität gibt: zum Beispiel wird meine Hütte zu Hause nächste Woche auch noch stehen; meine Frau wird auch da sein. Hoffen wir ́s! Wird es denn noch dieselbe Hütte sein? Wird es denn noch dieselbe Frau sein? weitgehend ja. Weitgehend. Wie weit gehend denn? Welcher Teil deiner Hütte wird gleich sein und welcher wird sich verändert haben? Ich frage das deshalb, weil sich deine ganze Hütte – jedes Molekül – verändert hat und deine ganze Frau sich verändert hat. Aber es sind immer noch Bedingungen aktiv, die zum erneuten Erscheinen von etwas sehr Ähnlichem führen. Solange kein Feuer kommt, sind nur die Kräfte von Wind und Wetter an deiner Hütte aktiv, sodass sie relativ gleich aussehen wird. Deine Frau wird, wie jeder andere Mensch, in jeder Zelle, jedem Gefühl, jedem Gedanken Veränderungen erfahren haben. Sie wird aber, da ähnliche Kräfte in ihr wirken, deutlich erkennbar deine geliebte Frau sein. Das ist eben das bedingte Entstehen: solange die Kräfte gleich sind, entsteht etwas Ähnliches. Aber wenn etwas Schlimmes passiert, zeigt sich, dass nicht mehr das Gleiche entsteht. Das Festhalten an der Stabilität wirkt oberflächlich sehr stark. Ich wollte heute in den Bäumen das Prozesshafte, das fließende Sein sehen, aber hatte damit Schwierigkeiten. Konzeptuell kann ich sagen, dass viel Wandel ist, aber ich kann es nicht sehen, nicht spüren… Bei Bäumen ist das sehr einfach: leg dich unter einen Baum und schau, wie sich die Blätter bewegen. Das ist sehr einfach, du wirst keinen ruhigen Baum hinkriegen. Das allein ist schon Prozess. Ganz abgesehen davon, was wir uns intellektuell herbei holen, welche Säfte innerlich strömen. Wenn kein Wasser und Licht mehr da wären, würde der Baum schnell ganz anders aussehen. Ich möchte deine Frage nutzen, um auf etwas hinzuweisen: auch so manche Lehrer erklären Vergänglichkeit so, als würde sich ein bisschen was ändern und der Rest bliebe gleich. Das ist eine irrige Annahme. Durch

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

und durch gestaltet es sich neu, bloß sind dieselben Gestaltungskräfte am Werk oder sehr ähnliche. Deswegen ist das äußere Produkt, das wir wahrnehmen, sehr ähnlich. Es ist wichtig zu sehen, dass es nicht so ist, als würde sich nur ein Teil im Leben verändern. Alles befindet sich ständig durch und durch im Prozess. Aber solange dieselben Kräfte aktiv sind, gestaltet sich in der Kontinuität des Seins etwas sehr Ähnliches. Deswegen neigt der Mensch auch dazu, so an Beständigkeit zu glauben, weil die Bedingungen doch über relativ längere Zeit konstant sind. Da sagt Buddha: „Ja, sieht ja ganz gut aus. Aber dann gewöhnen wir uns an die Beständigkeit und irgendwann holt uns die Unbeständigkeit so massiv ein, dass wir schockiert sind.“ Wir erleben Schmerz, weil wir es nicht kommen gespürt haben. Wir waren nicht im Einklang mit dem Wandel und plötzlich bricht das Ding zusammen. Und wir sind ganz überrascht, weil wir aus der vermeintlichen Beständigkeit etwas Fixes gemacht haben. Teilnehmer: In meinem Konzept waren weniger die Dinge an sich (wie z.B. die Wand) im Wandel, sondern mein Erleben der Dinge ist immer neu. Sind das zwei Konzepte? Ja, in der vorigen Frage waren wir auf der ersten Perspektive, der Objekt-Ebene und was du sagst, bezieht sich jetzt auf die zweite Perspektive: das subjektive Erleben von allem, das sich ständig ändert, egal, wie viel Veränderung da draußen ist. Die Perspektive, die du da einnimmst, ist die wesentliche, um Befreiung zu erlangen: zu sehen, wie sich mein Erleben ständig verändert, dass es im Erleben nichts Beständiges gibt. Die erste Perspektive ist wichtig, um einer bestimmten Haltung den Boden zu entziehen: wenn ich mit meinem Erleben nur so beständig werden würde, wie die Dinge da draußen, wäre alles gut. Aber die Dinge da draußen sind auch nicht beständig. Das ist dieser Glaube, es gäbe um uns herum in der Außenwelt Fakten, verlässliche, existierende Objekte. Das Untersuchen des vermeintlichen Objektes hilft zu sehen, dass alle Objekte im Wandel sind. Das Untersuchen des persönlichen Erlebens hilft ganz stark, dass das vermeintliche Subjekt im Wandel ist. Dann kommen wir dazu, dass es ja im Erleben keine Trennung von Subjekt und Objekt gibt. Es gibt nur das Erleben. Ich erlebe ja gar nicht den Baum. Was erlebe ich, wenn ich den Baum anschaue? Erst einmal Farbeindrücke auf der Retina, Licht- und Schattenwechsel. Die werden weiter verarbeitet und ich meine, einen Baum zu sehen. Aber wo da der Baum ist... auf der Retina...? Im eigentlichen Erleben gibt es sowieso keinen Kontakt zwischen Subjekt und Objekt, sondern alles nur Erleben. Da findet auch die Befreiung statt. Teilnehmer: Wie ist es mit der Beständigkeit von Nirvana (Pali Nibbana)? Jetzt wollen wir das mal untersuchen... Nirvana ist Prozess. Das, was Nirvana, Frieden, Verlöschen (der Kräfte des Anhaftens, der irrigen Annahmen, der Stress-erzeugenden Kräfte) genannt wird, ist völlig in Einklang zu sein mit dem Sein. Daraus entsteht Frieden. Und dieser Frieden ist ebenfalls ein dynamisches Erleben. Aber es gibt in diesem dynamischen Erleben keine Kräfte mehr, die diese Täuschungen erzeugen, die Leid erzeugend wirken. Deshalb ist es eine beständige Qualität des friedvollen Erlebens, die sich fortsetzt, weil es nicht mehr zu täuschendem Erleben kommt. So können wir auch jetzt im Moment Beständiges in unserem Erleben finden, aber es sind Qualitäten. Beständig ist, was wir ständig, immer wieder mit Sicherheit wieder finden. Was finden wir in unserem Erleben mit Sicherheit wieder? Wir finden das Erleben, das Wahrnehmen wieder, wir finden die prozesshafte Natur des Seins wieder... Das sind nicht Dinge oder abgrenzbare Erlebensmomente, sondern die Qualität des Erlebens selbst: nicht fassbar, prozesshaft, gewahr, strahlend, klar, ... Auf diese Qualitäten des Seins können wir vertrauen, die sind das Verlässliche, nicht die Inhalte. Das ist mit Nirvana gemeint. Das Erwachen zu dem, was eigentlich ist und darin werden immer dieselben Qualitäten offenkundig. Nicht der Geist wird erkannt, sondern wie es ist, zu sein, wird erkannt. Die grundlegenden Seinsqualitäten ist gleich im leidvollen wie im glücklichen Sein, im gelösten wie im gefangenen Sein. Das ist das, was unser Leben ständig begleitet. Teilnehmer: Sprengt die tatsächliche Erfahrung von einer strahlenden Lichthaftigkeit bzw. der Prozesshaftigkeit nicht die Argumentation auf, die du gerade gebracht hast? Das sind einfach nur Worte, die auf die Qualität eines Erlebens hinweisen. Die Klarheit gibt es nicht, das Strahlende gibt es nicht. Es ist nur ein schwacher Versuch, irgendwie darauf hinzuweisen, wie es sich anfühlt. Das gefällt mir besser, denn sonst wäre es ja das Proklamat einer neuen Beständigkeit.

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Genau. So ist es nicht gemeint. Da es keinen Geist zu finden gibt, sind alle meine Beschreibungen von einem Geist nur Fingerzeige auf Qualitäten von einem durch und durch prozesshaften Erleben.

Konventionelle Wirklichkeit Ich lasse mich gern darauf ein, dass es kein Außen gibt. Ich lasse mich auch gern darauf ein, dass es kein Selbst gibt. Aber wenn man sich darauf einlässt, könnte einen z.B. Klaustrophobie überfallen. Nein, die gibt es ja nur, wenn es ein Außen gibt und wenn es etwas gibt, was mich von außen einengt. Wenn man plötzlich erkennen sollte, da gibt es kein Außen, dann ist man ja auf sich selbst zurückgeworfen. Und dann gibt es auch kein Innen. Das ist das Wunderbare. Im Erleben gibt es weder außen noch innen. Es ist spannend, was uns Grausames oder Gutes passieren könnte wenn wir mit unserem intellektuellen Verstehen das Erwachen vorwegnehmen wollen. Aber das schaffen wir nicht. Es gibt ja auch Gründe, warum wir das Konzept von uns Selbst oder von Außen beibehalten. Nenne einmal die echten Gründe: Warum behalten wir das Konzept von einem Selbst bei? Was sind die guten Gründe, es beizubehalten? Um uns nicht zu verlieren… um stabil sein zu können? Nein, wir können nicht verloren gehen. Das sind die Gründe, um das Konzept aufzugeben. Der einzige Grund, das Konzept von einem Ich oder Selbst aufrecht zu halten, ist Kommunikation. Weil Kommunikation ein stabiles Verständnis von Worten braucht. Ich und du – wir sind nicht gleich. Es ist gut, wenn da „ich“ gesagt wird, dass ich das höre: „Aha, da ist jemand“. Aber für die Selbstwahrnehmung brauchen wir das nicht, da beginnt es dann zu stören. Und mit „außen und innen“ ist es dasselbe? Außen und innen macht total Sinn, wenn es darum geht, ein Haus zu bauen. Aber im Erleben ist es dann gar nicht mehr zu finden. So machen viele Dinge total Sinn in ihrem Kontext, da, wo sie wirklich nützlich sind. Aber wir verinnerlichen das so, dass sich Wahrnehmungsgewohnheiten einstellen. Diese engen uns ein und das bezeichnet man als Gewahrseinsschleier: Ich und außen für Wirklichkeit zu halten. Das gleiche ist mit der Zeit. Zeit ist etwas Wunderbares. Ich sage, bitte seid um 15 Uhr hier und ihr seid da. Aber die Zeit ist an sich nicht zu finden. Es gibt immer einen Bereich, in dem diese Konzepte sehr hilfreich sind. Genau wie die Konzepte von Ich und Du. Und es gibt einen Bereich, in dem es nicht dem tatsächlichen Erleben entspricht. Der Moment „15 Uhr“ hat keinerlei Bezeichnung. Er ist kein 15-Uhr-Moment. Es ist eine reine Konvention. Deshalb spricht man im buddhistischen Jargon von konventioneller Wirklichkeit. Das ist die Beschreibung des Seins mit den konventionellen Ausdrücken, die wir zum Kommunizieren nutzen. Im Unterschied dazu spricht man von letztendlicher Wirklichkeit als das, was das eigentliche Erleben ist, was nicht beschreibbar ist. Man kann über das eigentliche Erleben nicht kommunizieren. Man kann es erleben und dann nutzt Konventionen und Sprache, um sich dem ein wenig anzunähern. ***

Erinnerungen sind neues Erleben Teilnehmerin: Im Dharma gibt es das Werkzeug Begegnungen, Erfahrungen oder Gelerntes zu halten, weil sie uns auf eine Spur führen. Wir gehen in eine Untersuchung, weil wir etwas erfahren haben. Wann ist der Punkt, das als geschicktes Mittel zu halten? Ich gebe dir ein anderes Wort mit: eigentlich hältst du es nicht, sondern du reaktivierst es. Gedächtnis ist ein Reaktivieren von Eindrücken, die sich aber im erneuten Erleben ständig verändern. Wenn du im Kontakt mit Lehrern etwas verstanden hast, diese Erkenntnis dich begleitet und du sie wie halten möchtest, aktivierst du sie eigentlich ständig. Sie macht auch ihren Prozess. Das Erkennen setzt sich fort. Du kannst es stimulieren, aktivieren, aber es ist auch Prozess. Es ist keine stabile Erkenntnis. So kann ich das nutzen im Wissen, dass das ein neues Erleben ist, ein lebendiger Bestandteil.

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Genau. Du wirst sehen, es entwickelt sich in dir. Vermutlich wirst du auch entdecken, dass du Aspekte erkennst, die der Lehrer/ die Lehrerin vielleicht angesprochen hat. Sie sind mitgeschwungen und du hast sie zunächst gar nicht selber wahrgenommen. Später enthüllen sie sich und das kann über Jahrzehnte so weiter gehen. Die Lehrer nennen das Samen setzen. Samen sind aber nicht Einheiten, sondern der Beginn eines Wachstumsprozesses, eines Erkenntnisprozesses. Wenn dieser Samen greift, wenn auch nur der erste Anfang des Erkennens stattfindet, wird sich der ganze Prozess des Erkennens im Laufe des Lebens weiter entfalten. Das ist im dynamischen Sinn unter Samen zu verstehen: die ganze Kraft der vollen Erkenntnis ist in der ersten, initialen Erkenntnis schon vorhanden. Teilnehmerin: Was ist mit Glaubenssätzen, Überzeugungen? Die erscheinen ja oft sehr stabil, beständig – wirken auch hier immer wieder dieselben Bedingungen und Gedanken? Auch Glaubenssätze entstehen immer wieder neu aufgrund der ähnlichen Bedingungen, die zusammen kommen. Und sie können sich wandeln. Es ist wunderbar, wenn wir merken, dass selbst das, was uns emotional am stabilsten erscheint – unsere oft uns selbst limitierenden Glaubenssätze über uns selbst -, sich auflösen können, weil sie nicht mehr genährt werden. Die Bedingungen entstehen nicht mehr, durch die sie Nahrung erhalten. Wodurch werden sie genährt? Durch Angst, Bedürfnisse, durch Bestätigen. Da sind Kräfte am Werk, die diese Glaubenssätze immer wieder nähren. Wenn sich irgendein Aspekt dieser Kräfte verändert, wird sich auch das Geschehen verändern. Es ist möglich, dass sich diese Glaubenssätze auflösen. Teilnehmer: Ein Hemmnis, um ins Fließen zu kommen, ist doch, dass man Ähnliches für gleich hält und denkt, nur weil es ziemlich ähnlich aussieht, halte ich es für gleich. Ja, genau. Das Ähnliche für dasselbe halten. ***

Stützen für die Meditation Meditation - Verbinden mit dem Herzensanliegen Zu Anfang einer jeden Tages und jeder Meditationssitzung erinnern wir uns daran, warum wir uns eigentlich hinsetzen. Was ist unser Anliegen? Ihr erinnert euch das Anliegen von der Ankunftsrunde gestern. Schaut mal worum es euch jetzt geht. Ob es sich weiterentwickelt hat oder ob es sich immer noch um dieselben Qualitäten handelt. Worum geht es mir eigentlich? Ich bin sicher, dass ihr diese Qualitäten in einem Buddha, männlich oder weiblich finden könntet. In der tibetischen Tradition stellen wir uns diese Qualitäten in Form eines leuchtenden Buddhas vor uns vor. Und zwar nicht als eine leblose Gestalt, sondern als einen vibrierenden Lichtkörper der mit genau diesen Qualitäten des Erwachens vibriert, der sie lebt und ausstrahlt. Vielleicht lasst ihr einmal das Bild eines solchen Erwachten vor euch entstehen. Er kann sitzen oder stehen, kann eine weibliche Form haben, umgeben von anderen Erwachten oder von SchülerInnen und Schülern. Wir nennen das ein Mandala, eine erwachte Gestalt innerhalb ihres Mandalas des Wirkens. Gebt dieser inneren Vorstellung soviel Kraft und Aufmerksamkeit bis sie zum Sinnbild dessen wird, was ihr selber verwirklichen möchtet. Erlaubt euch dabei den Rahmen der Konventionen zu sprengen, sodass die Vorstellung wirklich ganz zu euch passt. Während ich euch nun einlade die Zufluchtsgebete zu singen, stellt ihr euch vor, dass diese erwachte Präsenz ganz lebendig ist und immer mehr beginnt Licht auszustrahlen. Das Licht berührt uns und alle anderen Lebewesen. Es weckt in uns und anderen die Qualität des Erwachens. Zum Abschluss der Gebete wird das Licht so stark, dass sich die Vorstellung ganz in Licht auflöst und dieses Licht mit uns und anderen verschmilzt. Dann sitzen wir in dieser Präsenz. - Rezitation: Zufluchtsgebete, Die Vier Unermesslichen, Gebet an den Lama Bei dieser Verschmelzung mit uns werden wir selbst zu einem Lichtkörper, ganz durchlässig, reinste erwachte Präsenz. Es ist das innere Bild unserer vollständigen Heilung, unseres vollständigen Erwachens ...

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Um dieses Gefühl, diese Ahnung des eigenen Erwachens zu verankern ist es hilfreich, wenn wir uns mit der Freude verbinden. So frei und fließend zu sein, diese Freude in jeder Zelle unseres gewöhnlichen Körpers spüren. Es ist, als ob sich ein Wissen um unser eigenes erwachtes Sein in unserem Organismus ausbreitet ... Wie fühlt es sich an als Erwachte zu sein, zu sitzen, zu stehen, zu tanzen, zu kommunizieren, zu lieben? Wie fühlt es sich an ganz in den Geist des Erwachens aufzugehen? ... In dieser erwachten Präsenz wird alles mit auf den Weg mitgenommen. Alles ist Teil des erwachten Erlebens. Was immer auch an Gefühlen aufsteigt, alles Denken, alle Sinneswahrnehmungen. (Ein Kater geht durch den Raum.) Auch schnurrende Kater. Ihr braucht euch nicht zurückzuhalten, wenn es euch danach ist, den Kater zu euch zu nehmen, ist das völlig in Ordnung.... Wer möchte kann auch innerlich ein Mantra rezitieren, das diese erwachte Präsenz in uns stärkt ... Und natürlich lassen wir allmählich alle Vorstellungen los und verweilen einfach so in diesem gelösten Sein, das sich vielleicht eingestellt hat. *** Was wir gerade miteinander geteilt haben ist das Grundprinzip des tantrischen Mahamudra. Früher, bis zum 12. Jahrhundert, waren Mahamudra und Tantra völlig untrennbar. Es gab keine getrennte Übertragungslinie. Erst durch Gampopa wurden Mahamudra und Tantra getrennt voneinander unterrichtet. Dieses geschickte Mittel, welches wir gerade mit praktiziert haben, antwortet auf das grundlegende Problem der Meditation: wir reproduzieren beim Meditieren unsere gewöhnlichen Limitierungen, wenn wir es nicht geschickt angehen. wir re-inszenieren uns beim Meditieren immer wieder als die besorgte, ängstliche, hoffende, limitierte Person. Das heißt, wir enden doch immer wieder in denselben Gedankengängen und Sichtweisen, wie wir es auch den ganzen Tag über tun. Es ist ziemlich schwer das wirklich zu entspannen, wirklich auszusteigen. Das kann gelingen und es gibt Methoden, die uns dabei helfen können. Die grundlegende Methode die ich euch jetzt gezeigt habe, ist das, was dem Guru Yoga und der Yidam Praxis zugrunde liegt. Wir verbinden uns mit den Qualitäten, die wir tatsächlich verwirklichen wollen. Also das, worum es uns geht. Unsere tiefste innerste Inspiration für das was wir unser Erwachen nennen würden. In der ersten Phase lassen wir das Bild des Erwachens vor und etwas über uns. Es ist lebendig und kann jede Form annehmen. Wenn ich sagte, traut euch, das diese Vorstellung auch Konventionen sprengt, dann hab ich daran gedacht, wie im frühen indischen Buddhismus Formen und Visualisationen von Erwachten entstanden sind: tanzend, in sexueller Vereinigung, mit Knochenschmuck - völlig jenseits der Konventionen einer brahmanischen Gesellschaft. Der Inbegriff von Vitalität, Verbundenheit, der Tanz von Mitgefühl und Weisheit umgeben von einem Mandala des Wirkens. Diese erwachten Visionen sind nicht losgelöst vom Umfeld. Sie stehen ist immer in Beziehung zu allem. Es ist gut, wenn wir unsere Vorstellung vom Erwachen nicht auf eine Gestalt begrenzen, die dann für sich erwacht ist. Das gibt es gar nicht. Erwachen findet statt im abhängigen Entstehen von allem und bezieht sich natürlicherweise auf alle und jedes. So lassen wir dieses Bild, dieses Mandala des Erwachens vor uns entstehen. Es gibt Mandalas mit zwei, vier … 64 Gottheiten, unzähligen Gottheiten. Das kennt ihr vielleicht kennt aus dem grenzenlosen Zufluchtsbaum. Dort sind alle Buddhas drin, alle Yidams, alle DharmaUnterweisungen, alle Sangha-Mitglieder. Die gesamte Aktivität des Erwachens ist eingefangen in einer Vorstellung, die es uns ermöglicht, mit diesen Qualitäten Kontakt aufzunehmen. Bei mir entstand heute das Bild von einem Erwachten, der ein Kind zu sich nimmt. Das kann spontan entstehen als Ausdruck dessen, was in uns lebendig ist. Wir lassen es immer lebendiger, strahlender werden. Dann beginnt eine Interaktion mit unserem normalen Sein. Das kann man noch intensiver gestalten und über die Stirn, die Kehle, das Herz und die anderen Zentren unseres Körpers wirklich dieses Licht aufnehmen. Wir können in Kommunikation treten, bis sich die Vorstellung vor uns auflöst und dieses Licht ganz eins wird mit uns selbst und anderen. Damit haben wir einen inneren Quantensprung vollzogen. Wenn wir uns darauf einlassen, das zu spüren, sind wir nicht mehr in der normalen Ich-Identifikation. Wir kommen in eine andere Präsenz hinein. Eigentlich geht es nur darum. Wir erahnen und spüren wie es ist, sich aus diesen begrenzten Vorstellungen von uns selbst zu lösen. Das fällt uns manchmal so schwer: „Das kann ich doch nicht, darf ich doch nicht.„ Wer behauptet das denn? Unsere Limitierungen von „nicht gut genug, nicht stark genug, nicht erwacht genug, nicht wissend genug, nicht liebevoll genug“. Nein, wir haben all diese Liebe und Qualitäten in uns! Woher würden denn sonst diese Ahnungen kommen? Wie könnten wir uns denn sonst das Erwachen vorstellen, wenn es nicht schon in uns angelegt wäre? Das wir uns es vorstellen können, ist Beweis dafür, dass es bereits

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in uns schwingt. Und genau mit dem was wir erahnen und vorstellen können, damit nehmen wir Bezug auf und lassen dieses Bild unserer inneren Heilung, unseres eigenen Erwachens in uns weiter schwingen in der Meditation. Das nennen wir den Geist des Erwachens: Bodhicitta. Eigentlich meditieren wir im Mahamudra im Bodhicitta, in den Qualitäten des Erwachens. Darin behauptet Mahamudra, eine Abkürzung darzustellen. Das ist ein direkter, kraftvoller Weg in die inneren Qualitäten. Wenn wir den Segen und diese Öffnung erleben stellt sich die Frage, wie ich das stabilisieren kann. Über die Freude. Die Freude so zu sein, die Freude des Seins an sich. Die Freude dieses befreite Wesen zu sein, heil, gesund, wach, in Kommunikation - ohne diese Limitierungen. Eigentlich sind das die vier Unermesslichen: die grenzenlose Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut, was für Weisheit steht. Wir verankern das durch die Freude und da kommt die Mantra-Praxis mit hinein. Sie ist eine weitere Methode diese erwachte Kommunikation zu praktizieren und zu verankern. Mantra setzt sich zusammen aus man für „Geist“ und tra für „stabilisieren“. Mantras haben die Aufgabe unseren Geist im Bodhicitta zu stabilisieren, im Geist des Erwachens, dem gesunde, erwachte Erleben.

- stille Meditation und Rezitation: Widmungsgebete ***

Verschiedene Meditationsstützen Wie ihr es in der geleiteten Meditation gespürt habt, geht es um die Geisteshaltung und um die Sichtweisen. Ich führe euch in das Besondere der Geisteshaltung ein. Wenn euch das alles neu ist, könnt ihr euch ein bisschen verloren fühlt und fragen, wie ihr das anwenden könnt. Denkt immer daran, dass es durch die Grundübung - das Öffnen der sechs Grundsinne, eine Geisteshaltung des nicht Greifens - zu einer Beruhigung in der Gesamtwahrnehmung kommt. Das ist das, was wir als erstes geübt haben. Und dann, wenn ihr einen Anker braucht, ist der am meisten verwendete Anker die Atemmeditation. Immer wenn ihr euch orientierungslos fühlt und mit dem gelöst fließendem Sein nicht so recht in Kontakt kommt, denkt daran: Der Atem ist da, ich kann den Atem im ganzen Körper spüren. Und der Atem ist mir eine Hilfe, um in dieses gelöste Sein hineinzufinden. Das wollte ich noch einmal sagen, um sicher zu gehen, dass ihr immer wisst, wie ihr euch ausrichten könnt. Und statt des Atems kann man die Bewegung des Gehens, das Hören, die Vorstellung eines Buddhas nehmen. Wir nennen das Stützen für die Meditation. Es braucht Stützen, weil unser Geist sonst abdriftet in seine alten Muster. Deswegen ist es gut, wenn ihr die euch vertraute Stütze immer wieder anwendet und sie stärkt. Auch wenn ich jetzt nicht soviel über Stützen spreche, sondern mehr über die Hintergrundhaltung, denkt nicht, das wäre nicht wichtig. Es ist eine große Hilfe, zum Atem zurückzukehren oder zur Bewusstheit in einem der Sinnesbereiche. Man kann auch Gedanken, also den Denkprozess selbst als Stütze nehmen. Das bedeutet aber, dass wir schon gelernt haben, nicht die Inhalte des Denkens in den Vordergrund zu stellen. Statt dessen nehmen wir die inneren geistigen Prozesse als Stütze für das Meditieren. Dann sind wir mit dem Entstehen und Vergehen der verschiedenen Geistesinhalte beschäftigt und nehmen die Qualität des Wandels, Entstehens und Vergehens als Stütze für gelöstes Sein. Das heißt, wir sind nicht mit den Inhalten des Denkens beschäftigt, sondern mit der grundlegenden Natur des Geistes dynamisch zu sein, immer wieder Neues wahrzunehmen, immer wieder neue Gedanken oder Bilder hervorzubringen. Und dabei geht es nicht um die Inhalte, sondern um die Qualität der Dynamik. Dann kann man die Dynamik selbst als Stütze nehmen. Das nennt man Gedanken als Stütze nehmen. Das ist eine unglückliche Übersetzung, weil hier das Wort Gedanke oder Denken alle Geistesbewegungen meint. Wir können Geistesbewegung als Stütze der Meditation von Geistesruhe und von Einsichtsmeditation nehmen, wenn wir uns nicht in den Inhalten verfangen, sondern diese nicht fassbare dynamische Natur des Erlebens beobachten. Und da kommen wir schon in das eigentliche Mahamudra hinein. Das eigentliche Mahamudra ist ein Meditieren ohne Stütze. Das haben wir auch in dem Buch „Mahamudra und Vipassana“3 beschrieben. Wenn im Vipassana von Meditieren ohne Stütze gesprochen wird, dann ist normalerweise das Meditieren mit den fluktuierenden Gedanken und Sinneswahrnehmungen als Stütze gemeint. Dabei wird jedes auftauchende Erleben als Stütze fürs Gewahrsein genommen. Wenn im Mahamudra vom Meditieren ohne Stütze gesprochen wird, dann ist das nicht dasselbe. Das Auftauchen von 3

Tilmann Lhündrup Borghardt, Fred von Allmen (Hrsg.): Mahamudra und Vipassana: Gewahr sein. RetreatUnterweisungen. 2015. Norbu Verlag.

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Gedanken und Geistesbewegung wird noch Stütze verstanden. Das eigentliche Meditieren ohne Stütze ist, wenn sich die Achtsamkeit der Qualität des Gewahrseins selber zuwendet. Also: Wie ist es gewahr zu sein? Man ist nicht mehr damit beschäftigt, was da auftaucht, sondern nur damit, wie ist es gewahr zu sein. Das führt dazu, dass das Gewahrsein beginnt, in sich selber zu ruhen. Da ist dann keine andere Stütze mehr vorhanden. Das ist keine dualistische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Meditierende und einer Dynamik, die dieser Meditierende beobachtet. Das Gewahrsein wendet sich seiner eigenen Qualität des gewahren Seins zu. Damit wird unsere Meditation wirklich unabhängig von Inhalten und davon, ob gerade viel Dynamik da ist oder weniger. Diese Form der Meditation lässt sich sogar im Tiefschlaf ausführen. Wir nennen das die Meditation des klaren Lichtes, in welcher sich das Gewahrsein selbst gewahr ist. Es lässt sich im Alltag in jeder Situation ausüben, weil es nur davon abhängig ist, dass überhaupt Bewusstheit/ Gewahrsein vorhanden ist. Heute morgen in der Meditation habe ich euch über die Praxis mit einer anderen Form von Selbstbewusstsein gesprochen. In diesem Bewusstsein zu praktizieren heil und gesund zu sein, erwacht. Es ist anders, als wenn ich mich hinsetze und schon mit dem Bewusstsein anfange: Jetzt setze ich mich als Kranker hin, als der im Samsara gefangene und werde mich meinen Schatten zuwenden. Jetzt mache ich Schattenarbeit und das ist hart und herausfordernd. Ich werde mich jetzt dem allem stellen und dann bin ich ermutigt. Das ist eine andere Geisteshaltung, die auch nicht schlecht ist. Es ist klar, dass wir das zweite auch brauchen. Aber wir nehmen da etwas vorweg. Das heißt, wir gehen erst in die erwachten Qualitäten hinein, lassen dieses Bild des erwachten Seins entstehen und verbinden uns damit. Wir können uns selber in der Form entstehen lassen, die wir zunächst vor uns gesehen haben. Wir können also selber zu dem Erwachten oder der Erwachten, oder zu dem erwachten Mandala werden, das wir vor uns gesehen haben. Und in dieser erwachten Präsenz, im Bewusstsein all der gesunden erwachten Qualitäten in uns laden wir dann unsere Schatten ein. Aber immer nur so, dass sie wie unter dem erwachten Gewahrsein schmelzen, eingeschmolzen werden. So dass es nicht zu neuen Fixierungen kommt. Die Verankerung indem was wir psychotherapeutisch Ressourcen nennen würden, also in den erwachten Qualitäten ist sehr stark. So können wir aus diesem Gewahrsein heraus unsere alltäglichen Probleme betrachten und wir sehen diese in einem ganz neuen Licht. Genau wie in der Yidam-Praxis oder im Guru Yoga die Integration unserer Alltagsthemen statt findet. Wir achten darauf, dass wir so tief in unserem erwachten Bewusstsein verankert sind, dass wir die Momente unseres Lebens, in denen wir ins Schleudern geraten oder in unseren alten Mustern sind, diese aus einer neuen Perspektive sehen können. Das wirkt lösend und es kommt neue Inspiration hinzu. Wir merken: Ah, in der Situation hätte ich ganz anders da sein und anders sprechen können. Es wäre mir leicht gefallen mit der Attacke so umzugehen, dass sich da kein Ich wehrt sondern durchlässig zu sein. Wenn ich in diesem erwachten Selbstbewusstsein gewesen wäre, dann wäre das ganz anders gelaufen. Davon bin ich überzeugt. Dann entstehen neue innere Eindrücke, neue innere Filme davon, wie unsere schwierigen Situationen ganz anders laufen können. Das ist das Heilsame. Es entsteht eine Ahnung davon, wie ich in diesen herausfordernden Situationen eigentlich sein könnte - wenn ich in der Meditation verbunden bleibe mit den erwachten Qualitäten. Die Arbeit mit unseren Schleiern und Schatten findet in einem inneren Bezugsrahmen statt, indem ich voll und ganz im erwachten Sein verankert bin. Man nennt das den Yidam. Es ist wieder ein anderes Wort wie Mantra. Yi heißt Geist und dam heißt binden, etwas wie stabilisieren; den Geist/das Bewusstsein der erwachten Dimension anbinden. Wenn ihr dieses Prinzip allmählich versteht, wird es euch ein Bedürfnis sein, bevor ihr euch den Alltagsproblemen zuwendet in dieses frische gesunde Selbstbewusstsein hineinzufinden und erst dann die Probleme einzuladen. Nie zu viel, immer nur in kleiner Dosis. Es reicht, dass die ganz kurz auftauchen. Man braucht nur ganz kurz an eine Angst oder eine Hoffnung zu denken. Sie ist gleich da. Dann lernen wir zu dosieren und gut verankert zu bleiben, um die Themen neu zu bearbeiten. Eigentlich so, wie im Vajrayana die innere Arbeit statt findet. Das ist auch Mahamudra-Arbeit. Im Buch von Gampopa, „Der kostbare Schmuck der Befreiung“4 werden vorwiegend sechs paramitas behandelt, die befreienden Qualitäten. Der fünfte paramita ist meditative Stabilität oder Versenkung (Sanskrit dhyana). Gampopa definiert anhand der Sanskritquellen was unter meditativer Stabilität zu verstehen ist: die völlig unabgelenkte Versenkung im Heilsamen. Es ist das Aufgehen des eigenen Geistes im Heilsamen. Meditative Stabilität ist nicht etwa ein neutraler Zustand, indem wir den Geist wie schon erwähnt irgendwie parken. Es ist ein Aufgehen in dynamischen Qualitäten, die zutiefst heilsam sind. So gibt es zum 4

Gampopa: Der kostbare Schmuck der Befreiung, Norbu-Verlag, 2007.

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Beispiel den dhyana, die Versenkung in Liebe, Mitgefühl, Freude, Hingabe, im natürlichen Sein. Es gibt viele die Zustände und alle haben eine Versenkung im Heilsamen gemeinsam. Das ist der riesige Unterschied zu einer Versenkung in einem Computerspiel. Das ist keine Heilsame sondern eine völlig konzentrierte Absorption im Greifen, in der Faszination. Das ist etwas ganz anderes. Denn die Qualität, welche diese Einsgerichtetheit auslöst führt nicht zum Erwachen. Es kann auch völlige Unabgelenktheit sein. Man kann jemand, der in einem Spiel versunken ist oder seine Aufgabe am Computer macht laut rufen und der hört nichts. Aber er wird dadurch nicht das Erwachen erlangen. Weil die Versenkung nicht in etwas Heilsamen statt findet. Meditative Versenkung führt dann zum Erwachen und ist eine befreiende Qualität (Sanskrit paramita), wenn sie in diesen heilsamen Qualitäten statt findet; ein unabgelenktes Sein im Heilsamen. gewa wird mit heilsam und Gesundung übersetzen. Es geht wirklich um Heilung. Erwachen ist das vollständige Aufgehen in dem was gut tut, was heilsam ist. Dann beschreibt Gampopa im selben Kapitel die drei Arten von meditativer Stabilität. Da gibt es unter anderem um die spürbar glücklich machende meditative Stabilität. Hier werden Qualitäten beschrieben, die sich dank der Versenkung im Heilsamen einstellen. Es wird für uns als heilsam spürbar, als harmonisierend, ausgleichend, öffnend. Das Herz öffnet und die Bewusstheit öffnet sich, auch die Rezeptivität für andere und das Mitgefühl. All diese Qualitäten kommen zum Vorschein. Meditative Versenkung ist das, was in uns die Qualitäten des Erwachens frei setzt. Es geht um ein Sein das unsere inneren Qualitäten frei setzt und damit auch das Erkennen, das Verstehen dessen wie es ist. Deswegen wundert euch nicht, wenn wir euch immer wieder auffordern diese Zeit im Retreat so zu nutzen, dass es euch gut tut. Das ist kein Wellness-Angebot im gewöhnlichen Sinne sondern im tiefen Sinne. Wir vertiefen durch den Rahmen des Schweigens das Genährt-werden unseres gesunden Selbstbewusstseins. Dass wir immer mehr Vertrauen in unserem eigenen Geist haben und immer mehr spüren können, was uns gut tut. Was uns in jedem Moment gut tut, wohin wir unsere Schritte lenken wollen, wie wir sein wollen, wie wir es schaffen den Geist zu öffnen, um ins Fließen zu kommen. Das ist eine herausfordernde innere Arbeit. Es braucht Unabgelenktheit und dieses ständige Spüren von dem, was mir zutiefst gut tut. Und das ist der Weg des Erwachens. Da ist gar kein Unterschied. Ihr werdet merken, dass ihr manchmal innere Einkehr haltet. Nach einer Gehmeditation setze ich mich unter den Apfelbaum, es wird alles ganz still und ich merke: Wow ja, jetzt passiert ́ s gerade. Ich bin zu Hause angekommen. Das fühlt sich an wie Zuhause. Das ist es. Da gibt es auch gar nichts mehr zu tun, nichts mehr zu verändern. Dann bitte ich euch, darin zu verweilen und das tiefer kennen zu lernen. Auszukosten, zu spüren, was da alles zu entdecken ist. Selber fein austarieren und spüren was uns gut tut. Die Mischung von Bewegung und stillem Sitzen, vielleicht auch mal ein Austausch mit jemandem, sodass sich unser Sein innerlich immer mehr entspannen kann und in die Öffnung hinein findet. Und dann nicht gleich wieder aufschrecken, bloß weil der Gong ertönt und meinen, jetzt müsstet ihr dieses oder jenes tun, sondern einfach nur sein zulassen. ***

Frei von Hoffnung und Furcht Meditation - Anhaftung und Ablehnung Und wieder verbinden wir uns mit den erwachten Qualitäten. Den Qualitäten, die wir eigentlich leben möchten. Wir lassen unsere Aufmerksamkeit im Erleben dieser Qualitäten - vielleicht mit Hilfe von Erinnerungen, vielleicht mit Hilfe von Bildern - bis wir so etwas empfinden, wie eine Hingabe für dieser Qualitäten, uns wirklich ganz der Liebe, dem authentischen Sein, dem natürlichen Fließen hingeben zu wollen. Eine ganz starke innere Ausrichtung. So als würden wir uns innerlich sagen: Ja, genau dafür möchte ich Leben, da geht es lang für mich. Hingabe an die erwachten Qualitäten, die unser wahres Selbst zeigen. Vielleicht verbinden mit einem tiefen Entschluss, genau das zu leben, mich davon führen zulassen, mich von diesen Qualitäten führen zu lassen, im Alltag. Ob es Mut ist oder Frische oder spielerische Leichtigkeit, was immer uns in der Tiefe inspiriert, das was wir leben möchten, das laden wir ein, sich ganz in uns auszubreiten, in uns Platz zu nehmen, und von dort aus, von unserem Herzen aus, in alle Worte in alle Handlungen, natürlich auch ins Denken hinein auszustrahlen.

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In meiner inneren Vorstellung lasse ich diese Qualitäten wieder eine Form annehmen, in einer Gestalt von Erwachten, vor mir in ihrem Mandala des Wirkens, Spiegelbild für mein eigenes wahres Sein. - Ganz lebendig, leuchtend. Und während wir die Zufluchtsgebete singen, können wir uns vorstellen, dass Lichtstrahlen von unserem Herzen zur Zuflucht gehen, zum diesem Sinnbild der erwachten Qualitäten, zur Verkörperung der erwachten Qualitäten, und durch die Kraft unserer Hingabe immer stärker erstrahlen lassen, bis sie dann zum Abschluss der Gebete ganz und gar zu Licht werden und mit uns und anderen verschmelzen. Wir können diesen Prozess sogar auch mehrfach geschehen lassen. Immer wieder dieses inspirierende Bild des Erwachens entstehen lassen und mit uns verschmelzen lassen. Wir können uns dabei vorstellen, dass dieses Licht uns in der Stirn erreicht, in der Kehle, im Herzen, in der Nabelregion und im geheimen Zentrum und diese fünf hauptsächlichen Energiezentren unseres Organismus ganz mit den erwachten Qualitäten angefüllt werden, stimuliert werden. Die, die möchten können mitsingen, die anderen können auch einfach bei der Visualisation bleiben und spüren wie das eigene Sein angeregt wird durch diese heilsame Vorstellung. Zufluchtsgebete werden rezitiert Mit der ganzen Kraft der Hingabe öffnen wir uns für die erwachten Qualitäten. Aus der tiefe unseres Beckens, aus der Sitzfläche heraus bis oben zum Scheitelpunkt. Es ist wie als wäre unseres Inneres gestärkt und würde vibrieren, mit der Präsenz dieser Qualitäten. Es ist so, als würden wir von innen her leuchten. Als würde eine innere Kraft in uns frei werden, die uns mühelos aufrecht hält, mühelos präsent sein lässt, ganz ruhig und zugleich verbunden mit allem. Und da hinein können wir vollständig loslassen, vollständig vertrauen. Brauchen keine Vorstellung mehr zu kultivieren. Und ab und zu erinnern wir uns daran, die Erwachte, den Erwachten in uns meditieren zu lassen. Falls ihr bemerkt, dass ihr euch doch etwas anstrengend, dann versucht euch doch mal genau in diese Anstrengung hinein zu entspannen, wie ins Zentrum dieses Wollens hinein zu gehen in dieses Gewahrseins, und den Raum darin zu entdecken. Anspannung zeigt sich als Unruhe oder als Dumpfheit – beide entstehen aus Hoffnung und Furcht. Und Hoffnung genauso wie Furcht geben nach, sie öffnen sich, wenn wir mit dem Gewahrsein direkt hineingehen. Hoffen ist das Verlangen nach etwas angenehmen, nach etwas Erstrebten. Befürchten ist das Vermeidenwollen von etwas Unangenehmen. Beide nähren sich aus der Distanz, wenn wir uns zuwenden. Hineingehen löst sich genau diese Distanz auf. Wir brauchen gar nichts zu verändern, nur mit dem Gewahrsein direkt hineingehen. ---Gong---Kleine Pause nichts tun: wenn die Beine wehtun, ich weiß der Platz ist etwas knapp, aber sucht Euch Orte wo ihr Euch anlehnen könnt: Erzwingt es nicht mit gekreuzten Beinen zu sitzen. Ihr könnt Euch gerne etwas hinlegen. *** Die Mahamudra Tradition spricht häufig statt von Anhaftung und Ablehnungen von Hoffnung und Furcht. Damit ist dasselbe eigentlich gemeint. Hoffen und Befürchten haben einen stärker emotionalen Charakter und weisen darauf hin mit welcher Energie wir eigentlich anhaften und ablehnen. Im Ablehnen ist eine Furcht, ein Befürchten verborgen das etwas sehr unangenehmes passieren kann, dass wir etwas Unangenehmes erleben können. Im Hoffen wird deutlich, dass wir uns sehr danach sehnen, etwas Angenehmes zu erfahren. Und das sind die beiden grundlegenden Kräfte oder emotionalen Tendenzen, die beim Meditieren dazu führen dass wir uns verspannen. Im Sehnen, im Streben, im Hoffen nach etwas Angenehmen, Erstrebten, etwas das wir für wunderbar halten, was jetzt passieren soll. Und dem Vermeiden-

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wollen, dem befürchten, dass wir irgendwie die Meditation in den Sand setzen, oder am Wesentlichen vorbei gehen. Beide Haltungen nähren sich aus dieser Distanz. Aus dem „ich“ hier und das was ich will oder nicht will, als wie getrennt von mir. Vielleicht erinnern sich einige von Euch von der Geschichte von Milarepa, wo er vom Holzsammeln zurückkommt in seine Höhle. Und da sitzen Dämonen drinnen, und wie er versucht sie zu verscheuchen. Einige kriegt er mit Mantras fort, aber einer der bleibt, der wird immer größer, je mehr er ihn verscheuchen möchte. Das ist ein Sinnbild dafür, dass das was wir verscheuchen wollen aus unserer Meditation, wenn wir jetzt unsere Dämonen verscheuchen wollen, irgendeiner ist ja immer aktiv in unser Höhle, in unserer Meditationshöhle ist ja immer irgendein Dämon aktiv. Dass uns eigentlich nur das bleibt, was Milarepa in der Geschichte getan hat. Schlussendlich hat er es aufgegeben ihn verscheuchen zu wollen. Er hat sich einfach in das rießen Maul von den Dämon hineingestürzt. Damit löste sich der Dämon auf. Das ist so ein tolles Bild dafür, dass wir ins Zentrum dessen hineingehen, was wir eigentlich loswerden wollen. Wir erkennen das Hoffen als einen Dämon, wir erkennen das Befürchten als einen Dämon. Aber wir versuchten nichts durch Mantras oder irgendwelche geschickten Tricks wegzumachen, sondern lassen uns mal drauf ein, das Zentrum dieser Erfahrung, das Zentrum dieses Hoffens und Befürchtens zu erleben, wie ist das eigentlich. Wenn ihr euch darin übt und geschickt werdet damit, das heißt, es euch dann möglich ist in Zentrum dieser Erfahrung zu gehen, werdet ihr merken: endloser Raum. Nichts vor dem man davon laufen müsste, oder vertreiben müsste. Es ist mit jeder Angst so, und mit jeder Hoffnung. So das war die Pausenpredigt. ***

Meditation - Äußeres Objekt Vielleicht möchtet ihr jetzt in der zweiten Hälfte mal ganz anders meditieren. Mit der selben Grundhaltung, aber das anwenden, was euch Heiko gestern erklärt hat. Wenn ich es richtig verstanden habe, habt ihr mit einem äußeren Objekt geübt. Ihr könntet das jetzt so machen und dieselbe völlig entspannte Geisteshaltung, frei von Hoffnung und Furcht anwenden, während der Blick auf einen äußeren Bezugspunkt ruht. Das kann durchaus die Schulter eures Vordermannes sein, oder ein Muster auf dem Boden, oder was auch immer, es braucht nicht ein völlig abgegrenzter Gegenstand zu sein, einfach ein Ort, der in sich so etwas hat, wo ihr merkt, „ahhh“, da kann der Blick ruhig verweilen, und ich brauche gar nichts zu tun mit diesem Ort, es ist nur ein visueller Raum, der mir als Anker dient. Auf ein äußeres Objekt zu meditieren. Das könnt ihr euch so vorstellen, dass sich der Buddha hinsetzt, der Blick fällt auf etwas, und da es nichts anderes zu tun gibt, bleibt der Blick einfach dort. Und der Geist der weitet sich, da ist keine Anstrengung der Konzentration, da ist innere Sammlung, einfach weil es nichts anderes zu tun gibt. Falls zwischendurch Spannung auftaucht, dann löst den Blick von eurem Objekt, lasst die Augen etwas bewegen, nach rechts nach links, nach oben. Der Geist ist völlig entspannt und weit, während der Blick im visuellen Bereich ruht, den wir Objekt nennen. Zum Schluss lade ich euch noch ein, den Blick von diesem visuellen Objekt zu lösen und ein wenig nach oben zu schauen, ein wenig weiter werden zu lassen, in den Bereich wo ihr mehr Licht erlebt, mehr Weite und das ganze Gesichtsfeld zu Eurem sogenannten Objekt werden zu lassen. Das gesamte Erleben von Licht, Farben, ohne ins Benennen zu gehen. *** Ich möchte euch in dieser Erfahrung des wachen, offenen Schauens auf ein interessantes Detail hinweisen. Wenn wir so vor uns hinschauen und das ganze Gesichtsfeld als Stütze nehmen für das meditieren, dann könnt ihr bemerken, obwohl wir den Blick gar nicht ändern, das wir die Aufmerksamkeit auf das rechte Gesichtsfeld richten, oder nach oben nach links, ohne dass sich die Augen verändern. Da merkt ihr das Zusammenspiel zwischen dem visuellen Sinn, der jetzt ganz stabil ist, die Augen schauen nach vorne und den inneren Bewegungen der Aufmerksamkeit. Das ist der sechste Sinn. Es ist das Richten der Aufmerksamkeit zum Beispiel beim geradeaus schauen, mitzubekommen vielleicht zu identifizieren, was am linken Rand des Gesichtsfeld ist, oder am rechten Rand des Gesichtsfeldes zu erahnen ist, oder stärker das

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von oben kommende Licht wahrzunehmen. Da merkt ihr, dass obwohl der Blick ganz stabil bleibt, innerlich Bewegungen in der visuellen Aufmerksamkeit stattfinden. So ist das bei allen Sinnen. Da ist die Grundwahrnehmung der Sinnesqualität und das ständige Justieren, aufgrund von Interesse, mehr dorthin oder dorthin zu gehen. Und wenn wir von der Meditation von einem äußerem Objekt sprechen, dann halten wir als erstes den Blick in diesen Bereich, ganz ruhig, wir lassen ihn sich sammeln und dann lassen wir auch diese inneren Bewegungen los. und wir entspannen die inneren Bewegungen des Interesses, bis auch der geistige Sinne - der sechste Sinn - sich entspannt, sammelt, ohne noch hin und her zu wandern. Wenn der Blick nicht ruhig wäre, dann könnten wir diese Bewegungen des sechsten Sinnes auch nicht beruhigen. Automatisch geht das Interesse dorthin, wo der Blick sich hinrichtet. Habt ihr das mit diesen feinen geistigen Bewegungen verstanden, während der Blick so ruhig entspannt bleibt. Das ist das was in allen Sinnen passiert. Wenn wir die Körperaufmerksamkeit ganz entspannt lassen, den ganzen Körper eigentlich im Gesichtsfeld haben, dann wandert trotzdem innerlich unsere Aufmerksamkeit in verschiedene Körperbereiche, wo gerade etwas los ist. Wenn wir sagen, die Körperachtsamkeit sammelt sich und wird ganz stabil, dann hört auch dieses wandern auf. Genau wie im visuellen Bereich der Blick stabil bleibt und das innere Wandern so in die verschiedenen Bereiche des Gesichtsfeld geht. Das gleiche ist mit dem Hören und den anderen Sinnesbereichen und das gilt auch für den sogenannten sechsten Sinnesbereich, das Denken. Zunächst haben wir vielleicht da so etwas wie einen Fokus, wie eine Visualisation, aber schlussendlich bleibt nur die Qualität des Gewahrseins. Wir sind nicht mehr beschäftigt mit. Habt ihr das mit diesen feinen geistigen Bewegungen verstanden, während der Blick so ruhig entspannt bleibt. Das ist das was in allen Sinnen passiert. Wenn wir die Körperaufmerksamkeit ganz entspannt lassen, den ganzen Körper eigentlich im Gesichtsfeld haben, dann wandert trotzdem innerlich unsere Aufmerksamkeit in verschiedene Körperbereiche, wo gerade etwas los ist. Wenn wir sagen, die Körperachtsamkeit sammelt sich und wird ganz stabil, dann hört auch dieses wandern auf. Genau wie im visuellen Bereich der Blick stabil bleibt und das innere Wandern so in die verschiedenen Bereiche des Gesichtsfeld geht. Das gleiche ist mit dem Hören und den anderen Sinnesbereichen und das gilt auch für den sogenannten sechsten Sinnesbereich, das Denken. Zunächst haben wir vielleicht da so etwas wie einen Fokus, wie eine Visualisation, aber schlussendlich bleibt nur die Qualität des Gewahrseins. Wir sind nicht mehr beschäftigt mit Inhalten. Es geht also um dieselbe Haltung. Erst stabilisieren wir uns mit einem Anker, um zu lernen, wie das ist. Dann lassen wir diese Unruhe um den Anker herum auch noch entspannen. Schließlich brauchen wir gar nicht mehr den Anker, weil das Gewahrsein einfach gesammelt bleibt. Weil wir diese Bewegungen des Interesses entspannt haben. Es ist nicht mehr wichtig zu schauen was rechts und links passiert, was in der Ecke gedacht wird und dort los ist, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. All diese Bewegungen, die jetzt gerade irrelevant sind, weil wir uns damit gar nicht beschäftigen brauchen, all das haben wir gelernt zu entspannen. Und damit kommen wir in ein ganz erfrischendes Sein, wo wir nicht ständig hin und her gezogen sind, von Wollen und „dies ist interessant und das auch“, und „da muss ich aufpassen“ und „was ist denn da los“, und das muss ich benennen, und das benennen. All diese unglaubliche Aktivitäten des Geistes, von den wir normalerweise so wenig mitbekommen, die lernen wir zu entspannen. Und das tun wir mit den sechs Sinnen, in diesen sechs Bereichen. Und es ist immer dieselbe Grundhaltung, die wir da üben. Wir lernen das mit den äußeren Sinnen, dort ist es etwas leichter, und dann passiert der Transfer in den sechsten Sinn, wo wir dieselbe Grundhaltung üben. Ich wollte das nur mal ansprechen, um dieses Prinzip klarzumachen. Wie ist das mit dieser Grundübung dem Öffnen der sechs Sinne? Für mich ist das ein Widerspruch. Zuerst aktivierst Du die Sinne? Nein, du aktivierst sie ja nicht indem Du rechts und links schaust und aktivierst, sondern Du öffnest sie. Alles darf sein, aber nichts bekommt besondere Beachtung. Das ist was gemeint ist. Das ist die Grundhaltung des völligen Öffnens. Alles darf sein, und gleichzeitig bleiben wir völlig entspannt dabei. Das ist nicht das Aktivieren, was wir so meinen. Wir aktivieren indem wir jetzt zu allem hinhören. Das ist ein aktivieren des Gewahrseins in diesem Bereich, ohne an Inhalten zu kleben. Das ist wichtig zu notieren, weil das wird manchmal missverstanden. Wenn wir so normalerweise denken: Wir aktivieren einen Sinn, dann gehen wir mit den Aktivieren in all die verschiedenen Körperempfindungen. Was ist da los und was ist da los. Was ist im Hören überall los was ist im Sehen überall los, im Schmecken im Riechen Dabei ist die Art des Aktivierens, die ich Euch versuche beizubringen, in das Was zu gehen sondern in das Wie. Wie ist es zu

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Hören, wie ist es zu Denken, wie ist es zu Spüren. Um mit dem WIE sind wir bei der grundlegenden Gewahrseinsqualität. Wie ist es zu Sein? Das wirkt ungeheuer stabilisierend, sammelnd auf das Bewusstsein. Da findet das Aktivieren mit einem „Wie“ statt und führt direkt mit den Qualitäten der Erfahrung und nicht in die Inhalte. Das ist ein wichtiger Unterschied, wo ich euch empfehle euch wirklich darin zu üben. Aber du leitest es ja manchmal so oder so an. Also ich glaube mich daran zu erinnern, dass du am ersten Morgen Du auch gesagt hast. Kuck mal ob sogar euren eigenen Atem hört, Das ist ein Objekt. Genau, das ist ein Objekt. Und das mache ich immer dann wenn ich das Gefühl habt, ihr braucht eine gewisse Stimulation des Interesses. Und dann nehme ich dann ein Objekt, für das wir uns interessieren. So wie zum Beispiel bei der Atemmediation. Damit sich ein Atemerleben einstellt, muss sich zunächst ein gewisses Ateminteresse entwickeln. Wenn man das nicht aufbringt, dann vagabundiert das Interesse in alle möglichen anderen Bereiche. Das heißt erst gehen wir über das Interesse und entspannen das Interesse an all den anderen Dingen. Und wenn das geschehen ist, dann sammelt sich der Geist immer mehr von selbst. Dort wo wir ihn zunächst noch mit etwas Konzentration bzw. Interesse gehalten haben. Wir können dann auch dieses Interesse noch entspannen und der Geist bleibt trotzdem dort, wohin wir ihn gesammelt haben. Das ist der Grund für die etwas andere Anleitung. *** Im Einzelgespräch wurde ich gestern darauf angesprochen, wie wichtig denn das tibetische Rezitieren ist. Ich wollte Euch sagen, dass es absolut unwichtig ist. Das mache ich nur aus Bequemlichkeit, weil ich es so gewohnt bin und dann in den verschiedenen Ländern, wo ich unterrichte immer dasselbe singen kann und weil es mit daran erinnert, wie Gendun Rinpotsche mit uns gesungen hat. Ich hatte jahrelang versucht mit den Brasilianern auf brasilianisch zu singen, mit den Franzosen auf französisch, mit den Griechen auf griechisch und mit den Deutschen auf deutsch und irgendwann hat sich mein Geist einen Knoten gelegt und ich mir dachte „nee!!“ ich geh wieder zum tibetischen zurück, aber ich mache ich nur um es mir selber leichter zu machen und weil ich das singen so gerne mag. Und ihr könnt es halten wie ihr wollt. Am besten macht ihr es auf deutsch, wahrscheinlich ist das eure Muttersprache. Ich habe das ganze erste 3-Jahres Retreat unter Leitung von Gendun Rinpotsche nur auf deutsch und englisch gemacht, nichts auf tibetisch. Und das war sein Wunsch so, und da ist überhaupt nichts wichtiges, daß man das auf tibetisch macht. Da gibt es immer so ein Märchen das da herumgeht, das ob da mehr Segen darin ist, wenn man es auf tibetisch macht. Aber ehrlich gesagt, ich ab da so viel Segen erlebt, auf diesem deutsch und englisch Retreat, mehr Segen kann ich mir gar nicht vorstellen. Und der kam auch nicht als ich im zweiten Retreat alles auf tibetisch gemacht habe. Wollte dies Euch nochmal ganz klar sagen. Nehmt es einfach als ein bisschen Folklore, aber zuhause macht ihr es so wie ihr es gerne habt. Es hat noch nie jemand Erleuchtung durch tibetisch-singen erlangt. ***

Gefühlstönungen Sind noch Fragen zu den Unterweisungen von heute morgen oder gestern Abend offen? Teilnehmerin: Im Gruppengespräch hast du auf die Frage „Wie ist es zu fühlen?“ geantwortet, man solle jeden Sinneseindruck daraufhin überprüfen, ob er angenehm oder unangenehm sei. Aber das zielt nicht auf die Qualitäten des Seins, sondern auf Objekte…. In dieser Antwort war es mir wichtig, die Gefühle zu wecken und ins Fühlen zu kommen. Um zu merken, dass ich kein Neutrum bin, das Sinneserfahrungen macht, sondern dass diese immer auch mit einer Gefühlstönung einhergehen. Darum ist es gut, sich dem zuzuwenden was da eigentlich an unmittelbaren Reaktionen stattfindet: angenehm, unangenehm, desinteressiert. Denn das ist der Startpunkt für die gefühlsmäßige Beteiligung am Erleben. Ich denke, dass es eine verkehrte Idee ist zu meinen, man würde objektiv wahrnehmen. Das findet gar nicht statt. Objektives Wahrnehmen gibt es eigentlich gar nicht. Es ist immer ein Wahrnehmen mit einer Gefühlstönung. Nur bei denen, die durch wirklich tiefe Gelöstheit dieses Bewerten schon weitgehend entspannt haben kommt es zu dem, was man eine mehr objektive Wahrnehmung nennen könnte. Wobei auch diese immer noch subjektiv ist, da sie deutlich anders ist als die Wahrnehmung anderer Leute. Wenn ihr euch mit dem Gefühl tragt, nicht im Kontakt mit euren Gefühlen zu sein - das kommt durchaus häufig vor - dann spürt zum Beispiel in das Hören eines vorbeifahrenden Autos hinein. Alleine das geht mit

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einer Gefühlstönung einher: mag ich, mag ich nicht, uninteressant. Dahinein zu spüren lässt uns merken, was für sensible Wesen wir sind. Wir reagieren auf alles emotional. Die sogenannte objektive Wahrnehmung ohne Gefühlsbeteiligung gibt es fast gar nicht. Höchstens in dem Bereich, wo wir uns gar nicht interessieren. Aber auch das sich-nicht-Interessieren ist eine Emotion. Auch das ist etwas wo wir emotional sagen „nö, will nicht, ist für mich nicht interessant“. Es ist ein ziemlicher Übungsweg bis wir aus all diesen Reaktionen herausgefunden haben. Auch ich reagiere auf so ein Geräusch mit einer feinen Gefühlstönung, bloß ist dann bei mir Schluss. Ich folge ihr nicht sondern entspanne diese gefühlsmäßige Reaktion. Aber ich bilde mir nicht ein, frei davon zu sein, bloß weil sie minimal ist. Bei manchen ist sie ganz intensiv. Es kann sein, dass ihr vorhin das Wiehern des Pferdes gehört habt. Das ist ein Geräusch, das bei Menschen unter Umständen recht starke Gefühlsbeteiligung auslöst. Oder als vorhin das Handy mit dem Wecker geklingelt hat: da war eine starke Gefühlsbeteiligung zu spüren. Mit meiner Antwort wollte ich also dieser Person helfen, in die Gefühlsbeteiligung hinein zu spüren. Das kann man allen Empfehlen, aber tatsächlich geht die Frage nach dem Wie - „Wie ist es zu erleben?“ - tiefer als die Gefühlstönungen. Die geht noch darunter: Wie ist es überhaupt gewahr zu sein? Und das ist nicht mehr Gefühlstönung. Teilnehmerin: Also nicht nur Gewahrsein der vedana … Sondern noch tiefer: Wie ist es wahr zu nehmen? Wie ist diese Qualität des Seins überhaupt, jenseits der Gefühlstönung? Teilnehmerin: Du lehrst immer verschiedene Stufen? Ich versuche immer der Person entsprechend zu lehren, die die Frage stellt. Weil die Antworten auf etwas unterschiedlichen Ebenen gegeben werden, kann es manchmal verwirrend wirken, wenn an bei Gruppengesprächen zuhört. Teilnehmer: Wenn man das Gefühl hat, eine schwache oder starke Gefühlstönung zu haben, ist dann die Gefühlstönung stark oder schwach, oder ist das Ausmaß an Kettenreaktion mehr oder weniger intensiv? Die Kettenreaktion ist etwas anderes als die initiale Gefühlstönung. Die Kettenreaktion verstärkt das meist noch, macht daraus einen Film oder etwas anderes. Die initiale Gefühlstönung ist das was im Erleben entsteht, in der ersten Verarbeitung des Erlebens. Teilnehmerin: Sind neutrale vedana - also neutrale Gefühlstönungen – auch Gefühle? Ja. Wenn man genau übersetzt was im Pali, Sanskrit und Tibetisch beschrieben wird, dann heißt es dort gar nicht 'neutral' sondern 'weder-angenehm-noch-unangenehm'. Das heißt wir sind mit unserer emotionalen Einschätzung noch nicht zu einem abschließenden Urteil gelangt sondern noch unsicher. Es ist eigentlich ein vager Bereich. Wir sind aber dabei emotional einzuschätzen, und das wird verkürzt als 'neutral' übersetzt. Entweder ist es eine Indifferenz des sich-nicht-Interessierens oder der Reiz hat noch nicht die Intensität erreicht die es uns ermöglicht, ihn als angenehm oder unangenehm einzuschätzen. Teilnehmerin: Es sei denn man hat schon entspannt und kommt dann zu einer ruhigeren Einschätzung? Genau. Es gibt dann tatsächlich ein Wahrnehmen, in dem die Gefühlstönungen nicht mehr so stark anspringen. Das ist dann der Fall wenn wir tief entspannt sind. Teilnehmerin: Wenn eine angenehme oder unangenehme Gefühlstönung auftaucht, dann kommt ganz schnell die Interpretation oder ein Urteil. Das geht so blitzschnell, dass ich das gar nicht auseinanderhalten kann. Es wäre besser, mich auf die auftauchende Gefühlstönung zu konzentrieren und gar nicht in das weitere Urteil hineinzugehen. Genau. Dieses Unterscheiden in angenehm und unangenehm ist ein initiales Urteilen, ein Einschätzen, das bei allen durchaus subjektiv verschieden ist. Es ist der Beginn desselben Prozesses, der zu krasseren Einschätzungen und Urteilen führt. Wir versuchen so schnell wie möglich mit unserem Gewahrsein präsent zu sein, um uns diese weiteren, oft unnötigen Prozesse zu ersparen. Damit brauchen wir uns nicht aufzuwühlen, weil das meiste ohnehin von selbst vorbeigeht. Da brauchen wir nicht weiter darüber nachdenken. Das nennt man das näher-Herankommen an die initiale Wahrnehmung: dass man es nicht erst

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merkt, wenn man schon in einer Kette des Bewertens war, sondern schon näher ran kommt, die initiale Gefühlstönung bemerkt, und dann sogar noch dieses Muster des Bewertens entspannen kann. So ist man überrascht, dass Reize, die sonst eine klare Einschätzung als angenehm oder unangenehm ausgelöst hätten, diese Reaktion nicht mehr auslösen. Man ist so tief entspannt, dass das Muster nicht anspringt. Das versuchen wir mit unserer Praxis. Teilnehmer: Heißt dass, das Gefühllosigkeit Lebendigkeit in einem auslöst? Das ist sehr interessant. Wenn man sich das anhört, was ich eben erklärt habe, könnte man meinen, dass man immer gefühlloser wird. Das ist erst mal ein negativ besetzter Ausdruck: wer will schon gefühllos sein? Aber tatsächlich finden wir, wenn wir diese Bewertung entspannen, in eine immer größere Lebendigkeit. Diese Bewertungen sind feine Fixierungen, sie blockieren das ganz vitale lebendige Wahrnehmen kurzzeitig. Solange wie die Bewertung andauert, sind wir mit anderem beschäftigt und nicht ganz in unserer Lebendigkeit. Durch das Aussteigen aus dem Bewerten mit den Gefühlstönungen finden wir in eine immer größere Lebendigkeit hinein. Außerdem taucht etwas auf, was man das Mysterium des Seins nennen könnte: Man kann sehen, dass das bloße Wahrnehmen mit Freude verbunden ist, mit einem leichten, offenen Geisteszustand. Da zeigt sich eine inhärente Freude des Seins, die nicht fassbar ist. Man nennt das die Einheit von Freude und Leerheit. Sie kommt nur zum Vorschein, wenn wir aus dem Bewerten herausgefunden haben, in der Einheit des Erlebens. Das ist echte Lebendigkeit. Teilnehmer: Kann man in der Praxis sagen, dass wir immer noch Lebendigkeit in unseren Gefühlen suchen, aber dass Lebendigkeit nur zu finden ist, wenn man dem Fühlen nicht mehr nachhängt? Dieser Art des Fühlens, ja. Wobei es überhaupt kein Problem ist, angenehm und unangenehm zu bewerten und zu fühlen, denn wir können unmittelbar in dieses Fühlen von angenehm und unangenehm hinein spüren, mit unserem Gewahrsein da hineingehen, und entdecken dort genau dort diesen offenen Raum und die Freude. Das heißt, wir brauchen es nicht wegzumachen. Wir brauchen es nur zu durchschauen. Es geht also nicht darum, frei davon zu sein in dem Sinn, dass es nicht mehr auftauchen darf, sondern frei davon zu sein in dem Sinn, dass wir es durchschauen und sich das Gewahrsein sofort des Prozesses bewusst wird. Es braucht nicht wegzugehen. Das zu verstehen ist zutiefst befreiend. Wir müssen es nicht wegmachen, sondern nur seiner Natur gewahr zu werden. Teilnehmer: Ist das damit gemeint wenn es bei Samantabhadra heißt, dass man im ersten Moment erkennen soll was entsteht? Ja, das ist damit gemeint. Wobei ich mir nicht sicher bin, wie Samantabhadra das erlebt. Aber in der letzten Konsequenz ist das damit gemeint. Bei Samantabhadra – ein Wort für den Urbuddha – ist davon auszugehen, dass diese Muster des Bewertens gar nicht mehr anspringen. Deswegen kann man nicht davon sprechen, dass ein Samantabhadra diese Muster zu durchschauen hätte. Das ist bei einem Samantabhadra nicht mehr relevant. Aber für unsereins ist es ganz wichtig zu wissen, dass wir keine Emotion, keine Gefühlstönung wegmachen müssen um zu Erwachen von dem was ist. Wir erwachen immer zu Natur von dem was gerade stattfindet. Und wenn da gerade Emotion ist, dann erwachen wir zur Natur dieser Emotion. Wir brauchen sie nicht wegzumachen, sondern – wie ich heute Morgen sagte – mit dem Gewahrsein in das eigentliche Erleben hineingehen. Nicht weglaufen. Teilnehmerin: Ich möchte gerne etwas teilen. Heute morgen hast du so schön angeleitet, dass wir als Buddha praktizieren. Das war für mich so als ob bei mir ein großer Buddhaanteil und ein kleiner Egoanteil zusammen sitzen, und der Buddhaanteil zum Egoanteil sagt: „Zeig mal, wie machst du es denn? Wie ist es denn bei dir gerade?“ Und dann gucken beide gemeinsam wie es jetzt das Ego macht, und dann fragt das Ego: „Und wie machst du es so?“ Und dann guckt das Ego wie es der Buddhaanteil macht, dann hat der Buddhaanteil bei der Fixierung mit geguckt. Das ist ja super. Das ist wie der innere Dialog zwischen dem Weisheitsaspekt und dem ein bisschen verstrickten Aspekt. Es ist total fruchtbar, wenn die miteinander in Austausch gehen. Teilnehmerin: Oft empfinde ich es als anstrengend, wenn gesprochen wird oder ich denke. Ist das meine Art des Tuns, das im Greifen ist?

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Ja, das ist ein greifendes Wahrnehmens. Lehne dich innerlich und äußerlich zurück, wenn du merkst, dass du vom Wahrnehmen angestrengt bist. Es hilft wenn du dir sagst: „Das ist doch alles rang rig – aus sich heraus gewahr ist. Wahrnehmen findet doch einfach statt, ich habe doch nie Anstrengungen machen müssen. Seit meinem Säuglingsalter habe ich mir nie sagen müssen: 'Ich muss jetzt wahrnehmen!'“ Das brauchen wir gar nicht, wir können uns diese Anspannung auch noch ersparen. Das ist das was ich euch beim Überblick gestern Abend ersparen wollte mit dem Hinweis, dass ihr nicht versuchen solltet zu verstehen, sondern es einfach kommen zu lassen und mitzuschwingen im Vertrauen darauf, dass das Wesentliche von unseren inneren Antennen ohnehin wahrgenommen wird. ***

Meditation - gelöstes Sein Manche Praktizierende beschreiben den Prozess des Entspannens so als würden sie sich nach hinten, in den Hinterkopf, fallen lassen, hinter die Erscheinungen. Dass sie gar nicht mehr so nach vorne gerichtet sind – im Schauen, Hören, Riechen und so weiter -, sondern sich wie nach hinten ins Innere zu entspannen und loslassen, und die Betonung auf die nach außen gerichteten Sinne lassen. ... Andere erleben das so, dass sie wie so mit einem Fahrstuhl in den Bauch runter fahren: sie nehmen mehr aus dem Bauch oder sogar aus dem Becken wahr. … Manche lassen einfach die Schulter fallen, entspannen den Bauch, oder sagen sich innerlich: „Vertrau dich ganz dem Kissen, dem Boden, lass dich tragen!“ … Statt mich selbst zusammenzuhalten erlaube ich es mir, mich nach allen Richtungen hin zu öffnen, zu lassen, mich weiten zu lassen. … Da wo ich nichts mehr zusammenhalte und nichts mehr ausgrenze, da wird eine tiefe Harmonie erfahrbar. … Es gibt nichts zu kultivieren und nichts zu vermeiden. ... So kommt es zu einem ganz weiten Erleben, ohne das Gefühl von einem Mittelpunkt. … Alles Überflüssige lassen … (Gong)

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Das was uns oft so zu schaffen macht sind diese Muster des Zusammenhaltens und Ausgrenzens. Mich zusammenhalten und das andere ausgrenzen. Alles das was bedrohlich wirkt ausgrenzen, und das was angenehm, nährend wirkt, möglichst bei mir halten, zusammenhalten. Wieder dieses Muster von Hoffnung und Furcht, von haben-Wollen und nicht-haben-Wollen. Vor dem Retreat war ich 10 Tage lang Reiten in den Alpen, war jeden Tag fünf bis zehn Stunden auf dem Pferd, und habe dabei erlebt, wie sehr Pferde Fluchttiere sind. Alles was irgendeine Unsicherheit auslöst, wird mit einem Scheureflex bedacht. Trungpa Rinpoche hat unseren Umgang mit Empfindungen als instinktive Reaktionen bezeichnet, die aus dem Überlebensmodus gespeist sind. Wir sind sehr stark Tier was das angeht. Wir sind aber Menschen, wir sind nicht wirklich Tiere. Wir können unterscheiden wann wir in einer gefährlichen Situation sind und wann nicht. Zum Beispiel wenn wir uns hier oder in unserem Schlafzimmer oder draußen entspannen, gibt es gar nichts Bedrohliches. Trotzdem verhalten wir uns so als ob wir ständig unsere Umgebung daraufhin abtasten müssen ob da etwas bedrohlich ist – das wir auszugrenzen haben – oder ob da etwas ist das wir festhalten müssen. Es ist als ob dieser Überlebensinstinkt – zu schauen was ich zum Leben brauche und was mein Überleben gefährdet – immer noch ständig in uns aktiv wäre. Außerdem haben wir aufgrund unserer Biografie, unseres frühkindlichen Erlebens und so emotionale Muster des Schützens, des Ausgrenzens oder des an-mich-ziehen-Wollens, für-mich-einnehmenWollens eingeübt. Das ist so tief in uns drin, dass es in uns weiterwirkt obwohl wir in einer total entspannten Situation sind. Das meine ich mit 'überflüssig'. Der Mensch hat die Fähigkeit, alles Überflüssige zu lassen, all diese Sicherheitsmaßnahmen in einer total sicheren Situation zu entspannen. Das nicht entspannen zu können obwohl es möglich wäre, weil wir gerade in einer ganz sicheren Situation sind – das ist unser Gefängnis: So weiter zu funktionieren als wären wir unter einer kontinuierlichen Bedrohung und in einem kontinuierlichen Kampf ums Überleben, in dem wir Nahrung, Liebe, dieses und jenes für uns sichern müssen. Das Programm geht in uns weiter, das wurde im Verlauf unserer Lebensjahre emotional verfeinert, und mittlerweile könnte man fast sagen, dass das Programm uns hat. Es ist nicht einmal so, dass wir das Programm haben, sondern es hat uns, es bestimmt uns.

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Gelöstes Sein im Alltag Wenn wir im Dharma davon sprechen, dass ein Teil der Arbeit im De-konditionieren besteht, dann meinen wir das: das Auflösen von Mustern, die ständig in uns wach sind und uns sogar manchmal den Schlaf rauben, weil wir im Schlaf immer noch im Überlebensmodus sind. Wir sind dann so angespannt, dass wir keine wirkliche Ruhe finden, obwohl nichts da ist was beunruhigend wäre. Es würde ja reichen, kurz mal zu checken und dann direkt wieder zu entspannen. Aber wir überprüfen so kontinuierlich und sind ständig auf Habachtstellung, und natürlich auch in der Kommunikation mit anderen. Obwohl wir oft mit ganz liebevollen Menschen zusammen sind, sind wir auch da im Schutzmodus. Das alles zu entspannen, das sich lösen zu lassen, ist Teil der Meditationspraxis: Erkennen zu können dass es jetzt gerade sicher ist und ich diese Instinkte jetzt gerade entspannen kann. Sie stehen uns sofort zur Verfügung wenn wir sie brauchen, sie gehen nicht verloren. Bloß weil wir sie entspannen heißt das nicht, dass sie nicht im Bruchteil einer Sekunde anspringen können. Sie sind immer da, darauf können wir uns verlassen. Da fällt nichts weg. Es wird nur nicht aktiviert, weil es im Moment überflüssig ist. Das können wir lernen: Diese Tiefe des gelösten Seins immer wieder zulassen, gelegentlich schauen ob es etwas braucht – zum Beispiel jetzt wo es anfängt zu regnen: sind die Fenster zu? - und dann schon wieder entspannen. Mehr braucht es ja gar nicht. Wenn jetzt ein Feuer ausbrechen würde, würden wir sofort wissen was zu tun ist, ganz klar, denn es steht ja zur Verfügung. Aber im Normalfall brauchen wir das nicht. Gelöstes Sein in den Alltag hinein zu bringen – also jetzt zum Beispiel ins Hören, bzw. ins Sprechen – bedeutet nur die Anstrengung zu machen, die es wirklich braucht. Wenn ihr keinen Hörfehler habt, braucht es für das Hören selber keine Anstrengung, es passiert von selbst. Für das Entziffern, das Decodieren der Worte braucht es auch keine Anstrengung. Das Deutsche haben wir gelernt und verstehen es von selbst. Für das Verstehen von Verstehen von Zusammenhängen braucht es auch nur sehr wenig Anstrengung. Eigentlich braucht es vorwiegend, dass wir nicht mit Anderem beschäftigt sondern einfach ganz präsent sind. Dass wir also die Ablenkung von anderem das uns beschäftigen könnte, sein lassen und einfach nur aufnehmen können. Dann passiert der Rest wie von selbst. Auch das Sprechen selbst: solange ich einfach bei den Inhalten bleibe, die mich innerlich bewegen, findet das Sprechen wie von selbst statt. Ich brauche mir nicht meine Worte zurecht zu legen. Ich habe keinen Vorrat von Sätzen, die ich abarbeite, sondern das Sprechen entsteht im Sprechen. Es ist so anstrengungslos einfach weil ich geistig mit dem verbunden bleibe, was ich euch mitteilen möchte. Es ist so einfach. Wir brauchen nicht diese ganzen Schutzmechanismen, zum Beispiel: „Sage ich jetzt etwas Falsches? Was denken die über mich?“ oder „Verstehe ich alles? Kriege ich den wesentlichen Punkt mit?“ oder „Was denkt meine Nachbarin, wenn ich mich jetzt bewege?“ Diese ganzen Ego-Loops, diese ichbezogenen Extraschleifen, die unser Leben so kompliziert und anstrengend werden lassen und sehr viel emotionale Energie in sich tragen, sind unnötig. Einfach kommen lassen. Während des Meditierens lernen wir, diese Ich-Schleifen zu entspannen, und dann lassen wir diese Überflüssige auch im normalen Sein immer mehr. Wir entdecken, dass wir es gar nicht brauchen und dass es ohne viel besser geht. Die Annahme eines normalen Menschen ist, dass es diese Richter-Instanzen, Bewerter-Instanzen, Beobachter-Instanzen, Journalisten-Instanzen in uns braucht, um besser zu funktionieren. Normale Menschen denken, dass da ein Ich sei, das garantiert, dass ich gut funktioniere. Tatsächlich machen genau diese Extraschleifen jede Menge Komplikationen. Genau da sitzt das Hoffen und Fürchten, das Beurteilen, das Blockieren – „so darfst du nicht sein“, „so musst du sein“ -, die Anstrengung: das sitzt in diesen extra Gedankenschleifen. Manchmal sind sie ganz gut: wenn wir beispielsweise in einer Situation nicht ganz wir selbst sein können, weil es nicht willkommen ist und wir uns ein bisschen an eine Rolle anpassen müssen. Dann braucht es eine gewisse Kontrollinstanz. Aber meistens läuft die Welt viel runder, wenn wir diese Extrainstanzen gar nicht aktivieren. Das ist mit 'De-konditionieren' gemeint: das Aussteigen aus den Konditionierungen – also den Mustern, den Prägungen -, die wir in bestimmten Situationen gelernt haben, in denen es um das Überleben, um Rollen oder um das sich-Zurücknehmen (um andere nicht zu sehr zu belasten) ging; sie nicht ständig am Laufen zu halten, sondern nur dann wenn wir sie brauchen. Wenn diese Muster ständig laufen, wird das Leben wahnsinnig anstrengend. Dann können wir keine Situation erleben ohne ständig innerlich diese Richterstimmen zu haben, diese Beurteilung „machst du das jetzt gut genug?“, „Pass da auf!“, und so weiter. Oder andere Stimmen, abwertende Muster: „Ich bin zu nichts nutze.“ „Ich schaffe das nicht.“ „Ich werde das nie kapieren.“ „Ich kann doch nicht erwachen.“ Unnötig! Warum? Diese Muster nehmen wir wahr. Wenn wir beginnen still zu werden, dann zeigen sich diese inneren Stimmen, wir lernen diese Ich-Schleifen zu entspannen, nicht mehr auf sie einzusteigen – es beginnt eine Vereinfachung unseres Seins. Darum geht es: einfacher, unkomplizierter zu werden.

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Diese unnötigen Extragedanken nennt man auch Projektionen. Das meine ich jetzt nicht im psychoanalytischen Sinne, sondern viel grundlegender. Es sind Annahmen über die Wirklichkeit, Gedanken über das was ist. Auf Tibetisch nennt man das tröpa (Wylie: spros pa, Pali: papañca). Das sind künstliche, zusätzliche Gedanken über das Sein, die nichts zum unmittelbaren Erleben beitragen. Die erste Stufe des Erwachens wird trö-dräl genannt, 'Frei von Projektionen', frei von diesen Extra-Bewegungen. Trungpa Rinpoche übersetzte das als 'Einfachheit', weil wir mit dieser ersten Stufe des Erwachens in ein ganz neues, einfaches Sein eintreten, in dem diese Extra-Schleifen – dieses Beurteilen, Einschätzen, Benennen und all diese tröpa mit denen wir unsere Welt, unseren Film gestalten – wegfallen. Wir erleben zum ersten Mal, wie es sein kann ohne diese unnötigen Projektionen, ohne diese zusätzliche geistige Aktivität, die unsere emotionale Welt gestaltet und eigentlich ziemlich überflüssig ist. Dieses trö-dräl bedeutet nicht Freisein von Denken. Wir können wunderbar denken in diesem So-Sein. Wir können frei denken, spielerisch, nützlich, mitfühlend denken. All diese wunderbaren Eigenschaften des Geistes sind weiter da und aktiv. Wir können auch beschreiben, benennen, wir können auch beurteilen, aber wir sind nicht mehr emotional darin verhaftet. Das ist der Unterschied. Wir nutzen diese Funktionen des Geistes, ohne uns von ihnen dominieren zu lassen. Wir sind frei darin. Es ist ein Tanz, es wird spielerisch. ***

Sein ohne Trennung Meditation - Zeitloses Gewahrsein Wir praktizieren, ich meine jetzt beim Meditieren, immer dasselbe. Ich möchte es noch einmal wiederholen, worum es eigentlich geht. So, wie wir uns jetzt einfach hingesetzt haben und dessen bewusst werden, was ist - genauso wie es ist ... Wir nennen das auf Tibetisch das zeitlose Gewahrsein, yesche. Die Wurzel von diesem Wort bedeutet „das schon immer vorhandene Gewahren oder Gewahrsein“. Aber tatsächlich auch in dem Sinne, dass es in diesem Gewahrsein weder vorher, noch jetzt, noch nachher gibt. Spürt noch einmal hinein, wie es jetzt gerade ist ... Wenn wir rückhaltlos zum Erleben werden, ohne beobachtende Distanz, dann fällt alles Vergleichen mit vorher und nachher weg und auch das Gefühl von einem Jetzt taucht nicht auf ... Wenn wir gerade im visuellen Erleben sind, dann sind wir dieses visuelle Erleben. Wenn gerade Hören stattfindet, sind wir dieses Hören. Wenn gerade der Körper, das Körpererleben präsent ist, sind wir ganz und gar dieses Körpererleben. Wenn wir denken, sind wir ganz und gar dieses Denken ... Wir sind das ganze Erleben, nicht nur ein Teil davon. Es ist nicht so, als wenn wir so ein kleiner Mittelpunkt des Erlebens wären, der den Rest auf Distanz hält, beobachtet. Im Sehen sind wir das ganze Sehen, im Hören das ganze Hören ... Ich will das heute mal die Qualität des ganz und gar Seins nennen. Wenn wir diese Qualität des Seins mit Worten zu beschreiben suchen, dann sind wir vielleicht geneigt, von Einheit zu sprechen. Doch mit dem Wort Einheit geht etwas einher, als ob zwei eins geworden wären. Dabei ist hier gar nichts eins mit etwas anderem geworden … Gong *** Was sich bewährt hat in dem buddhistischen Sprachgebrauch, ist davon zu sprechen, dass eine Trennung weggefallen ist. Das Mittelpunktgefühl, das wir normalerweise haben, so als wenn wir von einem inneren Zentrum aus sähen, hören, beobachten, erleben. Dieses Mittelpunktgefühl ist einfach weg geworden. Es ist nicht so, dass da ein real existierender Mittelpunkt eins geworden ist mit der Gesamtheit des Erlebens. Es ist in jedem Moment so, jetzt gerade, wenn wir erleben wie ich spreche, wie ich den Gong anschlage, die Klangschale, dass in dem Hören in dem Sehen –Gong - kein Mittelpunkt zu finden ist. Wo soll er denn sein? Hören findet statt, Sehen findet satt. In diesem Seherleben, wo soll er denn sein der Mittelpunkt? Teilnehmerin: Ich stell mir vor am Anfang.

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Ja, das ist in Ordnung, wenn Du dir vorstellst, dass er am Anfang ist. Wo ist er denn dann in der Mitte? Wenn ein Mittelpunkt am Anfang ist, hat er Mühe, Mittelpunkt zu sein. Wo ist er denn dann danach? Also ich stell mir so den Mittelpunkt vor, von dem es losging und dann die Wellen nach außen. Das ist ja interessant, weil das ist ja eine Vorstellung, wie du ganz richtig sagst. Wenn du diese Vorstellung los lässt, wie ist es im Erleben? Spüre noch mal hin. Erste Frage: Wieviele Töne hören wir? Unendlich viele! Unendlich viele. Kannst Du sie gegeneinander abtrennen? Sie überlagern sich so. Völlige Überlagerung, unmöglich, sie abzutrennen. Klangerleben als Kontinuität mit wechselnden Inhalten, ja? Überlagert, unglaublich. Wo soll sich denn da ein Ich reinschummeln? Ein Mittelpunkt? Das Ich behauptet dann, das ist das erste was es meistens tut: „Ich bin gar nicht dieses Klangerleben, ich höre das!“ Ok? „Ich bin nicht das Seherleben, ich sehe.“ Teilnehmerin: Ich habe gerade Mühe mit dem, du hast gesagt, ich höre den ganzen Ton, ich sehe ganz, ich habe gerade Mühe damit. Ja, du hast auf jeden Fall Mühe, wenn das Ich versucht ganz und gar zu sehen, das schafft es nicht. Das Ich will trennen, das Ich kann nicht ganz und gar sehen. Das ist das erstaunliche, das Ich kann nicht ganz und gar hören, denn es muss ja auf seinem Getrenntsein bestehen. Das hast du völlig richtig erlebt. Es ist genauso. Ich versuche ganz und gar etwas zu tun. Ich ganz und gar lieben, klappt nie. Es ist im Prinzip des IchGefühls, der Ich-Anstrengung, der Ich-Vorstellung, das eine Trennung aufrechterhalten werden muss. Ich kann auch nicht das Hören mit dem Fühlen... ich fühle immer noch, ich höre und dann sehe ich noch, das geht alles ineinander. Das Ich kommt völlig durcheinander, wenn es das versucht. Es hat gern die Dinge etwas geordnet. Dieses gleichzeitige Erleben, das überhaupt nicht nach dem Ich fragt, ist eine Katastrophe für das Ego. Dabei tust du das. Du sitzt in einer riskanten Position, du siehst und hörst und fällst nicht um und lachst noch und das Erleben aller dieser verschieden Schichten des Erlebens durchdringen sich in einer Gleichzeitigkeit - und ein Glück hat das Ich nichts damit zu tun. Wenn wir aus der Ich-Perspektive heraus ganz und gar hören, ganz und gar sehen wollen, klappt es nicht, denn wir behalten die Ich-Perspektive bei. Aber im Erleben? Wie ist es da? Das ist das, was man das zugleich vorhandene zugleich entstehende Gewahrsein nennt – Mahamudra. Es ist immer zugleich mit unserem Erleben da, es ist immer da, dieses mittelpunktlose Erleben, dieses ganz freie Erleben. Ich spreche davon, um euch darauf hinzuweisen, immer wieder zu schauen. Genau deswegen brauchen wir nicht auf das Erwachen zu warten, weil es tatsächlich jetzt, jetzt in diesem nicht auffindbaren Jetzt erlebbar ist. Schaut noch mal, hört noch mal. Hört nicht zu sehr hin. Hört einmal gar nicht hin. –Gong- Der Buddha sagt es manchmal so: „Spüren findet statt, Hören findet statt, Sehen findet statt, das alles passiert, es ist wie es ist.“ Körper ist Körper, Empfindung ist Empfindung, wo in all dem ist denn ein Ich zu finden. Du hast eine Idee? Teilnehmerin: Mir ist so ein Gedanke gekommen. Der Atem findet auch statt. Das Atmen findet auch statt. Der Atem, falls es ihn gibt, auch, ja. Teilnehmerin: Der blaue Himmel ist immer da, auch wenn wir ihn nicht sehen … Ja, das sind gute Bilder, das ist einfach. Da ist also ein Prozess des Hörens. Wir sind uns einig darüber, wir haben den Ton der Klangschale nicht einmal gehört –Gong- sondern es war ein fortgesetzter Prozess des Hörens, –Gong- in dem das jeweilige Hören eine sich ständig modulierende Erfahrung ist. Ja? Es gibt da nicht einen Ton. Und so ist es mit dem Sehen. Es gibt nicht ein Sehen dieses Raumes, sondern es gibt ein kontinuierliches Sehen dieses Raumes. Und das fällt auf, wenn in diesem unserem Gesichtsfeld leichte Bewegungen sind. Wenn da leichte Bewegungen sind, fällt auf, dass wir kontinuierlich sehen, dass wir nicht ein Foto machen und gesehen haben und dann ist fertig, sondern dass wir die ganze Zeit sehen. Wir kriegen Bewegung mit, ich kriege deine Atembewegung mit, ja, natürlich, sichtbar. Wenn sich etwas bewegt, wird offenkundig, dass Sehen keine statische Momentaufnahme ist, sondern ein kontinuierlicher Prozess.

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Teilnehmer: Ja wie ist das denn mit der räumlichen Zuordnung? Die wird ja ständig überlagert. Das heißt, ich beziehe das, was ich sehe und in diesem Tun eigentlich auf meinen Körper, wenn ich es richtig sehe, entweder es kommt von rechts, von links, von vorne usw.. Ich kann das nicht definieren, was überhaupt links ist. Ich weiß nicht ob Du eine schöne Definition hast? Ich hab keine. Aber unmittelbar hören wir das, es kommt von da und da und ich bin mitten im Zentrum und wenn ich mich mit dem Körper identifiziere, dann interpretiere ich das als Ich. Die räumliche Zuordnung findet ständig statt. Es ist eine zusätzliche Zuordnung - nicht nur hören wir, sondern es findet zusätzlich räumliche Zuordnung statt. Daneben finden auch andere Zuordnungen statt. Die Art der Klänge wird unterschieden und es wird auch sofort unterschieden ob ein Hinweis auf eine Gefahr ist oder ob wir uns dabei weiter entspannen können. All das sind noch zusätzliche Prozesse. Übrigens findet das im Precuneus statt, das ist das Gehirnareal, wo die gesamte komplizierte räumliche Zuordnung stattfindet. Und das ist so was spannendes, wie viel Prozesse da gleichzeitig laufen. Wenn man das vom Gehirn her betrachtet, laufen eine Menge verschiedener Netzwerke gleichzeitig, nicht auf Höchsttouren, aber ganz schön intensiv. Und ob es rechts oder links ist, ist manchmal gar nicht klar. Manchmal scheint der Klang von allen Seiten zu kommen, je nachdem, wie er reflektiert wird. Und wir erleben das Zentrum, das orientierte Zentrum, das was wir vermuten könnten, was zwischen den beiden Ohren ist oder das irgendwo hinter den beiden Augen ist, hinter den Augen, zwischen den Ohren, hinter der Nase und im Körper und hinter den Gedanken, so dass das ungefähr ist, wo wir das Ich lokalisieren würden. Ja, so! Das ist das subjektive Gefühl, was wir brauchen, um uns zu orientieren. Und das ist auch Prozess, dieses subjektive Gefühl ist ebenfalls Prozess und lässt sich nicht an irgendeinem Ort wiederfinden. Wissenschaftler dachten, sie könnten das. Jetzt wissen sie, dass es nur eine größere oder geringere Aktivierung verschiedener Netzwerke zu beobachten gibt. Ganz, ganz spannend. Aber dieses IchGefühl taucht mehr oder weniger auf. Manchmal ist es fort, manchmal ist es ganz stark da. Wenn es stark da ist, dieses Ich-Gefühl, wenn es deutlich bemerkbar wird, sehen wir, dass es auch als ein zusätzliches Denken auftaucht. Das Hören mit Ich-Gefühl können wir erleben, dass wir während des Hörens gleichzeitig noch das Ich-Gefühl wach halten. Ja? Es sind zwei gleichzeitige Prozesse. Manchmal ist es nur ein kurzer Gedanke „Ich“ und dann ist wieder einfaches Hören und manchmal ist es kontinuierlich da. Schaut mal, ob ihr beim Hören kontinuierlich das Ich- Gefühl wachhalten könnt. Was müsst ihr dafür tun? – Gong Teilnehmer: Nicht voll hinhören. Nicht voll hinhören, wir dürfen nicht voll hinhören, wir müssen eine gewisse... . Was machen wir zusätzlich noch? Zwei Aufträge. Zwei Aufträge, genau. Ich muss mich ständig zu dem Hören in Beziehung setzen. Ich muss mich ständig zu dem Hören in Beziehung setzen. Am besten ich sage mir die ganze Zeit „Ich höre, was höre ich denn da?“ Am besten ich aktiviere irgendwie dieses Ich-Gefühl, um mich in Beziehung zu setzen. Ich-Gefühl lebt davon, sich in Beziehung zu setzen. Und es ist Prozess. Teilnehmerin: Ja, aber wenn das Hören stattfindet und Sehen, und da ist noch irgendeine Instanz, die das mitkriegt, dass es sieht, dass es hört, was ist das? Genau, da ist noch diese andere Instanz. Wir könnten das, die meisten Menschen würden dieses andere das Ich nennen. Ich höre. Das wäre doch naheliegend. Ja, und wenn wir jetzt mal da hinein schauen, was entdeckst Du? Nichts konkretes, keine Ahnung. Ja, aber das ist doch völlig ausreichend. Nichts konkretes, keine Ahnung. So einfach ist das, das reicht ja. Wir brauchen ja gar nicht irgendetwas zu demontieren, wir brauchen gar nicht aufzuhören, irgendwie diese Instanz einzusetzen, wenn wir sie brauchen, dieses Beobachten. Letzten Endes ist es ja das, was wir den Beobachter/die Beobachterin nennen. Das ist der Umgangsausdruck dafür, für diese Ich-Instanz. Wenn wir in

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sie hineinschauen, dann, wie hast du es so schön gesagt? „Nichts konkretes, keine Ahnung.“ Genau. Genauso geht es allen von uns. Wenn wir da hineinschauen, nichts fassbar, keine Ahnung. Und wenn ich dann wieder in den hineinschaue, der jetzt sagt „Nichts fassbar, keine Ahnung“, schon wieder nichts fassbar, weil das, was wir Ich nennen ebenfalls Prozess ist. Es ist auch ein Teil des Erlebens. Das ist Ich-Erleben. Das Ich-Erleben ist Teil der möglichen Facetten unseres Erlebens. Es ist nicht hinderlich per se, es ist nicht per se ein Problem. Wir merken nur, dass das, was gerade beschrieben wurde: „Doppelte Aufgabe, zweifache Aufgabe“. Wir merken, dass mit dem zusätzlichen Ankurbeln der Ich-Instanz, also dieser Ich-Funktionen des beobachtenden Erlebens, eine gewisse Distanzierung zum restlichen Erleben stattfindet und dass das Energie braucht. Diese Energie, die das braucht, das können wir auch eine Grundspannung nennen und zwar so, wie gesagt wurde, „sich in Beziehung zu setzen“.

Grundspannung im Sein Zum „in Beziehung zu setzen“ braucht es eine feine Spannung zwischen Subjekt und Objekt. Diese Beziehung muss immer wieder hergestellt werden. Das macht das Ganze auch recht lebendig. Da ist nichts verkehrt dran. Wir beschreiben nur, was da stattfindet. Wenn ich jetzt beim Sprechen noch gleichzeitig die Ich-Instanz ankurbele, habe ich eine zusätzliche Spannung beim Sprechen, weil ich dann schaue, ob ich das Richtige sage, wie ich ankomme und so weiter, oder mir gleichzeitig beim Sprechen auch noch zuschaue. Das ist auch da wieder eine doppelte Aufgabe. Und diese doppelte Aufgabe mit der leichten oder großen Spannung, das ist das grundlegende dukkha, das dukkha der dual konditionierten Existenz. Das ist das Leid, von dem der Buddha in der Tiefe sprach. Das existenzielle Leid des Getrenntseins. Die anderen Formen des Leides, Anhaftung an das Angenehme, Ablehnung des Unangenehmen, diese Form der Spannung, Widerstand gegen den Wandel, das sind gröbere Formen. Aber die ganz feine, die subtilste Form von Anspannung, die wir finden können, ist die feine Anspannung im Erleben noch Zwei zu sein. Und wir machen dann die Entdeckung - ich kenne die Entdeckung, einige von Euch sicherlich auch - nicht zwei zu sein im Erleben. Das ist völlig entspanntes Sein. Es gibt auch die Möglichkeit, nicht zwei zu sein im Handeln, im Sprechen. Das ist völlig entspanntes Sprechen, völlig entspanntes Handeln. Diese Grundspannung zwischen Subjekt und Objekt - also etwas, das etwas anderes wahrnimmt, ein Subjekt, das etwas anderes wahrnimmt oder beobachtet - kann sehr, sehr stark werden. Am stärksten ist sie in der Angst, ganz starke Anspannung. Wenn wir in der Angst sind, selbst wenn sie kein äußeres Objekt hat, wenn wir in der existenziellen Angst sind, große Anspannung zwischen dem, der seine Angst erlebt. Die Angst selbst ist das Objekt. Wenn wir hier noch feiner hinschauen, dann bemerken wir, dass es die Anspannung ist zwischen etwas, das Stabilität möchte und dem nicht Fassbaren, was bedrohlich wirkt auf diesen Wunsch, dieses Etwas, das sich offenbar Stabilität wünscht. Das ist die Bedrohung, die erfahrbar wird, diese Angst, die erfahrbar wird, vielleicht beim Einschlafen, wenn wir ins Dunkle gehen, wenn wir ins Ungewisse gehen, wenn uns ganz deutlich wird, dass wir nie den nächsten Moment vorausahnen können. Wir wissen nicht, was im nächsten Moment kommt. Diese Unruhe, diese Grundspannung, die aus dem Prozess kommt, dem Wünschen, einem Wünschen nach Klarheit, nach Sicherheit, Kontinuität. Das ist diese Grundanspannung im Sein, mit der wir uns ganz gezielt befassen beim Meditieren. Genau diese Grundspannung, mit der nehmen wir es auf. Das ist kein Ich, das das aufnimmt, sondern wir suchen Wege, um sie zu entspannen und machen manchmal dann die Entdeckung eines geeinten Erlebens. Besser ausgedrückt: eines Erlebens, in dem diese Trennung nicht mehr aufrecht gehalten wird. Das ist nur möglich, wenn wir für eine Weile diese Ich-Funktion nicht mehr aktivieren. Wenn die überflüssig wird und mal wegfallen kann. Wir nennen das, recht gut mal so ausgedrückt, „wenn wir uns mal vergessen können“. Wenn wir uns bei vollem wachen Gewahrsein einfach mal vergessen können. Einfach mal sein und dann ist nur noch Sein und niemand beobachtet dieses. Da haben wir ein gewisses Dilemma, denn in diesem Sein, wo niemand beobachtet, fällt es schwer, sich zu orientieren. Wir haben diese orientierenden Funktionen nicht zur Verfügung, die uns normalerweise in Raum und Zeit orientieren. Damit wir in Raum und Zeit orientiert sind, brauchen wir Fixpunkte und wir brauchen das Vergleichen. Und das ist eine zusätzliche Funktion, die können wir anwerfen und wir können sie sein lassen. Es ist kein ständig vorhandenes Ich, das weiß, wie viel Uhr es ist und wo wir im Raum sind, sondern es ist ebenfalls Prozess.

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Entspanntes Sein Worauf ich hinaus möchte: es gibt zwei Entdeckungen, ganz große Entdeckungen. Es gibt die Möglichkeit eines ganz entspannten freien Seins, wo der Beobachtende, der trennende Prozess nicht angeworfen wird, der auch das Vergleichen ermöglicht. Es gibt diese Möglichkeit, so zu sein. Und es gibt eine Möglichkeit räumlich, zeitlich orientiert zu sein, ohne diesen Prozess, der die räumliche und zeitliche Orientierung ermöglicht, der konkreten Existenz eines Ichs zuzuschreiben. Das sind ebenfalls nicht fassbare, ständig ablaufende Prozesse ohne einen Wesenskern. Was wir im Aufwachsen lernen, ist, dass wir uns von anderen unterschiedlich wahrnehmen, eine ganz wesentliche Funktion der inneren Entwicklung, dass ich mich von meiner Mutter getrennt wahrnehme. Weil zunächst diese Möglichkeit, sich getrennt wahrzunehmen, ganz gering gegeben ist und es braucht eine deutlich stärkere Wahrnehmung des Getrenntseins, um auch alleine durchs Leben gehen zu können und um emotional selbständig zu werden. Was passiert ist, dass wir durch das häufige Erleben von „Ich hier, Du dort und die anderen dort“ das Ganze nicht mehr als Prozess wahrnehmen, als Prozesse, sondern dieses Ich immer solider machen, immer noch mehr verfestigen. Eine unnötige Verfestigung. Diese Verfestigung des Ichs führt dazu - und das ist ganz normal - dass ich mich dann angegriffen fühle, dass ich mich verlassen fühle, das sind schon ganz frühe Prozesse, die da anspringen; und dass wir mit einem Ich identifiziert sind, was zu einer ganzen Kette von Emotionen führt. Und dann denken wir sogar, ich könnte psychisch krank sein, sogar psychisch unheilbar krank sein. Wir sehen nicht, wie es Prozesse sind, dass jederzeit Heilungsprozesse möglich sind. Dass Prozesse zwar bedeutet „Ja, da ist etwas im Gange, was psychische Krankheit auslöst und bewirkt“, aber das ist ein ständiges Wiedererzeugen von denselben Symptomen der depressiven Erkrankung, der psychotischen Erkrankung, der Borderline-Erkrankung, mit Persönlichkeitsstörungen und so weiter. Immer wieder Prozesse, die ein ähnliches Erleben und Reagieren auslösen. Und da es sich um Prozesse handelt können wir in diese Prozesse hinein wirken und sie können sich ändern. Und damit ändern sich dann auch die Ausscheidung der Transmitter, der Hormone und so weiter. Auch das, wo wir von der Medizin manchmal so biochemisch festgelegt werden, als wäre Schizophrenie eine biochemisch genetisch festgelegte Erkrankung, aus der man gar nicht mehr raus kommt. Die Transmitterprozesse, die hormonellen Prozesse, all das ist ebenfalls Prozess. Man kann gar nicht sagen, ob die Henne vor dem Ei war, sondern unser geistiges Erleben und das energetische Erleben mit dem hormonellen, alles ändert sich gemeinsam in jedem Moment. In jedem Moment hat unsere Geisteshaltung Einfluss auf die biochemischen Prozesse und die biochemischen Prozesse haben Einfluss auf uns. Wir müssen schauen, wo Einfluss genommen werden kann, wo Änderungen vorgenommen werden können. Und da wir hier nicht mit einer Biochemie-Spritze sitzen, sondern nur mit unserem Geist arbeiten können, arbeiten wir halt mit dem Geist und merken, es sind ganz erstaunliche Beeinflussungen der hormonellen Funktionen möglich, der Gehirnfunktionen, all dessen, was schlussendlich das Erleben ausmacht. All diese Prozesse zusammen, das macht das Erleben aus. Es ist unglaublich. Wir benutzen nur den Geist und beeinflussen den ganzen Rest unseres Seins und beeinflussen den Körper letztendlich. Es ist nicht so, dass der Geist direkt den Körper beeinflusst, sondern Geist ist Prozess, ist energetisch und energetisches Erleben beeinflusst die ganze Ausschüttung der inneren Transmitterstoffe. Diese Botenstoffe beeinflussen wieder unser physisches Erleben und zwar in Bruchteilen von Sekunden. Das hängt alles zusammen und das alles ist Prozess. Und da ist das Ich-Erleben überhaupt kein Problem. Es war auch für den Buddha kein Problem. Das IchErleben selber nicht, sondern nur, wenn wir ihm den Glauben schenken und das zu einer fixen Instanz machen. Aus diesem Erleben, das sich dann so fix erlebt, kommen starke Gefühle von Trennung, starke Gefühle von Wut, Ärger, starke Gefühle von Stolz und das ist unnötig. Wenn wir da hinein schauen, in diese starken Gefühle, machen wir immer die Erfahrung, so wie bei den feinen Gefühlen: „Nichts konkretes, keine Ahnung“. Sehr befreiend, wenn uns das passiert, in der Wut oder im Stolz - „nichts konkretes, keine Ahnung“. Stellt Euch vor, ihr habt einen Wutanfall und die Person gegenüber, die gerade euren Wutanfall abkriegt, die fragt euch: „Hast Du was?“ Und in dem Moment habt ihr gerade geschaut - „Nichts konkretes, keine Ahnung“. Lachen... In der Wut ist alles so konkret, ist alles so fix und ich habe überhaupt keinen Spielraum, ich habe keinen Spielraum. Schlimme Wut, wenn sie ganz, ganz stark wird, lässt null Spielraum. So verdichtet sich unser Erleben zu dem Gefühl „Ich kann nicht mehr, ich will das nicht, es muss weg“. Es geht so, so stark. Einmal hin gucken - „nichts konkretes, keine Ahnung“. Darum ging es dem Buddha. Dem Buddha ging es darum, diese andere Möglichkeit zu eröffnen, zu zeigen, da gibt es noch eine ganz andere Möglichkeit. Da gibt es die Möglichkeit eines fließenden Seins, wo wir obendrein noch dieser Qualitäten des fließenden Seins bewusst sind und ständig gewahr sind, dass wir viele Möglichkeiten haben - viele, viele Möglichkeiten zu denken, zu fühlen, uns zu verhalten, zu interagieren. Darum geht es, um das Eröffnen

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dieser vielen Möglichkeiten. Lasst uns das noch mal machen, vielleicht mit einer neuen Meditationsinstruktion. Lasst uns noch mal praktizieren. ***

Meditation - Anstrengungsloses Sein Wie würde sich das anfühlen mit großer Leichtigkeit, mit tänzerischer Leichtigkeit jetzt präsent zu sein. So als würde ich im Erleben immer alles in der Schwebe halten, nichts fixieren ... Wie fühlt es sich im Körper an, wenn ich alles beweglich halte ... Wie fühlt es sich im Denken an, wenn ich alles beweglich halte im Denken, quasi vorwärts und rückwärts denken kann, in alle Richtungen ... Vielleicht brauche ich ja gar nichts zu tun, um diese Leichtigkeit zu erleben, zuzulassen. Vielleicht geht es ja nur darum, alles Greifen, alles Fixieren zu unterlassen ... Ganz geschmeidig bleiben. In diesem geschmeidigen Sein bitte nicht den nächsten Moment vorwegnehmen, völlig offen für das, was noch nicht ist. Offen, geschmeidig, durchlässig, fließend. Lasst es ja nicht anstrengend werden. Und immer weiter fließen ... ... stille Meditation… *** Ich bin immer wieder schockiert, wie schnell die Zeit vergeht. Aus meiner Warte, und ich habe mit offenen Augen meditiert, passiert da etwas ganz Feines. Jetzt, wo wir so meditiert haben, ist bei ganz vielen im Saal etwas passiert, das ist visuell kaum wahrnehmbar, aber ihr wurdet wie Bäume im Wald, die ganz leicht schwanken. Die natürliche Beweglichkeit ist einfach bei vielen von Euch in den Körper zurückgekommen. Das ist so wenig, ich nehme an, das ist einfach das Ein- und das Ausatmen, das den Körper so ein wenig bewegt. Das zeigt an, dass Ihr oder dass wir im Körper nicht eingerastet sind. Dass das sein darf, dass die Atembewegung nicht eingerastet geht, sondern da ist so was Lockeres. Merkt ihr das? Die ganze Wirbelsäule wird mit massiert und bewegt sich in der Atembewegung. Das kann man natürlich auch bei einem kontrollierenden Geist zulassen, aber da es ohne große Anstrengung und ohne Anweisung bei euch passiert ist, ist das ein Zeichen dafür, dass ihr auch im Geist fließender geworden seid, fließender wart, offener, in dem Erleben, mit dem Erleben fließen. Und wenn ihr zu dem ein bisschen Kontakt aufnehmen könnt, dann habt ihr das als anstrengungslos oder als wenig Anstrengung erfahren. In die Richtung geht es. Waches, anstrengungsloses Sein. Die etwas ungewöhnliche Unterweisung war zunächst einmal, das wie in Schwebe zu halten. Das andere etwas neue Element war, diese Bereitschaft, sich auf das einzulassen, was wir nicht kennen, offen zu sein für das, was noch nicht ist, ganz bereit. Und das, was wir jetzt praktiziert haben, das können wir gut üben in jeder Situation, in der wir uns sicher fühlen, in der wir die Kiste nicht zusammen halten müssen oder meinen, wir müssten die zusammen halten. Immer da, wo ein sicherer Raum ist, lade ich euch ein, das zu üben. Im Grunde genommen, dass wir uns einfach dem Strom des Sein überlassen. Aufgrund dieser Unterweisungen war zu Anfang noch eine gewisse Anspannung und dann mit der Zeit, wo ich weniger gesagt habe, habt ihr Euch gelöst aus dem Umsetzen-Wollen der Anweisungen und dann ging es eigentlich nur noch darum, das Fixieren zu lassen. Wenn ihr im Ozean des wahren Sinnes vom 9. Karmapa nachlest, da gibt es ein paar Stellen, wo er davon spricht, dass wir es als Meditierende unterlassen zu sagen „das ist es und das ist es nicht.“ Wenn wir dieses fließende Sein bemerken und sagen „das ist es“, sind wir in dem Moment schon wieder im Fixieren. Dann wollen wir schon wieder genau das festhalten. Und sind dann vielleicht dabei, das irgendwie zu reproduzieren. Sein lassen, geschehen lassen. Teilnehmerin: Wo ist denn der Unterschied, das ist mir nicht ganz klar, zwischen dem fließenden Sein und dem innerlich auf Durchzug stellen? Bei beiden zieht man ja das Interesse an den Objekten ab. Das ist eine Annahme, die nicht so zutrifft. Wir können voll interessiert erleben in diesem fließenden Sein. Aber es ist kein objektbezogenes Erleben, das ist der Unterschied. Erleben findet statt, ohne objektbezogenes Erleben zu sein, ganz spannend. Einen Klang kann man umso voller erleben, je weniger wir objektbezogen sind. So, versuch mal, dieser Piste zu folgen.

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Teilnehmerin: Mir ist es vor der Meditation beim Schreiben so gegangen, dass ich plötzlich dieses Gefühl hatte, da ist kein Ich mehr. Es schreibt, ich konnte das auch so beobachten und es hat auch funktioniert. Es war jetzt das erste Mal, dass ich das erfahren habe und dann kam irgendwie der Schrecken, was passiert jetzt eigentlich, wie lebe ich damit, das war ein total schräges Gefühl. Gar nicht, mach Dir keine Gedanken darüber. Es hat dich nicht umgebracht, oder. Nein, ich hab dann gedacht, das ist wahrscheinlich schon mehr Leuten so gegangen und die leben auch alle noch. Ich kann das bestätigen. Das ist sehr überraschend, was dir widerfahren ist. Wir brauchen da gar nicht weiter drüber nachzudenken. Du konntest offenbar recht gut schreiben, ohne dass diese Ich-Instanz so stark aktiviert war, zu deinem eigenen Überraschen. Es schrieb und lies mal nach, vermutlich hast du auch gar keinen Schrott geschrieben, sondern wahrscheinlich ganz gut. Ziemlich einfach. Und dann kommt dieses Erschrecken und das kommt, wenn diese Kontrollinstanz wieder zurückkommt. Ja, ja, das war dann wieder da. Und die erschrickt sich darüber, die Kontrolle verloren zu haben. Plötzlich haben die Kinder ohne Aufsicht gespielt. Ja und dann versuchen wir, die wieder einzufangen und dann fängt der Stress wieder von vorne an. Wir können eine Menge zulassen, ohne dass wir zu kontrollieren brauchen. Für mich geht das Entdecken immer noch weiter, es hat noch gar nicht aufgehört, was alles gar nicht diese Kontrolle braucht, die ich sonst massiv ausgeübt habe. Ich war ein massiv kontrollierter Typ früher, wirklich. Und es ist unglaublich, wie viel Lebensbereiche eigentlich ohne diese Kontrolle auskommen. Schreiben ist nur ein Bereich davon. Das ist die Entdeckungsreise. Zu entdecken, dass es eigentlich immer noch weniger Anstrengung braucht, um mehr geht es eigentlich gar nicht. Immer noch weniger Anstrengung, gerade so viel Anstrengung, wie es braucht, aber nicht mehr. Dieses Erforschen der minimal notwendigen Anstrengung. Das bringt Schätze der Leichtigkeit mit sich. Wir sind mit viel zu viel Anstrengung im Leben unterwegs, viel zu viel, brauchen wir gar nicht. Aber wir haben mal gelernt, Anstrengung zu machen und das war auch sehr sinnvoll und wir mussten uns abgrenzen, wir mussten uns schützen, wir hatten diese und jene Funktion gelernt, um durch die Welt zu kommen und jetzt sind oft viele dieser Funktionen aktiviert, ohne dass wir sie brauchen. Das können wir ruhig mal lassen. Das ist doch auch ermüdend. Ja, das ist ermüdend! Das ist dieser grundlegende Stress. Grundlegender Stress und der emotionale Stress, der sich da aufbaut. Das brauchen wir nicht. Das heißt nicht, dass man so ganz ohne Anstrengung durch die Welt kommen kann. Wir müssen unsere Muskeln aktivieren, wir müssen eine gewisse Energie freisetzen, um irgendwo hinzukommen. Aber wie viel braucht es eigentlich? So viel für heute Nachmittag. Rezitation: Widmungsgebete ***

Guru Yoga Meditation - Guru Yoga Wir nehmen uns Zeit, Schritt für Schritt in die Praxis hinein zu finden. Zunächst einmal mit dem Bedenken, wie kostbar unser Leben ist. Welch eine kostbare Gelegenheit wir jetzt haben, mit unserem Geist zu arbeiten, den Weg des Erwachens zu gehen in einer Welt, in der viele, viele Menschen extrem leiden, nicht genug zu essen und trinken haben, keinen Zugang zu wirklich befreienden Lehren. Wir können für so vieles dankbar sein, wir haben weitaus mehr als das nötigste, und obendrein die Zeit und die innere Freiheit, uns mit solchen Unterweisungen zu beschäftigen. Das ist ein unglaubliches Geschenk. Doch die Zeit die wir haben, uns mit dem Dharma zu beschäftigen, ihn zu praktizieren, den Weg des Erwachens zu gehen, verrinnt. Wir wissen nicht, wie lange wir noch Zeit haben. Selbst wenn wir jung sind, ist es überhaupt nicht klar, wie lange diese kostbare Gelegenheit erhalten bleibt. Das hängt nicht nur davon ab, wie lange wir selber leben, sondern auch von vielen politischen, gesellschaftlichen Gegebenheiten,

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beruflichen, familiären. Es ist ungewiss, wann wir sterben, ungewiss, wie lange wir diese Möglichkeiten haben. Deshalb lasst uns das Wichtigste jetzt tun. Was ist denn das Wichtigste jetzt in meinem Leben? Und bevor wir allzu konkret über Projekte nachdenken: welches sind die wichtigen Qualitäten, die ich in meinem Geistesstrom auf jeden Fall entwickeln möchte, bevor ich sterbe? Worum geht es mir eigentlich in diesem Leben? Es reicht nicht zu sagen „ich möchte den Dharma verwirklichen“. Was möchte ich verwirklichen? Wie würde das aussehen, wenn ich ganz frei diese Qualitäten leben würde, wie würde sich das anfühlen? Wie würde ich dann handeln, wie würde ich dann sein? Und wo finde ich die Inspiration, die Unterstützung die ich brauche, um den Weg in diese Qualitäten hinein zu finden? Das ist, was wir die äußere Zuflucht nennen: die Lehrer/Lehrerinnen, die Sangha, die uns die Unterstützung gibt, die Inspiration. Und die innere notwendige Voraussetzung ist die innere Zuflucht: Unser wahres Sein, die Qualitäten, die ohnehin schon in uns sind und die, sobald wir es ihnen erlauben und den Weg gehen, sich entfalten, sich zeigen. Lasst uns einmal im Gewahrsein dieser inneren Qualitäten eine kleine Reise in unserer Vorstellung gehen. Wir begeben uns auf den Weg, die Quelle wirklicher Inspiration zu finden. Wir sind unterwegs in der Natur. Der Weg führt durch Wiesen, Wälder, an Seen vorbei und irgendetwas lenkt unsere Schritte, eine Ahnung. Eine Ahnung und ein Gefühl, dahinten, dort in dem Tal, dem weiten offenen Tal, da möchte ich hin, da zieht mich etwas an. Wir folgen dem Weg und die Anziehung wird immer stärker. Es ist als würde ein Licht von dort kommen, ein Ruf. Wir werden fast ein wenig aufgeregt und unser Herz beginnt, kräftiger zu schlagen. Wir nähern uns einem kleinen Wäldchen. In dem Wäldchen hat es eine lichterfüllte Lichtung. Dort erblicken wir unter einem großen Baum etwas sehr inspirierendes, eine Person oder auch mehrere Personen, männlich oder weiblich, männlich und weiblich, Sinnbild für genau das, was wir als Bild des Erwachens in uns tragen. Schaut einmal genau hin und lasst eine Form entstehen. Vielleicht sitzt dort eine Erwachte, ein Erwachter. Nehmt Euch Zeit, näher hinzugehen und zu entdecken. Dort sitzt das Erwachen, dort ist das Erwachen. Wie stellt es sich dar, wenn es eine menschliche Form annehmen würde, für heute, für jetzt gerade. Ich gehe in der Beschreibung den klassischen Weg, dass dort eine erwachte Person sitzt, die mich schon längst bemerkt hat und sich lächelnd einladend mir zuwendet „Komm doch näher“. Es ist etwas ganz würdevolles und zugleich liebevolles in der Ausstrahlung dieser Person, es berührt mich ganz tief und ich lege wie die Hände zusammen, verneige mich etwas und nehme die Einladung an, mich in ihre Nähe zu setzen. Es brauchen gar nicht viele Worte gesprochen werden. Es ist, als würde ein Erkennen stattfinden, ein unmittelbares Erkennen in mir, der Wunsch „Ja, genau so möchte ich sein!“ Die Person vor mir sagt einfach „Du bist genau so wie ich, darauf kannst Du voll und ganz vertrauen!“ Und es entspannt sich zwischen uns ein Dialog, in dem ich meine wesentlichen Fragen stellen kann. Ich brauche sie nur zu denken und sie erfahren unmittelbare Antwort. Ich merke, dass die Antworten wie mit Lichtstrahlen ausstrahlen von der Person mir gegenüber. Ich schaue hin und bemerke, wie vom ganzen Körper Licht ausstrahlt in allen Farben des Regenbogens und mich an der Stirn, in der Kehle, im Herzen, im Bauch und im Becken berührt, erfüllt und mich ganz in den Segen hinein nimmt, dieses einfachen Seins. Tiefe Liebe und Dankbarkeit wallt in mir auf und eine Gewissheit „Ja, genau so ist es“ und das Licht hört nicht auf zu strömen, es ist einfach da. Ich merke, dass um mich herum einfach alles in Licht getaucht ist und ich habe Zeit. Ich beginne in Gegenwart dieser erwachten Präsenz zu meditieren, zu atmen. Atme ein, atme aus, so als würde ich Licht atmen, als würde ich regenbogenfarbiges Licht einatmen. Alle Farben sind dabei, auch das weiße Licht, rotorange, blau, gelb, grün. Ich atme ein und mein Körper füllt sich mit dem Licht und ich bemerke wie ich immer mehr beginne zu leuchten, das Licht verlässt mich gar nicht. Licht einatmend und Licht ausatmend. Vielleicht fällt mir ja auch auf, dass ich durch jede Pore meiner Haut Licht einatme und Licht ausatme. Ich sehe wie die Person gegenüber lächelt, schmunzelt und innerlich sagt „Siehst Du, so einfach ist das“. Alles Energie, alles Prozess. In einem lichten Gewahrsein ist alles Licht. Und sie sagt auch „Du wirst Deinen Weg schon finden, ich bin immer bei Dir“. Zu meiner großen Überraschung löst sich die Gestalt vor mir auf, wird ganz zu Licht und verschmilzt mit mir über den Scheitel meines Kopfes und füllt mein ganzes Wesen. Und ich atme einfach weiter. Und ich werde gewahr, dass ich umgeben bin von vielen anderen, die ebenfalls atmen. Gong

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Erklärungen zum Guru-Yoga !38

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

Das, was wir miteinander geteilt haben, das mag sich für Euch wie eine imaginäre Traumreise anfühlen und tatsächlich ist es das absolut klassische Muster des Guru-Yoga, was wir da mit einander geteilt haben. Einige von Euch praktizieren ja den Guru-Yoga. Und der Dialog, der sich da entspinnt zwischen mir und dem Guru, der wird je nach Guru-Yoga unterschiedlich ausgestaltet. So heißt es z.B.in den Mahamudra Vorbereitungen in einer Passage: Kostbarere Lama, zu Dir bete ich, dass der diskursive Geist das Ich-Anhaften aufgibt. Gewähre Deinen Segen, dass Genügsamkeit im Geistesstrom entsteht. Gewähre Deinen Segen, dass nicht- dharmische Gedanken aufhören. Gewähre Deinen Segen, dass ich den Geist als ungeboren erkenne. Gewähre Deinen Segen, dass sich Täuschung in ihrer eigenen Natur auflöst. Gewähre Deinen Segen, dass die Welt der Erscheinungen als Wahrheitskörper erkannt wird. Das ist nur ein Beispiel dafür, welche Bitten da ausgerückt werden, wo man Unterstützung haben möchte. Ein ganz klassisches Beispiel sind die vier Dharmas von Gampopa: Gewähre Deinen Segen, dass mein Geist sich dem Dharma zuwendet. gGewähre Deinen Segen, dass der Dharma zum Weg wird. Gewähre Deinen Segen, dass der Weg alle Täuschung auflöst. Gewähre Deinen Segen, dass Täuschung als das zeitlose Gewahrsein erkannt wird. Das sind Segensbitten, die aus unserem Herzen zum Lama gehen, der entweder in einer menschlichen Form vorgestellt wird wie Milarepa oder Machigma, stehende Buddhafrau, weiß, nackt, tanzend, so viele verschiedene Möglichkeiten, oder als Paar, als Mandala. Und so entspinnt sich dieser Dialog und dann kommt eine Antwort. Ich lese mal die Antwort vor, wie sie in den Mahamudra-Vorbereitungen steht. Dieser Dialog geht persönlich weiter, da tauchen Gedanken auf, Herzensregungen, und abschließend heißt es: Ihr edlen segensreichen Lamas, bitte gewährt mir die vier Ermächtigungen, die zur Reife führen. Bitte gewährt mir Euren Segen, dass meine vier Seinsströme schnell heran reifen. Bitte gewährt die Verwirklichung der vier BuddhaAktivitäten. Auf diese Bitte hin löst sich das Gefolge, das heißt alle umgebenden Gestalten im selben Moment in Licht auf und verschmelzen mit dem Körper des Meisters, des Gurus in der Mitte, der hier in den MahamudraVorbereitungen als der blaue Buddha Vajradhara vorgestellt wird, dem Körper des Meisters in der Mitte, der als die Verkörperung aller Zufluchtsjuwelen deutlich in der Form des Lamas erscheint. Weiße Lichtstrahlen strömen von seinem Stirnhaar zwischen den Augenbrauen und verschmelzen in meine Stirn und reinigen die Schleier des Körpers. Ich erhalte die Vasen-Ermächtigung, die zur Meditation der Entwicklungsphase ermächtigt und uns zu einem geeigneten Gefäß macht, als Frucht den Ausstrahlungskörper aller Buddhas zu verwirklichen. Rote Licht strahlen fließen von seiner Kehle und verschmelzen mit meiner Kehle und reinigen die Schleier der Rede. Ich erhalte die geheime Ermächtigung, die zur Meditation der subtilen Energien, der Energiekanäle ermächtigt und uns zu einem geeigneten Gefäß macht, als Frucht den Freudenkörper aller Buddhas zu verwirklichen. Blaue Lichtstrahlen verströmen von seinem Herzen und verschmelzen in mein Herz und reinigen die Schleier des Geistes. Ich erhalte die Weisheitsgewahrseinsermächtigung, die mich zum Verweilen in meditativer Ausgeglichenheit ermächtigt und uns zu einem geeigneten Gefäß macht, als Frucht den Wahrheitskörper zu verwirklichen. Und schließlich, weiße, rote und blaue Lichtstrahlen fließen von seinen drei Stellen simultan, verschmelzen in meine drei Stellen und reinigen die Schleier der drei Tore von Körper, Rede und Geist. Ich erhalte die vierte Ermächtigung, die zur Mahamudra-Meditation ermächtigt und uns zu einem geeigneten Gefäß macht, als Frucht den Essenzkörper zu verwirklichen. Dann löst sich der Lama in Licht auf und verschmilzt mit mir. Mein Körper, meine Rede, mein Geist und die drei Vajras des Lamas, Körper, Rede und Geist des Lamas, sind untrennbar und von einem Geschmack. Mit Hilfe der drei Anwendungen sind sie spontan verwirklicht und von selbst befreit. Die drei Anwendungen ist das auf den Weg bringen dieser Segensübertragungen im Handeln mit Körper, Rede und Geist, indem wir uns immer wieder daran erinnern, nicht getrennt vom Körper des Erwachens, von der erwachten Rede und vom erwachten Geist zu sein, so dass wir das in allen Situationen weiter praktizieren. Das ist die klassische Guru-Yoga Version, hier in einem Text aus dem 16. Jahrhundert und so wird es seit dem 3./4. nachchristlichen Jahrhundert praktiziert, so ungefähr in der Zeit sind die Guru-Yogas entstanden. Das, was wir miteinander geteilt haben, ist die Grundform.

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Wir auf dem Weg, auf der Suche begegnen der Zuflucht. Die Zuflucht, das, was uns den Sinn, den Inhalt unseres Weges spiegelt, nimmt Form an, eine Lichtgestalt, das ist ganz, ganz wichtig, auch wenn wir Meister/Meisterinnen visualisieren, die früher einmal gelebt haben, sind sie pures Licht, kein Knochen, kein Fleisch. Es geht nur darum, sich mit dieser Präsenz der Qualität zu verbinden und dann entsteht eine Beziehung, es entsteht ein Austausch, ein Dialog, bis dieser Austausch so vollständig ist, dass wir uns so öffnen können, wirklich die Präsenz der Zuflucht in uns zu spüren. Das ist die innere Zuflucht, die dann in uns ganz und gar aktiviert wird. Und dann hat die äußere Visualisation ihre Funktion erfüllt und löst sich auf. Wir sind nicht mehr abhängig davon, es entsteht keine Abhängigkeit, es ist alles in uns und es hängt dann an uns, ob wir in diesem ganz gesunden Selbstbewusstsein den Weg weiter gehen können. Immer, wenn wir da etwas unsicher werden, praktizieren wir erneut den Guru-Yoga als Erinnerung an die Qualitäten des Erwachens, die eben auch in uns sind, verschmelzen wieder mit dem Guru und gehen den Weg weiter.Das ist die Methode. Und das ist eine ganz wichtige Methode, weil Mahamudra der Weg ist, wo wir die Frucht als Weg nehmen. Das heißt, wir verbinden uns immer wieder damit, dass wir in der Tiefe schon erwacht sind und denken nicht, wir hätten einen ewig langen Weg zu gehen, sondern nehmen die Frucht voraus, denn das Ende des Weges ist ja bereits in uns angelegt und wir verbinden uns damit. Natürlich braucht es eine Methode, eine gewisse Hilfe, um das immer wieder zu spüren „Tatsächlich, es ist ja alles schon da. Wo will ich eigentlich hin?“ Vielleicht konntet Ihr das für einen kurzen Moment erahnen. Vielleicht war es euch ja möglich, euch darauf einzulassen. Ich wurde darum gebeten, diese Visualisation noch einmal mit Euch zu machen. In der Gruppenrunde gestern haben mehrere darum gebeten, deswegen habe ich das jetzt gemacht. Vielleicht war es euch ja möglich, euch zu öffnen dafür und dann gibt es Momente in unserem Gewahrsein und wir denken „Ja, ist doch schon alles da.“ Und wenn sich in diesem Fühlen, in diesem Erahnen von dem, was ist, die Ich-Bezogenheit ganz auflöst, dann ist das ein Moment von echtem Mahamudra. Dann ist es da und das braucht nicht bis morgen zu warten. Jetzt, jetzt gerade! Und da setzen Mahamudra und Dzogchen an, das sind die beiden großen Traditionen, die dort ansetzen, dass wir sagen: „Das, was wir erstreben, ist nicht irgendwo dort, irgendwo in der Zukunft, irgendwo anders, sondern ist jetzt schon in unserem Geist zu finden!“ Die Frage ist nur, ob wir uns da hinein öffnen können und dahinein loslassen können. Die Hingabe, um die es dabei geht, ist keine Hingabe an etwas Äußeres, sondern uns unseren inneren Qualitäten, unserem natürlichen Sein hingeben zu können, uns ganz darauf einlassen zu können, das ist mit Guru-Yoga eigentlich gemeint. Jetzt meditieren wir noch ein bisschen. Rezitation: Widmungsgebete ***

Sechs Dharmas von Tilopa Meditation - Verbindung mit Raum und Zeit Vielleicht ist es uns ja möglich, relativ direkt Zugang zu finden zu diesem Segensstrom, der von den Quellen der Zuflucht ausgeht. Diejenigen unter euch, die es sich wünschen: versucht doch einmal, jetzt relativ direkt den Weg in die Begegnung mit den inspirierenden Erwachten wiederzufinden. Das darf heute auch anders aussehen als gestern. Im Zentrum ist eine Erwachte/ ein Erwachter, oder vielleicht sind es auch mehrere. Wir spüren die ganze Präsenz, diese unglaublich tiefe Annahme allen Seins, das Spielerische, das Leichte, das Würdevolle, das völlig Unbeschwerte. Drumherum können wir uns andere Erwachte vorstellen die uns ebenfalls inspirieren, in durchaus unterschiedlichen Formen ... Wir treten ein in ihre Präsenz, gehören dazu, gehören in diese Familie. Der innere Dialog entspinnt sich: ganz einfach, vielleicht einfach nur: „Guten Morgen!“; aber die Art wie das „Guten Morgen!“ erwidert wird, erreicht mich tief im Herzen. Und ich höre hin, öffne mich, spüre den Segensstrom – vielleicht eine Vorstellung von Licht ... Um mich herum sind unzählige andere, die ebenfalls diese Erfahrung machen. Zusammen mit allen Lebewesen richte ich mich ganz aufs Erwachen aus, auf Buddha, Dharma und Sangha in ihrer tiefsten Bedeutung, und lasse mich von den Qualitäten von Buddha, Dharma und Sangha füllen. Wir können so weiter meditieren während wir die Zufluchtsgebete singen. Das Wichtigste dabei ist, den Strom weiter zu erleben und dann am Ende bereit zu sein, ganz eins zu werden, in die Untrennbarkeit zu gehen. Rezitation: Zufluchtsgebete, Vier Unermessliche, Gebet an den Lama

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Die Zuflucht vor und über uns löst sich in Licht auf und verschmilzt in alle unsere Zentren, in unser ganzes Sein. Wir sind ganz erfüllt von ihrer Präsenz. Wir können auch damit experimentieren, dieselbe Form anzunehmen wie die Zuflucht, die wir im Zentrum visualisiert haben. Vielleicht unterstützt das uns darin, die Präsenz dieser Qualitäten in uns intensiver zu spüren ... Dann lassen wir alle Vorstellungen los, falls es nicht schon ohnehin von selbst geschehen ist ... Vielleicht möchtet ihr eure Aufmerksamkeit darauf richten, wie jetzt gerade euer Erleben von Raum ist. Wie fühlt sich 'Raum' jetzt gerade an; wo erlebt ihr 'Raum'? Ich denke wir sind uns einig, dass 'Raum' nur eine Vorstellung ist. Was ist damit gemeint? … Sich auf den Raum einzulassen ist das Gegenteil davon, sich mit Objekten einzulassen. Da gibt es visuellen Raum, d.h. Dreidimensionalen Raum; da gibt es Hörräume; da gibt es so etwas wie einen Gewahrseinsraum in dem alles entstehen kann. Wir können diesen Gewahrseinsraum auch als Raum aller Möglichkeiten bezeichnen ... Wie fühlt es sich an, sich diesem Raum aller Möglichkeiten zu öffnen? ... Um es anders zu sagen? Wie fühlt es sich an, sich für den Raum des Sehens zu öffnen, für die Möglichkeit zu sehen? Für die Möglichkeit zu hören, die Möglichkeit zu spüren, die Möglichkeit zu denken? Für die unzähligen Möglichkeiten die wir haben und die wir nicht vorwegnehmen? ... Völlige raumgleiche Öffnung für das was nicht unter unserer Kontrolle ist ... Gong *** Vielleicht wollt ihr es euch zur Übung machen, auch jetzt während dieser Pause mit der Raumwahrnehmung in Verbindung zu bleiben. Man spricht von vielen Räumen; im übertragenen Sinn spricht man vom „Raum der Liebe“ oder vom „heiligen Raum“ – es gibt so viele Räume. Damit ist im übertragenen Sinn ein Bewusstseinszustand gemeint, eine Dimension des Erlebens in der wenig oder gar nicht fixiert wird und wir dem Raum geben was sich entfalten möchte. Dieser „heilige Raum“ kann übrigens gar nicht gestört werden. Auch jetzt in der Pause durch Bewegungen, durch Gedanken: dieser „Raum des einfachen Seins“ ist nicht ein Etwas, das gestört werden könnte. Auf Sanskrit nennen wir diesen Raum Dharmadhātu, den Raum aller Phänomene, den Raum allen Erlebens. Oder einfach den 'Raum der Wirklichkeit'. Wenn wir anfangen, den Raum zu erleben, haben wir das Gefühl, als würden sich die Phänomene – die Objekte unseres Erlebens – quasi in diesem Raum zeigen. Als sei da der Raum und das was darin wahrnehmbar wird, so wie jetzt diese Meditationshalle uns den Raum gibt, uns zu bewegen und darin zu sein. Bei genauerem Hinspüren merken wir, dass dieser Raum nicht nur alles ermöglicht und umfängt, sondern sogar durchdringt. Dass das Erleben selbst untrennbar von dem Raum ist und dass wir zum Beispiel in der visuellen Erfahrung – in der Erfahrung des Sehens jetzt gerade – in der Erfahrung den Raum entdecken können. Dass wir im Hören – in der Hörerfahrung – den Raum entdecken können. Sie muss nicht erst aufhören dass der Raum wieder deutlich wird, sondern im Erleben ist diese raumgleiche Qualität zu spüren. Das gilt insbesondere auch für unser Denken und Fühlen, für unsere Emotionen. Sie alle haben ihre wahre Natur: diese Qualität des Nicht-Fassbaren, Raumgleichen. Zeit und Raum sind innigst miteinander verbunden. Zeit ist Bewegung, vergleichbares Erleben in bestimmten Räumen des Wahrnehmens. Dort wo Bewegung stattfindet lässt sich Zeit erahnen: das sind ZeitRäume. Aber auch Zeiträume sind Räume des Möglichen. *** Lasst uns nochmals ein wenig in diesem Auskundschaften des Raumerlebens meditieren ... Wie entsteht das Zeit-Erleben? Das Gefühl von Zeit entsteht am ehesten noch durch die Bewegungen des Atems, des Pulsschlags, das Beobachten äußerer Bewegungen – das ist unsere Orientierung: Es braucht Bewegung, um Zeit zu ermessen. Aber wo ist die Zeit? Versucht doch einmal, die Vergangenheit zu finden, jetzt gerade. Wo ist die Vergangenheit? ... Um Vergangenheit zu kontaktieren stimulieren wir Erinnerungen. Damit nutzen wir den Raum des Möglichen im Jetzt, im jetzigen Erleben; nur erinnern uns die Inhalte des jetzigen Erlebens an das, was wir „das Vergangene“ nennen. Aber das Vergangene wird jetzt erneut erlebt. Versucht noch einmal die Einstiegsmeditation von vor einer halben Stunde zu erinnern. Das ist ein Beispiel für kurz zurückliegende Vergangenheit. Ist dieses jetzt aufsteigende Erleben dessen was vor einer halben Stunde war genau gleich

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wie das damalige Erleben? Natürlich nicht, es ist nur ähnlich, es ist ein neues Erleben. Wir können es jetzt wieder gestalten und versuchen, es so intensiv zu machen wie damals vor einer halben Stunde. Das heißt: Vergangenheit ist jetziges Erleben, Vergangenheit ist Prozess und wird immer wieder neu gestaltet im Raum des Möglichen. Jetzt versucht einmal die Zukunft zu finden. Wo ist die Zukunft? Denken wir doch einmal an das nach Hause Kommen. Aber wie ist es mit dem Erleben dieser Zukunft jetzt? Wieder nutzen wir den Raum des Möglichen, um mit Hilfe unserer Vorstellung - aufgrund der Erinnerung, wie es war – uns vorzustellen, wie die Zukunft sein könnte. Und all das findet jetzt statt. Die Zukunft ist auch kein Ding, sondern ist auch ein sich gestaltender Prozess in diesem Raum aller Möglichkeiten. ... Wenn wir genug Energie hineingeben, können wir die Zukunft im Erleben genauso real werden lassen wie die Vergangenheit. Und es kann sich so anfühlen als würden wir schon jetzt das erleben was wir erhoffen oder befürchten in der Zukunft. ... All das findet im Gewahrseinsraum statt; all das ist Prozess. Im Mahamudra heißt es: „Lass das Beschäftigt-Sein mit Vergangenheit und Zukunft los und verweile im nicht-begrifflichen Gegenwartsbewusstsein.“ Lasst uns abschließend noch schauen wo denn die Gegenwart ist. ... Und auch da wird offenkundig: Auch das ist dieser Raum aller Möglichkeiten. Wenn wir keine Vorstellung über die Wirklichkeit erzeugen: „das ist es – dies ist es und jenes ist es nicht“, dann merken wir, dass gegenwärtiges Sein völlig unfassbar ist und doch ganz persönlich ganz klar und deutlich erlebt wird als ein ständiger Prozess. ... Rezitation: Widmungsgebete Was wir in der Mahamudrameditation tun ist sehr einfach: Immer, wenn sich uns der Raum aller Möglichkeiten wieder verschließt und wir an der Vergangenheit festhalten und an ihr hängen, immer wenn wir in der Vorstellung von Zukunft gefangen sind oder aufgrund von Fixierungen, Identifikationen in der Gegenwart unsere Beweglichkeit verloren haben, dann eröffnen wir uns wieder den Raum aller Möglichkeiten. Das ist die Praxis. Wir finden wieder hinein in ein das Dharmadhātu, diesen Raum aller Phänomene in dem nichts Substanz hat, in dem alles Prozess ist, und finden dadurch unsere Beweglichkeit, die volle Beweglichkeit des Seins. Das ist das Ende von Fixierungen. Alles gestaltet sich ständig neu in der Summe der wirkenden Kräfte. Wenn wir da aufgrund unserer Fixierung unsere Beweglichkeit verlieren, nennt man das „Leid“. Wenn man da alle einem zur Verfügung stehenden Kräfte wieder nutzen kann, nennt man das „Freiheit“. So einfach ist das. Es gehrt darum, sich immer wieder den Raum aller Möglichkeiten zu eröffnen. ***

Mit dem Segen verbinden - Yidampraxis Wir haben wieder ein, zwei neue Elemente in unsere Morgenmeditation dazu genommen. Ich habe die Begegnung mit dem Guru etwas abgekürzt – ich habe angenommen, dass es noch nachschwingt von gestern und es euch leicht fällt, wieder in die Begegnung zu gehen. Wenn das so ist, dann braucht es nicht diese ganze Vorbereitung, dann kann man direkt spüren: „Ah, ich bin in der Gegenwart der Erwachten, umgeben von allen Lebewesen, kann diese Innigkeit wieder entstehen lassen.“ Das neue Element war nach der Verschmelzung: sich ruhig mal zu erlauben selbst die erwachte Form anzunehmen. Technisch gesprochen ist das der Übergang vom Guru Yoga in die Yidampraxis. Eigentlich ist das kein großer Unterschied. Wenn wir selber die Form des Erwachens annehmen und uns vorstellen, Tara oder Chenresi, der Buddha oder Karmapa zu sein – was auch immer unsere Referenz ist -, dann ist das immer noch Guru Yoga. Aber wir beginnen, uns selbst in dieser Lichtkörperform zu meditieren, und dann wird Guru Yoga zur Yidampraxis. In jeder Yidampraxis ist es so, dass wir den Yidam vor uns und den Yidam, der wir selber sind, als Ausdruck des Gurus praktizieren. Guru und Yidam sind völlig untrennbar. Es ist als ob der Yidam – die Lichtkörperform – einfach die energetische Manifestation, die essentielle Manifestation des Gurus wäre. Dabei ist es völlig offen, ob der Guru männlich oder weiblich ist, einzeln oder eine Gruppe beziehungsweise Mandala. Das war das neue Element; es wirkt nicht bei jedem direkt, nicht jeder hat direkt Zugang dazu. Aber ich wollte es euch ermöglichen und habe es ein bisschen angestoßen. Dabei geht es, dass man merkt: aufgrund der Vorstellung der eigenen Lichtform ist es mir leichter, in diesen erwachten Qualitäten zu sein. Ich bin in der ganzen Beweglichkeit des erwachten Geistes – derselben Beweglichkeit, um die es später bei der Übung mit dem Raum ging. Es geht immer um dasselbe: diese völlige Beweglichkeit des Geistes und des Herzens. Im Vollbesitz aller unserer Geistes- und Herzenskräfte zu sein, das ist das Ankommen in der Yidampraxis. Wenn dann noch dieses in dem Moment überflüssige Mittelpunktgefühl wegfällt, dann ist es ein non-duales Sein, das was man „den Yidam sehen“ nennt. Dabei wird nichts gesehen, sondern wir erleben, was es heißt,

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erwacht präsent zu sein, ohne dass es da einen Jemand gibt, eine Person die beobachten würde. Es kommt zu einem vollständig geeinten Erleben. Das war die erste Phase, die erste halbe Stunde. Wir haben dann einfach weitergemacht in der Nachwirkung von dieser Meditation, sind entspannt dagesessen. Meist lässt sich beobachten, dass die Auswirkung solch einer Visualisation mit Verschmelzung und Segen noch eine Weile anhält. Fünf bis fünfzehn Minuten geht das weiter, und wird allmählich dann wieder überlagert von unseren Mustern, die wieder aktiv werden und die normale gedankliche Aktivität. Dieses hightened awareness – dieses besonders präsente, angeregte Gewahrsein – lässt allmählich wieder nach. Wir könnten es natürlich wieder stimulieren, wird könnten die Erinnerung daran aktivieren und dadurch wieder da hinein finden. Dabei müssen wir aber darauf achten – und das ist die große Kunst bei dieser Art von Arbeit – dass wir nicht in eine künstliche Praxis hinein finden, dass wir nicht den Yidam künstlich erzeugen. Dass wir nicht das eigene Sein sozusagen nett einpacken in eine Yidamvisualisation, bei der wir uns als Tara oder Chenresi anstreichen. Das ist sehr künstlich; es hat auch Auswirkungen und tut auch auf eine Art gut, ist aber nicht das was gemeint ist. Es geht darum, das Erwachen in uns, die erwachte Dimension in uns immer wieder zu entdecken und frei zu legen. Es geht nicht darum, einfach dem bedingten dualistischen Sein so etwas überzustülpen, so einen Traum drüber zu ziehen. Wenn ich das wieder aktivieren möchte, dann geht es darum zu spüren: Wo ist der Yidam jetzt? Wo finde ich jetzt Zugang zum erwachten Sein? Da kann es helfen, wenn ich innerlich hinein spüre: „Ah ja, fester Körper – Lichtkörper: alles Vorstellung. Das eine wirkt schwerer, das andere wirkt leichter.“ Und ich beginne mich hinein zu fühlen in diese andere Möglichkeit, mich selbst und die Welt wahrzunehmen. Ich fühle mich erneut hinein und entdecke wieder, was ich schon einmal erlebt habe. Es ist nicht so, als ob ich reinszeniere, was ich schon einmal erlebt habe, sondern es wird zu einem frischen Erleben, als würde ich den inneren Weg nochmals gehen. Es ist wichtig, dass ihr euch das nicht nur notiert sondern auch zu Herzen nehmt. Das ist eine der großen Schlüsselunterweisungen von Gendün Rinpoche: Den Yidam zu entdecken in uns, freizulegen. Und nicht zu visualisieren im Sinne von künstlich erzeugen. Weil das auf Dauer zu einer erneuten Spannung und Anstrengung wird: wir sind dabei mit Anstrengung etwas präsent zu halten, und etwas anderes widersetzt sich dem. Unsere normale Schau von uns selbst, unser normales begrenztes Selbstbewusstsein liegt wie im Clinch mit dem, was wir versuchen ihm einzureden: „Du bist doch eigentlich erwacht!“ „Nee, bin ich doch gar nicht!“ - und damit sind wir in diesem inneren Clinch. Aber darum geht es gar nicht, es geht darum, den Yidam im jetzigen Erleben zu entdecken. Sich da ganz fein hineinzufühlen, lieber mit ganz kleinen Schritten als zu meinen, man müsse voll und ganz Chenresi oder Tara sein oder wer auch immer. Teilnehmerin: Wenn ich mich da rein fühle: darf der Yidam auch ein bisschen lädiert sein? Was meinst du mit lädiert? Meinst du so ganz menschlich? Ich weiß es doch noch nicht; wenn ich mich da rein fühle ist es doch noch nicht … Natürlich! Es darf alles sein. Wir sind zu gar nichts verpflichtet sondern erspüren nur, wie wir in diese Beweglichkeit hinein finden können, in dieses nicht-fixierende Sein, und das ist der Yidam. Der Yidam ist eigentlich Dharmadhātu - das worum es im zweiten Teil ging – die völlige Offenheit des Geistes. Der Yidam ist nicht an irgendeine Form gebunden, nicht beschreibbar eigentlich. Es ist die völlige Herzensöffnung. Eine lädierte Herzensöffnung ist schwer vorzustellen, aber dass wir noch ganz unvollkommen da hinein finden und merken, dass das erst mal die ersten Anfänge sind - das meine ich genau, das gehört dazu. Dass man sich nicht unter Druck setzt, da irgendwie eine vollkommene Yidampraxis abliefern zu müssen. Das war auch noch etwas, das Gendün Rinpoche uns immer wieder auf den Weg gegeben hat: Die vollkommene Praxis gibt es nicht! Wenn wir das Gefühl haben, jetzt den perfekten Yidam praktiziert zu haben, dann war es sicherlich nicht das. Es geht also darum ganz menschlich unterwegs zu sein, und im Rahmen unseres Menschseins zu entdecken, dass diesem Menschsein eine hohe Beweglichkeit innewohnt, diese nicht fassbare Dimension. Was auch immer wir davon erspüren können: das ist der Weg. ***

Erklärungen zur Meditation über den Raum Im zweiten Teil der Morgenmeditation habe ich an die Unterweisung von Heiko über die Raummeditation angeknüpft. Bei der normalen Raummeditation nimmt man sich zuerst den Raum zwischen zwei Objekten,

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zum Beispiel den Raum zwischen zwei Händen oder zwei Tassen, etc. Man meditiert nicht mehr auf die Hände oder Tassen sondern auf den Raum dazwischen. Oder man nimmt sich den Raum, den ein Fensterrahmen lässt, oder den Raum einer ganzen Wand – bis hin zu Räumen, die immer größer werden wie ein ganzes, vor einem liegendes Tal oder der Himmelsraum. Soweit sind das visuelle Räume, die man im Visuellen zu entdecken meint. Aber ehrlich gesagt: seht ihr den Raum zwischen den beiden Händen? Dieser Raum ist ein gedachter Raum. Wenn ihr da durch seht, dann seht ihr wahrscheinlich mein Gesicht. Ich kann auf den Raum meditieren, aber das bedeutet nur, dass ich nicht die dahinter liegenden Objekte fokussiere, sondern das, was eingegrenzt wird als Orientierung nehme, um mal nicht auf einem Objekt zu ruhen. Deswegen ist in den Unterweisungen der Übergang zwischen dem visuellen und dem gedachten Raum fließend. Meditiert zum Beispiel mal auf den Raum hinter euch. Wir sehen den Raum vor uns, den Raum seitlich, und fließend können wir dazu übergehen, den Raum hinter uns zu spüren und in der Vorstellung einzubeziehen. Wir können den Raum dieser Meditationshalle zwischen diesen vier Wänden spüren und uns dann vorstellen, dass das Dach verschwindet, und den Himmelsraum mit dazu nehmen. Dass die vier Wände weg klappen und wir wie auf einer Wiese sitzen. Das sind fließende Übergänge vom vermeintlich erlebten Raum - den wir als visuell betrachten – und dem Vorstellen des Wegfallens der Begrenzungen, die wir sofort mit dazu nehmen können. Raum – sei es visueller Raum, ein Hör-Raum, ein Denk-Raum – ist eigentlich eine Abstraktion. Eigentlich ist schon der gesehene Raum zwischen zwei Objekten etwas, bei dem wir damit operieren, dass wir Objekte als Grenzlinien nehmen. Dabei sind das Farbunterschiede, die da zu sehen sind, unterschiedliche Farbeindrücke auf der Retina. Den Rest macht unsere Verarbeitung: es ist ein gedachter Raum. Es ist wichtig sich dessen klar zu werden, weil wir in unserem so gewöhnlichen Erleben sehr oft Vorstellungen für wirklich halten. Schon allein, dass wir das „zwei Hände“ nennen ist eine Abstraktion. Es ist eine Vorstellung, die sich ebenso bewährt hat wie die Vorstellung von Raum. Dass etwas Vorstellung ist bedeutet nicht, dass es nicht nützlich wäre. Es bedeutet nur, dass es eine zusätzliche Leistung unserer inneren Verarbeitung ist, die glücklicherweise inzwischen automatisch funktioniert. Das mussten wir als Kind aber erst lernen. Kinder, die laufen lernen, wissen nicht so recht, wo Widerstand und wo Raum ist. Wo der Tritt oder Griff ins Leere ist muss alles erst gelernt werden, das heißt die Koordination von Augen, räumlicher Position und dem eigenen Ausstrecken des Armes oder Beines. Das sind alles wichtige und sinnvolle Verarbeitungsprozesse. In uns haben sie so ein Ausmaß angenommen, dass wir Raum für tatsächlich, konkret existent halten. Aber es ist doch nur eine Abstraktion. Genauso halten wir auch Objekte für konkret existent: auch das ist eine Abstraktion. Sitzt der Martin da wirklich auf einem Stuhl? Auf jeden Fall sitzt er in meinem Geist, soviel kann ich sagen. Teilnehmer: Es gibt eine schöne Geschichte: In einem Lehrerzimmer steht ein Auto. Ein Mann sitzt an der Tür und schreibt auf, was rausgetragen wird. Leute mit Werkzeug schrauben alles auseinander – ein Lenkrad, ein reifen und so weiter. Irgendwann ist das Auto weg, aber auf der Liste steht nicht „Auto“. Völlig richtig: die Umkehrung der Beispiele von Nagarjuna. Schon im zweiten Jahrhundert ging es um diese Vorstellung, und Nagarjuna benutzte einen von Pferden gezogenen Wagen als Beispiel für : „Wo ist der Wagen eigentlich: in den Deichseln, in den Rädern, usw.?“ Die normalen Raumübungen sind ganz wichtig, ich möchte euch wirklich ermutigen, die ganz ganz oft zu machen und abzuwechseln: Mal auf ein Objekt zu meditieren und mal auf den Raum zwischen Objekten, und das so intensiv und häufig zu machen, bis es völlig egal für euch wird, ob ihr auf ein Objekt oder auf den Raum meditiert. Das ist nur ein Ort, ein gedachter Ort, an dem wir den Blick ruhen lassen. Übt das, bis ihr innerlich klar habt, dass das Objekt ist genauso gedachter Ort wie der Raum, der Ort drum herum. Dann haben wir die Raummetapher ausgeweitet: Raum im Visuellen, Raum im Hören, Raum im Körper Spüren, Raum im Denken. Ich habe euch mit der Vorstellung Raum aller Möglichkeiten vertraut gemacht. Das ist der Raum, in dem alles stattfinden kann, dieser Geistesraum, der Dharmadhātu genannt wird: der Gewahrseinsraum, der Raum aller Phänomene. Phänomene bedeutet Erleben; es ist der Raum, in dem Erleben stattfindet. Auch dieser Raum ist eben sowenig zu finden wie die visuellen und sonstigen Räume. Es ist eine Abstraktion, die beschreibt, dass da unendlicher Platz ist, in dem zum Beispiel jetzt ein Gedanke von Feuerwerk entstehen kann, dann eine Visualisation, dann denkt man an ein Fußballspiel, dann die Geschmacksempfindung von Spaghetti – was auch immer. Es kann alles jederzeit entstehen: das ist mit „Raum“ gemeint. So wie der scheinbare visuelle Raum allen visuellen Eindrücken Raum gibt, so ist der Gewahrseinsraum quasi die Möglichkeit, dass die Erfahrungen der sechs Sinne ungehindert entstehen können. Dabei geht es um das Wort „ungehindert“: so wie der Himmelsraum alle Flugzeuge, Satelliten und Wolken durchrauschen lässt, so wie das All allem Raum gibt, so gibt es ein inneres All, einen inneren

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Himmelsraum, der nicht fassbar ist. Er ist nicht wirklich, aber er ist das Erleben, dass alles ungehindert möglich ist ohne sich im geringsten zu behindern. ***

Erklärungen zur Meditation über die Zeit Diesem Gewahrseinsraum, diesem Raum aller Möglichkeiten, sind wir in der geführten Meditation ein bisschen nachgegangen. Dann haben wir erforscht, was dieser Raum aller Möglichkeiten mit der Zeitvorstellung zu tun hat. Das sind die beiden großen abstrakten Dimensionen, mit denen der Mensch unterwegs ist: Raum und Zeit. Beides wird für sehr konkret gehalten. Wir haben untersucht was die Vergangenheit, was die Zukunft, und was die Gegenwart ist. Wir haben gemerkt, dass Vergangenheit das Entstehen und Gestalten von Erinnerungen in diesem Raum aller Möglichkeiten ist. Der Raum aller Möglichkeiten wird genutzt, um mit Bildern und Gedanken zu arbeiten, die mit vergangenen Erfahrungen getriggert oder genährt werden, die sich aber neu gestalten. Nie ist eine Erinnerung mit dem ursprünglichen Erleben identisch, und Erinnerungen an dasselbe Geschehen sind untereinander auch nicht identisch, sondern ähneln sich nur. Sie sind gleich, aber nicht dasselbe, weil Vergangenheit nicht etwas Abgeschlossenes ist, sondern erneutes Erleben im gegenwärtigen Raum aller Möglichkeiten. Schon allein meine jetzige Erinnerung, in der ich mich befinde, färbt die Erinnerung. Wenn ich mich in einer anderen Gemütsverfassung an etwas erinnere, dann färbt das die Erinnerung auf andere Weise, ganz abgesehen von der Unschärfe meines Erinnerns. Dann haben wir dasselbe für die Zukunft gemacht und die Zukunft eingeladen. Wir haben uns vorgestellt, wie es nach diesem Kurs sein wird, aber wir hätten jede x-beliebige Zukunftsperspektive nehmen können. Wir merken, dass Zukunft darin besteht, aufgrund des Erinnerten eine Hypothese über das aufzustellen, was in der Zukunft sein könnte. Wir sind in einem ganz kreativen Gestalten von dem, was aufgrund unserer bisherigen Lebenserfahrung eine mögliche Zukunft ist. Wir nutzen den Raum der Möglichkeiten im Jetzt, um über die Zukunft zu spekulieren. Dabei können wir in derselben Intensität wie für das Vergangene eine solche Dichte des Erlebens aufbauen, als würden wir die Zukunft schon erleben. Dies und das „Als-würdenwir-das-Vergangene-noch-einmal-Erleben“ stehen sich in nichts nach. Wir können solche Angst haben vor dem, was wir in die Zukunft projizieren – das ist enorm! Wir können jetzt schon eine solche Freude haben an dem, was wir in die Zukunft projizieren – es ist unglaublich! Genauso mit dem Vergangenen. Und alles spielt sich in diesem Raum der Möglichkeiten ab, in diesem Zeit-Raum – der auch nicht fassbar ist. Und dann kommt der notwendige dritte Schritt: Wir haben untersucht was denn die Gegenwart ist. Verflixt noch mal! Wo ist sie denn? Das, was wir schon erleben, ist schon wieder vorbei und Vergangenheit – in dem Moment, in dem wir es benennen, ist es schon wieder vorbei. Das, was noch ist, können wir noch nicht erleben. Und das Erleben selbst ist ständiger Prozess. Diese jetzige Situation - in der ich spreche und wir das erleben – wandelt sich ständig. In diesem Raum aller Möglichkeiten vollzieht sich ständiges Erleben und ist in seiner Natur unfassbar. Das gilt für das gegenwärtige Erleben, das sich mit der Gegenwart zu befassen scheint; das gilt für das gegenwärtige Erleben das sich mit der Vergangenheit zu befassen scheint; und das gilt für das gegenwärtige Erleben das sich mit der Zukunft zu befassen scheint. Wenn ihr dem folgen könnt, dann merkt ihr, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft alle auf die gleiche Weise in diesem nicht fassbaren, gegenwärtigen Erleben stattfinden. Die Substanzlosigkeit dieses Erlebens zu durchschauen und dadurch den Raum aller Möglichkeiten voll nutzen zu können – weil wir nichts vergegenständlichen und alles so fließend bleibt wie es ist, so substanzlos – das nennt man den Dharmadhātu erkennen. Das war noch einmal eine Zusammenfassung weil das so wichtige Punkte sind. Im Ozean des Wahren Sinns vom neunten Karmapa findet ihr das in den spätere Kapiteln über irrige Annahmen über Zeit und Raum. Um es zusammenzufassen: Alles findet in der Gegenwart statt. Diese Gegenwart ist nicht fassbar. Befreiung besteht darin, sich diesen Raum aller Möglichkeiten ganz und gar zugänglich zu machen, das heißt darin wirklich so fließend zu sein, dass wir Zugang zu unserem Potential haben und durch keinerlei Fixierung daran gehindert sind. Ich muss aber betonen: Raum aller Möglichkeiten heißt nicht, dass alles möglich ist. Ich kann jetzt nicht Präsident der USA oder eine Frau sein. Dieses Entstehen in Abhängigkeit geht weiter: wir sind als Männer und Frauen mit unserer kulturellen Eingebundenheit usw. unterwegs, aber wir können in diesem Gewahrseinsraum alles Mögliche erfahren. Raum aller Möglichkeiten heißt nicht, aus dem bedingten Entstehen aussteigen zu können. Der Buddha ist nicht aufgrund seines Zugangs zum Raum aller Möglichkeiten plötzlich in einem anderen Land gewesen oder hätte plötzlich andere Sprachen sprechen können. Im Rahmen des bedingten Entstehen sind wir immer noch in Remetschwiel als Männer und Frauen unterwegs, aber wenn der Geist offen wird, haben wir Zugang zum gesamten Potential, zu allen Qualitäten in uns. Darum geht es. Teilnehmer: Die Vergangenheit ist abgeschlossen, die Zukunft hat noch nicht begonnen.

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Genau. Die Vergangenheit, die irgendwann einmal war, ist auf jeden Fall schon abgeschlossen, der letzte Gedanke ist schon vorbei. Und was passiert wenn ich mich daran erinnere? Neues Erleben. Das sind unterschiedliche Perspektiven, aus denen heraus man das beschreibt. Ja, man könnte sagen: Die Vergangenheit ist abgeschlossen, es gibt nichts mehr drüber nachzudenken. Man könnte aber auch sagen: Die Vergangenheit ist nie abgeschlossen, sie wirkt ständig weiter. Das heißt Karma; das heißt bedingtes Entstehen, usw. Das sind nur unterschiedliche Perspektiven; worum es geht ist, mit völliger Flexibilität diese verschiedenen Perspektiven einnehmen zu können. Das widerspricht sich gar nicht. ***

Flexibilität des Geistes Man kann sich dann in eine Traumwelt hineinbegeben, in der ich der Präsident oder eine Frau bin – das ist einfach ein Ausflug? Ja, das ist ein Gestalten des inneren Erlebens, und das wird irgendwann einmal mit der Wirklichkeit konfrontiert werden. Spätestens wenn ich nicht ins Weiße Haus reinkomme. Freiheit und Freiheit – ich glaube, dein Überlegen geht in diese Richtung. Es ist nicht die Freiheit alles zu sein. Es ist die Freiheit des völligen Zugangs zu all unseren innewohnenden Qualitäten. Genauso war es nie Buddhas These beim „Aufhören von Leid“, dass man kein Leid, nichts Unangenehmes mehr erfahren könnte. Krankheit, Alter und Tod hat er ja selber erlebt. Das ist nicht die These von der Freiheit, sondern: Im Erleben dessen was das bedingte Entstehen bringt, die völlige Beweglichkeit des Herzens, des Geistes zu erfahren. Im Grunde genommen die Freiheit, das tun und denken zu können, was für alle am hilfreichsten ist. Dann spielt sich Freiheit an der Schnittstelle ab, die wahre Natur zu erkennen. Genau. Wenn wir in den mir zugänglichen tibetischen Texten schauen, was die wirklichen Anzeichen für Fortschritt im Dharma sind, dann geht es immer um die Beweglichkeit und Flexibilität des Geistes: schin tu dschang wa auf Tibetisch – das völlige Geübt-sein, das Vertraut-sein mit dem Geist, die innere Beweglichkeit und Flexibilität. Dass wir alles einsetzen können, was unser Anliegen ist und dass wir nicht blockiert sind, ist das eigentlich große Merkmal für Fortschritt im Dharma. Dass es keine Standpunkte mehr gibt, die wir zu verteidigen hätten – keinen Ich-Standpunkt, keinen philosophischen Standpunkt - all das. Dass wir wirklich nur noch ganz beweglich im Erleben sind und mit den Bedingungen, denen wir begegnen – welches Wetter, welche Nahrung, welche Menschen und so weiter - mit höchster Flexibilität umgehen können, ohne zu blockieren. Also Freiheit im Rahmen bedingten Entstehens. Teilnehmerin: Zum bedingten Entstehen gibt es zum Beispiel die Geschichte wie Buddha den Mörder trifft und der auf ihn zuläuft und der Buddha in auf der Stelle laufen lässt. Bei diesen so genannten Wundern gibt es doch ein Eingreifen in unsere üblichen Vorstellungen. Ich weiß nicht, ob wir die Geschichte mit Angulimala – der ein extrem schneller Läufer war und den Buddha nicht erwischen konnte – auf der wörtlichen Ebene nehmen sollen, ob da tatsächlich physisch physikalische Kräfte außer Kraft gesetzt wurden. Das beschäftigt mich jetzt nicht mehr so, und da kann ich auch verschiedene Gesichtspunkte einnehmen. Was mir dabei hilft ist zu verstehen, dass das, was wir Physik, Chemie, Biologie und so weiter nennen, auch alles energetisches Geschehen ist, Prozessgeschehen, dass der Geist offenbar Energien freisetzt und mit diesen energetischen Prozessen in Wechselwirkung ist. Es gibt ja inzwischen viele Experimente und Doktorarbeiten usw. Zwischen den Energien die wir Gewahrsein nennen, den Energien, die im Körper sind und den Energien, die in der Natur wirken finden unzählige Wechselwirkungen statt. Und ich kapier' das alles nicht! Aber ich kann mir vorstellen, dass da Wechselwirkungen stattfinden können, die weit das Maß übersteigen, was wir für möglich halten. Ich selbst habe wenig Zugang zu solchen Erfahrungen, aber in Studentenzeiten hatte ich einen Freund – der heute Vipassanalehrer ist -, dem es in der Meditation passierte, dass er einfach durch die Wände schauen konnte. Er konnte mir immer erzählen was im anderen Raum los ist. Der schaute durch die Wände so, wie ich euch anschaue; aber für mich waren da Wände dazwischen, es war im anderen Zimmer. Er konnte das einfach so sehen, und wir waren einfach als Medizinstudenten unterwegs. Da war nichts Vorgetäuschtes, es war einfach eins von diesen Phänomenen. Ich selbst habe einmal erlebt, dass ich lange Zeit überhaupt nicht zu atmen brauchte, dass keine Atmung stattfand – etwas, wobei man normalerweise tot sein müsste. Es gibt Dinge die passieren, aber erklären kann ich sie auch nicht. Es scheint eine

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Wechselwirkung zwischen geistigen Energien und biochemischen, physikalischen Energien zu geben, die weit das übersteigen, was wir uns in unserem normalen, begrenzten Geisteszustand vorstellen können. Das heißt nicht, dass ich all diese Wundergeschichten für bare Münze nehme. Die Inder waren auch wunderbare Geschichtenerzähler, und die Tibeter haben noch einen oben drauf gesetzt. Je besser die Geschichten waren, desto mehr Zuhörer hatten sie, und die Geschichten, die am besten erzählt wurden, sind die Geschichten, die die späteren Jahrhunderte erreicht haben. Die anderen wurden vergessen. Ich kenne zum Beispiel so viele Versionen von Buddhas Lebensgeschichte, die aus verschiedenen Kulturen jetzt wieder gleichzeitig zugänglich sind. Da merkt man, dass dieselbe Geschichte immer noch einen oben drauf gekriegt hat, immer noch außergewöhnlicher wurde, je nachdem welcher Version man dann folgt. Deswegen brauchen wir das nicht beim Wort zu nehmen, aber vielleicht ist es gut, sich innerlich dafür frei zu halten, dass wir noch ganz Ungewöhnliches erfahren. Einfachste Dinge: Khenpo Chödrak beschrieb zum Beispiel, wie der 16. Karmapa ihm einen Brief diktierte. Ein Stift fiel unter den Tisch, der Karmapa vergaß sich offenbar und griff durch den Tisch um den Stift aufzuheben. Ich glaube, dass das so passiert ist - das ist nicht die erste Geschichte. Erinnert euch an Sai Baba, der mit der Hand aus einer Urne einen unerschöpflichen Strom von Asche hernieder regnen ließ. Das passt einfach nicht in so ein Gefäß hinein, und es sind Tausende von Leuten dabei, die etwa 200 kg Asche aus einer einzelnen Urne herabregnen sehen. Ich habe so viele Dinge schon gesehen und verlässlich gehört, es gibt inzwischen Forschungen dazu - es ist unglaublich, was da möglich. Aber das ist nicht die Befreiung, von der ich euch spreche. Das sind wie die Nebenwirkungen von einem Medikament. Der Geist wird freier, und dann passieren so Geschichten. Gendün Rinpoche zum Beispiel konnte mit solch einer Präzision all unsere Gedanken und Gefühlszustände lesen, absolut benennen, und das auch noch auf eine Entfernung von Hunderten von Kilometern. Davon habe ich euch ja schon ein paar Geschichten erzählt. Es war etwas Selbstverständliches - in seiner Gegenwart konnte man sich nicht verstecken. Man konnte keinen Gedanken geheim halten, das war nicht möglich. Dieses Gedankenlesen, was für andere vielleicht Humbug ist, war für mich tägliches Geschäft. Ich musste mit jemandem umgehen, leben, von ihm lernen, vor dem ich nichts verstecken konnte. Der mir die Sachen auf den Kopf zusagte. Es gibt in Tibet jetzt einen Lehrer – Achung Rinpoche oder so ähnlich -, der über zehntausend Meditierer bei sich hat und per Lautsprecher mit absoluter Präzision Anweisungen gibt wie „So-und-so, bitte nicht einschlafen!“ oder: „So-und-so, genauso, mach so weiter!“ Es sind viel zu viele, als dass sie persönliche Interviews mit dem Rinpoche haben könnte; der macht das alles mit Hellsichtigkeit und gibt die Instruktionen zu dem Moment wo sie es brauchen. Wir wissen nicht, was damals mit Angulimala und dem Buddha war, aber Angulimala erlebte in seiner Wahrnehmung, dass er trotz aller Anstrengung nicht an den Buddha ran kommt. Ich habe es als Medizinstudent mit Graf Dürkheim erlebt: ein zierliches Männchen, damals schon etwa 80 Jahre alt. Graf Dürkheim war ein Chi-Praktizierender, ein Praktizierender der inneren Energien. Er lud die vier kräftigsten Studenten unter uns ein ihn hochzuheben. Das war spielerisch leicht – er hat höchstens 60 kg gewogen. Dann ging er in die Praxis des Chi, und dann war es uns zu viert völlig unmöglich, den kleinen Kerl hochzuheben. Das habe ich mit meinen eigenen Armen erlebt. Es gibt also unglaubliche Wechselwirkungen zwischen Geist und so genannter Materie – die aber auch nur Energie ist – die die Nebenprodukte von Praxis sind. Wenn man sie zum Hauptthema macht, dann ist man völlig auf der falschen Fährte. Es sind Dinge die passieren und die man auch einsetzen kann. Graf Dürkheim hat das eingesetzt, um uns zu zeigen, dass es noch ganz andere Dimensionen der Wirklichkeit gibt als das, was wir meinten so zu wissen und zu studieren. Das war das Anliegen – es ging ihm nicht darum, sich selbst hervorzuheben. Und darum geht es mir auch. Wenn ihr also von solchen Phänomenen hört, dann sagt: „Ja, kann sein, mal gucken, mal überprüfen ob es so ist.“ Lasst es offen, aber das Wichtigste ist die Beweglichkeit des Geistes. Das Wichtige ist, nicht zu blockieren. Denn wenn wir blockiert sind – durch Angst, durch Verlangen, durch irgendeine Emotion oder falsche Annahme über die Wirklichkeit -, dann verlieren wir unsere Freiheit und sind für eine Weile in genau diesem Gefängnis, das durch diese Blockade entsteht. Dem Buddha ging es darum zu zeigen, dass es möglich ist, uns aus all diesen Blockaden, aus diesem gesamten großen Gefängnis unserer Blockaden zu befreien. Wir sind umso mehr Menschen, je mehr wir das tun. Wir werden richtig Mensch, ganz bewegliche Menschen. Teilnehmerin: Heute morgen ist mir genau das passiert. Als deine Anweisung kam: „Meditiert mal auf den Raum“ habe ich gemerkt, dass ich total in Gedanken verstrickt war, und als ich dachte 'Raum' bin ich fast spürbar wie gegen eine Käseglocke geknallt. Ich habe richtig gemerkt: Raum war gleich hier zu Ende. Erst als ich mich entspannen konnte, wurde der Raum weiter. Das war sehr intensiv: so eng kann Raum sein. So eng kann Raum sein, ja. Wenn ich wütend werde oder mich richtig getroffen fühle, dann habe ich emotional das Gefühl, überhaupt keine Raum zu haben. Alle Dharmapraxis dient dazu, den Raum wieder zu

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finden, und zwar in der emotionalen Reaktion, in der Herausforderung. Das können wir indem wir sehen – und das war ein weiterer wichtiger Punkt -, dass all die sogenannten Phänomene – also das in unserem Bewusstsein auftauchende Erleben – nicht getrennt ist vom Raum und selber diese raumgleiche Natur hat. Egal, in was man hinein schaut – zum Beispiel in deine Käseglocke -, dann entdeckt man, dass es bloßes Erleben ist. Dann löst sich das – manchmal langsam und manchmal in einem Moment -, und was so solide war, entpuppt sich als völlig ohne Substanz. Das ist gemeint wenn es in den Texten heißt: „Der Dharmadhātu durchdringt alle Phänomene.“ Übersetzt bedeutet das: Alles Erleben hat raumgleiche Qualität.

Die Sechs Dharmas von Tilopa Das war dieser ganz wichtige Punkt zu Raum und Zeit. Diejenigen, die schon häufiger gekommen sind, wissen, dass ich die ganze Zeit über die Sechs Dharmas von Tilopa gesprochen habe, von den sechs Instruktionen von Tilopa (Ozean des Wahren Sinns, S. 133): Reflektiere/ Grüble nicht. Halte nicht an der Vergangenheit fest. Denke nicht. Mach aus der Gegenwart keinen Gegenstand. Überlege nicht. Eile nicht in die Zukunft voraus. Meditiere nicht. Analysiere nicht. Lasse den Geist wie er ist, in seinem natürlichen Zustand. Wir sind gerade dabei, diese grundlegende Mahamudrainstruktion auf eine ganz andere Art und Weise anzugehen. Diese sechs Punkte fassen zusammen, was eigentlich gemeint ist: Nicht grübeln/ reflektieren bedeutet, nicht unnötig die Vergangenheit wieder zu aktivieren und sich im Vergangenen zu verfangen. Denke nicht bedeutet: denke nicht über die Gegenwart nach, mach aus ihr kein Ding. Überlege nicht bedeutet: denke nicht an die Zukunft. Meditiere nicht bedeutet: meditiere nicht über die Leerheit usw., versuche nicht irgendeine Meditation künstlich zu erzeugen. Fabriziere keine Meditation, kontrolliere nicht deine Meditation. Analysiere nicht die Objekte des Denkens: es gibt Anleitungen zu analytischer Meditation, d.h. sich zu überlegen, was die Natur der Wirklichkeit ist. Wenn es um Mahamudra geht, lässt man auch das sein. Die ganze Analyse ob man richtig oder falsch meditiert, ob es jetzt das ist oder jenes – all das können wir sein lassen. Lasse den Geist natürlich. Das sind die sechs Instruktionen von Tilopa: fünf Negationen, eine Affirmation. Fünf was wir lassen und eins was wir zulassen. Ganz einfach und die absolute Essenz der Praxis. Teilnehmerin: Der Dalai Lama hat in Basel neulich betont, wir sollen analytische Meditation machen. Hat er damit tatsächlich analysieren gemeint oder Einsichtsmeditation? Der Dalai Lama gehört zur Gelugpa-Linie, deren Steckenpferd die analytische Meditation ist, und er hat tatsächlich analytische Meditation gemeint. Das entspricht dem, was wir hier lhakthong nennen, intuitive Einsicht. Hierbei werden ganz viele Fragen über die Natur des Erlebens gestellt, und das ist ganz wichtig. Ich mache das mit euch ständig. Aber wenn es darum geht, Mahamudra zu praktizieren, lässt man auch das los. Die Gelugpas gehen auch ein bisschen anders damit um, noch etwas strukturierter; die Kagyüpas lassen das lieber sein, damit sich der Intellekt nicht allzu sehr im Intellektualisieren verfängt. Wir haben einen direkteren Zugang zum natürlichen Sein. Aber wenn man einmal diese Schulung mit der analytischen Meditation durchlaufen hat, tut einem das sehr gut: Man baut sich damit eine solide Basis des Verständnisses vom Geist. Die muss dann allerdings erst noch umgesetzt werden. Teilnehmer: Ist mit „Analysiere nicht“ gemeint, sich freizumachen von einem zwanghaften, konzepthaften Verdinglichen? Das ist schon mit „Nicht denken“ über die Gegenwart gemeint; es spielt auch ins Analysieren hinein. Eigentlich ist damit gemeint sich von diesen ganzen Überich-Funktionen frei zu machen: Analysieren im Sinne von „Mache ich es richtig?“, „Mache ich es falsch?“, „Muss es so sein oder muss es anders sein?“dieses ganze Bewerten der eigenen Meditation. Dass man wirklich im Vertrauen ist, dass man das Vertrauen zulässt und nicht die Kontrolle sucht und betont. Teilnehmer: Was ist der Unterschied zwischen „meditiere nicht“ und „analysiere nicht“?

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Meditieren ist hier stark das Fabrizieren einer Meditation, oder dass man sich etwas als Meditation nimmt, das man überhaupt nicht meditieren kann. Zum Beispiel heißt es: „Meditiere nicht über Leerheit“. Da wird Leerheit plötzlich zu etwas über das man meditieren kann – dabei kann man Leerheit, d.h. die Abwesenheit von Substanz, nur entdecken. Es ist das Wegfallen einer Täuschung. Du kannst nicht wirklich über das Wegfallen einer Täuschung meditieren. Du kannst es erleben, und dann ist es gut, dann lässt du es sein. Es gibt Meditationsinstruktionen in Büchern und auch teils gegeben, die etwas in die Irre leiten. All diese irreleitenden Instruktionen sein lassen, nichts fabrizieren, nur mit dem sein, was ist, wie es ist. Teilnehmerin: Vielleicht ist das hilfreich: Manchmal wird der fünfte Punkt auch formuliert als: „Versuche nicht zu verstehen“. Das ist auch eine gute Hilfe. „Versuche nicht zu verstehen“ im Sinne von „Lasse die distanzierte Beschäftigung mit deinem Erleben sein“. Solange wir versuchen, sind wir ja in einer Trennung. Lass das sein. Teilnehmer: Meine Müdigkeit hat mir geholfen, weil ich überhaupt keine Lust hatte auf Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, und dadurch konnte ich deutlich den Raum spüren. Super. Das ist die gute Art von Müdigkeit. Wir sollten Samsara-müde werden. Teilnehmerin: Wenn wir von Dharmadhātu und abhängigem Entstehen sprechen, dann reden wir nicht von Erleuchtung, weil die ja frei vom abhängigen Entstehen ist? Die Erleuchtung – der erwachte Geisteszustand – ist tatsächlich nicht konditioniert. Aber das Erwachen eines Menschen spielt sich im Rahmen des bedingten Entstehens ab, und der aufgrund der Erfahrung des nichtbedingten Geisteszustands erwachte Mensch ist weiterhin als Mensch eingebunden in Wetter, Körper, usw. Das ganze bedingte Entstehen geht weiter. Zum Beispiel: Buddha war erwacht und hatte seinen wunderbaren Vetter Devadatta, und der hat ihm mächtige Probleme bis hin zur Spaltung der Sangha beschert, hat mehrfach versucht ihn umzubringen aufgrund von Eifersucht. Buddha musste sich diesem bedingten Entstehen stellen und damit umgehen. Sein Erleben ist in dem nicht-bedingten Geisteszustand völlig frei, aber innerhalb einer Welt der Erfahrung walten weiterhin die Gesetze bedingten Entstehens. Wenn sich Körper und Geist trennen, dann fallen all die Bedingungen weg, die durch diese körperliche Existenz geschaffen werden. Was dann für andere Bedingungen wirken, habe ich keine Ahnung. Du hast das richtig verstanden, nur dass wir dieselben Phänomene aus verschiedenen Gesichtspunkten anschauen. Im Erleben den Dharmadhātu oder Dharmakāya selbst ist völlige Freiheit. Keine Bedingungen mehr, nichts mehr, was konditionierend wirkt. Auch das Erwachen selbst ist nicht konditioniert, findet aber statt im Rahmen unserer Welt. Teilnehmerin: Es gibt eigentlich nur das Erleben jetzt. Gibt es dann auch keine Schnittstellen mehr mit Vergangenheit und Zukunft? Auch wenn ich es konstruiere, ist es konstruiert im Jetzt. Wo sollen die Schnittstellen denn sein? Wir können nicht in die Vergangenheit oder Zukunft rübergleiten, da gibt es keine Verbindungsstellen. Was auch immer wir erleben: wir bleiben im jetzigen Erleben. Wir erleben nicht das Vergangene sondern das was jetzt stattfindet. Wir könnten sagen wir erleben jetzt die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und zwar ist das gegenwärtige Erleben – so wie wir jetzt miteinander sprechen – absolut bedingt und geprägt von allem Vergangenen. Die gesamte Vergangenheit aller, die hier im Raum sind, prägt gerade unsere Interaktionen, prägt unser jetziges Verstehen und Handeln. Insofern kann man sagen: die Vergangenheit wirkt hinein. Und natürlich hört das Wirken nicht einfach auf, sondern die Kräfte, die aus dem Vergangenen kommen und durch das Jetzige weiter gestaltet werden, wirken natürlich ins Zukünftige hinein, in das was kommen wird und was wir noch nicht kennen. Natürlich wirken sie weiter, und die Zukunft ist als Potential schon da: was jetzt an Wirkkräften – wir nennen das Gestaltungskräfte – in uns aktiv ist, ist jetzt dabei - ohne dass wir wissen was dabei herauskommt – das Zukünftige zu gestalten. Zum Beispiel werden die jetzt entstehenden Erkenntnisse und Herzensöffnung den nächsten Moment des Erlebens und die nächsten Begegnungen mitgestalten. Genau wie die Blockaden und Ängste, die jetzt entstehen das nächste Erleben und spätere Momente auch beeinflussen werden. Das lineare Zeitverständnis kommt da an seine Grenzen, und wir können nicht von einer Schnittstelle von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sprechen. Das wird da so ein bisschen absurd. Das sind hilfreiche Vorstellungen mit denen wir arbeiten und die in einem gewissen Rahmen ihre volle Berechtigung haben.

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Aber wenn es darum geht zu schauen wie es wirklich ist, dann bricht dieses Zeitkonzept zusammen. Jetzt müssen wir mal tief durchatmen und können all diese wichtigen Themen und Erkenntnisse sausen lassen. ... stille Meditation … ... Grüble nicht, denke nicht, überlege nicht, meditiere nicht, analysiere nicht, lasse den Geist wie er ist. ... Gong Und jetzt beim gehen und Sitzen: genießt den Raum aller Möglichkeiten! ***

Praxis mit den fünf Elementen Barlung - Meditation Könnt ihr euch an die Praxis mit dem dicken Bauch erinnern? Wir setzen uns so hin, dass wir unseren Bauch ganz entspannt öffnen können. Wer einen Gürtel trägt, soll ihn lockern – lasst viel Raum, euch zu öffnen, lasst den Bauch ganz raus hängen. Denkt vielleicht einen chinesischen Bodhisattva als euren Yidam, einen dieser lachenden Buddhas. Es geht darum, die Aufmerksamkeit in den Bauchraum zu verlagern. Wir spüren die Atembewegungen. ... Vielleicht spürt ihr die Berührung der Kleidung an der Bauchdecke ... Wir unterlassen jede Anstrengung den Bauch raus zu strecken, sondern geben ihm nur allen Raum. ... Dann gehen wir in das Innere diesen Raumes ... es fühlt sich fast an wie ein Fußball – in das Innere dieses Ballons, diesen großen Raumes ... und atmen jetzt erst mal eine Weile, indem wir darauf achten, so weit wie möglich zu entspannen. ... Das energetische Zentrum liegt am Übergang zwischen Bauch und Becken, ein ganzes Stück unterhalb des Nabels, innen im Körper in der Körperachse. ... Ihr könnt euch gerne vorstellen, dass ihr mit dem Bewusstsein in der Mitte des Bauches seid. ... Ein warmes Gewahrsein, in dem sich keine Fixierungen bilden, ganz fließend. ... Ganz entspannte, gelöste Bauchpräsenz. ... Der Atem fließt ganz entspannt weiter, und da bleibt immer diese volle Präsenz im Bauchraum. ... Ein gesammeltes, entspanntes Gewahrsein im Bauchraum. … Gong Diejenigen, denen das gutgetan hat: ihr könnt schauen, ob ihr beim Gehen diese Bauchpräsenz wiederfindet, ob ihr das fortsetzen könnt. Das hat sehr schöne Auswirkungen. ***

Meditation - Die fünf Elemente In diesem kostbaren Leben, von dem wir nicht wissen, wie lange es uns noch geschenkt ist, worum geht es mir eigentlich, was ist mein eigentliches Anliegen? Lasst uns wieder den Tag mit dieser so wesentlichen Frage beginnen, und wenn ihr wollt, lasst den Antworten, die entstehen ein Bild folgen, lasst sie Form annehmen, so als könntet ihr die Qualitäten sehen, um die es geht ... Lasst dieses Bild so lebendig werden, dass es möglich ist, darin die Qualitäten zu sehen, und wie eine innere Beglückung zu erfahren, so eine Freude, diese Qualitäten so deutlich ausgedrückt zu sehen ... Vielleicht wollt ihr auch das innere Bild noch erweitern, indem ihr euch daran erinnert, dass viele andere Lebewesen um uns herum versammelt sind oder viele andere Erwachte zu diesem Mandala des Erwachens beitragen und dass wir tiefes Vertrauen dann finden ... Auch wenn ihr nicht in einer menschlichen Form visualisiert, so könnte die Lichtsphäre oder das einfache Symbol so lebendig werden, dass es durchtränkt ist mit diesen Qualitäten ... Ausdruck des natürlichen Seins, des erwachten Seins... Und wir können in einen Dialog treten, in einen Austausch. Um Unterstützung bitten auf dem Weg, Inspiration, auch darum, dass wir diese Quelle des Segens in uns tragen dürfen und möglichst nie vergessen ... Dieser Gedanke des Austausches wird meistens als Licht visualisiert, Licht, das hin und her geht... Licht aus dem eigenen Herzen, das zu den Erwachten vor uns geht, wie Opferungen darbingt: Verbeugungen, Lichter, Blumen, Speisen, alles nur Symbole dafür, dass es uns ein tiefes Anliegen ist, im Austausch zu bleiben.

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Alles, was die Sinne erfreut kann dargebracht werden, aber im Grunde bringen wir unsere eigene Praxis dar. Als Antwort kommen Segenstrahlen, Lichtstrahlen, die uns im ganzen Wesen durchdringen: weiß, rot, blau, gelb, grün, alle Farben des Regenbogens ... Wer möchte, kann die Zufluchtsgebete zusammen mit mit mir singen als Stärkung seiner inneren Ausrichtung Rezitation: Zuflucht, die Vier Unermesslichen, Guru Yoga Im immensen Licht löst sich die Zuflucht vor uns auf, wird ganz eins mit uns ... Wer es möchte, kann selber erscheinen, in dieser selben Form, als Ausdruck des tiefsten Vertrauens, dass all die erwachten Qualitäten in uns sind ... Dabei lassen wir uns ganz in dieses Selbstvertrauen hineingleiten, wir brauchen es nicht festzuhalten ... Wir spüren sie, diese Qualitäten, wie sie in uns aktiv sind, wir lassen den Bauch ganz, ganz entspannen, den Bauchbeckenraum, lassen wir die Aufmerksamkeit sich sammeln, tiefe Verbindung zur Erde, ganz stabil, ruhig sitzend, und zugleich ganz so wach, offen nach oben durch den Scheitel und durch alle unsere Poren ... Alle Poren der Haut sind wie offen, durchlässig ... Wir brauchen uns jetzt nicht zu schützen, unser Schutz ist das Nichtgreifen, Nichterfassen ... In diesem, ganz offenen Sosein wird das Erdelement spürbar, als die völlige Verlässlichkeit und Stabilität dieses offenen Geistes. Immer so ganz verlässlich ... Das Wasserelement wird spürbar als die Kontinuität unseres Erlebens, kontinuierliches ununterbrochenes Erleben, ständiges Strömen ... Das Feuerelement zeigt sich darin, dass sich alles mit völliger Leuchtkraft, Strahlkraft zeigt und doch nichts bleibt, so wie das Feuer, alles verzehrt. Erleben völlig klar und strahlend, hell und doch ohne Bestand ... Das Windelement zeigt sich als unablässige Dynamik, immer in Bewegung, Geist steht nie still. Selbst in der tiefsten Ruhe ist noch feine Bewegung zu spüren ... Und all dieses Erleben ist so weit wie der Raum, genau so wenig fassbar. Der Raum aller Möglichkeiten ... Erde, Wasser, Feuer, Wind und Raum stehen für grundlegende Eigenschaften, die wir in der Natur wieder finden, aber auch im eigenen Geist... Stabilität,Verlässlichkeit, Kontinuität, Zusammenhang, Verbindung, deutlich klares Erscheinen, Lebendigkeit des Feuers, unaufhörliche Bewegung, Dynamik, der alldurchdringende Raum, allumfassend, alldurchdringend... Eine schöne Art, den Geist zu beschreiben und zugleich seine grundlegenden Eigenschaften zu meditieren. Gong Und jetzt können wir uns noch mal 20 Minuten so entspannt wie möglich der Praxis widmen. Grüble nicht, denke nicht, überlege nicht, meditiere nicht, analysiere nicht, lasse den Geist so wie er ist ... Oder lasse es, wie es ist ... Jetzt gerade für die kommende Viertelstunde brauchen wir nicht über die Vergangenheit nachzudenken und die Zukunft nicht zu überlegen und aus der Gegenwart machen wir auch keinen Gegenstand des Denkens ... Wir fabrizieren nichts, kümmern uns nicht die Spur darum ob es richtig oder falsch ist, wir lassen den Geist natürlich … Rezitation:Widmungsgebete ***

Fünf Elemente des zeitlosen Gewahrseins Habt ihr das heute Morgen mit den fünf Elementen in der Meditation gut nachvollziehen können? Es ist eine der Mahamudra-Meditationsanweisungen, eine Möglichkeit auf den Geist zu meditieren, dass wir die fünf Elemente im geistigen Erleben wahrnehmen. Das war eine der Lieblingsmeditationen von Kalu Rinpoche, sie wird sehr viel in der Shangpa-Meditation benutzt, wird aber auch kurz im Ozean des wahren Sinnes erwähnt, ohne weiter erklärt zu werden. Teilnehmer: Welche Lektion ist das? Das ist in einem kleinen Satz in der Lektion 29, Seite 148. Dort heißt es: Den Geist ohne Objekt sammeln bzw. konzentrieren: Konzentriere den Geist unvermittelt auf die große Leerheit aller äußeren und inneren Materie.

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Das wäre, wenn man direkt die nichtfassbare Natur allen Seins schauen könnte. Oder stelle dir vor, wie sich die Elemente Schritt für Schritt ineinander auflösen und verweile danach im nicht fassbaren Zustand leuchtender großer Leerheit. Das ist alles, dieser kleine Hinweis. Ich habe es mit euch gemacht und ich habe darauf verzichtet, euch zu sagen, dass sich das eine Element in das nächste auflöst. Das wäre eine Vorbereitung auf den Sterbeprozess. Sondern ich habe es so mit euch gemacht, dass ich einfach das eine Element kurz beschrieben habe. Ihr habt vermutlich in eurem Erleben Kontakt mit dieser Qualität aufnehmen können und dann habe ich das nächste Element angesprochen. Und einfach weil die Aufmerksamkeit wechselt, zum Beispiel vom Erleben der Stabilität, der Verlässlichkeit des Erdelements, dann wechselt man in das kontinuierliche Erleben, das Fließen, das Verbindende im Erleben, vergisst man etwas das Vorhergehende. Man ist jetzt mit dem Neuen beschäftigt und das reicht aus, um von einem Auflösen der Elemente ineinander zu sprechen. Wir brauchen es nicht noch extra zu tun, weil wie löst man ein Element eigentlich auf? Wir haben das jetzt so gemacht, dass wir sukzessive die Aufmerksamkeit von Erde auf Wasser, auf Feuer, auf Wind und Raumelement verlagert haben. Und als wir im Raumelement ankamen, ward ihr alle – soweit es ging – in einem ganz weiten, nicht greifenden Bewusstsein, ohne dass ich noch das Wort „und jetzt verweilt bitte in der großen Leerheit“ ausgesprochen hätte. Dann wäre euer Geist sofort wieder unruhig geworden und hätte nach der großen Leerheit gesucht und dabei war die schon längst da. Die ist von Anfang an da. Man kann das aber als eine Auflösungsmeditation machen. Dazu braucht es aber ein bisschen Vorbereitung. Die klassische Meditation geht so, dass jedes dieser Elemente eine Farbe hat. Erde gelb, Wasser weiß. Wasser ist nicht blau, sondern sobald es in Bewegung gerät und sprudelt, ist es weiß. Die Farbe die Wasser annimmt, hängt vom Himmel und von den im Wasser enthaltenen Mineralien ab. Wasser aus sich heraus, sobald es irgendwie ein bisschen in Bewegung gerät ist weiß. Dann die rote Farbe für das Feuer, die grüne Farbe für den Wind. Warum grün? Weil Wind sich am ehesten in der Natur sehen lässt, wenn sich die Grashalme und Blätter und dergleichen bewegen. Dort lässt sich die feine Bewegung des Windes sehen. Und dann blau für den Raum, weil Himmel am ehesten doch blau ist, wenn er sich zeigt, als Symbol des Raumes. Und dann würde das Auflösen der Elemente für einen Praktizierenden, der mit den Elementen vertraut ist, so sein, dass man sich auf das Gelbe einlässt und dabei Stabilität, Verlässlichkeit und dergleichen spürt. Dann wie in einem Diaporama, wo das eine Bild verschwindet und das nächste auftaucht, löst sich das Gelbe auf und das Weiße kommt zum Vorschein. Dann ist man mit dem Weißen und der verbindenden Qualität, der Kontinuität für die das Wasser steht, verbunden. Wasser steht hier nicht für das Fließen, diese Bewegung ist stärker mit dem Wind verbunden. Wasser ist das, was alles zusammenhält. Wenn in der Erde kein Wasser mehr ist, dann bröckelt sie, dann wird sie zu Sand. Wasser ist das, was in einem Baum oder auch in uns die Kontinuität herbeiführt. Die Verbindung zwischen den Zellen ist alles Flüssigkeit. Das flüssige Element ist das Verbindende. Gerade auch, wenn es steht, es hängt nicht von der Bewegung ab. Wasser muss nicht fließen um zu verbinden, es muss sein. Seine Qualität ist alles zu benetzen und zu verbinden. Und dadurch kann man aus der Erde Klumpen formen, die nicht auseinanderfallen und so weiter. Dann würde sich das Weiße wie ein sich überlagerndes Diaporama in das Rote entwickeln und wir sind in dem Verständnis der Vitalität, der Lebendigkeit, des Erscheinens aller Phänomene, die aber keine Spur hinterlassen. So wie das Feuer alles aufnimmt. Ein starkes Feuer kann alles verbrennen, dem widersteht gar nichts. Selbst Steine widerstehen dem nicht, auch die beginnen irgendwann zu glühen und zu Lava zu werden. Dieses Symbol, dass unser Geist alles erscheinen lassen kann und nichts bleibt, das ist mit dem Feuer verbunden. Das ist das Zeichen für Vitalität, klares, lebendiges Erscheinen. Dann würde das wieder übergehen in das nächste, das grüne Mandala des Windes. Dort verbinden wir uns mit der Bewegung, der Dynamik allen Seins. Wenn wir in tiefen Versenkungszuständen sind, zunächst erscheint es uns mal so, als ob sich da gar nichts bewegt. Aber wenn wir damit vertraut werden, dann merken wir, dass selbst in den tiefsten Versenkungszuständen so etwas Vibrierendes wahrzunehmen ist, ein vibrierendes Grundgewahrsein. Das ist keine Dynamik, die irgendwo hingerichtet ist, das ist die Grunddynamik des Geistes und diese Grunddynamik des Geistes führt dann in den Raum aller Möglichkeiten. Weil der Geist ständig dynamisch ist, kann er jederzeit in die volle Aktivität gehen. Er ist nicht in so einem Ruhezustand, wo man verzweifelt nach einem Knopf suchen müsste, um jetzt wieder den Computer hoch zu starten. Gar nicht. Das ist immer so eine Bereitschaftsdynamik, ganz, ganz fein, auch nicht aufgewühlt oder etwas Beunruhigendes. Es kann tiefste Ruhe sein und diese tiefste Ruhe hat auch Dynamik. Ganz zu schweigen von den normalen Geisteszuständen, wo ständig Geisteswahrnehmungen auftauchen, Gedanken, Gefühle. Das ist natürlich totale Dynamik. Das ist das Windmandala. Und das Windmandala würde sich auflösen in das blaue Mandala des Raumes. Die beste Art, dies zu meditieren ist, dass jedes Mal diese Farben unseren ganzen Geistesraum füllen. Dass bis an die Grenzen

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unseres Bewusstseins alles völlig von dieser Farbe durchdrungen ist. Man kann bei dem Blauen und dem Raumgleichen, Nichtfassbaren, unglaublich Weitem, der weiten Natur des Geistes aufhören. Wenn ihr wollt geht die Meditation sogar noch weiter. Man kann danach ins Farblose hinüber wechseln. Das wird das sechste Element genannt. Das habt ihr vielleicht gespürt. Ich habe es mir verkniffen, es anzudeuten, weil ich eure Meditation nicht stören wollte. Das sechste Element wird einfach Gewahrsein genannt. Gewahrsein ohne Vorstellung. Es ist kein Element der Materie, sondern es ist das, was bleibt, wenn alle anderen Vorstellungen weg sind. Keine Farben mehr, keine Mandalas mehr, einfach nur Sein, Gewahrsein. Das ist das, was natürlicherweise bleibt, wenn man diese Meditation gemacht hat, und das ist das was im Sterbeprozess bleibt, wenn sich Körper und Geist trennen und man in das klare Licht übergeht. Dann bleiben nicht irgendwelche Farben, die haben sich alle aufgelöst. Es kommt zum Eintreten in das nur Gewahrsein. Und wie immer gibt es Methoden, die das Ganze noch etwas komplizieren. Ich erkläre sie kurz, aber ich rate euch davon ab. Ihr sollt nur wissen, dass es das gibt. Es ist nicht besonders hilfreich. Jedes dieser Mandala hat auch eine Form. So wird das Erdmandala als ein Rechteck, als ein Quadrat visualisiert. Das Wassermandala als ein Kreis, das Feuermandala als ein Dreieck, das Windmandala als ein Halbkreis und das Raummandala bekommt normalerweise keine Zuordnung mehr. Es gibt eine Tradition, in der das Raummandala als ein dreidimensionaler Djödung, als ein Damadaja visualiert wird, wie eine auf den Kopf stehende Pyramide. Machen wir aber nicht. Und Gewahrsein hat dann natürlich keinerlei Repräsentation mehr. Das hilft, der Vorteil dieser Methode ist, dass man den Geist dann in Form von Geistesruhe noch stärker auf eine Form ausrichten kann. Man hat noch stärker einen Bezugspunkt. Aber im Sinne einer Einsichtsmeditation, die dazu dienen soll, uns aus Vorstellungen zu lösen, ist es besser, diese Meditation so zu machen, dass einfach diese Farben den ganzen Geistesraum ausfüllen und nicht noch durch Formen begrenzt sind. Denn da ist immer noch die Frage, was ist jenseits der Begrenzung. Deswegen empfehle ich euch, das Auflösen der Elemente ineinander als eine Vorstellung zu machen, die nicht das ganze Gesichtsfeld, sondern das vorgestellte, innere Gesichtsfeld, also den ganzen Bewusstseinsraum ausfüllt. Wir haben das heute völlig ohne Farben gemacht. Meine Erfahrung ist, wenn man sich mit den Qualitäten verbinden kann, wenn man das weiß und sich daran erinnern kann, dann reicht es aus, das ohne Farben zu machen. Teilnehmer: Entweder ich stelle mir vor, der Raum ist gefüllt mit der Farbe oder ich stelle mir die Form in der Farbe vor ? Die Form wäre ausgefüllt mit dieser Farbe und außerhalb ist nur offener Raum. Teilnehmer: Kann ich die tibetischen Gebetsfahnen auch genauso zuordnen. Die sind besonders schön, wenn sie verblassen, wenn die sechste Farbe hinzukommt, die Nichtfarbe. Ja, es sind die gleichen Qualitäten. Der Grund für die Farben der tibetischen Fahnen ist noch eine etwas tiefere Beziehung von diesen Farben zu den fünf Buddhafamilien und den fünf Aspekten des zeitlosen Gewahrseins. Das sind zwar jetzt jede Menge Begriffe, aber eigentlich ist es nur eine andere Form der Beschreibung des Seins. Und wenn ihr noch könnt, dann erkläre ich es euch noch.

Die fünf Buddhafamilien Wer will kann mitschreiben, aber es wird auch in dem neuen Buch über Essentielle Psychotherapie, das den Titel „Buddhistische Psychologie – Grundlagen und Praxis“ bekommen und im Frühjahr 2016 rauskommen wird. Wenn ich die Reihenfolge der Farben nehme, wie wir sie jetzt bei den Elementen hatten, dann würde gelb für die Ratnafamilie, die Buddhafamilie Ratna – die Juwelenfamilie stehen. Weiß wäre für die Vajrafamilie, rot Padmafamilie- Lotus, grün Karma und blau Buddhafamilie, die zentrale Buddhafamilie. Sie stehen für das Auflösen der 5 Hauptemotionen. Ich beginne mit der Buddhafamilie. Wenn sich alle Angst aufgelöst hat, alle Unwissenheit und sich mangelndes Gewahrsein ganz aufgelöst hat, dann sind wir vertraut mit diesem Raum aller Möglichkeiten. Wir haben keine Angst mehr, wir treten ein in die Verwirklichung dieses Dharmadatu- Gewahrseins, das ist der zentrale Aspekt des Buddhagewahrseins. Das Dharmadatu- Gewahrsein, das Gewahrsein des Raums aller Möglichkeiten oder aller Phänomene. Wenn sich Ärger, Abneigung ganz und gar aufgelöst hat – jetzt gehe ich in die weiße Farbe, Vajrafamilie – dann wird unser Gewahrsein als spiegelgleich erlebt, wie ein Spiegel. Völlig ohne Blockaden. Stellt euch

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jetzt einen Spiegel vor. Das Tolle an einem Spiegel ist, egal wohin man ihn hinwendet, unverzüglich ohne die geringste Verzögerung zeigt sich alles, was vor dem Spiegel ist, im Spiegel. Der Spiegel braucht das letzte Spiegelbild nicht wegzuschicken und zu verstauen, damit das neue Spiegelbild erscheinen kann. Man nennt das die ungehinderte Manifestation. In einer totalen Kontinuität, das ist das Wasserelement. Es gibt bei einem Spiegel keinen Unterbruch, kein Stocken. Das ist was mit dem spiegelgleichen Gewahrsein gemeint ist. Da ist die Qualität unseres Gewahrseins völlig kontinuierlich, ohne das eine vorherige Geistesbewegung die nächste behindern würde. Erleben taucht in einem kontinuierlichen Strom auf, ohne irgendeine Blockade. Die größte Blockade sind die emotionalen Fixierungen, wo Hass, Ärger und Wut zu den stärksten gehören. Da kommen wir völlig in das Blockieren, als ob unser Spiegel plötzlich festhalten würde an einem inneren Bild. Wenn sich das gelöst hat, wird die spiegelgleiche Natur des Erlebens umso deutlicher. Gelb ist Erde und wird der Juwelenfamile Ratna zugeordnet Wenn sich Stolz aufgelöst hat, stellt sich das Gewahrsein der Gleichheit aller Phänomene ein. Stolz macht ja immer Unterschiede, ich bin besser, ich bin schlechter usw. . Der Größenwahn und der völlige Mangel an Selbstwertgefühl, bei dem man sich sagt, ich bin der Schlechteste von Allen, der Schlimmste von Allen, beides ist Stolz. Beides ist extremes Vergleichen mit anderen. Entweder kommt man besser weg oder schlechter. Aber eines fehlt völlig - das Gefühl von Gleichheit, von gleich zu sein. Und dieses Unterscheiden von besser und schlechter findet nicht nur in Bezug auf Personen statt, sondern auch auf alle anderen Sinneswahrnehmungen. Es gibt immer bessere und schlechtere. Das Gewahrsein der Gleichheit aller Phänomene, ist das, was sich einstellt, wenn sich Stolz und dieses Vergleichen ganz aufgelöst hat. Sie sind sich nicht gleich, blau ist nicht gleich gelb. Das ist klar, darum geht es nicht. Aber alles Erleben ist sich gleich in seiner grundlegenden Natur, dynamisch zu sein, nicht fassbar, also ohne Wesenskern, zu entstehen und sich im selben Moment schon aufzulösen. Darin sind sich alle Aspekte des Erlebens, über die wir die ganze Woche schon gesprochen haben, gleich. Das ist das Gewahrsein der Gleichheit oder Gleichwertigkeit aller Erfahrung. Ohne irgendeine ethische oder sonstige Unterscheidung, einfach in ihrer grundlegenden Natur. Wut und Freude sind sich gleich in der Natur ihres Vergehens und Entstehens, in der Natur des Erlebens, nicht im Inhalt und nicht in den Auswirkungen. Dieses Gewahrsein, dieser Aspekt unseres Gewahrseins sieht das alle Erfahrungen in der Tiefe gleichwertig sind. Und damit ist der Ausstieg vollzogen aus dem ständigen Besser- und Schlechter- Halten, Präferenzen im Erleben zu machen. Damit hält auch tiefer Gleichmut Einzug ins Erleben. Das war der gelbe Aspekt, die Ratna-Familie. Jetzt gehen wir zur Roten, rot Feuer, Padmafamilie, Lotusfamilie. Auflösung der Emotion von Begierde, Verlangen. Begierde, Verlangen ist - ich will dich und keine andere, ich will diese Musik und keine andere, ich will den Wein und keinen anderen - und was auch immer. Es ist jedenfalls ein Unterscheiden aufgrund von Verlangen, von Begierde. Es muss immer das Angenehmste zu mir geholt werden und alles Unangenehme muss natürlich wegbleiben. Wenn sich diese Fähigkeit des Unterscheidens der Qualitäten unserer Erfahrungen – die es ja gibt, in den verschiedenen Weinsorten, in den verschiedenen Gemüsesorten, Mittagessen, die wir mögen und nicht mögen und so weiter, es gibt ja jede Menge Unterschiede - wenn sich diese Grundfähigkeit des Geistes mit Verlangen kombiniert, dann landen wir wieder in Blockaden und werden unglücklich, weil wir nicht das kriegen, wonach wir verlangen. Wenn sich das entspannt, wenn sich die Begierdeenergie entspannt, bleibt das allunterscheidende Gewahrsein, ein Aspekt unserer Gewahrseins, alles auf das Feinste unterscheiden zu können. Unser Geist, gerade im erwachten Zustand, ist in der Lage noch feiner zu unterscheiden als im groben, greifenden Zustand. Aber dieses Unterscheiden, diese Fähigkeit, alle Erfahrungen unterscheiden zu können, ist durchdrungen vom Gewahrsein der nicht fassbaren Natur aller Erfahrungen. Also dieses Gewahrsein der Gleichheit, der Gleichwertigkeit, schwingt mit im unterscheidenden Gewahrsein. Und führt dazu, dass die Unterscheidungen stattfinden ohne zu einem Greifen zu führen, das ist die Befreiung aus der Begierdeenergie , dem Verlangen. Unterscheiden zu können, ohne in das Greifen zu kommen, das ist das Merkmal des allunterscheidenden Gewahrseins. Teilnehmer: Könnte man auch sagen, dass die Vedana, also Gefühlstönungen, der ganze Rattenschwanz eben, dann auch nicht mehr auftritt. Ja genau, das könnte man dann sagen. Dass diese Gefühlsunterscheidungen mit Greifen, das die garnicht mehr auftreten. Gehen wir zur letzten Familie, uns fehlt noch die grüne Farbe, die Karmafamilie. Hier geht es um das völlige Auflösen von Rivalität, Eifersucht und Neid. Auch eine Form des Vergleichens, aber im Sinne von HabenWollen, Sein-Wollen was der andere hat. Diese Rivalität geht normalerweise mit einem tiefen Gefühl einher, nie zufrieden zu sein. Denn wo Eifersucht und Neid und Rivalität eine Rolle spielen, ist kein Friede im Herz. Eifersucht, Neid führen dazu, dass wir in den Wettbewerb einsteigen oder in eine zerstörerische Tendenz, den anderen – weil wir nicht besser sein können - kaputt zu machen. Das ist das wodurch unsere Gesellschaft sehr, sehr stark geprägt ist. Dieses ganze rivalisierende Wettbewerbsstreben und die zerstörerischen Tendenzen sind ganz offenkundig. Und wir denken, dass es diesen Wettbewerb braucht, um Leistungen

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hervorzubringen. Welch ein Irrtum! Wenn sich diese Eifersucht, dieser Neid, diese Rivalität aufgelöst haben, dann kommt ein Aspekt unseres erwachten Seins zum Vorschein, den wir das allvollendende Gewahrsein nennen. Es ist ganz interessant, es ist nicht das Gewahrsein, was jetzt meint, alles vollenden zu müssen. So irgendwie Arme hochkrempeln und schaffen – schaffe, schaffe Häusle baue. Nein, sondern es ist das Gewahrsein, das diese tiefe Zufriedenheit bringt, dass der jetzige Moment des Erlebens in sich bereits vollendet ist. Dass wir sehen, wir spüren es, einfach nur einzuatmen, zu sehen, zu hören. Die Erfahrung des Seins ist in sich vollendet. Insofern wird durch diesen Aspekt des Gewahrseins alles Erleben zu einem vollendeten, erwachten Erleben. Und wenn dann Wirken stattfindet, also eine Aktivität in dieser Welt, geht es nicht darum, die eigene Unzufriedenheit zu besänftigen, in dem man meint, ich muss da noch am Haus was verbessern und die Musik noch besser hören, da noch den besseren Wein kriegen usw., weil man irgendwie noch ständig unzufrieden ist, sondern Wirken findet dann tatsächlich aus Mitgefühl statt. Wirken findet statt mit dem Ziel - ich spreche jetzt über erwachtes Wirken – anderen den Zugang zu der Vollendung unseres Seins zu ermöglichen. Das jetzt eigentlich schon alles ist. Das ist dann Karma auf der erwachten Ebene. Nicht nur Trinle, le heißt Karma in tibetisch, aber Trinle ist erwachtes Wirken. Und deshalb z.B. der Name Kharmapa. Kharmapa ist nicht ein Meister des Kharmas im dualistischen Sinne, sondern ein Meister des Karmas im erwachten Sinne. Ein Meister des erwachten Wirkens, der in die Vollendung des Seins hineinführt. Es ist nur ein Titel. Alle anderen Meister tun dasselbe. Das ist die Grundeigenschaft des erwachten Wirkens nicht aus Unzufriedenheit geboren zu werden, sondern aus Weisheit und Mitgefühl, aus der erwachten Schau des Seins. Das ist dann die Karmafamilie mit der Farbe grün. Also das allvollendende Gewahrsein.

Zusammenfassung Ich gebe euch jetzt noch einmal eine Zusammenfassung, die ganz wichtig ist. Diese fünf Facetten des zeitlosen Gewahrseins tauchen immer zusammen auf, es gibt sie nicht getrennt. In manchen Büchern lest ihr über fünf Weisheiten und das gibt ein bisschen die Idee, als ob da fünf verschiedene Weisheiten zu finden wären. Das ist absoluter Kokolores, das gibt es nicht. Es gibt keine fünf Weisheiten. Es sind fünf Facetten von ein und demselben Erleben. So wie ihr einen Juwel haben könnt und ihr dreht ihn im Sonnenlicht und ihr bekommt fünf verschiedene Farben. Daher kommt das Beispiel auch. So wird es auch erklärt. Diese fünf Facetten eines Juwels, das ist derselbe Juwel. Es gibt ihn nur mit seinen Facetten. Es gibt ihn nicht ohne das. Also das erwachte Gewahrsein lässt sich durch fünf Facetten beschreiben, durch die ich nochmal durchgehe: • Es lässt sich beschreiben als raumgleich, als Raum aller Möglichkeiten. • Es lässt sich beschreiben als spiegelgleich, als ungehinderte Kontinutität des Erlebens. • Es lässt sich beschreiben, als durchdringendes Erleben der Gleichheit oder Gleichwertigkeit allen Seins. Das in der Tiefe kein Erleben dem anderen vorzuziehen ist, weil es dieselbe Grundnatur hat. • Und zugleich ist da feinste Unterscheidungsfähigkeit, die das Erleben in seiner völligen Lebendigkeit und Dynamik wahrnimmt, ohne an den einzelnen Momenten des Erlebens zu haften, weil wir die nichtfassbare Natur des Seins tief durchdrungen haben. • Und darin erleben wir die vollendete Natur des Seins, wo es nichts mehr hinzuzufügen und nichts wegzunehmen gibt. Das allvollendete Gewahrsein, dass alles schon in natürlicher Vollendung ist, in genau dieser Natur des Seins, die gerade beschrieben wurde. Und daraus ergibt sich ein spontanes Wirken zum Wohle aller die noch nicht in dieses freie, vollkommen gelöste Erleben eingetreten sind. Diese fünf Facetten des erwachten Erlebens gehören immer zusammen. Es ist nicht so, dass man isoliert am Auflösen der Begierde arbeiten könnte und dann quasi als Mitglied der Padma-Familie zum Gewahrsein der allunterscheidenden Weisheit erwacht und das eine verwirklicht hätte und das andere nicht, das gibt es nicht. Alle Buddhas haben alle Aspekte verwirklicht, alle Facetten unseres Seins. Aber es gibt im Laufe unserer Praxis Phasen, in denen unser Augenmerk mehr auf dem einen oder dem anderen Aspekt liegt und wo wir in unserer Praxis stärker mit einem dieser Bilder arbeiten als mit anderen Bildern, weil diese Emotion bei uns vielleicht gerade besonders stark aktiviert ist. Ich dachte lange Zeit, ich wäre ein Stolztyp. Das kann man ja auch leicht sehen. Dann musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass ich die anderen vier Emotionen in gleicher Stärke auch in meinem Geistesstrom habe. Und so kreise ich in meiner Praxis durch die fünf Emotionen und bekomme mit der Zeit auch die fünf Facetten des erwachten Gewahrseins mit und habe es mir völlig abgeschminkt, mich irgendeiner Buddhafamilie zuzuordnen. So geht es eigentlich allen Praktizierenden. Wenn wir eins meinen erkannt zu haben, die Emotion ist dominant in mir, wartet schon die nächste aufs Entdecktwerden. Weil wenn ich mir zugebe, was für ein Stolztyp ich bin, kann ich endlich sehen, was für ein Ärgertyp ich bin. Wenn ich endlich zugegeben habe, was für ein Ärgertyp ich bin, kann ich sehen, was für ein Begierdetyp ich bin und was für ein Angsthase und wie eifersüchtig und so weiter. Eine Entdeckung wartet und bereitet schon die nächste vor,

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einfach weil wir das schon so einigermaßen integriert und abgehakt haben und dann kommt schon das Nächste. Dann kommen die subtileren Aspekte von diesen Schleiern zum Vorschein und so vollzieht sich der Weg des Erwachens eigentlich mit einem Durchdringen dieser verschiedenen Schleier, das Annehmen und Auflösen davon und dann gibt es wieder neue Herausforderungen, wird wieder an eines dieser Muster gerührt und so geht der Weg einfach weiter. Teilnehmerin: Diese fünf Farben tauchen ja auch bei dieser Meditation auf, bei der wir den Buddha visualisiert haben. Ist das alles das Gleiche? Genau, alles ein Topf. Teilnehmerin: Wenn ich das richtig verstanden habe, gibt es einmal die Art und Weise sich das mit den Farben vorzustellen und dann wie wir es heute Morgen gemacht haben ohne Farben. Wäre das dann einfach die Qualität des Elements? Genau, das ist einfach direkt die Geistesqualität, ohne noch Farbe hinzunehmen. Und das dann aber auch natürlich die Grenzen des Bewusstseins ausfüllt. Genau, dieses Wahrnehmen dieser Qualitäten des Elements ist auch das ganze Bewusstsein das wir in diesem Moment haben, wir sammeln uns ganz im Wahrnehmen dieser Qualität. Bis es dann in der Abfolge dieser Elemente gar nichts mehr wahrzunehmen gibt. Bei raumgleichen Gewahrsein gibt es eigentlich gar nichts mehr wahrzunehmen. Zu Anfang ist da noch so ein Benennen oder Fühlen von Raum und indem wir uns ganz und gar darauf einlassen, findet auch kein Benennen und Wahrnehmen eines getrennten Raumes mehr statt. Das ist dann das eigentliche Eintreten in das, was man die große Leerheit nennt. Teilnehmerin: Wenn man in einer Yidam-Praxis sitzt, da ist ja dann am Ende auch dieses Auflösen des Mandalas. Ist das so was ähnliches wie das was du jetzt beschrieben hast, mit dem Auflösen der Elemente? Hat Ähnlichkeiten und es geht in jeder Praxis darum, in dieses fünffache zeitlose Gewahrsein einzutreten. Ich würde euch das noch gerne mal vorlesen, in dem kleinen Milarepa Guruyoga wird gerade davon gesprochen, dass Milarepa im Strahlenglanz des fünffachen zeitlosen Gewahrseins erscheint. Es geht immer darum, in dieses Gewahrsein hinein loszulassen. Ich hoffe, ihr konntet relativ sanft folgen ohne euch in irgendeinen Stress zu versetzen, ihr müsstet das alles behalten. Es ist für mich einfach eine wunderschöne Art, aus einem anderen Blickwinkel über die Natur des Geistes gesprochen zu haben. Verschiedene Worte öffnen ja verschiedene Zugänge und nur darum geht es. Ihr braucht nur einen Zugang, das reicht. ... stille Meditation … ***

Tonglenpraxis Tonglen – Herzatmen Die Frage, die mir hier hingelegt wurde und für die ich mich auch noch bedanke, betrifft die Praxis von Tonglen, die Praxis des Herzatmens. Annehmen, geben, annehmen, geben – diese Herzatmenpraxis war auch in vielen Einzelbegegnungen in den letzten Tagen schon Thema. Sie ist die zentrale Praxis, um Mitgefühl freizusetzen und damit den Weg zu ebnen, aus Mitgefühl heraus den Weg des Erwachens zu gehen. Sonst macht der Wunsch, zum Wohle aller Lebewesen Buddhaschaft zu erlangen, überhaupt keinen Sinn, wenn wir es nicht spüren, dass wir das wirklich wollen - das andere tatsächlich auch Hilfe brauchen und dass wir uns freuen, ihnen diese Hilfe geben zu können. Dieser Wunsch ist ja ein freudiger Wunsch, wirklich etwas tun zu wollen für das Wohl aller hier auf dem Planeten. Einer von euch sagte heute im Gespräch: „Das Menschengeschlecht ist ja so was wie ein Krebsgeschwür auf diesem Planeten.“ Das ist völlig richtig. Wir sind das größte Übel auf diesem Planeten. Warum? Weil wir eben nicht im Mitgefühl sind, weil wir nicht wirklich mitschwingen mit unserer Umwelt und Umgebung. Ich sag jetzt Wir im Sinne des großen Wir. Ich weiß, dass ihr hier anders tickt und dass es auch nicht unsere persönliche Verantwortung ist, dass es auf dem Planeten so läuft. Wir hätten es gerne anders, aber wir sind auch angefressen in diesem Denken von persönlichen Profit und persönlichem Nutzen. Das kennen wir auch und wir tragen auch unseren Teil dazu bei und schaffen es auch nicht, vollständig daraus auszusteigen.

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Mitgefühl ist der Weg, mit allen in Schwingung zu kommen. Das ist die Essenz. Mitgefühl ist nicht nur mit Menschen und auch nicht nur mit Tieren. Wir können auch mit Bäumen und Pflanzen in Schwingung kommen, mit allem, was uns umgibt. Und die Methode ist eine ganz einfache – atmen. Beim Einatmen uns öffnen für das, was uns umgibt, was da ist, und mit dem Ausatmen alles von innen her in die Umgebung fließen lassen, also teilen. Nichts zurückhalten, alles mit der Welt teilen. Wenn wir das mit einem anderen Menschen machen würden, dann würden wir uns vorstellen, vor uns sitzt eine konkrete Person und wenn ich einatme, öffne ich mich ganz und gar für die Präsenz der anderen Person, mit allem was sie darstellt, mit ihrem Leid und mit ihrer Freude. Beim Ausatmen lasse ich alles unzensiert strömen, Leid und Freud. Ich teile mich mit, ich halte nichts zurück, ich schütze mich nicht mehr. Die Praxis ist als Methode ein bisschen limitiert worden auf das Einatmen von Leid, also mitfühlend einatmen, und das geben von Liebe und Unterstützung. Aber die Erfahrung zeigt, dass es auch ganz wichtig ist, sich für die Qualitäten im anderen zu öffnen und auch damit mitzuschwingen, also für Freude im anderen, für all das Heilsame. Beim Geben ist es auch wichtig, nicht zurückzuhalten, sich nicht zu verstecken, dass wir ja auch Leiden und Schwierigkeiten erleben. Was vermieden werden sollte war vor allen Dingen, dass wir uns nicht an den Qualitäten der anderen bedienen, als wie saugend einatmen und unser Leid abatmen wollen, damit der andere die Schwierigkeiten hat. Genau das sollte vermieden werden. Ich glaube nicht, dass dieses Missverständnis wirklich so gefährlich wäre. Deswegen unterrichte ich oft dieses Annehmen und Teilen, als ein Annehmen und Teilen, das alle Aspekte der vorgestellten Person und alle Aspekte von mir miteinbezieht. Wobei es klar ist, dass es letzten Endes darum geht, mich für das zu öffnen im anderen, was ich normalerweise ablehne und das zu geben, was ich normalerweise zurückhalte. Also mitfühlendes Einatmen und liebevolles Ausatmen. Ich gebe das Beste von mir, ich öffne mich für das, was sonst so schwierig ist, von dem ich sonst davonlaufe. Ich bleibe da und öffne mich dem. Bevor ich euch jetzt noch mehr anleite, wie das mit einer anderen Person geht, möchte ich über die Notwendigkeit sprechen, das mit sich selbst zu machen. Die Praxis des Austauschens, speziell des Annehmens der schwierigen Seiten, beginnt mit uns selbst. Slogan 10 oder so in den Merksätzen des Lojong Geistestrainings. Der Merkspruch: Das Annehmen beginnt mit sich selbst. Das wird immer wichtiger. Wenn wir uns selbst ganz und gar annehmen würden, hätten wir gar keine Mühe mit dem Mitgefühl anderen gegenüber. Wenn wir Mühe haben, andere anzunehmen, dann ist das der Spiegel dafür, dass wir Mühe haben, uns selbst anzunehmen. Eine sehr bekannte Weisheit und Einsicht, die inzwischen zum Glück schon weit bekannt ist. Aber lasst sie uns auch umsetzen. In den Unterweisungen der Gelugpa-Linie, wo ich das ausgegraben habe, gab es in der tibetischen Tradition ein Tonglen mit sich selbst , also ein Geben und Nehmen mit sich selbst, wo man sich selbst in zweiter Form vor sich vorstellt. Das Tonglen mit sich selbst in der Kagyü-Linie arbeitet mit der Vorstellung mit mir selbst im Inneren. Aber viele erleben das als unglaublich hilfreich, sich den schmerzenden, den leidenden Teilaspekt von sich selbst mal vor sich vorzustellen. Habt ihr auch so einen Anteil in euch – wie alt auch immer dieser Anteil sein mag - das kann auch das kleine Kind sein, was nicht das bekommen hat, was es brauchte, oder das kann der verwundete, verletzte Anteil von vorgestern sein, der sich zurückgesetzt fühlte und immer noch im Bewusstsein nachschwingt und Mühe hat, wieder in die Spur zu kommen. Also im Grunde genommen, angefangen von so wie wir jetzt sind bis hin zum Embryonalalter könnten wir uns in jeder Altersstufe vorstellen , dass z.B. ein zweiter Tilmann vor mir sitzt und ihr könnt das mit eurem Namen ergänzen, dass eine zweite Person euresgleichen vor euch sitzt und um die kümmern wir uns ganz liebevoll in der Vorstellung. ***

Meditation - Tonglen mit sich selbst Habt Ihr Lust das jetzt mal zu machen? Ihr dosiert selber. Ich möchte nicht, dass ihr überschwemmt werdet von Gefühlen, die ihr für diese Gruppe nicht für angemessen haltet. Aber ich sehe auch keine Gefahr darin, wenn es dann so ist, dass euch etwas intensiv berührt. Am liebsten würde ich mit euch in die Zeit eurer Biographie gehen, wo ihr die größten Verletzungen erlitten habt, da, wo es euch wirklich nicht gut ging. Aber ihr dosiert selber. Ihr könnt auch einfach mal den letzten Streit nehmen, in dem ihr euch nicht wohlgefühlt habt oder einfach die Person, die ihr im letzten Streit gewesen seid oder das letzte Mal, als ihr kritisiert wurdet. Oder das letzte Mal, als ihr ganz bedürftig ward und nicht das gekommen habt, was ihr brauchtet.

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Also versucht jetzt einmal, das einigermaßen festzulegen, in welchem Alter, mit welcher Vorstellung von euch selbst ihr arbeitet möchtet. Das kann auch eine ganz friedliche Vorstellung sein. Es kann auch sein, das ihr euch selbst als Baby in der Wiege seht und einfach diesem Baby, das ihr mal ward und dessen Erfahrung ihr ja kennt, eure ganze Liebe und euer ganzes Mitgefühl schenkt. Es kann ganz also auch eine ganz friedliche Vorstellung sein. Und dann stabilisieren wir diese Vorstellung von uns selbst in dem entsprechenden Alter. ... Und stellen uns vor, wir kommen in die Präsenz dieser Person von uns selbst. Setzen uns in der Nähe nieder, mit dem Herzen zugewandt. ... Und beginnen bewusst zu atmen, von Herzen aus.... Wir spüren die Präsenz von uns selbst in dem entsprechenden Alter ... Und wir stellen, nachdem wir uns ein wenig eingeschwungen haben, die Frage: „Wie geht es dir eigentlich?“... Und wir fahren unsere Herzensantennen aus und spüren hinein, wie sich unser Gegenüber in der Tiefe fühlt. ... Die turbulenten Gefühle, die Mischung von Gemütszuständen ... Mit jedem Einatmen öffnen wir uns ganz zu fühlen und ganz zu spüren, wie es unserem Gegenüber geht... Und mit dem Ausatmen lassen wir behutsame Unterstützung fließen... Wir können uns das wieder mit Licht vorstellen, dass beim Einatmen Licht vom Gegenüber kommt, mit dem all diese Gefühle kommuniziert werden, diese schwierigen, belastenden Gefühle, aber auch die freudigen... Wir antworten mit Licht aus unserem Herzen, indem unser Verstehen, unsere Zuwendung und unsere Liebe zum Ausdruck kommen... „Wie geht es dir wirklich?“ fragen wir erneut und „Was brauchst du?“... Was wir da innerlich spüren und hören, darauf lassen wir unsere Antwort fließen. Wir beantworten die Bedürfnisse, einfach nur durch Licht, durch warme Gedanken... Wir stellen uns vor, wie das allmählich beim Gegenüber ankommt, wie es aufgenommen werden kann und wie in unserem Dialog noch weitere Schichten angesprochen werden und zum Vorschein kommen. Weitere Aspekte von Freude und Leid, die in dem Moment erfahren werden... Auch darauf antworten wir altersgemäß mit der ganzen Weisheit und Liebe unseres Herzens... Wir visualisieren, wir stellen uns vor, wie die Unterstützung ankommt, aufgenommen wird... Die Szene entwickelt sich, wir erlauben Veränderung im Gesichtsausdruck unseres Gegenübers, in der Haltung – beobachten, wie sich da etwas zu bewegen beginnt. Und wir begleiten diesen Prozess durch unser wohlwollendes, mitfühlendes Atmen. .....Wir schenken der Person vor uns, diesem bedürftigen Teil von uns selbst, all die Unterstützung und Liebe, die sie eigentlich gebraucht hätte... Und bemerken, wie sich das innerlich entspannt... Falls wir mit uns selbst als kleinem Kind atmen, geschieht es oft, dass das Kind wächst und mit neuem Selbstvertrauen die Welt erkundet... Wir bleiben einfach präsent als wohlwollender Zeuge und atmen weiter und geben unsere Unterstützung... Und wir spüren vielleicht, wie die emotionale Last abfällt und sich Befreiung ausbreitet... Vielleicht sogar ein Lachen im Gegenüber, eine neue Sicht der Welt... Immer vorausgesetzt, dass wir die entsprechenden Antworten auf diese Bedürfnisse geben... Irgendwann spüren wir, dass sich der Prozess abrundet und dann können wir den Teil oder Aspekt vor uns, den wir uns vorgestellt haben, einfach in Licht auflösen lassen oder in uns selbst verschmelzen lassen, was auch immer uns richtig erscheint... Glocke ***

Fragen zur Tonglenpraxis mit sich selbst

In der klassischen Tonglenpraxis, wo wir das mit jemanden anders gegenüber machen, ist es auch so, dass wir das mit Licht machen und wenn ein Bedürfnis beantwortet wird, dann ist es nicht, dass wir den anderen in die Arme nehmen oder etwas tun mit der Vorstellung des anderen, sondern wir lassen aus dem Licht heraus die Situation so entstehen, dass sich um die Bedürfnisse des anderen gekümmert wird. So wie wir auch in den Opferungen an die Buddhas Dakinis ausschicken, die die Opferung darbringen, so würden wir dann auch jemanden visualisieren, der diese Person in die Arme nimmt, oder sich kümmert. Das machen wir auch mit uns selber so, das ist wichtig, weil wir uns sonst aufgrund erneuter Identifikation wieder mit dem Film verwickeln. Es ist wichtig, dass wir einfach in der ruhigen Meditation bleiben und all das, was da nötig ist, das entsteht in der Vorstellung. Wir sind nicht als ein Ich involviert, da in der Situation etwas zu machen. Wir lassen das geschehen. Wir stellen uns vor, dass, wenn es jemand braucht, da jemand ist, der sich kümmert. Es bewahrt uns davor, erneut in einem identifizierenden Mitgefühl aktiv zu werden und die Ebenen zu vermischen.

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Teilnehmer: Habe ich das richtig verstanden, dass ich mir selbst nur Licht gebe. Damals als Kind habe ich vielleicht zu wenig Liebe bekommen. Dann stelle ich mir nicht vor, ich gebe mir jetzt Liebe, sondern meine Eltern. Die Liebe aus deinem Herzen schafft dann eine Situation. Das kann sein, dass es deine leiblichen Eltern sind, es kann aber auch sein, dass es einfach eine ideale Figur ist, die aus dem Strom deiner Liebe entsteht und den kleinen Jungen in die Arme nimmt, spazieren führt oder was auch immer. Aber nicht ich mir selbst. Nicht du selber. Das ist hier ein bisschen anders, als wenn wir die klassische Praxis der inneren Kindarbeit durchführen. Dann stellen wir uns vor, dass wir das selber tun. Hier im Tonglen ist das anders. Teilnehmer: Also aus dem jetzigen Alter? Ja, du bist im jetzigen Alter. Du bist der weise Pilot. Man kann auch eine Praxis vorausgehen lassen, wo man einen Buddha in sich verschmilzt und dann aus dem Buddhaherzen diese Tonglenpraxis macht. Und wenn wir das Gefühl haben, dass wir mit uns selbst im Reinen sind, dann brauchen wir auch nicht das Tonglen mit uns selbst so stark praktizieren. Das kann aber eine ganze Weile gehen, bis wir das Gefühl haben, wir sind mit uns selbst im Reinen. Also wenn wir mit uns selbst praktizieren, kann das Wochen oder Monate gehen, bis wir das Gefühl haben, dass es soweit ist. Dann kommt ganz von selbst das Bedürfnis mit anderen zu arbeiten. Das kann höchst intensiv sein. Eine kleine fünf- oder zehnminütige Sitzung in der Vorstellung mit jemanden anderem, der für uns eine Herausforderung ist. Das kann innerlich unglaublich unsere Vorstellung verändern und wenn wir dieser Person dann auch noch begegnen im Alltag, dann merken wir, dass diese Einstellungsänderung sich in der Interaktion mit der anderen Person zeigt. Es ist etwas ganz Wunderbares. Wir können Tonglen auch mit Verstorbenen praktizieren. Auch wenn unsere Eltern oder Großeltern schon gestorben sind, können wir das praktizieren. Teilnehmerin: Also wenn ich das in Bezug auf andere mache, dann visualisiere ich nicht den anderen. Wenn ich zum Beispiel ärgerlich werde, weil irgendjemand etwas gemacht hat, dann kläre ich das erstmal mit dem anderen, also weil das auch zu dem anderen gehört. Aber dann praktiziere ich das mit dem Anteil von mir, der darauf reagiert.hat. Das schaust du selber. Das klassische Tonglen wäre direkt mit dem anderen zu praktizieren. Den anderen zu verstehen in seinen Gefühlen, in seinen Ängsten und Bedürfnissen und zu schauen, was da in der Tiefe los ist. Diese inneren Antennen auszufahren und mit Liebe und Mitgefühl darauf zu antworten. Aber wenn du merkst, dass es eigentlich eigene Anteile sind, dann kannst du dich tatsächlich den eigenen Anteilen zuwenden, wenn du diese feine Wahrnehmung hast. Das ist ja schön. Das ist diese neue Ebene, die jetzt stärker wird. Ich kann mich noch an die ersten Anfänge des Tonglen-Unterrichts von den tibetische Lehrern erinnern, was ich davon mitbekommen habe, da war das noch ganz schwarz einatmen, weiß ausatmen. So dieses klassische. Dann fingen die immer mehr an, auch das Tonglen mit sich selbst zu betonen. Es ist klar, dass wir im Westen nicht so gerne dieses Schwarz-Weiß-Denken haben, sondern viel nuancierter gerne das wahrnehmen, für was wir uns eigentlich öffnen. Inzwischen unterrichten viele buddhistische Lehrer ausführlich das Tonglen mit sich selbst, als Vorstufe für das Tonglen mit anderen. Dann gehen wir alle unsere wichtigen Beziehungen durch, alle werden immer wieder in das Tonglen hineingeholt. Die Tonglenpraxis geht so weiter, dass jeder Atemzug ein sich öffnen wird, für das was ist, was uns umgibt und ein völliges Strömenlassen von all unseren Herzensqualitäten in unserem Umfeld. So gab es Tonglen-Lehrer – auch biographisch gibt es Sätze von Lodjong-Meistern, die diese Praxis geübt haben – bei denen jeder ihrer Atemzüge bis ans Lebensende zur Tonglenpraxis wurde. Dass sie ständig in dieser Herzensqualität von Mitgefühl und Weisheit verbunden waren als ihre Hauptpraxis. Da braucht es dann keine Yidampraxis oder sonstiges mehr. Und das die ganze Zeit üben, das ist dann natürlich sehr, sehr kraftvoll. Das nennt man dann relatives Bodhicitta. Teilnehmer: Ich habe das so erfahren, wenn das Gegenüber eine sehr starke Kraft ist, dass ich mir dann helfen lasse, indem ich starke Verbindungen neben mich setze. Ja, du kannst starke Verbindungen neben dich setzen. Das kenne ich jetzt nicht aus der buddhistischen Lehre, aber das wäre so was Typisches, das man auch in der Psychotherapie machen würde. Was wir in der

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buddhistischen Lehre machen, um das aushalten zu können, ist, dass wir zunächst einen kleinen Guru-Yoga machen und den Buddha einladen. Den Buddha in unser Herz verschmelzen lassen und mit der Präsenz des Buddhas im Herzens dann diese Kraft haben, um mit dem umzugehen, zum Beispiel beim Thema Gewalt. Es geht auch nicht darum, sich traumatisierenden Einflüssen zu öffnen. Es geht nicht darum, sich der Gewalt zu öffnen, sondern es geht darum, in dem Gewalttäter seine Ängste und seine Bedürftigkeiten aufzuspüren und hinter die Gewalt zu schauen, was da in der Tiefe los ist. Teilnehmerin: Wenn ich mich dann in diesem Reagieren, wenn ich diesen Anteil dann angenommen habe, dann hat sich auch meine Haltung zu dem anderen verändert. Das hat sich dann ganz enorm verändert. Es kann im Grunde einen ähnlichen Output haben , wenn ich das Tonglen mit dem Anderen mache. Eine ähnliche Wirkung auf die Beziehung, ja natürlich. Schau einfach, was gut tut. Vielleicht zunächst erst die eigene Arbeit mit dem eigenen Anteil, dann die Arbeit mit dem anderen. Da kannst du noch einmal ein Stück tiefer gehen, weil dann bist du mit der anderen Person, - die andere Person hat ja auch etwas erlebt in der Situation. Dafür die Antennen auszufahren ist viel leichter, wenn wir uns schon mit unseren eigenen sperrigen Anteilen angefreundet haben. Teilnehmer: Ich hatte jetzt eine Kindheitssituation zu meinen Eltern, das war sehr berührend und das hat sich dann zum Ende nochmal gewandelt, die Liebe zu meinen Eltern ist nochmal so richtig stark gekommen. Also auch zu anderen Personen, nicht nur zu mir. Ja, das ist ganz wunderbar. Wenn das eine bearbeitet wurde, setzt das Energien für das nächste frei. Das ist so ein bisschen kaskadenhafter Prozess, von einer Lösung in die nächste Herausforderung, dort wieder in die Lösung. Teilnehmerin: Ich möchte noch etwas zu vorhin antworten und zwar war ich in diesem Jahr zu einem Kurs über Selbstmitgefühl. Da gibt es mittlerweile ja auch einiges. Da sagt man gerade für solche schwierigen zwischenmenschlichen Situationen, erst Mitgefühl für sich selber und dann für den anderen. Dann wird das Bild vom Flugzeug genommen, wo man für sich und ein Kind zu sorgen hat, wenn es einen Sauerstoffmangel gibt. Die Regel ist immer sich selbst zuerst die Maske aufzusetzen und dann dem anderen. Ich habe das in letzter Zeit immer mal probiert. Es führt jetzt keinesfalls dazu, dass ich irgendwo handlungsunfähig werde. Das macht absolut Sinn. Teilnehmer: Ich konnte das jetzt nicht so klar trennen. Einerseits habe ich mich als kleines Kind gesehen und die bedürftige Mutter, die das Kind eigentlich nicht versorgen kann. Aber ich habe auch gleichzeitig meine Mutter gesehen, die ihr eigenes Leid hat. Du hast jetzt die Szene etwas zu groß werden lassen. Es wäre dann sinnvoll, sich nacheinander den verschiedenen Aspekten zuzuwenden: Die damalige Mutter braucht etwas, vielleicht auch die heutige Mutter. Der damalige Junge braucht etwas, was die damalige Mutter nicht erfüllen konnte. Darum kümmerst du dich. Da kannst du schauen, wie du das ein bisschen limitierst, damit die Arbeit dann auch kraftvoll wird. Wenn wir zu viele Elemente hineinnehmen, werden wir verwirrt und wissen nicht so recht, um was wir uns jetzt als Erstes kümmern müssen. Eigentlich braucht jeder in der Situation Beteiligte in dem jeweiligen Alter eine Form von Verständnis und Zuwendung. Teilnehmer: Das Bedürfnis, das z.B. bei meinem jüngeren Ich da ist, das kann auch dadurch gestillt werden, in dem ich mir vorstelle, dass andere Menschen anders handeln, als sie es getan haben. Ja, du kannst dir auch einfach Menschen erfinden, die das tun, was es gebraucht hätte, wenn die realen Menschen das einfach nicht tun konnten. Es geht nicht darum zu glauben, dass es wirklich so war. Es geht darum, dass wir erleben, was diese Art der Zuwendung in uns freisetzt. Diese Art der Unterstützung setzt in uns ein neues Erleben frei. Das ist das Prinzip der ganzen Tonglen-Praxis. Wir denken, wir praktizieren Mitgefühl mit der anderen Person, aber eigentlich ist die ganze Zeit die Arbeit, dass in uns ein neues Verstehen des Erlebens freigesetzt wird, was uns wieder die volle Beweglichkeit zurückgibt, die wir in der Situation verloren hatten. Und eine neue Sichtweise des anderen.

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Ob beim anderen wirklich etwas ankommt, ist ungewiss. Wenn wir die ganze Zeit Tonglen mit einer Person machen, dann denken wir vielleicht, wir hätten die gesund meditiert. Manchmal, wenn die Rezeptivität entsprechend da ist, hat man den Eindruck, da ist was angekommen und manchmal nicht, da war es Arbeit mit dem eigenen Geist. Es geht um dieses neue Erleben. Wir dürfen frei erfinden, was das angeht. Aber so, dass es sich in uns glaubwürdig anfühlt und tatsächlich zu diesem neuen Erleben führt. Teilnehmer: Wenn ich zum Beispiel. in einer Tonglensitzung mit meinem eigenen inneren Kind, mit mir selber als 1-jährigem Kind, den Austausch mache, da spüre ich ja, dass hinter der Bedürftigkeit des Kindes die bedürftigen und traumatisierten Eltern sind. Inwiefern ist es dann okay oder nicht okay, wenn ich in der Sitzung diesen systemischen Zusammenhängen nachgehe, wenn ich mich nicht verwirrt und überfordert fühle? Ja, genau, wenn du dich nicht verwirrt fühlst, wenn du noch innere Kraft hast das auszudehnen, dann kannst du dem auch noch nachgehen. Teilnehmerin: Wenn ich das kontinuierlich durchführe ausgehend von einer Urverletzung, soll ich dann chronologisch von oben nach unten oder von unten nach oben gehen. Da habe ich keine Regel. Ich würde jetzt spontan so sagen, das was auftaucht, mit dem arbeitest du. Wir sind gar nicht so chronologisch strukturiert. Das sieht manchmal so aus. Wenn du jetzt mit der Dreizehnjährigen gearbeitet hättest, das hätte vielleicht schon Auswirkungen auf die Fünfjährige gehabt und hat Auswirkungen auf die Jetzige. Es kommuniziert alles miteinander. So erlebe ich das. Teilnehmerin: Das war jetzt etwas Neues für mich. Ich kenne das auch mit dem schwarz-weiß Ein- bzw. Ausatmen. Habe ich dich richtig verstanden, dass ich beim Einatmen Licht meines Gegenüber einatme in der Präsenz des Mitgefühls, der Bereitschaft zu verstehen. Ja genau, in meinem Herzen ist die Bereitschaft zu verstehen. Und was ich verstehe, ist das Kuddelmuddel an Gefühlen, was da rüberkommt. Und ausatmend Licht in Form von Liebe, das ist eine Bereitschaft Unterstützung zu geben. Genau. Du hast es genau auf den Punkt gebracht. Mitgefühl, die Bereitschaft zu verstehen, Liebe als die Antwort des Unterstützens. Das öffnet total. Und wenn wir das dann noch beim miteinander Sprechen in der konkreten Situation wachhalten können – stelle dir das mal vor – wir sitzen da mit jemand in dieser Grundhaltung, wenn wir das wachhalten können, dann läuft die Kommunikation wirklich rund. Dann können wir natürlich noch die anderen Elemente hineinbringen, auch von uns Schwierigeres zu teilen, aber auch auf eine unterstützende Art die freudvollen Aspekte beim anderen zu öffnen und auch da mitzuschwingen. Teilnehmer: Mir sind jetzt noch die Konsequenzen aufgefallen, die ich daraus gezogen habe. Was mir früher passiert ist und meine Beziehung heute nach der Meditation zu dem Kind. Was habe ich z.B. dafür getan, das Kind mehr zu schützen? Da ist also auch ein weiteres Verstehen das sich da einstellt. Jetzt habt ihr einen ersten Eindruck von dieser Praxis bekommen und könnt das jetzt weiter üben. Über die anderen Phasen der Praxis gibt es recht viel Literatur, aber diese Arbeit mit sich selbst, die habe ich jetzt selber noch nie irgendwo ganz fein beschrieben gesehen. Schießen wir das jetzt noch mit ein paar Minuten Stille ab. ... stille Meditation … ***

Herausforderungen im Alltag vorbereiten Meditation - Herausforderungen vorbereiten Wenn wir zu denjenigen gehören, die auch zu Hause morgens meditieren, dann nehmen wir uns dort für das Ankommen auf dem Sitzkissen ebenso Zeit wie hier. Wir setzen uns hin und spüren erst mal. Wir spüren, wie

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sich Körper und Haltung anfühlen. Wir richten es uns nicht zu warm ein, denn sonst werden wir vielleicht wieder etwas schläfrig. Aber auch nicht zu kalt, sonst verspannen wir leicht ... Und wenn wir dann bereit sind, sagen wir innerlich so etwas wie: „Jetzt geht’s los“. Das bedeutet, von jetzt an für die Zeit, in der ich meditiere, hat alles andere keine weitere Bedeutung. Ich weiß innerlich wie lange das dauert – vielleicht 20 Minuten, eine halbe Stunde, vielleicht länger ... Jetzt wende ich mich der inneren Arbeit zu. Es ist so, als würde ich einen gewissen Schutz vor mir selbst aufbauen, vor der sehr schnell anlaufenden Beschäftigung mit dem, was der Tag bringt. Das Beste ist, wenn ich mir sagen kann „Für diese Beschäftigung mit dem Tag, den Projekten, die ich vorhabe, den zu erledigenden Sachen, gibt es nachher auch noch Zeit. Dafür werde ich später noch 10 Minuten oder länger Zeit haben, um mich darauf einzustellen. Aber jetzt geht es darum, eine tiefere Arbeit mit mir selbst zu machen“ ... Um diesen Entschluss zu stärken, können wir mehr oder weniger intensiv, den Geist durch diese vorbereitenden Gedanken fließen lassen, und uns daran erinnern, wie kostbar es ist, Mensch zu sein mit all den Fähigkeiten und Möglichkeiten, letzten Endes mit der Möglichkeit zu erwachen und frei zu werden ... Und dass diese kostbaren Bedingungen, die jetzt in unserem Leben zusammen kommen, keineswegs für immer dauern werden. Irgendwann wird dieses Leben vorbei sein – vielleicht schneller als wir es erahnen. Oder die äußeren und inneren Bedingungen ändern sich so, dass wir gar nicht mehr dazu kommen, uns so ruhig zum Meditieren / Kontemplieren hinzusetzen … Und dann kommt die ganz einfache Frage: Worum geht es mir jetzt? Was ist jetzt wichtig? Lasst sie uns nochmal im Herzen bewegen und schauen, was jetzt / heute die besonders wichtige Qualität ist, die wir leben möchten, die wir entfalten möchten. Worum geht es mir heute im Rahmen meines Weges des Erwachen - des Erwachens zu all den innewohnenden Herzensqualitäten? Und wir lassen ein Bild dieses Erwachens entstehen. Vielleicht ein männlicher oder weiblicher Buddha, ein Erwachter, eine Erwachte, oder ein Symbol, das diese Qualität heute für uns verkörpert. Wir lassen dieses Bild so frisch werden, so lebendig, dass es wirklich beginnt, in uns eine Beziehung zu diesen Qualitäten zu stimulieren und wir das Gefühl bekommen: „Ja genauso möchte ich sein.“ Und falls wir uns einen Buddha in Lichtgestalt oder in menschlicher Form vorstellen, können wir auch noch weiter gehen, und um Unterstützung und Segen bitten, diesen Weg jetzt – jetzt gerade - gehen zu können. Manchmal fragen die Buddhas verschmitzt zurück: „Und du willst wirklich diese Qualitäten leben? Weißt du, worauf du dich einlässt? Bist du bereit dazu, sie wirklich zu leben? Zu deinem eigenen Wohl und zum Wohle anderer?“ Wir verbinden uns noch tiefer, dass es nicht nur ein Wunsch bleibt, sondern ein Entschluss wird. Jetzt, heute Morgen und den ganzen Tag möchte ich in dieser Qualität leben. Sei es Liebe, Frische, natürlich fließendes Sein, was auch immer für uns der adäquate Ausdruck des Erwachens ist … Und dank dieses Entschlusses, dieser völligen Bereitschaft, es auch wirklich zu sein, beginnt die Inspiration noch viel stärker zu fließen. So als würde Licht von den Erwachten vor uns ausgehen und uns überall erreichen und unser ganzes Wesen durchdringen. Dieser Prozess geht weiter, während wir unseren Entschluss und unsere Wünsche ausdrücken. Dafür nutze ich jetzt das tibetische Zufluchtsgebet, das Entwickeln von Bodhicitta und das Gebet an den Guru. Das könnt ihr aber natürlich auch auf Deutsch machen oder eure eigenen Worte finden. Rezitation Zufluchtsgebete, Vier Unermessliche, Gebet an den Lama Wie eine Sonne strahlt das Symbol der erwachten Qualitäten vor oder über uns. Es beginnt immer mehr zu leuchten und uns, wie auch gleichzeitig alle anderen Lebewesen, zu füllen. Dann verschmilzt es schließlich mit uns, und wir werden ganz eins mit dem Erwachen und mit den erwachten Qualitäten… Versucht es einmal zu spüren und zuzulassen, wie es ist, ganz hemmungslos ins Erwachen einzutreten. Einfach zu sein, ohne irgendwelche Zweifel. Und genau dahinein entspannen wir uns, lassen die Anstrengung los und werden ganz natürlich. Es atmet von selbst, und ganz von selbst sind wir bewusst. Wir spüren den Körper, hören, sehen, riechen, schmecken, sind gewahr, fühlen, denken. Und das alles mit dieser erstaunlichen Freiheit, einfach zu Sein … In diesem einfachen Gewahrsein liegt etwas ganz Stabiles und Verlässliches. Es ist immer so. Aus sich heraus gewahr …

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Ununterbrochenes, kontinuierliches Erleben, ohne dass es irgendetwas zu tun gäbe. Ungehindertes Entstehen einer Erscheinung nach der anderen, einem Erleben nach dem anderen. Total lebendig … In diesem wachen, nicht greifenden Gewahrsein entstehen Erfahrungen, wandeln sich, lösen sich spurlos auf, und das Neue ist schon da. Unaufhörliche Bewegung. Manchmal ganz fein, manchmal intensiver, und dabei ist zugleich eine Qualität von Raum spürbar, von unendlicher Weite. - Ohne Mittelpunkt, ohne Grenzen, einfach so. Wir können alles fließen lassen, es gibt da gar nichts festzuhalten, diese grundlegenden Qualitäten sind sowieso immer da … Der Körper pulsiert, man kann fast sagen, auch der Geist pulsiert und vibriert. Ein geeintes Erleben. Im Leben gibt es keinen Stillstand … *** Und auch das Pausieren ist einfach nur ein Weiterfließen. Es ist gut, sich ein wenig zu dehnen und zu stecken - ich denke, das würdet ihr Zuhause genauso tun. Ihr erinnert euch, dass es beim Meditieren eigentlich darum geht, die Aktivität vorzubereiten, ins Handeln zu gehen. Lasst uns das innerlich jetzt einmal in der zweiten Phase unserer Meditation nachvollziehen. Nehmen wir uns eine herausfordernde Situation, die auf uns wartet. Ich weiß nicht, ob es heute hier im Retreat etwas wirklich Herausforderndes für euch gibt - wenn es jemanden oder etwas gibt, dann nehmt das, aber ihr könnt auch an etwas denken, das zuhause auf euch wartet. So, als würden wir uns zu Hause in einem zweiten Teil unserer Meditation / Kontemplation auf den beginnenden Tag einstellen. Wir erahnen ja oft schon, was an dem Tag die größte Herausforderung sein könnte. Ein Gespräch mit jemandem, das schief gehen könnte, oder ich muss etwas erledigen, wo ich innere Hürden zu überwinden habe, ich begebe mich in eine unbequeme Situation hinein, die ich nicht selbst so ganz gewählt habe, der ich mich aber stellen muss etc, so diese Art von Herausforderung. Oder ich bin vielleicht krank und habe körperliche Beschwerden und wende mich jetzt dieser Herausforderung zu. Was auch immer es sein mag. *** Zunächst einmal finden wir wieder hinein in dieses ganz gelöste, entspannte Sein .. Lassen den Bauch und das Becken ganz weit werden. So, im Sinne von Barlung, nehmen wir noch einmal richtig Platz im Sein … Und dann nehmen wir uns eine präzise Herausforderung, wo wir diese Qualitäten des Seins zur Anwendung bringen möchten. Welche Situation ist denn das wohl? … Und dann stellen wir uns vor, dass diese Situation beginnt. Und es geht dabei nicht darum, uns vorzustellen, was wir tun, sondern wie wir sind, welche innere Haltung wir in dieser Situation wachhalten möchten … Wie fühlt es sich an, zum Beispiel entspannt zu bleiben, offen und interessiert? … Was wird mir helfen, nicht ins automatische Reagieren zu fallen? … Wie würde es in dieser konkreten Situation aussehen, wenn ich mich einfach nicht identifizieren würde nicht ins Greifen fallen würde? Wenn ich mich weder verteidigen noch angreifen würde, sondern immer wieder Zugang finde, immer wieder hineinfinden in dieses doch so einfache Sein - mit einer gewissen Herzenswärme, in der ich mir und dem anderen den Raum gebe, einfach so zu sein - mit unseren Begrenzungen und wunden Stellen … Wie würde es sich anfühlen, wenn ich einfach bei mir bliebe, entspannt, bewusst, offen und mitschwingend mit der Situation um mich herum? Mitschwingend mit dem, was andere sagen, ausdrücken oder auch einfach nur als unausgedrückte Bedürfnisse manifestieren. Und ich stelle mir ganz fein und detailliert vor, wie es ist, dann wenn die Herausforderung stärker wird, wieder Zugang zu finden zu diesem liebevollen Gewahrsein. Worauf muss ich achten, damit nicht die

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automatischen, üblichen Reaktionen anspringen? So dass ich die mir so wichtige Qualität des Erwachens, tatsächlich auch in dieser Situation lebe … Ich kann mich auch jetzt beim Atmen - im Sinne der Tonglen-Meditation - darauf einlassen, zu spüren, welche Bedürfnisse und welche Ängste bei mir und evtl. beim anderen in dieser Situation aktiv sind. Einatmend öffne ich mich dafür, das alles zu spüren. Und ausatmend lasse ich die entsprechende Antwort, die Unterstützung für mich und für alle anderen fließen. Ich bin bereit zu spüren und bereit zu unterstützen, offen einatmend und offen ausatmend … Dann stellen wir uns vor, dass wir genau das in dieser Situation dann ebenfalls tun: Offen einatmen und offen ausatmen … Schließlich erinnern wir uns in dieser Situation daran, wie verlässlich der eigene Geist ist. Dass ein Erleben nach dem anderen kommt und sich mit Sicherheit immer wieder auflöst ins nächste Erleben. Und worauf es ankommt ist, wie wir damit umgehen und auf welche Weise wir diese Prozesse mitgestalten … Vielleicht brauchen wir einen Freund in dieser herausfordernden Situation, und der beste Freund oder die beste Freundin ist die Natur des eigenen Geistes. Dann schließen wir irgendwann diese vorbereitende Vorstellung ab. Vielleicht entsteht sogar ein wenig Freude in dem Gedanken daran, dieser herausfordernden Situation nun begegnen zu dürfen und ein paar Schritte zu machen, unsere Praxis nun tatsächlich auch im Alltag umzusetzen. Widmungsgebete Und nach diesen Widmungen verbleiben wir noch einen kurzen Moment in dem Gefühl, dass niemand irgendetwas praktiziert hat. Wir verweilen in diesem Moment der Offenheit, in dem wir noch einmal spüren, dass da gar niemand zu finden ist. Danke.

Innere Ausrichtung durch Gebete Diese Gebete, die wir zu Anfang und zum Schluss der Meditation singen sind für unseren Organismus unglaublich hilfreich. Wenn wir tatsächlich immer wieder dieselben Gebete benutzen, einfach etwas singen, was das ausdrückt, ist das ein klares Signal an unser inneres Sein: „Jetzt beginnt es“ und „Jetzt hört es auf“. Das ist die Kraft eines Rituals, das den Rahmen gibt und unser Organismus gewöhnt sich an diesen Rahmen. Ich singe schon seit Jahrzehnten dieses Zufluchtsgebet „Sangye tschö-dang“ (Bis zur Erleuchtung nehme ich Zuflucht zum Buddha, zum Dharma und zur höchsten Gemeinschaft). Ich kann es auch auf Deutsch. Kaum beginnt das, geht mein ganzer Organismus in einen anderen Modus. Und genau so auch mit den Abschlussgebeten. Der ganze Organismus hat sich daran gewöhnt. Und das ist das Hilfreiche an einem Ritual. Wenn es noch mit Inhalt gefüllt ist – das ist immer das Wichtige – braucht es weniger Anstrengung, in einen bestimmten Modus des Erlebens zu kommen. Und wir können es dann auch anderweitig einsetzen, wir können im Alltag mitten im Tag einfach mal dieses Gebet, Mantra oder was auch immer wir netzen, einsetzen und merken, was für eine starke Hilfe das ist, die Einstellung zu ändern. Ihr habt bei der Arbeit mit der konkreten Herausforderung gemerkt, dass es – wie ich es ja auch betont habe nicht um das WAS geht. Normalerweise stellen wir uns vor: „Wenn der oder die jenes sagt, was antworte ich dann“. Wir sind dann schon in der Story, aber die Story läuft dann ganz oft doch anders. Was wirklich hilfreich ist, ist uns ständig an die eigene innere Haltung zu erinnern. Das ist der Hinweis aus der tibetischen Tradition, wie auch aus dem Theravada. Tibeter würden das vereinfacht so sagen: „Was auch immer kommt, bleibe im Bodhicitta“. Und im Theravada würde man sagen: „Was auch immer kommt, bleibe in den vier Unermesslichen: Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut“. Das ist im Grunde dieselbe Aussage: „Denk immer daran, was wirklich dein Herzensanliegen ist und bleibe damit verbunden.“ Und damit verbunden zu bleiben und es nicht zu vergessen, das ist die Hauptherausforderung. Dieses „Sich erinnern an das Wesentliche“ ist die Bedeutung von sati auf Pali, drenpa auf Tibetisch, und wird hier immer mit Achtsamkeit / mindfulness übersetzt. Gemeint ist, sich immer an das Wesentliche erinnern können, und in Buddhas Lehre ist das Allerwesentlichste die Geisteshaltung und die Motivation, mit der wir unterwegs sind. Nicht, ob wir die Atemzüge zählen können oder ob wir den Körper spüren. Das alles ist auch gut, aber das Wesentliche ist, immer mit unserer Herzensmotivation, der Sicht des Herzens, dieser Herzensschau verbunden zu bleiben. Da gilt es, dieses Sich-Erinnern zu üben. Die Vorarbeit die wir machen, wenn wir uns auf eine uns im Alltag begegnende Herausforderung einstellen, ist, uns vorzustellen, wie wir uns in der herausfordernden Situation an dieses Herzensanliegen erinnern.

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Welche Brücken können wir immer wieder gehen, um in diese Bewusstheit des Herzens zu finden. Ich nenne das „liebevolles Gewahrsein“, weil es die Kräfte des Herzens und der Weisheit miteinander verbindet. Die eigentliche Achtsamkeit bedeutet, am Wesentlichen zu bleiben und dort unabgelenkt zu bleiben. Dann sind wir keineswegs verantwortlich für die Situationen, wie sie sich dann entwickeln. Wir sind verantwortlich für unsere Art, WIE wir in der Situation sind. Nur dafür können wir Verantwortung übernehmen. Wir können niemanden glücklich machen, wir haben es nicht in der Hand, wie sich Situationen entwickeln, wir haben nur unseren Beitrag zu dieser Situation in der Hand. Insofern wir uns tatsächlich erinnern können und immer wieder zurück finden in das Eigentliche, was uns am Herzen liegt. Dafür können wir Verantwortung übernehmen. Ob unsere Umgebung glücklich ist oder nicht, hängt noch von sehr vielen anderen Faktoren ab. Aber wir können mitgestalten und dieses Gestalten – was wir denken, was wir sagen - ist immer Ausdruck unserer tiefergehenden Geisteshaltung. Deshalb kommt es darauf an, wenn wir uns auf Herausforderungen vorbereiten. Die Herausforderungen sind ja wir selber und im Grunde genommen nicht die anderen. Sondern das, was andere in uns auslösen und was in unseren Gewohnheitsmustern, unseren reaktiven emotionalen Mustern anspringt. Worum es eigentlich geht ist die Herausforderung, dass wir im Anspringen dieser Muster, wenn sie getriggert werden, eine ausreichende Bewusstheit behalten, um wieder in diese hilfreiche Geisteshaltung zurück zu finden. Das ist die große Kunst der Achtsamkeit: Im Eigentlichen zu bleiben. ***

Umgang mit Herausforderungen im Alltag Habt ihr Fragen zu der zweiteiligen Meditation von heute Morgen? Ist das klar geworden mit der Vorbereitung auf Herausforderungen im Alltag? Teilnehmerin: Es ist gigantisch! Gigantisch, das ist toll, ich hör da was Gutes raus. Das ist ja eine ganz feine Arbeit, und worum es geht ist ja diese berühmte Integration, Integration von Meditation in den Alltag. Von Integration kann man ja sowieso nur sprechen, wenn es erst mal schon mal eine Meditation hat. Es braucht erst mal wirklich eine Verankerung im Heilsamen, in dem, was uns gut tut. Und dann können wir das hineinholen in die Begegnung mit den Herausforderungen. Also erst mal braucht es die Voraussetzung: Damit überhaupt irgendwas integriert werden kann, müssen wir tatsächlich mit unserer Meditation in eine gewisse Tiefe kommen, in eine Feinfühligkeit, eine heilsame Sicht von dem was wir erleben. Und dann gehen wir genauso feinfühlig in die Vorbereitung, das ist erst der Beginn der Integration, dann geht es darum, in der Herausforderung uns zu erinnern. Und da findet dann die echte Integration statt. Teilnehmerin: Ich hatte jetzt ein Problem, und zwar ist mir während der Meditation klar geworden, dass ich meine herausfordernde Situation ganz leicht umgehen kann. Du kannst sie umgehen? Glück gehabt! Dann nimm eine, die du nicht umgehen kannst. Wenn man sie umgehen kann, dann können wir sagen: „Ich gehe auf sie zu weil ich die Herausforderung liebe und annehme“, oder wir umgehen sie und sagen: „Okay, dem brauche ich mich jetzt gar nicht zu stellen, es ist gar nicht nötig, es gibt genug anderes Herausforderndes im Leben.“ So manche Herausforderungen brauchen Mut, vor allem, wenn wir sie vermeiden könnten. Es braucht Mut uns dem dann trotzdem zu stellen. Teilnehmerin: Nein, eher im Gegenteil, jetzt ist es spielerisch. Jetzt kann ich. Super, dann wird es auch wirklich leicht. Es ist erstaunlich, wie leicht diese sogenannten Herausforderungen werden, wenn wir gut vorbereitet sind und dieses Spielerische beibehalten können. Plötzlich denken wir: „Was war da eigentlich los? Was hab ich mir denn da für einen Kopf gemacht? Wieso hab ich das denn so aufgebauscht als eine Riesen-Herausforderung?“ Und wenn wir mit dieser feinen, offenen Einstellung reingehen, plötzlich zeigt sich: Das ist eine super Begegnung oder tolle Erfahrung geworden. Ich komme da heraus und bin so dankbar, das zeigt sich von einer ganz anderen Seite, was wir vorher als so schwierig gehalten haben. Das ist nicht immer der Fall, aber tatsächlich mache ich diese Erfahrung selber sehr oft, dass etwas, das sehr schwierig aussah plötzlich von einem Elefanten zu einem Mäuschen schrumpft.

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Teilnehmer: Mich würde es freuen, wenn du noch ein paar Beispiele machen könntest, mit dem was sich schon hier und da bewährt hat, um sich in der Herausforderung auch wirklich daran zu erinnern, nicht in die alten Muster zu fallen. Gibt es da ein paar Hinweise? Vielleicht können wir danach gemeinsam suchen. Etwas, das sich bewährt hat und auch Jahrhunderte alte Tradition ist, ist dass wir die Schwellensituation bemerken und uns auf der Schwelle in die Situation hinein erinnern: „Und jetzt beginnt es!“, und uns da ganz schnell zurückverbinden mit dem Wesentlichen. Eine typische Schwellensituation wäre eine Klinke zu drücken und in ein Zimmer reinzugehen. Man sagt ja im Tibetischen „Mit dem Öffnen einer jeden Tür Zuflucht nehmen und sich sagen: Ich gehe in die Situation um den Raum des Erwachens für jeden öffnen.“ Also sich der Schwelle bewusst zu werden. Oder „Ich halte mit dem Auto vor dem Haus, in dem ich ein schwieriges Gespräch führen muss“, oder „Ich greife jetzt gleich zu meinem Telefon und wähle die Nummer um mit jemandem eine herausforderndes Gespräch zu führen.“ An der Schwelle schon mal einen Moment des Bewusstwerdens zu verankern und das Eigentliche wachzurufen. So wie Thich Nhat Hanhs alte Übung rät, es drei Mal klingeln zu lassen, bevor man abnimmt. Und sich während dieses dreimaligen Klingelns zu sammeln, sich bewusst zu machen, worum es geht und nicht direkt beim ersten Klingeln schon hineinzurutschen in die Situation. Sondern ruhig einen Moment warten und dann vorbereitet hineinzugehen. Das können wir die Schwellenachtsamkeit nennen. Nun gehen wir mal schrittweise vor. Die Vorbereitung war schon, bevor ich überhaupt in den Tag starte. Dann kommt als nächstes die Schwellensituation, wenn die Situation ganz nah rückt. Schließlich trete ich in die Situation ein. Worum geht es da? Das heißt, dass ich beim Hineintreten in die Situation im Grunde genommen in meinem Herzen oder auch in meinem Bauch bin, sprich, dass ich gut verankert bin. Es kann auch sein, dass es für uns darum geht, zu spüren, dass wir nicht allein in die Situation hinein gehen. Das ist auch ein klassischer Hinweis: Eine der Instruktionen des Guru Yoga ist, immer den Lama auf der rechten Schulter oder überm Kopf zu tragen. Dass wir in die Situation rein gehen und der Guru ist bei uns. Der kriegt alles mit, das heißt wir gehen in die Situation mit einem liebevollen Zeugen / einer liebevollen Zeugin hinein. Im Guru ist keine verurteilende Instanz. Der Guru ist totale Liebe und Weisheit. Wenn ich zum Beispiel etwas tue und denke, Gendün Rinpoche ist dabei, dann verändert das natürlich die Qualität meines Handelns. Jetzt müsstet ihr herausfinden, welche Form von vorgestellter Präsenz euer Handeln verändern kann. Diese Präsenz kann im Herzen sein, auf der Schulter, auf dem Kopf, hinter uns.. In der Psychotherapie nimmt man sich dafür zum Beispiel die Vorstellung von liebevollen, idealen Eltern, die hinter einem stehen und einen in der Situation unterstützen. Oder eine liebevolle Partnerin / einen liebevollen Partner, der mit einem durch die Situation durch geht. Im Dharma nehmen wir uns vorzugsweise Erwachte, die uns begleiten. Das ist aber dasselbe Prinzip. Vielleicht ist das Bedürfnis, sich nicht ganz alleine zu fühlen, und wie auch einen Zeugen einzuladen, dessen Gegenwart unser ganzes Potenzial stimuliert. Die Frage war aber, wie kann ich mich erinnern? Das muss jeder für sich selbst herausfinden. Teilnehmer: Oder vielleicht könnte man auch formulieren: Welche Anker kann ich setzen, dass ich dann in der Situation wieder darüber stolpere? Emotionale Muster bemerken Was mir immer hilft, mich zu erinnern, ist im Normalbetrieb läuft alles wunderbar, ich bin dann ohnehin verbunden, aber da wo meine Muster, speziell die defensiven, also aus Angst geborenen Muster, anspringen, da erlebe ich, dass irgendwas was der andere sagt oder tut, wie so einen heißen Strom in mir auslöst. Es ist kein Stich, da geht so ein schärferes Gefühl durch mein Nervensystem. Wisst ihr was ich meine? Und genau dieses Gefühl, wo eigentlich mein Muster anspringt, genau das nehme ich als Erinnerung: „Und jetzt aufgepasst! Jetzt geht’s drum, dass du gewahr bleibst.“ Genau wenn das anspringt. Weil vorher läuft sowieso alles im Rahmen und ist paletti. Aber wenn merke, da ist so eine kurze Angstreaktion in mir oder das Bedürfnis mich zu schützen springt an, dann nehme ich genau das als meinen Anker, um dann zu sagen: Jetzt geht die Praxis los, die bewusste Rückverbindung mit dem Eigentlichen. Aber ich weiß nicht, was ihr so brauchen könntet. Früher hab ich zum Beispiel einfach mit dem Atem gearbeitet. Das war mein stärkster Anker. Die ersten Fortschritte mit diesem Verbunden-bleiben hatte ich als junger Student, wo ich es dann endlich geschafft habe, in der Herausforderung mit meinem Vater, mit all den Pfeilen, die er auf mich abschoss, geschafft habe, beim Atem zu bleiben und die Körperachtsamkeit als Anker zu nehmen, um nicht ins Reagieren zu kommen. Später hab ich dann herausgefunden, dass es Reizworte gibt, auf die mein inneres System abfährt. Trigger, das bedeutet auf Deutsch „Auslöser“. Trigger-verhalten und Trigger-worte. Und das Identifizieren dieser Trigger hab ich als Auslöser benutzt habe, um in höheres Gewahrsein zu gehen. Sodass die Trigger umfunktioniert werden. Sie bekommen eine mögliche, andere Bedeutung.

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Teilnehmer: Nicht Trigger, aber Signalgeber ist für mich, wenn ich in der Kommunikation auf einmal das Gefühl habe, die Stimme meines Gegenübers wird schrill oder wir reden so haarscharf aneinander vorbei. Ja. Nehmen wir mal die schrill werdende oder insistierend werdende Stimme des anderen. Wenn ich das immer könnte, wäre ich sehr froh, aber im Normalbetrieb, wenn der andere insistierend wird, kommt jetzt der Reflex: Oh, die andere Person fühlt sich nicht gehört, sie muss offenbar lauter und insistierender werden, weil ich sie nicht höre. Weil sie sich von mir nicht gewürdigt fühlt in ihren Gefühlen. So sagt es die Psychotherapie. Es geht darum, die zum Teil ausgedrückten oder unausgedrückten Bedürfnisse und Ängste des anderen zu hören und dann zu signalisieren: Ich hab dich gehört mit dem Anliegen, das da ausgesprochenen, halb- oder unausgesprochenen mitschwingt. Wenn ich das tue, muss ich erst mal mein ganzes eigenes Wollen, Verteidigen-wollen, meine eigene Meinung, alles muss ich zurückstellen. Es geht dann nur darum, dem anderen mit meinem ganzen Sein zu zeigen, dass ich gehört und verstanden habe. Und dann – sofort – hört das Insistieren auf und man kann wieder normal miteinander sprechen. Das ist ein ganz schwieriges Ding in Partnerschaften. Im Beruflichen zum Beispiel das so ganz gut aber wenn immer wieder die gleichen Ansprüche kommen, neigen wir dazu, in immer selben Muster der Verteidigung und des Gegenanspruchs zu reagieren, und beide warten eigentlich darauf, dass sie vom anderen gehört werden. Und das kann sich unheimlich schnell hoch schaukeln. Weil beide insistieren dann. „Das hab ich gar nicht gesagt!“ „Doch, das hast du wohl gesagt!“ „Das wollt ich doch gar nicht!“ „Doch! Ich weiß doch, was du denkst!“… Und schon sind wir drin. Das geht Ruck-zuck. Wenn das Paar eingespielt ist… Teilnehmer: Was bei mir gut funktioniert, mittlerweile sowohl im Beruf als auch zuhause, ist dass ich merke wann ich das Bedürfnis habe, mich zu rechtfertigen. Und dann fühle ich mich wie so aus der Situation heraus und guck diese von oben an. Wie zum Beispiel in den Gemeinderäten, in denen ich arbeite. Wenn sie dort wild schimpfen und so in ihren Emotionen sind, dass es wie ein absurdes Theater ist. Dann versuche ich einfach Raum rein zu geben, und erst mal gar nichts zu machen, sondern nur mal zu hören, was passiert. Und ganz oft löst sich das von alleine auf. Ja. Wenn du das jetzt mit der vorherigen Frage verbindest: Wann ist der Moment, an dem dieses besondere Bewusstsein anspringt? Teilnehmer: Das ist sowohl in der Partnerschaft als auch im Beruflichen das Gefühl, ich muss mich rechtfertigen. Genau. Das ist eine grundlegende Erkenntnis. Der Moment, wenn dieses Gefühl, mich rechtfertigen zu wollen anspringt. Was weißt du über dieses Gefühl? Dass es eigentlich unnötig ist, dich zu rechtfertigen? Oder was weißt du? Teilnehmer: Dass ich jetzt nicht mehr in der Situation bin, sondern dabei, meine eigene Position zu formen oder zu festigen. Und dass das aber in diese Konflikte führen wird. Ich kenne das auch ganz gut bei mir. Dieses Rechtfertigen ist nicht mehr, dass man sich verständlich machen möchte, sondern man ist dabei, sich zu rechtfertigen. Es geht schon drum, wer Recht hat. Und ob ich zu Unrecht beschuldigt werde. Es geht im Hintergrund um eine Schuldfrage. Und das verzehrt die ganze Kommunikation. Eigentlich geht es nur darum, den anderen zu verstehen und sich selbst verständlich zu machen. Das wäre so die Grundkommunikationssituation. Wenn aber dieses Recht haben-wollen, Schuld zuweisen etc. anspringt, erlebe ich es auch als hilfreich, innezuhalten und zu sagen: Okay, dieses Gefühl hier zeigt mir, dass es bereits schief läuft und jetzt ist spätestens der Moment gekommen, eine andere Haltung einzunehmen. Teilnehmer: Da waren zwei Elemente, die mir in diesem Zusammenhang wichtig geworden sind mitzuteilen. Das eine ist, zu bemerken: Wer zieht hier unbewusst die Deutungshoheit für die Situation an sich? Und: Erlaube ich es, in diese Deutung die ein anderer der Situation auferlegt hat, rein zu schlüpfen und kann ich mich frei machen dafür, zu sagen: Ich sehe, dass du das so siehst oder beschreibst und ich habe dafür aber folgende Sichtweise“. Und das andere ist, den Schwellenübergang zu bemerken zwischen Dialogmodus, also Empathie und Debattenmodus, also ichbezogener Verteidigung. Ja. „Die Deutungshoheit liegt sowieso immer bei mir!“ Auf diese Haltung müssen wir verzichten. Das müssen wir uns auch schon vorher klar machen. Ich habe nicht die Deutungshoheit dafür, wie Situationen zu verstehen sind. Da zurück zu gehen und zu sagen, ich hab nur EINE Deutung, ein Verständnis der Situation und die andere ist gleichwertig.

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Das sind recht feine Prozesse, zu merken, wann die eigenen Reaktionen anspringen. Wir hatten aber einen guten Anker, und zwar wenn die Stimme insistierend wird. Das ist das eine, ein anderes gutes äußeres Zeichen dafür, dass etwas schief läuft ist, wenn ich dem anderen oder der andere mir nicht mehr in die Augen schauen kann. Das ist ein ganz wichtiges Zeichen. Und wenn man sich anschaut, ist es vielleicht ein giftiger Blick. Wenn dieses Wegschauen-wollen in mir beginnt, ist es ein Zeichen dafür, dass sich mein Herz verschließt. Dann ist es Zeit, innezuhalten, sich zurück zu verbinden, den Raum zu geben und irgendwie wieder den Kontakt herzustellen, dass es wieder möglich ist, auch wenn es nur kurz ist, sich wieder in die Augen zu schauen. Man kann sich da auch eine kurze Auszeit geben, durchatmen, sagen: Ich antworte dir gleich. Und dann nimmt man sich Zeit und traut sich vielleicht, den anderen wieder etwas offener anzuschauen und dann gibt es einen Neustart. Oder man merkt, man selber ist vielleicht noch offen, aber die andere Person kann nicht mehr schauen oder zeigt durch die Körpersprache, dass sie sich verschließt. Da kann auch ich dann mehr Raum geben, um nicht zu beginnen, selber zu insistieren. Sondern da schauen, was kann ich tun, dass die andere Person sich wieder entspannen kann. Die andere Person einzuladen, sich mehr zu zeigen und stelle vielleicht erst mal meine Anliegen zurück.

Umgang mit emotionalen Muster im Kontakt im anderen Teilnehmerin: In einer Partnerschaft kann man sich auch fragen: „Was liebe / schätze ich an dir?“, um wieder ins Bodhicitta zu kommen. Sich also mit der Buddhanatur des anderen zu verbinden, und sich dann zu fragen, wo man selbst am Entstehen der Situation beteiligt war. Es geht oft um Macht oder Kontrolle. Wenn ich bestimmte Situationen einfach weg haben will, kann ich nicht hilfreich agieren. Wenn ich mir dessen bewusster bin, dass bin ich wieder aus dem Clinch raus und wieder bei mir. Das sind Fragen, die du dir im Stillen stellst: „Was schätze ich an der anderen Person?“ und „Wie war ich selbst am Entstehen der Schwierigkeiten beteiligt?“ Unbewusste Annahmen spielen rein, nicht nur Macht und Kontrolle, sondern etwas, das oft Schuldgefühle auslöst: Wenn ich mich wie verantwortlich fühle für das Wohlergehen oder Glücklichsein des anderen, wirkt das unglaublich belastend in der Kommunikation. Wenn die andere Person ausdrückt, dass sie unglücklich ist, dann fühle ich mich sofort reaktiv schuldig, weil sie doch eigentlich glücklich sein sollte in meiner Gegenwart. Und schon wird es ganz verdreht. Eigentlich geht es nur darum zu hören und wahrzunehmen wie es ist, und es wird mir erst mal auch gar keine Schuld zugeschoben. Manchmal wehrt man sich gegen eine Schulzuweisung bevor sie stattgefunden hat. Viele verrückte Annahmen begleiten uns aus der Kindheit. Teilnehmerin: Ich habe immer wieder versucht, liebevoll und zuhörend zu sein und Raum zu geben, aber es genau in dem Moment, wo ich eigentlich gehört werden sollte, ist alles zu und ich habe das Gefühl, dass es keine Lösung für diese Situation gibt. Das ist traurig, und es ist nicht so, dass sich daran etwas ändern ließe. Man kann die andere Person darauf ansprechen: „Ich habe dir zugehört, du hast das Gefühl, verstanden zu sein, ist jetzt kein Raum da, dass du mir auch zuhörst?“ Es gibt tatsächlich Menschen, die sehr gerne annehmen, dass wir ihnen zuhören, aber wenn es darum geht, das umgekehrt auch mal zu tun, dann ist die Bereitschaft weg. Das ist sehr, sehr traurig, und wir können es nicht direkt verändern. Auch das geht oft auf ganz frühe Geschichten zurück, die mit unserer aktuellen Beziehung oft nichts zu tun haben. Da müsste echte Nachhilfe stattfinden. Teilnehmerin: Was mache ich, wenn ich der wandelnde Trigger bin für eine Person? Eigentlich weiß ich, dass es nicht persönlich ist, ich bin nur Projektionsfläche, da kann ich nichts kontrollieren, es geschieht hauptsächlich in dem, den ich eben triggere. Wäre es da nicht am besten, soweit wie möglich Abstand zu halten? Wenn es so ist, dann ist es gut, Abstand zu halten. Als wandelnder Trigger herumzulaufen macht es einfach sofort schwierig. Wenn wir nicht die ganze Zeit Trigger sind, sondern nur manches von uns Trigger ist, dann können wir uns aus Liebe und Mitgefühl heraus ein wenig zurücknehmen in dem Verhalten, von dem wir wissen, dass es den anderen triggert. Kompromisse machen. Oder ankündigen: „Ich weiß, es wird jetzt gleich schwierig für dich, ich will dich schon mal vorbereiten….“ Aus Mitgefühl heraus kann man auch mit seiner eigenen Trigger-beschaffenheit besser umgehen und ansprechen. Dadurch werden die Schwierigkeiten auslösenden Elemente eingebettet in ein mitfühlendes Ansprechen der Situation. Beide sind sich bewusst, und beide meistern das gemeinsam. Teilnehmerin: Der Schwerpunkt liegt hier auf 'beide'. Und wenn es einseitig ist?

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Wenn es einseitig ist, ist alles immer viel schwieriger. Durch das Ansprechen kann es beidseitig werden; wenn man einen kleinen Scherz gut in das Ansprechen oder die Vorab-Entschuldigung einbettet, kann das sehr entspannend wirken. Ich bin ja nicht Trigger durch mein gesamtes Sein, sondern durch einzelne Charakterzüge. Da gibt es unheilbare Aspekte meines Seins, und wenn die mal wieder aktiv werden, können wir sagen „Ja, ich weiß, es ist wieder nicht einfach für dich, ich kann gerade nicht anders.“ Wir müssen eben eine Sprache finden, die für den anderen entlastend ist, und mithelfen, dass unsere schrulligen Charaktereigenschaften in die Liebe eingebettet werden. Es ist nicht so, dass wir ständig an uns herumdoktern müssen, wir müssen nur dafür sorgen und mithelfen, dass wir ein wenig transparenter und verständlicher werden. Man muss es zum Beispiel vorbereiten, dass die andere Person unser Bedürfnis nach Rückzug nicht als Abweisung erlebt. Diese Mühe macht man sich in einer Beziehung; wenn man allein lebt, macht man das einfach. Wir können das Thema nicht erschöpfen, jeder muss für sich den Aufhänger für diese besondere Form von Achtsamkeit finden. Atem ist gut, emotionale Reaktionen sind gut, Trigger sind gut, Schwellensituation oder Blickkontakt. Teilnehmerin: Ich finde es wichtig mir klarzumachen, dass ich den anderen nicht ändern kann, nicht ändern muss und nicht ändern will. Ich kann nur etwas an mir ändern. Allenfalls kann ich gucken was bei dem anderen dahintersteckt, ihn und seine Handlungsweise in ein liebevolles Gewahrsein nehmen. Es ist richtig stark, wenn wir es loslassen können, den anderen ändern zu wollen. Wenn wir es dann auch noch loslassen können, an uns selbst herumzudoktern, ist das super. Es geht auch darum, nicht von uns selbst irgendwelche Supermann-, Superfrau-Eigenschaften zu erwarten. Sondern es geht darum, einfach bewusst zu sein wenn wir Grenzen haben, die Grenzen auszudrücken, die Schwierigkeiten auszudrücken. Es geht im Grunde genommen vor allem darum, sich verständlich zu machen und den anderen zu verstehen. Verstehen ist die Quelle von Mitgefühl. Wo Verstehen ist, wird das Leben leicht. Wir können gut mit dem Motto „Nobody is perfect“ miteinander leben, wenn wir uns verständlich machen. Manchmal wird die buddhistische Lehre als ein neues Perfektionsprogramm missverstanden. Aber darum geht es gar nicht. Ein Buddha ist nicht perfekt, er ist nur gelöst, entspannt, nicht so identifiziert. Das ist die Perfektion – nicht dass ein Buddha ein Supermann wäre. Ich habe viele Erwachte erlebt und gestaunt, wie die durch die Welt gehen. Was man da alles erleben kann! Aber sie sind entspannt und gelöst. Es sind die anderen, die die Probleme haben. Wenn andere erwarten, dass sie perfekt wären oder bestimmte Vorstellungen haben, dann haben die anderen ein Problem. Ein Erwachter ist nur perfekt in dem Sinne, dass er das So-Sein ganz tief angenommen hat. Und jeder ist anders. Teilnehmer: Es gibt eine polynesische Lebensweisheit: „Wenn die Dinge nicht so laufen, wie du sie dir vorstellst, dann stell dir etwas anderes vor!“ Das ist auch sehr gut. Worauf ich noch hinweisen möchte, ist, dass wir nicht allzu viele Anstrengungen machen sollte, immer mitfühlend zu sein. Immer mitfühlend sein zu müssen ist ein neuer Stress, den wir uns machen, ein Buddhistenstress. Es reicht entspannt zu sein, und aus der Entspannung heraus zu versuchen, den anderen zu verstehen. Das Mitgefühl stellt sich schon von selber ein. Es reicht bereit zu sein, zu verstehen: das ist das was es wirklich braucht. ***

Vorbereitungen auf den Sterbeprozess Meditation - der letzte Ausatem Zunächst gehen wir in die Körperempfindungen – spüren - spüren, ob die Haltung stimmt - die Kleidung ... Dann wie immer die Gretchenfrage: „Warum sitze ich eigentlich hier?“ Und eigentlich könnte die aus dem Bauch kommende Antwort auf diese Frage bereits der Beginn unserer Meditation sein ... Genau: Um gewahr zu sein und im Bewusstsein der erwachten Qualitäten zu sein ... Meinen Geist zu üben, alles Überflüssige sein zu lassen ... Und die Prozesse können wir vereinfachen, indem wir uns eine Stütze nehmen, einen Anker für die Aufmerksamkeit. Ich schlage vor, wir nehmen heute nochmals den Atem. Das Erste dabei ist, dass wir solch ein Interesse für die Empfindungen des Atmens entwickeln, als wäre es das Wichtigste in der Welt und die allerneueste Entdeckung ...

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So als würden wir einem außerordentlichen Schauspiel beiwohnen und nichts davon verpassen wollen ... Mein Erleben des Atemschaupiels - im ganzen Körper, von Kopf bis Fuß. - Überall, wo der Atem etwas verändert, entwickeln wir Gewahrsein ... Wir nutzen das, um bis in die Tiefen unseres Beckens zu spüren – bis hinauf in die Spitze der Halswirbelsäule --- es kommt mir vor wie ein sich bewegender Lebensbaum ... Und statt äußerlich mit den Empfindungen beschäftigt zu bleiben, richten wir die Aufmerksamkeit noch tiefer ins Erleben. Wie ist es das alles zu fühlen? ... Wie wird lebendiges Sein erlebt? ... Dabei sind alle anderen Sinneswahrnehmungen genauso willkommen wie die Atemempfindungen. - Wie ist es so ganz und gar bewusst zu sein? ... Noch einfacher: Wie ist es zu sein? ... Wenn wir in dieses entspannte, gewahre Sein eintauchen, entsteht ein feines Wohlbefinden. Das ist eigentlich immer so. Der Buddha empfiehlt uns, dieses Wohlbefinden ins Bewusstsein zu holen, es wirklich zu spüren, und damit den Geist noch weiter zu stabilisieren. - Das Wohlgefühl, das wir in Körper und Geist spüren, sich ausbreiten lassen ... Und dieses Erleben lassen wir sich dann immer weiter befreien, von jeglichem Zugriff, lassen es sich von selbst entfalten ... Wir erleben Dynamik, ohne nach ihr zu greifen ... Und wir sehen auch, dass es da gar nichts zu greifen gibt ... *** Und jetzt in der Pause verbinden wir alles mit diesem gelösten Gewahrsein, so dass die Praxis auch in der Pause weitergeht. Um jeden Tag in dieses tiefe gelöste Sein hineinzufinden, müssen wir eigentlich jeden Tag sterben, jeden Tag, für unsere Projekte, unsere Bedeutung in dieser Welt, für all das, womit wir uns identifizieren. Wir müssen Abschied nehmen und merken, es geht auch ohne uns, es wird eines Tages ohne uns gehen. - Und wir lassen all diese Bedeutung, diese unglaubliche Bedeutung, die wir mir geben, diesem Mir, diesem Ich, mir und meiner Welt, die lassen wir mal für eine Weile sein. Ja, lassen wir sie los. Ich lade euch ein, das jetzt einmal mit der Atemmeditation zu verbinden. *** Irgendwann wird es der letzte Ausatem sein. Wenn wir Glück haben, wird er bewusst sein; wenn wir dieses Glück nicht haben, dann wird es uns passieren. Dann ist es gut, wenn wir vorbereitet sind ... Wie fühlt es sich an auszuatmen, in diesem Bereich, wo ich niemand mehr bin? ... Wie fühlt es sich an, mit der ganzen Liebe meines Herzens dort hinein loszulassen, wo ich keinerlei Kontrolle mehr habe? –- Schließt für diese Meditation ruhig die Augen. Vermutlich werden wir beim Sterben die Augen nicht offen haben ... Wir verabschieden uns aus der Welt der ichbezogenen Bedeutung --- Es heißt, dass es dort eine lichtvolle Erfahrung gibt. Das ist das Licht des Gewahrseins. Ein helles klares Sein ohne Mittelpunkt ... In diesem klaren Licht ist der Geist weiterhin total verlässlich - gewahr - dynamisch - nicht fassbar ... Erleben geht weiter, in all seiner Vollendung, aber erst einmal ohne Inhalt ... Mit dem Ausatem können wir immer wieder in dieses einfache Sein hinein loslassen. --- Der Tod fragt nicht danach, „aber ich“, „aber ich“, „aber ich muss doch“, der Tod fragt nicht danach. Es gibt nichts mehr zu tun, als sich ganz dem einfachen Sein zu ergeben ... Und während der Mahamudrameditation machen wir genau das: Immer wenn sich die Selbst- Bedeutung wieder einschleicht, wieder zeigt, sterben wir erneut; wir sterben viele Tode und gewöhnen uns daran ... *** Ich hoffe, ihr hattet Nutzen daraus zu sterben. Ich schätze einen jeden von uns zutiefst mit den Ausprägungen des Ichs, die halt das Leben so mit sich bringt. Aber zugleich ist das auch eine gewaltige Illusion. Diese Bedeutung, die wir diesen Ich-Strukturen geben. Und das, worauf wir in der Tiefe immer wieder zurückfallen werden, da, wo wir auch hinein entspannen können, da sind wir gleich, sind wir gar nicht verschieden. Das, was bleibt, wenn wir zu all diesen Ich-Anhaftungen gestorben sind, da sind wir gleich, da sind wir gar nicht verschieden voneinander.

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Die Verschiedenheit, die Unterschiede zwischen uns kommen durch die Bedeutungen, die wir dadurch aufbauen, wie wir Dingen Bedeutung geben, Erfahrungen deuten, wie wir sie verarbeiten, was wir machen wollen, was wir nicht machen wollen, wen wir kennen und wen wir nicht kennen usw. Wenn all das wegfällt, alles, was uns Bedeutung gibt, durch Geschlechterrolle, Alter, Lebenserfahrung usw. und das muss es im Sterben, das wird es, es geht nicht anders, da treten wir in den Bereich ein, wo wir uns alle gleich sind. Manchmal werde ich gefragt, was denn Retreat ist, also Zurückziehung, Meditationsretreat. Wir sagen, wir hätten jetzt ein Retreat gemacht, acht Tage. Aber wenn wir nicht wirklich gestorben sind, dann war's kein Retreat. Echtes Retreat bedeutet zu sterben, sich aus all diesen Bedeutungen zu lösen, die wir uns geben, ganz frei zu werden dadurch und dann aus dieser Freiheit heraus wieder ins Gestalten zu gehen. Das ist, wenn wir aus dem Retreat herauskommen oder uns im Retreat diesen Themen zuwenden, aus dieser völligen inneren Freiheit der Nicht-Identifikation wieder ins Gestalten gehen, das Leben erneut gestalten und immer wieder in diesem Gestalten sterben, sodass wir uns nicht eine neue Ich-Illusion aufbauen, eine Welt, in der wir doch wieder gefangen sind in Ich-Bedeutung.

Tägliches Sterben als Übung Und eigentlich wäre es gut, einmal am Tag zu sterben. Am besten schon morgens, damit wir mit der ganzen Frische und Freiheit, nicht identifiziert zu sein, in den Tag hineingehen, einfach das tun, was nötig ist, was sinnvoll ist, ohne mit diesem breiten Ego daherzukommen. Das geht, wenn wir es uns zur Praxis machen, den Geist tatsächlich so zu entspannen, dass wir uns aus all diesen komplexen Bezugsrahmen lösen, in denen wir normalerweise leben und das total einfache gelöste Sein kosten, einmal täglich, einmal täglich da, wo alles relativiert wird. Und das, was alles relativiert, das Beispiel in unserem Leben, wo alles mit einem Fragezeichen versehen wird, das ist eben der Tod, das ist das Sterben. Deswegen ist es auch das angemessene Beispiel dafür. Das ist eigentlich Retreat, in diese völlige Freiheit hineinzugehen. Wir können es auch das Grundgewahrsein nennen. Das ist ein Ausdruck, den ich jetzt häufiger benutze. Dieses Grundgewahrsein, klar wahrnehmend, dynamisch, nicht fassbar, ist so etwas Vibrierendes, Helles, eine Präsenz, die erst mal nicht von irgendwelchen Vorgaben strukturiert ist, wo keine Kontrolle ausgeübt wird. Und das bleibt natürlich nicht so. Das Leben gestaltet sich. Auch nach dem Tod, heißt es, geht es irgendwie weiter. Es tauchen wieder Erfahrungen auf. Und wenn wir darin Befreiung erleben möchten, geht es darum, nicht ins Greifen zu kommen. Greifen ist ein anderes Wort für Identifikation: Subjekt, Objekt, dieses Ich und das, was ich erlebe, ich hier, das andere dort, diese Trennung. Und das können wir jeden Tag üben; jeden Tag in unserem Alltag. Das ist der Bardo, der Nachtodzustand. Jeder Tag ist ein Bardo. Erst mal zu sterben ist immer ein guter Anfang für den Tag. Sterben wir mal als Erstes, bevor die Identifikation allzu stark wird. Ergreifen wir die Gelegenheit beim Schopf. Morgens sind viele von uns noch etwas unstrukturiert. Aber wir bemerken, wie wir in den ersten Minuten unseres Aufwachens bereits unsere Ich-Welt wieder strukturieren. Am besten wäre es, da schon hineinzukommen, sich direkt im Bett aufzusetzen und grad' mal zu sterben; gar nicht erst sich alles wieder so solide zusammensetzen lassen, um es dann eine halbe Stunde später wieder zu entspannen. Und dann können wir aus dieser völligen Gelöstheit in das wache, bewusstere Gestalten gehen: wecken die Motivation des Bodhicitta, also Liebe, Mitgefühl, die Bereitschaft zu fühlen und die Bereitschaft zu unterstützen. Das ist eine gute Art in den Tag zu gehen. Und da beziehen wir uns selbst ein, Mitgefühl für diesen Jemand, der dann wieder wach wird mit all seinen Bedürfnissen und Ängsten. Wir sehen, das ist ein ziemlicher Film, in den wir uns hineinbegeben, und diesen Film gestalten wir jetzt neu. Vorhang auf, neue Szene, neuer Akt im Theaterstück. Wir gehen mit einem gewissen Humor, einer gewissen Leichtigkeit an das Gestalten und arbeiten mit diesem liebenswerten Selbst, das wir „Ich“ nennen, das manchmal so wahnsinnig Angst hat und so starke Bedürfnisse. Wir arbeiten ganz liebevoll damit und mit allen anderen und erlauben uns immer wieder Freiheitsräume zu entdecken, Freiräume in diesem so dichten Erleben. Einmal am Tag sorgen wir dafür, dass wir aus diesem dichten Erleben aussteigen und uns aus all diesen reaktiven Mustern lösen und hineingehen in ein nicht reaktives, einfaches Erleben. Und dann geht der Vorhang wieder auf und wir gestalten den nächsten Akt. Und wer Zeit hat, kann das natürlich mehrmals am Tag machen. Das ist ein schönes Geschenk. Und natürlich bietet es sich an, abends vor dem Einschlafen wieder zu sterben. Das ist ja ein toller Moment dafür. Wir stellen uns vor, indem wir wieder so eine Art Guru-Yoga machen, dass wir uns mit der Dimension des Erwachens verbinden, sie ins Herz einladen. In der tibetischen Tradition wird da der blaue Buddha benutzt, Dordsche Tschang, Vajradhara. Das blaue Licht, das uns dann aus dem Herzen erfüllt, ermöglicht

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auch einzuschlafen, aber frei von Identifikation. In diesem Licht, das in unserem Herzen strahlt, lösen sich alle Sorgen des Tages auf, all dieses „ich muss doch noch dieses und jenes, ich will, das war nicht gut, das habe ich nicht gewollt ...“, all das löst sich in diesem liebevollen warmen blauen Licht auf, das uns erfüllt, das sich in unsere Vorstellung von dem Raum, in dem wir leben, auflöst, hinausgeht in die Straßen, die ganze Welt mit diesem nicht greifenden, liebevollen Bewusstsein durchdringt. Das ist eine Hilfe, um beim Einschlafen wieder einmal sterben zu können. Tatsächlich müssen wir, um einschlafen zu können, alle Ich-Bezogenheit loslassen. Solange wir noch greifen, können wir nicht einschlafen. Und wenn es die Müdigkeit ist, die uns übermannt und endlich dazu führt, dass wir loslassen können. Nur wenn wir loslassen, können wir einschlafen. Und so können wir, wenn es nicht ein Unfall ist, der uns aus der Welt befördert, nur dann sterben, wenn wir nicht mehr greifen. Alter und Krankheit führen dazu, dass die geistigen Kräfte meist so schwach werden, dass wir irgendwann, obwohl wir ganz anders gestrickt sind, nicht mehr greifen können. Wir sind dann so schwach, dass selbst das letzte geistige Greifen nicht mehr möglich ist. Dann können wir endlich sterben. Wenn wir das vorher geübt haben, ist das Sterben ein Leichtes. „Okay, der Zeitpunkt ist gekommen. Jetzt geht’s um das richtige Sterben. Das habe ich tausende Male geübt. Ade, liebe Welt.“ Und dann lassen wir los. Das ist überhaupt kein Ding, kein Thema. Es ist nicht schwierig. Es geht nur etwas leichter, etwas einfacher, so wie abends beim Einschlafen oder wie jemand, der nicht so nach der Welt greift und sich nicht so wichtig nimmt, der nicht so in seinen Emotionen verstrickt ist, dass der Abschied aus der Welt irgendwie nicht ganz möglich wird.

Dharma-Praxis zur Vorbereitung auf das Sterben Vielleicht könnt ihr jetzt die Verbindung herstellen. Es wird oft gesagt, Dharma-Praxis ist eine Vorbereitung auf das Sterben und das ist der wirkliche Sinn von Dharma-Praxis. Das habt ihr vielleicht schon gelesen oder gehört. Das ist nichts Nekrophiles, das ist keine Vorliebe für makabre Todesszenarien, sondern die einfache Verbindung damit, wo wirkliches Frei-sein als Erstes zu erfahren ist, und zwar indem wir uns völlig lösen, so als würden wir sterben. Wir sind dann wieder so wie vor unserer Empfängnis oder nach unserem Tod. Und aus diesem völlig freien gelösten Sein treten wir in ein genauso freies und gelöstes Gestalten dieser Welt ein. Das nennt man erwachtes Wirken. Wir durchschauen die Illusion. Wir durchschauen die Szenarien, die sich innerlich immer aufbauen, wo wir in dieser Welt fast wie unersetzbar wirken und sich alles um uns zu drehen scheint. Das tut es ja überhaupt nicht. Man braucht ja nur zu sterben, um zu merken, dass das nicht so ist. Das ist mit Traum gemeint. Dieser Traum hat eine Realität. Das ist die Realität, in der ich jetzt zu euch spreche und ihr zuhört. Das ist unsere Realität. Aber sie hat die Eigenschaft, durch die Tatsachen des Lebens völlig in Frage gestellt zu sein. Wir klinken uns ja jede Nacht aus. Wir verschwinden ja jede Nacht und die Welt geht weiter. Am Morgen klauben wir uns irgendwie wieder zusammen, mit ein, zwei Kaffee, versuchen uns zu orientieren, im Bett, an welchem Ort, in welchen Verantwortungen wir aufgewacht sind und was es jetzt zu tun gibt, versuchen uns zu motivieren und das Rad des Lebens geht weiter. Das Rad des Lebens wird im Normalfall von den verschiedenen greifenden Emotionen bestimmt und ist deswegen von Leid geprägt. Und wenn wir es mit weniger Identifikation eingehen können, mit größerer Leichtigkeit, ist es von Freude bestimmt, von Liebe, von Dankbarkeit. Frei gestaltet ist dieses Leben eine wunderbare Erfahrung. Dann sterben wir wieder. Und irgendwann schlafen wir zum letzten Mal ein und wachen nicht mehr in diesen Bedingungen auf, sondern in anderen Bedingungen, wo sich andere Träume, andere Filme zeigen. Und je nachdem, wie wir ergreifen, gestaltet es sich neu. Versteht ihr, warum Mahamudrapraxis oder überhaupt Seinspraxis mit dem Sterben verglichen wird und auch als Vorbereitung aufs Sterben gilt? Teilnehmer: Der Trick, den wir da jeden Tag fahren, beschäftigt uns 16 Stunden lang, sodass wir am Abend völlig erschöpft sind. Ja. Und wer sich damit nicht so herumschlagen muss, sondern völlig gelöst durch den Tag geht, der kann erfahren, dass wir sogar nachts in diese erhellende Klarheit, dieses klare Licht eintreten können. Wenn man tagsüber mit minimalem Anhaften unterwegs war, ist dieses klare Licht recht leicht zugänglich. Dann zeigt es sich mit Leichtigkeit auch nachts. Deshalb ist es eine Erfahrung, die im normalen Berufsalltag schwer zu machen ist, weil man da doch unglaublich ins Greifen gerät, die sich aber im langen Retreat dann doch öffnet und zugänglich wird. Und man merkt, „He, das Gewahrsein geht ja nachts auch weiter“, und zwar genauso wie ich es versucht habe euch zu zeigen: Wenn wir völlig gelöst sind, ohne Identifikation, kein Rollenbewusstsein aktiv ist, kein Geschlechterbewusstsein, kein Altersbewusstsein, wenn uns keine Pläne, Gedanken und Projekte beschäftigen. Es ist wirklich waches, helles Gewahrsein, aus sich selbst heraus geboren, in sich selbst ruhend, ohne Bedürfnis etwas tun zu müssen, etwas tun zu wollen; ein ganz wacher,

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völlig gelöster, spannungsloser Zustand voller Bewusstheit, während der Körper schläft. Keine Sinneswahrnehmung, keine Sinneseindrücke, all das ist in Ruhe bei völligem Gewahrsein. Und deswegen nimmt man an, und ich glaube, dass diejenigen, die das so bewusst erlebt haben und beschreiben, da auch überhaupt keine Fehler machen, dass das dem Zustand entspricht, in den wir notwendigerweise eintreten müssen, damit sich Körper und Geist im Tod voneinander lösen können. Und daraus entsteht dann wie bei jedem Traum, wie bei jedem Erwachen aus dem Schlaf das neue Gestalten, das neue Erleben im Bardo danach, dem Zwischenzustand danach. ***

Teil B) Kommentar zu Milarepas Vajragesängen Jetzt möchte ich mein Versprechen einhalten, denn wir haben ja in den Ankündigungen geschrieben, dass die Unterweisung sich immer wieder auf Vajra-Gesänge beziehen. Ich möchte wieder einen kleinen VajraGesang von Milarepa vornehmen. Ich bin im 2. Band, erstes Kapitel, dieses Kapitel heißt „Wie Milarepa zur Vajra-Festung zurückkehrt und Rongtschung Repa trifft“. Eigentlich ist die Geschichte mit Rongtschung Repa ganz am Schluss. Die ganze Story hier mit den vielen Vajra- Gesängen in diesem Kapitel sind Dialoge zwischen Milarepa und seinem Herzensschüler Retschungpa. Über den ersten Teil dieser Vajra-Gesänge hatte ich bereits in Beatenberg gesprochen, deswegen mache ich jetzt dort weiter. Ich bin im alten Buch auf Seite 18 in der Mitte. In der unveränderten Neuauflage ist es Seite 175 . Warum führe ich euch jetzt in die Welt dieser Vajra-Gesänge? Ich möchte etwas von der alten Mahamudra Tradition erhalten, weiter geben. Wenn Gendün Rinpoche Mahamudra mit uns teilte, dann begann er manchmal wie im Versmaß zu sprechen und dann bekam die Stimme so etwas Singendes. Wenn wir nachher die Aufzeichnungen genauer abhörten, waren das wie spontane Vajra- Lieder. Vier, fünf hat er auch mal aufgeschrieben und seine große Referenz für die Praxis war Milarepa. Dieser Yogi lebte ständig nur in den Höhlen und zog durch die Dörfer, aber nie um dort zu bleiben, sondern nur um wieder in die Berge zu gehen und dort die Schüler zu unterrichten. Milarepa hatte diese unglaubliche Gabe, die Klarheit eines vollkommen Erwachten, dass seine Unterweisungen als Poesie herauskamen, gesungen. Gesungen im Reim mit einfachen Melodien und sein Schüler Retschungpa, der wenn ich mich recht erinnere, knapp zwei Jahrzehnte mit ihm unterwegs war, hatte diese Herzensfähigkeit, sich so einzustimmen in Milarepas Denken und auch Singen, dass er die spontanen Gesänge mitsingen konnte. Ihr wisst, wie es einem manchmal geht, wenn gesungen wird, man ist nur so eine Zehntel Sekunde hinter her und erahnt und spürt wo die Melodie hingeht oder die Sprache, man kann wie mitsingen, obwohl man den Text noch nie gehört hat. Diese Fähigkeit war bei Retschungpa extrem ausgeprägt und er konnte oft die Gesänge mitsingen, die Milarepa anderen gab . Es ist ihm zu verdanken, dass sie überliefert wurden, weil er ein ausgesprochen gutes Gedächtnis hatte. Er hat diese Gesänge dann anderen zur Verfügung gestellt, als Milarepa dann schon gestorben war, sie wurden zwei Generationen später aufgeschrieben. Jetzt sind wir mitten im ersten Kapitel, weil das Thema an diesem Punkt wechselt. Milarepa sagt an diesem Punkt zu Retschungpa: „Mein Lama Marpa sagte, „Es macht nichts wenn du keine umfassende Kenntnis des Sutras und Tantras besitzt. Hänge dich nicht an die abstrakten Worte, sondern schaue nach innen, und meditiere nach den Anweisungen deines Lehrers.“ Das ist doch sehr ermutigend auch für uns, denn zu einer umfassenden Kenntnis des Sutras und Tantras wird es in diesem Leben nicht mehr reichen. Dann haben wir die Möglichkeit, dass wir authentischen LehrerInnen begegnen und uns an deren Unterweisungen orientieren. Milarepa fährt fort: „Wenn man diese tiefgründigen Worte nie vergisst und sie in die Praxis umsetzt, verliert man das Interesse am Daseinskreislauf, und alle Qualitäten werden sich entwickeln.“

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Mila’i mGur ‚bum: Milarepas gesammelte Vajra-Lieder, niedergeschrieben von Tsang Nyön Heruka, Band 2, NorbuVerlag, 2014.

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Also diese tiefgründigen Unterweisungen, die machen etwas mit uns, denn da geht uns wie ein inneres Licht auf und man verliert das Interesse an der gewöhnlichen Verstrickung in Hoffnung und Furcht in Ichbezogenes Sein in dieser Welt, das, was man den Daseinskreislauf Samsara nennt, und bekommt Zugang zu diesen inneren Qualitäten. Alle inneren Qualitäten werden sich entwickeln.

Die 30 Leitsätze von Milarepa Milarepa sagt zu Retschungpa: „Und auch du solltest die Leitsätze meines Lamas Marpa befolgen.“ Retschungpa hatte zu dem Zeitpunkt keine Ahnung welche Leitsätze er meint. Glücklicherweise bittet Retschungpa daraufhin Milarepa und sagt: „Verehrter Djetsün, bitte gib mir alle Leitsätze deines Lehrers Marpa.“ Daraufhin sang Milarepa das folgende Lied mit Unterweisung in Form von 30 Leitsätzen seines spirituellen Meisters.“ Diese 30 Leitsätze werden wir uns anhören und kontemplieren. Was hielt denn Milarepa für wichtig, dem Retschungpa zu erklären von den vielen vielen Dingen, die er von Marpa gehört hat? Wir müssen wissen, dass Retschungpa als 16jähriger zu Milarepa kam, er war echt jung, aber voll motiviert und hatte eine tiefe spontane Hingabe, die so tief war, dass er allein schon bei der ersten Begegnung mit Milarepa in tiefe Meditation versank und die Zeit vollkommen vergaß. Er hat die ganze Nacht durch meditiert und gar nicht gemerkt wie die Nacht kam, der Morgen kam und als er dann aus der Meditation austrat, sich dachte, es wäre gerade eine halbe Stunde vergangen. Es war ein sehr talentierter Schüler. Aber auch eigenwillig und er hatte seine pubertären Revolten. Er hat auch gelegentlich einmal revoltiert gegen Milarepa, hat ihn verlassen, ist wiedergekommen und ist in die Geschichte eingegangen als talentierter Schüler mit einem gewissen Dickkopf. Auch da können wir uns vielleicht wieder finden. Und jetzt hören wir mal, denn Milarepa gibt hier eine Mischung aus Unterweisungen, die auf einmal auf einer ganz konkreten Ebene des Alltagsverhaltens sind und der ganz subtilen Mahamudra Sichtweise und er singt dieses Lied in einem durch. Ich kann es nicht singen, aber ich möchte es euch erst einmal in einem Zug vorlesen auch wenn es vermutlich eine völlige Überforderung ist wenn wir versuchen das alles zu verstehen. Wir gehen dann nachher Stück für Stück durch: Mein Sohn die Drei Juwelen sind die beste Stütze. Als Freund nimm dir Vertrauen. Die größten Dämonen sind die Gedanken. Der größte Verführer ist Stolz. Die größte Sünde ist üble Nachrede. Am schädlichsten auf dem spirituellen Weg ist Eifersucht. Ins Verderben stürzt einen der Alkohol. Reinigt man seine schlechten Handlungen nicht mittels der vier reinigenden Kräfte, wandert man weiter in den sechs Daseinsbereichen umher. Sammelt man nicht eifrig Verdienste an, wird man das Glück der Befreiung nicht erlangen. Verwirft man nicht die zehn schlechten Handlungen, muss man die Leiden der niederen Daseinsbereiche erdulden. Vereint man in seiner Praxis nicht Offenheit und Mitgefühl, wird man die höchste Buddhaschaft nicht erlangen. Möchtest du in diesem Leben Buddhaschaft erlangen, dann betrachte ohne Ablenkung den Geist. Praktiziere die sechs Yogas, sie sind die letztendliche Quintessenz der Tantras. Praktiziere die Methoden des geheimen Mantrayana, sie sind die letzte Quintessenz der Unterweisungen. Wenn du nach Gewinn, Ehre und Ruhm strebst, wirfst du dich in den Rachen der Maras.

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Wenn du dich selbst lobst und andere tadelst, fällst du in einen fürchterlichen Abgrund. Wenn du den wilden Elefanten deines eigenen Geistes nicht gezähmt hast, sind deine Lehrreden scheinheilig. Die beste Feldarbeit ist, eine erleuchtete Geisteshaltung zu kultivieren. Die ungeborene Wirklichkeit zu sehen ist die beste Sicht. Der Weg der tantrischen Methoden ist die tiefgründigste Praxis. Praktiziere die Methoden mit den Energiebahnen und Strömen. Erkenne das gleichzeitig vorhandene ursprüngliche Bewusstsein! Stütze dich auf hochentwickelte Meister. Vergeude dein Menschenleben nicht mit Zerstreuungen. Betrachte den ungeborenen Geist. Erwarte keine Befriedigung im Daseinskreislauf. Betrachte Leid nicht als Nachteil. Verstehst du den Geist, bist du ein Buddha. Viel Geschäftigkeit ist unnötig. Tiefgründigere Unterweisungen als diese gibt es nicht, sagte er, der Lama Marpa. Setze sie in die Praxis um! sagte er. Das waren schon die 30, ist eine Menge Stoff drin. Er nennt ihn „mein Sohn“, das ist aufgrund des großen Altersunterschiedes, Retschungpa war wie ein Sohn für Milarepa. Er kam mit 16 und wurde von ihm ins erwachsene Leben hinein begleitet und dann auch zu einem Lehrer ausgebildet.

1. Drei Juwelen „Die Drei Juwelen sind die beste Stütze“, sagte Marpa. Das hört sich erst einmal sehr traditionell an, ihr wisst die Drei Juwelen sind Buddha, Dharma, Sangha. Die Drei Juwelen der Zuflucht. Jetzt lasst uns das aber ein bisschen tiefer anschauen. Mit Zuflucht, also mit den Drei Juwelen ist eine völlig klare innere Ausrichtung gemeint und sie sind eine Stütze für unser ganzes Leben. Jemand, dessen innere Ausrichtung klar ist, der geht so durchs Leben, egal was für Herausforderungen kommen, was die Beziehungen bringen, die Kinder, die Eltern, der Beruf usw. Die Ausrichtung ist so klar, dass das Leben immer in diese Richtung weiter geht. Es ist die größte Stütze, eine völlig klare innere Ausrichtung zu haben. Schauen wir uns an, was die Tradition als Ausrichtung vorschlägt. Buddha als Ausrichtung, als Zuflucht bedeutet das Erwachen selbst. Dieses Erwachen, dieser Buddha ist gar nicht außerhalb von uns. Der äußere Buddha, ist jemand der dieses Erwachen manifestiert hat und jedem, dem er begegnet ist gesagt hat: „Erwache, erwache selbst, der Buddha ist in dir!“ Wenn wir uns ausrichten auf Buddha, richten wir uns zugleich aus auf das vollkommen Erwachte in uns. Die erwachten Qualitäten in uns, das ist mit Buddha gemeint. Wir sprechen da von äußerem Buddha und von innerem Buddha. Beim Dharma, wenn wir uns auf das Dharma ausrichten, ist es auch so. Äußerlich sind das die Unterweisungen. Die Unterweisungen, die zum Teil in Texten überliefert sind, und die mündlichen Unterweisungen, Das ist die äußere Ebene, man nennt das den Dharma der Unterweisung, den Dharma der Worte. So wie der äußere Buddha uns eine Orientierung gibt, ein Vorbild, geben uns die Unterweisungen eine Orientierung, die von Außen kommen, durch die Worte. Aber neben dem Dharma der Unterweisung gibt es die innere Ebene, das ist der Dharma der Verwirklichung. Und da nimmt der Dharma seine ganze Bedeutung an, denn nur der Dharma wirkt heilsam in uns, der auch verwirklicht wird. Das heißt, das ist das Leben im Erkennen der Natur des Seins. Das ist es, was eigentlich Dharma ist. Im Einklang mit dem Sein zu leben. Diese erwachten Qualitäten frei zusetzen: Liebe, Weisheit, diese Qualitäten zu leben. Das ist der Dharma der Verwirklichung. Und sich darauf auszurichten, immer in diesen Qualitäten zu sein und den äußeren Dharma als Inspiration zu nehmen um den inneren Dharma zu leben. Es gibt eine unglaubliche Stabilität, deswegen ist das eine so starke Stütze. Das dritte Juwel der Zuflucht ist Sangha, die Gemeinschaft. Und auch da gibt es äußere Sangha und innere Sangha. Äußere Sangha sind die Helfer auf dem Weg, die authentischen LehrerInnen, die den Weg kennen und uns zeigen können. Da gibt es die großen Bodhisattvas, die schon voll verwirklicht sind, und dann gibt es die die auf den anfänglichen Stufen der Verwirklichung sind. Und dann gibt es die, die sich zumindest voll und ganz auf den Dharma ausgerichtet haben. Die monastische Sangha, die als Gruppe, als Orientierung dafür steht, sich ganz und gar auf den Dharma einzulassen. Das ist die äußere Sangha: die Sangha der

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Verwirklichten und die Sangha der voll Engagierten. Es ist eine große Inspiration solchen Sanghamitgliedern zu begegnen. Damit sind all die spirituellen Lehrer gemeint, die uns führen können, die den Weg kennen. Die innere Qualität von Sangha ist Freundschaft, ist Mitgefühl. Und Freundschaft allen Lebewesen gegenüber zu leben ist die essentielle Qualität der Sangha. Ein Sanghamitglied schenkt den Dharma einem jeden Lebewesen, das darum bittet. Der Dharma wird mit allen geteilt und das geschieht aus einer Haltung von Freundschaft, von Liebe, von Verbundenheit, von Mitgefühl. Diese Freundschaft, dieses Verbundensein, dieses Mitgefühl in uns frei zu setzen ist Sangha. Es bedeutet selber Sangha zu werden und den Dharma mit allen anderen zu teilen. Mit dieser Erklärung könnt ihr sicherlich nachvollziehen warum es dann in kondensierter Form heißt, die Drei Juwelen sind die beste Stütze. Die Ausrichtung auf das Erwachen, das Leben in Dharma Qualitäten und das Verbundensein mit allen in Freundschaft, Liebe und Mitgefühl, das ist die beste Stütze für deinen Weg. Da haben wir die äußere Inspiration, Buddha, Dharma, Sangha und die wecken in uns die inneren Aspekte von Buddha, Dharma und Sangha. Und dann passiert es in einem Leben, dass man wie ein ABC-Schütze Zuflucht nimmt in Buddha, Dharma und Sangha und alles scheint so weit weg. Und dann transformieren einen diese Unterweisungen, die Praxis dieser Unterweisungen, dass man später im Leben tatsächlich schon Sangha für andere ist und tatsächlich den Dharma schon weiter geben kann und tatsächlich weiß, was Erwachen ist. Das ist also ein Prozess. Zuflucht ist ein Prozess, nicht etwas Stabiles, sondern diese ständige Ausrichtung auf das Essentielle bewirkt eine innere Transformation. Das ist die Folge davon. Wer so ausgerichtet ist, erlebt tiefste Transformation, weil wir uns immer am Wesentlichen orientieren. Deswegen beginnt Milarepa wohl auch seine Liste von 30 Leitsätzen mit genau dieser Instruktion. Weil diese Ausrichtung die Basis ist. Diese Ausrichtung macht unseren spirituellen Weg stabil. Dank dieser Ausrichtung machen die Unterweisungen, die wir erhalten, auch viel mehr Sinn. Die sind nicht reine Philosophie, sie sind das, was es braucht, um das Erwachen zu verwirklichen. Habt ihr Fragen zu dieser dreifachen Zuflucht? Erlebt ihr das auch so? Frage: Wenn ich Zuflucht nehme oder mich mit den Drei Juwelen verbinde ist das auch ein bisschen mit den Drei Kayas. Wenn ich zu Buddha Zuflucht nehme, dann ist das wie eine Qualität von, so wie ich Dharmakaya verstehe, es ist überall, es ist in allem drin. Das Göttliche oder das was allem zugrunde liegt oder worin alles statt findet. Dharma ist für mich so eine Qualität von Energie oder etwas was ich als Sambhogakaya verstehe. Es ist wie eine Kraft, die wirkt. Man könnte sagen erleuchtete Kommunikation. Frage: Ja oder einfach Energie, etwas was Kraft hat. Sangha ist ein bisschen so wie Nirmanakaya. Das ist die Manifestation davon. Das beinhaltet die anderen Kayas aber es ist das was wie als Phänomen erscheint oder sichtbar wird. Und du unterbreitest uns jetzt diese Überlegung. Hast du einen gewissen Zweifel an dem? Frage: Nein, eigentlich nicht, ich wollte noch einmal sicher gehen, ja so gesehen, Zweifel. Es ist eine mögliche Sichtweise. Ich kann dem zustimmen. Aber ich möchte dich noch auffordern noch einmal hinein zu spüren, ob nicht bereits der Buddha an sich alle drei Kayas beinhaltet, ob nicht der Dharma in sich alle drei Kayas beinhaltet, ob nicht die Sangha in sich alle drei Kayas beinhaltet. Schau noch mal da hinein. Es könnte sein, dass jedes für sich auch schon die drei Kayas sind. ... Meditation … Auch wenn ihr jetzt zur Gehmeditation übergeht, denkt daran, dass meditieren bedeutet, sich im Heilsamen zu versenken. Das heißt, im Heilsamen aufzugehen. Geht so, seid so, dass es euch zutiefst gut tut und auch anderen gut tut. ***

2. Vertrauen Heute morgen als ich die Zufluchtsmediation angeleitet habe, habt ihr vielleicht gemerkt, dass wieder zwei neue Elemente hineingekommen sind. Und zwar habe ich heute auch die Hingabe kurz angesprochen, habt ihr das gemerkt heute morgen. Viele von uns, viele Menschen in unserem Kulturkreis haben richtig große

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Mühe mit der Hingabe. Es ist etwas Hingabe an Menschen und auch an Institutionen, das kommt für die meisten von uns kaum in Frage. Und wir sind da zu Recht ganz, ganz vorsichtig, weil so oft schon Vertrauen und Hingabe missbraucht worden sind und dann eben sogar bis hin zu Kriegen zu führen und so weiter. Und doch haben viele von uns – ich weiß das auch von mir. Ich habe es dann erst im Laufe der Jahre entdeckt, ein starkes Bedürfnis sich hinzugeben. Und wie immer ist es so, dass es hilft sich den tieferen Sinn der Hingabe sich klar zu machen. Es ist zum Beispiel im tibetischen Tradition so, dass einem oft empfohlen wird Hingabe – Guru Yoga, die Guru Yoga Praxis mit Gurus auszuüben, die schon verstorben sind. Also extra nicht mit noch Lebenden, bei denen die Biographie noch nicht abgeschlossen ist. Also im Grunde genommen sich auszurichten auf Vorbilder der Vergangenheit, wo kein Skandal aufgetaucht ist, wo die Biographie wirklich abgeschlossen ist, in dem Sinne, man weiß es handelt sich wirklich um eine vertrauenswürdige Person. Auch nach dem Tod ist nichts mehr aufgetaucht, was irgendwie Anlass zu Zweifeln gibt. Und klassische GuruYogas beziehen sich zum Beispiel auf Milarepa, dessen Text wir hier durchnehmen, auf seinen Schüler Gampopa oder dessen Schüler Karmapa oder auch Guru-Yoga auf Buddha Sakyamuni oder Matschigma, die Begründerin des Chöd oder Yeshe Tsogyal die Gefährtin von Guru Rinpotsche oder Guru Rinpotsche selber, oder klassische Guru-Yoga, es gibt viele davon. Die ganze Praxis der Niederwerfungen in der Zuflucht, wenn wir diese 100.000 Niederwerfungen machen ist eine Praxis der Hingabe, da ist der ganze Zufluchtsbaum mit Millionen von Erwachten vor uns. Und wenn die Kommentare hineinschauen, die mündlichen Erklärungen dazu bekommen, dann heißt es, ja und Buddha Dorje Chang, Vajradhara im Zentrum ist die Essenz der ganzen Zuflucht. Dieser Ur-Buddha, auch Samantrabadra genannt, Vajradhara und verkörpert all die Qualitäten des Erwachens und eigentlich ist die ganze Hingabe gar nicht auf Personen ausgerichtet, sondern auf die Qualitäten des Erwachens. In den 3Jahres-Retreatzentren, klar Menschen in unserem Alter, aus unserem Kulturkreis, kamen oft diejenigen, die Niederwerfungen praktizierten an die Grenzen ihrer Hingabe. Weil die kennen die nicht, Milarepa, Gampopa, Marpa und so weiter, wir kennen die nicht, wir haben sie noch nie getroffen, wir haben keine Möglichkeiten persönlichen Kontakt einzugehen und so weiter. Und dann haben wir das ernst genommen, was in den Kommentaren steht und uns klar gemacht, was sind eigentlich die Qualitäten des Erwachens? Und da haben wir uns ja uns schon einiges damit beschäftigt. Jeden Morgen gebe ich Euch einen Anstoß, Euch zu erinnern. Was sind die Qualitäten auf die ein jeder von Euch sich ausrichten möchte. Diese Qualitäten frei von Ichbezogenheit, könnt ihr euch sicher sein sind Qualitäten des Erwachens. Es ist einfach wichtig sie von diesen Fixierungen, von Greifen zu befreien, aber dann sind es Qualitäten des Erwachens. Im 3-Jahresretreat habe es einige dann so gemacht und Pappkarton genommen und darauf geschrieben: Liebe, authentisches Sein, Freigiebigkeit, Fließen und dann haben sie ihre Niederwerfungen vor den Pappkartons gemacht. Aber das heißt im Bewusstsein sich ausdrücklich hingebungsvoll vor den Qualitäten verneigen. Und wenn ich mich vor Dir verneige, oder vor Dir, dann verneige ich mich ja vor den Qualitäten, die ich in dir sehe. Und genau so ist auch der ganze Guru-Yoga, wenn wir Hingabe zu Milarepa entwickeln, den wir nie getroffen haben, wenn wir den nur hören, dann deshalb, weil da uns Qualitäten bewusst werden. Alle Heiligen, alle erwachten Vorbilder inspirieren uns durch die Qualitäten, die die überlieferten Erzählungen in uns anrühren. Und darum geht es eigentlich. Deswegen, wenn ich heutzutage die Zuflucht anleite, gehe ich direkt zu den Qualitäten. Immer geht es um die Qualitäten und wenn wir dann Menschen begegnen oder von Menschen hören aus der Vergangenheit, wie diese Qualitäten gelebt haben, gibt es noch zusätzlich eine Verstärkung dieser Hingabe. Was ich sagen möchte ist, es ist möglich Hingabe zu entwickeln und sie kann sich auf die Qualitäten richten. Die Qualitäten all der Meisterinnen und Meister die dazu beigetragen haben, dass der Dharma heute bei uns ankommt. Qualitäten auch von unseren Angehörigen, unserer Nächsten, FreundInnen, unserer Geliebten, wo wir sagen, ja vor dieser Qualität verneige ich mich, nicht vor der Neurose – aber vor den Qualitäten. Man nennt das sich verneigen vor der Buddha-Natur im anderen. Jedes Mal wenn wir die die kleine Verbeugung, mache zum Ende der Meditation verbeuge ich mich dankbar vor eurer Buddha-Natur. Die Buddha-Natur in jedem einzelnen. Das ist eigentlich der Sinn, wenn man sich mit zusammengelegten Händen begrüßt, wenn man in Indien Namaste sagt, das ist eigentlich der Sinn sich vor den Qualitäten des Anderen zu verneigen, diese wertzuschätzen. Grüß Gott ist doch eigentlich das gleiche, oder? Grüß Gott könnte das selbe sein – man kann es so verstehen: Grüß Gott in Dir. Hingabe kann also durchaus auch von einem hoch bewußten, skeptischen Westeuropäer praktiziert werden. Wir müssen sie einfach auf das ausrichten, was absolut verlässlich ist, dann kann sie erblühen, dann kann unsere Hingabe unser Herz füllen. Da wo wir sicher sind, da richten wir uns Hingabe aus, das und auch nur das ist echte Zuflucht. Niemand von uns hat Buddha Shakamuni getroffen. Die ersten schriftlichen Aufzeichnungen, 400-450 Jahre nach seinem Tod. Was da verlässlich ist: Keine Ahnung. Aber die da was

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aufgeschrieben haben oder die, die was mündlich überliefert haben, haben Qualitäten betont und in den Fokus gerückt, die heute noch in Hingabe inspirieren. Und von daher kann der uns völlig unbekannte Buddha Shakamuni durchaus, wie so eine Linse, wie ein Fokus machen für unsere Hingabe. Und wir können in der Figur einer Buddha Statue, die nichts mit dem historischen Buddha zu tun hat, können wir die Qualitäten von unserem eigenen Menschseins sehen. Der Buddha ist rasiert rumgelaufen, der hat keine blauen Haare gehabt, der hat auch nicht diese langen Ohrläppchen gehabt. Der war höchstwahrscheinlich ziemlich mager und nicht so wohl proportioniert. Also zwischen einem historischem Buddha und einer heutigen Buddha-Statue sind Welten dazwischen. Und zugleich zeigt die Buddha-Statue vielleicht am allerbesten wer der Buddha wirklich war. Weil ein Foto hätte das vielleicht gar nicht vermitteln können, was da an Qualitäten zu spüren ist. Dieser Gleichmut, auf französisch sérénité, diese leichte heitere Freude des Seins, die zum Ausdruck kommt, diese Güte. Ein klassisches Foto kann es manchmal einfangen, manchmal halt doch nicht. Versteht ihr, was ich meine. Es findet ohnehin alles in der Vorstellung statt. Ob wir uns auf historische, vermeintlich historische Vorbilder beziehen, oder ob wir uns direkt auf Qualitäten beziehen, oder auf den Ur-Buddha Dorje Chang, oder auf Tara, oder Amithaba, das macht eigentlich gar keinen Unterschied. Das sind nur unterschiedliche Prismen, Sammellupen für unsere Hingabe. Da kommt etwas ins Erleben. Auch wenn eine Gestalt, die uns inspiriert vielleicht erst gerade gestorben ist, wie Gendun Rinpotsche, den viele von Euch nie getroffen haben, aber von denen wir halt erzählen, und der dadurch in so manchem von Euch zum Erleben wird, weil das noch so ganz nahe ist, den gibt es noch persönliche Zeugen von seiner Präsenz. Da kann das ins Schwingen kommen, obwohl wir ihn genau so wenig kennen wie Milarepa, der vor 800 Jahren gelebt hat. Es findet alles im Erleben, in der Vorstellung statt. Und mit der Vorstellung können wir arbeiten. Das ist wunderbar. Es gibt nichts wirklicheres als das. Auch die so genannte Realität, auch jetzt der Tilmann, der jetzt vor Euch sitzt, auch der findet in der Vorstellung statt. Ok? Auch der wird durch die emotionalen Filter wahrgenommen und keiner kann wahrnehmen, was wirklich in ihm drinnen los ist. Ja, das muss man sich mal klarmachen, die so gennannte jetzt stattfindende Realität, findet statt in einer inneren Verarbeitung, visuell, auditiv, emotional, Interpretation, Vergleich mit früheren Erfahrungen, in Beziehung setzen, persönliche Vorlieben und persönliche Abneigungen, für jeden unterschiedlich. Das ist schon ernüchternd und befreiend, sich das einmal klar zu machen. Von daher kann ein Milarepa und ein Gampopa genau so wirklich spürbar sein, wie unser Nachbar im nächsten Haus. Ich habe gerade heute morgen eine solche Erfahrung mit Milarepa gemacht. Ich habe im ersten Band von den Vajragesängen auf Seite 17 steht eine ideale Symthomverschreibung. Irgendwelche Geister sind in seiner Hölle und er kriegt sie mit seinen Mittel nicht hinaus. Und dann lädt er sie ein und sagt: Macht es Euch doch gemütlich und seid willkomme. Da ist mir Milarepa, den ich sehr schätze noch mal ein ganzes Stück näher gekommen. Ja so ist es. Ich habe sieben Monate Milarepa Guru Yoga in meinem ersten Retreat praktiziert, vier mal täglich. Milarepa ist mir da so nahe gekommen, der war total erlebbar. Später als ich Gampopa übersetzte, habe ich mich so mit Gampopa verbunden, das waren direkte Inspirationen, als er mir in er mir in meinem direkte Antworten geben würde. So ging es mir immer, wenn ich mich wirklich einließ. Dieses sich einlassen können, ist das eigentliche Geschenk. Der Rest kommt dann von selbst, das offenbart sich dann von selbst. Ich wollte euch noch was zu Gampopa sagen. Es war eines der größten Geschenke, diese kleine Büchlein von Gampopa zu übersetzen.. Ich habe es auch dann mit ein paar Anmerkungen versehen im zweiten Teil. Gampopa hat diese Liste von 30 Leitsätzen, die wir gerade dabei sind zu studieren bei Milarepa fortgesetzt. Und ein ganzes kleines Heftlein geschrieben, mit lauter Leitsätzen aus der mündlichen Überlieferung und die zu kleinen Kapitelchen zusammengefasst, die normalerweise 10 Dinge jeweils zusammenfassen. 10 Dinge, die alles andere übertreffen, 10 die jede Handlung vortrefflich werden lassen, 10 Qualitäten des edlen Dharma. Hat es so zusammengefasst. Wunderbare mündliche Unterweisungen, für mich ein totales Kleinod, ein Schatz. Da brauche ich nur aufzuschlagen, einen Satz lesen und ich bin schon wieder genährt. Ich wollte es euch einfach an Herz legen, da mal hineinzuschauen. *** Hingabe, das ist die Herzensöffnung, die von uns ausgeht, hin zu den Qualitäten, hin zu den inspririerenden Vorbildern. Segen ist das, was dann als Erfahrung entsteht, wenn die Qualitäten wirklich beginnen in uns zu schwingen Bildlich stellen wir uns das so vor, dass dann von der Zuflucht – nehmen wir mal Buddha Shakyamuni vor uns ls Beispiel – das dann vor und Lichter ausgehen, die uns in unseren berühren, erfüllen, mit diesen Qualitäten füllen. Und traditionell ist es so, dass wir das Licht in der Stirn einfließen lassen in weißer Farbe, und uns mit den Qualitäten von erwachten Körper verbinden, das rote Licht in die Kehle hineinfließen lassen

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und die Qualitäten erwachter Kommunikation wenden – Rede. Das blaue Licht ins Herz fließen lassen und uns mit den Qualitäten des erwachten Geistes verbinden. Oft geht man noch wieter und läßt gelbes Licht in den Nabel fließen. Das Nabelzentrum ist Ausdruck erwachter Qualitäten. Und grünes Licht ins geheime Zentrum, vier Finger unterhalb des Nabels als Ausdruck der erwachten Aktivität. Körper – Rede – Geist – Qualität – Aktivitäten. Und dann noch alle zugleich, dass wir sie nicht künstlich trennen. Wenn wir uns ganz darauf einlassen, diese Segensübertragung zu erhalten, dann spüren wir, wie unser ganzes Sein anfängt mit diesen Qualitäten zu vibrieren. Dann lassen wir diese Vorstellungen los, das Bild (???) löst sich in Licht, verschmilzt durch den Scheitel in uns wodurch unser ganzes Sein erfüllt wird und danach beginnt die Mahamudra Meditation, die von Vertrauen geprägt ist, nicht verschieden zu sein vom Erwachen, nicht verschieden zu sein vom Buddha. In diesem Vertrauen beginnt die Praxis. Man nennt das den Guru-Yoga zu Beginn der Mahamudra Praxis. Eigentlich gibt es gar keine Mahamudra Praxis ohne diesen initialen Guru Yoga. Yoga bedeutet Vereinigung, etwas Zusammenführen. Es ist derselbe Wortstamm wie das deutsche Wort „joch“, wo zwei zusammenkommen. Zwei Dinge kommen zusammen und bilden eins, der Geist des Schülers, der Schülerin, des Geist des Meisters, der Meisterin werden eins, untrennbar. Diese Qualitäten werden in uns angerührt, die Untrennbarkeit unseres eigenen Seins vom Seins des Gurus, der Quelle des Segens, das ist das, was da erfahrbar wird. Aus diesem Segen heraus, stimuliert durch unsere Hingabe beginnt die Praxis. Immer wieder wenn wir in Selbstzweifel fallen, erinnern wir uns an dieses andere Erleben von uns, an dieses andere Selbstbewusstsein. Wir erinnern uns daran, in eine leichte Korrektur und Selbstzweifel keinen Vorschub zu geben, sondern lass den Buddha in Dir meditieren, lass den Guru meditieren. Ich wiederhole mich, ich weiß, für diejenigen die schon in anderen Kursen waren. Aber es ist so eine wichtige Instruktion. Gendün Rinpotsche sagte immer: „Bei der Meditation: 99 % macht der Lama“. Da fragten wir ihn: Was ist das 1 % das wir machen sollen. Da sagte er, „das eine Prozent das ihr macht ist am Kissen anzukommen. Der Weg zum Kissen, das ist eure Aufgabe. Sobald ihr Euch hinsetzt, meditiert der Lama. Lasst den Lama meditieren.“ Und er war sich so sicher, ich bin mir dessen auch völlig sicher. Wenn wir das schaffen, wenn wir uns dem Segen überlassen können, macht der Lama 99 % der Arbeit. Das ist völlig klar. Weil die Natur des Geistes in uns ist so, sobald wir es ihr erlauben entfaltet es sich, sobald wir Raum geben zeigt sie sich. Und es wird ganz, ganz einfach zu praktizieren. Total einfach. Es wird zu einer absoluten Freude, zu Sein. Wir nennen das dann Meditation, aber es einfach ein sich entfaltenden Seins, und das macht unser Geist von selbst. Wie jeder Geist, jeder Geistesstrom macht das von selbst. Wenn wir es erlauben. Wenn wir immer wieder fixieren und dazwischen kommen Zweifeln und unserem mangelnden Selbstvertrauen, dann klappt das nicht so ganz. Da können wir ein bisschen Nachhelfen, indem wir weniger tun, nicht mehr tun, weniger, lassen. Das ist mit dem zweiten Satz bei Milarepa gemeint. Der erste war gestern: Mein Sohn, die drei Juwelen sind die beste Stütze, sagte Marpa. Als Freund nimm Dir Vertrauen. Und das Vertrauen ist der beste Freund. Angst ist ein schlechter Berater. Vertrauen ein guter Berater, ein guter Freund. Dieses Vertrauen zunächst mal technisch gesehen in der tibetischen Tradition ist es so, Vertrauen zunächst einmal zweierlei. Vertrauen in die drei Juwelen, also Vertrauen in unseres eigene Sein als Buddha, in die Natur der Wirklichkeit, Vertrauen in die Sangha. Das zweite Vertrauen ist das Vertrauen in Ursache und Wirkung. Das was immer wir tun tatsächlich Auswirkungen hat. Das heißt, es bringt etwas, sich anders zu verhalten. Es hat Auswirkungen, anders zu Denken, anders zu kommunizieren. Es verändert unser Leben. Vertrauen in Karma bedeutet, Vertrauen in die Gestaltungskräfte zu haben, dass unser Leben tatsächlich durch vergangene Gestaltungen geprägt ist, und wir jetzt durch unser jetziges Gestalten dazu beitragen, wie es weiter geht. Dieses grundlegende Vertrauen in die Natur des Seins, dass alles bedingtes Entstehen ist, und dass wir an diesen Bedingungen Anteil haben, dass wir mitgestalten, das bedeutet, dass es Sinn macht einen Weg zu gehen. Ohne dieses Vertrauen, würde es keinen Sinn machen sich anzustrengen. Wenn es nicht so wäre, dass unsere Bemühungen, unsere Änderungen im Verhalten, in den Einstellungen in Kommunikation Früchte tragen, dann könnten wir es ja gleich bleiben lassen. Darum ist das der zweite wichtige Aspekt. Wir wissen, dass alles wirkt. Alles hat Auswirkungen, wie ich Denke, wie kommunizieren wir miteinander. Alles hat Auswirkungen, wie ich denke, wie ich kommuniziere wie ich handle. Wenn wir tiefer gehen, bedeutet Vertrauen, Vertrauen in die Natur des Geistes selbst zu haben. Dieses selbst Entfaltende, das sich selbst Entwickelnde, aus der Verwicklung lösende Eigenschaft des Geistes. Und mit der Zeit entsteht glaube ich bei jedem von Euch dieses Vertrauen. Bemerkt, wenn wir Raum geben, wenn wir uns entspannen, kommt nur Gutes zum Vorschein. Ist erstaunlich, nicht? Je weniger wir tun, je weniger wir Kontrolle ausüben, je mehr wir ins Vertrauen gehen, umso so schöneres Erleben wir mit unserem Geistesstrom. Es ist wunderbar, was da zum Vorschein kommt. Und dieses Vertrauen das ist der

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beste Freund. Bei verfahrenen Situationen, wenn ich da Zugang zu diesem Vertrauen finden kann, ist das Beste was passieren kann. Das eröffnet den Zugang zu den inneren Qualitäten. Und diese Qualitäten helfen dann diese Situation zu meistern, zu gestalten. Also zu Vertrauen im umfassenden Sinne ist tatsächlich der Beste Freund. Der Buddha hat einiges in den Pali-Sutren und Lehrreden über das Vertrauen gesagt. Auch der Buddha hielt Vertrauen für die wichtigste Qualität auf dem Weg des Erwachens. Kein blindes Vertrauen, sondern Vertrauen bedeutet auf Erfahrung beruhendes Vertrauen. Immer das Vertrauen in die Hand nehmen, wo wir bereits wissen: Ja, das ist vertrauenswürdig, ja tatsächlich, und dieses Vertrauen, wo wir bereits sicher sind, das stärken wir, das nutzen wir. Und dadurch entdecken wir weitere Bereiche des Vertrauens. Weil ich gute Erfahrungen mit Entspannung gesammelt habe, entspanne ich mich noch ein bisschen mehr. So einfach. Weil ich gute Erfahrungen bei einem Lehrer, einer Lehrerin gesammelt habe, gehe ich immer wieder hin. So einfach.

3. Gedanken Dritter Satz: Die größten Dämonen sind die Gedanken. Jetzt habe ich doch die ganze Zeit gelehrt: Die Gedanken sind kein Problem, jetzt sagt Milarepa, die größten Dämonen sind Gedanken. Wie bekommen wir denn das jetzt unter einen Hut. Teilnehmer: Dämonen sind auch kein Problem. Genau, Dämonen sind auch kein Problem, auch Dämonen haben keine Substanz. Ich glaube ihr versteht es sofort, was gemeint ist mit diesem Satz. Was uns das Leben wirklich schwer macht, ist nicht so sehr was wir erleben, sondern was wir draus machen. Im Vorhinein schon, bevor es passieren könnte, im Nachhinein, nachdem es passiert ist. Währenddessen kommen wir kaum zum Denken. Ist doch so, oder? Diese Filme sind damit gemeint. Hier steht bestimmt im tibetischen namtog, das ist nicht tokpa nur Denken, sondern dieses überflüssige, dualistische Denken. Damit erzeugen wir das zusätzliche Leid. Das unausweichliche, da kommen wir nicht drum herum das ist ohnehin das was passiert, das Älterwerden, das Krankwerden, Trennungen und so weiter. Das ist einfach in der Natur der Sache, in der Natur des Lebens. Aber das, was wir dann daraus machen, dranhängen, das ist dann das Hamsterrad. Das Hamsterrad, das berühmte samsarische Hamsterrad besteht durch und durch aus Gedanken. Wobei ihr, für diejenigen die damit noch nicht so vertraut sind. Gedanken hier meint begriffliche Geistesbewegungen inklusive all der Emotionen, die sich dranhängen. Das nennt man auch Gedanken, das muss man wissen. Das ist alles dieses emotionale Denken. Dann geht man davon aus, dass einer Emotion einem Gedanken vorausgeht, wenn auch subtil. Die Emotion drückt sich aus in emotionalem Denken. Wenn die Emotion sprechen würde, würde ich sagen: „Ich habe ein Problem, ich will nicht, ich will.“ Solche Gedanken findet man ständig, während man in einem emotionalen Zustand ist. Es ist als ob, diese emotionale Fixierung eine Masse solcher Denkformen produziert – ein Feuerwerk. Aber dann ist diese Emotion schon da. Es gibt unterschiedliche. Es gibt sie als Stimmung. Stimmung sind noch nicht diese begrifflich Denken. Und es gibt tatsächlich nur Stimmung nur als Gedanken. Es gibt da verschiedene Ausprägungen. Feine untergründige Stimmungen sind ein nicht begriffliches Fixieren, was dann zu diesen begrifflichen Gedankenformen führt. Es gibt tatsächlich andere Formen emotionaler Verstricken, die eigentlich völlig aus dieser Art des Denkens bestehen. Hat das mit Glaubenssätzen zu tun. Es ist reines emotionales Cinema, ja. Glaubenssätze sind Gedanken, eindeutig, es sind krasse begriffliche Gedanken. Über die man sich bewusst ist.

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Leider nicht. Sobald man sich diesen ein bisschen zuwendet, dann kommen sie zum Vorschein, dann zeigen sich diese Glaubensätze. Das ist ja auch ein großer Teil therapeutischer Arbeit, diese Glaubenssätze deutlich zu machen. Um dann eine gewisse Distanz davon zu finden, um sie dann zu hinterfragen und zu merken: Stimmt ja so gar nicht. Emotionale Glaubenssätze wie: „Ich bin zu nichts gut“, „ich schaffs nicht“ „niemand liebt mich“, oder was auch immer, diese Glaubenssätze sind, die sind versteckt aktiv und unglaublich kraftvoll. Ein Teil der meditativen Arbeit besteht darin, sich dieser Glaubenssätze bewusst zu werden und eine Lösung zu finden damit. Sie nicht mehr zu nähren. Die wesentliche Arbeit ist mit dem Geist, das heißt, mit der Art und Weise, wie wir denken, in welchen Glaubensvorstellungen wir uns bewegen, welche Annahmen wir über die Wirklichkeit, über uns selbst haben, darin findet die wesentliche innere Arbeit statt. Können solche Glaubenssätze durch Vertrauen unterminiert werden? Ja können sie, eindeutig. Und zwar das, was ich Euch da so anbiete mit dieser Zufluchts-Visualisation, das kann so stark werden sein, wenn wir uns wirklich öffnen für die Qualitäten, sie in uns zu schwingen beginnen und wir dann die Verschmelzung mit der Zuflucht ausführen, dann wenn wir da drinnen sind, finden diese Glaubenssätze keinerlei Halt. Es ist wie als würden sie abperlen von uns. Da merkt man, wie tief das gehen kann, wo wir keine Arbeit gemacht haben, keinen begrifflichen neuen Glaubenssätze geschaffen haben, aber wir haben so stark die inneren Qualitäten aktiviert, dass diese Glaubenssätze, die diese inneren Qualitäten verneinen, keine Chance haben. Allerdings nachher, sobald wir wieder draußen sind und nicht mehr stabil verankert sind, dann schon wieder, dann müssen wir wieder damit arbeiten und wieder in der Tiefe das Vertrauen aktivieren. Dieser Prozess läuft dann nicht weiter? Nein, das hat Du wahrscheinlich gemerkt, dass er heute morgen weitergelaufen ist. Das ist nur solange, wie wir da auch darin stabil bleiben. Aber es zieht mit der Zeit eine andere Grundhaltung ein, mit der Zeit tritt eine andere Sicht von uns ein. Zuerst haben wir uns vielleicht vorwiegend für unfähig gehalten und nicht liebenswert usw.. Mit der Zeit, wenn wir solche Praktiken ausführen, entsteht ein Gefühl: „Ja, aber ich bin auch liebenswert, ich kann auch lieben, tatsächlich da ist auch etwas anderes in mir, etwas ganz Erwachtes und das wird mit der Zeit stärker. Das andere wird weniger bedient, weniger und weniger. Ist das so gemeint, dass während des Retreats wenn wir meditieren, mit der Aussicht auf das Objekt, das wir uns mit dieser Methode und den Qualitäten zu verbinden? Ja ihr könnt als Buddha auf das Objekt meditieren. Ihr könnt alles was wir Euch lehren, jederzeit anwenden. So ist das gedacht. Wenn ich jetzt mit den von Dir gegeben Bildern Schwierigkeiten habe, diese zu visualisieren, kann ich dann auch andere Bilder nehme? Ja klar, zum Beispiel eine Lichtquelle, du kannst Dir vorstellen, das einfach wie eine Sonne Dir mit diesem Qualitäten gefüllt, Du aus dieser Lichtsphäre Segen erhält, oder das eine Lotusblüte oder ein Symbol aus der Natur Dir diesen Segen schenkt. Oder eine wunderbare Situation aus deiner Vorstellung, zum Beispiel wie Du selber völlig befreit über die Wiese läufst, und Du ganz in Deiner Kraft bist und daraus etwas in Dir aufsteigt, der Segen entsteht. Es gibt so viele Möglichkeiten dazu. Das ist nicht etwas was ich hier für Euch zu recht biege, in jeden Kommentar steht auch, dass für diejenigen, die das so nicht visualisieren können, dass eine Lichtsphäre ausreicht, oder eine Keimsilbe dafür genommen wird, oder ein Regenbogenlicht genommen wird, es gibt so viele Hinweise darauf. Und das ist so entlastend, so entlastend, dass man nicht über die menschliche Form gehen muss.

4. Stolz Nächster Satz: „Der größte Verführer ist der Stolz, sagt Marpa“. Schon klar? Ansatzweise ist es allen klar, was für ein großer Verführer der Stolz ist, aber ich möchte ein paar Worte hier erläutern. Den Stolz den wir merken, dass ist nicht der schlimme. Der Stolz den wir nicht merken. Warum merken wir ihn nicht? Weil viele Formen von Stolz zunächst einmal angenehm sind. Ein

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angenehmen Gefühl mitbringen. Wir fühlen uns extra oder zumindest sicher, wir lassen andere gar nicht so, dass sie uns gefährlich sein können. Und ein Gefühl von Fülle oft, von geben können, von nichts brauchen voneinander, ich kann selbst, ich mache selber, das ist das Verführerische am Stolz. Da wo wir uns unabhängig fühlen und uns selbst genug. Der Stolz, den wir nicht bemerken, ist der, den wir schon seit langem in uns tragen, der ist wie unsere Haut geworden. Da sagen da andere vielleicht, Du wirkst so distanziert, oder du wirkst so kühl, oder Du scheinst immer alles besser zu wissen, ich mag deine Hilfe nicht. Stolze wollen gerne helfen, sie verströmen sich dann so, geben gerne Hilfe, wird aber auch gerne abgewiesen von sensiblen Menschen. Die merken, dahinter kein echtes Mitgefühl, sondern eine etwas herablassende Geste des Gebets. Auch wenn es nur ein kleiner Anteil ist. Dann fragen wir uns, hat das was mit mir zu tun um dank dieser Rückmeldung allmählich dem Stolz auf die Spur zu kommen. Der Stolz von dem Milarepa am meisten spricht, ist der Stolz der sich einstellt, wenn wir tatsächlich Qualitäten benutzen, wenn wir tatsächlich Qualitäten zeigen, etwas gut können, gut meditieren können, den Dharma gut verstehen, die ersten Zeichen des Fortschrittes auftauchen. Da entwickelt sich sofort ein stolzes sich Identifizieren, mit dem was da tatsächlich sich an Qualität auftaucht. Vermutlich war das die Warnung. Denn Dharmapraxis wird unsere Qualitäten freisetzen. Unweigerlich. Wir werden Zugang zu mehr Freude und Leichtigkeit finden und und und. Und vor allem Dingen auch zu tieferem Verständnis. Da müssen wir darauf achten, daß wir nicht dem Stolz auf dem Leim gehen, dem Verführer und uns nun mit dem, was dadurch zum Vorschein kommt, dass wir uns endlich entspannt haben, identifizieren. Gendün Rinposche hat mit mir da auch einiges zu tun gehabt. Das krasseste hat er zu mir sagte – das hat er auch zu anderen gesagt, das habe ich glücklicherweise dann auch später gehört: „Wenn Du so toll wärst wie du denkst, wieso bist du dann immer noch nicht erleuchtet?“ Dann sagte er noch. „Alle Qualitäten stammen aus dem Dharma. Keine der Qualitäten stammt aus dem Ich.“ Das sind so Zahnwurzeloperationen im Bereich des Stolzes. Wenn man sich das mal klarmacht, dass eigentlich alle Qualitäten verschwinden, wenn das Ich sich aufpustet, dann verschwinden alle Qualitäten. Wenn Ich den Qualitäten nicht mehr im Weg stehe, ihnen Raum gebe, dann können sie sich zeigen, da wo keine Ich-Identifikation ist, da zeigt sich Mitgefühl, da wird Liebe möglich, da wird spontanes Verstehen möglich, da ist ganz normaler zwischenmenschlicher Austausch möglich. Sobald der Stolz anspringt, wird das schon wieder eingeschränkt. Wenn man sich das klarmacht, merkt man, dass Qualitäten tatsächlich nur dann zum Vorschein kommen, echte erwachte Qualitäten, wenn das Ich gerade nicht dazwischen funkt. Und wenn das Ich auch noch so frech ist, zu meinen, sich die Qualitäten zuschreiben zu können, das ist pervers, es ist absolut widersinnig. Weil es ist das ganze Gegenteil. Dieses Ich von dem ich jetzt spreche, ist die neurotische Ich-Bezogenheit, nicht das gesunde Ich-Gefühl aus der Psychologie. Nicht dass wir uns mißverstehen. Das gesunde fließende Ich, die Integration aller Qualitäten, wo wir die westliche Psychologie darüber sprechen, ist das was wir als die befreienden Qualitäten im Dharma nennen. Jetzt wenn wir hier darüber gesprochen wird, ist diese übertriebene IchIdentifikation. Die zu Anspannung führt und eigentlich von Grund auf Anspannung ist. Die Unsicherheit des Seins. Bin ich oder bin ich nicht, diese Anspannung, die da reinkommt. Versteht ihr was ich sagen möchte. Wie gehst Du mit Momenten um, wo Stolz reinkommt, wie gehst Du mit diesen Momenten um. Sagen wir mal Du unterrichtest gerade und wirst stolz. Weitermachen und wieder ins Dienen hineinkommen. Der Situation dienen kommen. Wie machst Du das geistig? Geistig mach ist das so zu merken. Ups, jetzt war gerade Stolz. Kleine Richtungsänderung, dann mache ich genau das, dass ich mich erinnere. Ich brauche dazu ja nicht so viel, weil ich habe den Stolz mir so viele Male schon angeschaut. Wenn ich das bemerke, dann: nicht ich bin wichtig, sondern die Situation ist wichtig, die Menschen, die da sind, wieder der Gesamtsituation dienen. Ja das ist ein korrigierender Gedanke, eine andere Geisteshaltung, manchmal auch die Illusion des Ichs des Stolzes zu durchschauen. Je nachdem. Und ich bin auch nicht immer in der Lage daraus auszusteigen. Ist das Identifizieren bei zunehmenden fortgeschritten Qualitäten, ist das vermeidbar? Vermeidbar, dass es anspringt ist es wohl nicht. Man kann es nicht wirklich vermeiden, das es Thema wird. Es ist sehr natürlich. Es geht darum es schnell zu erkennen und schnell wieder aufzulösen. Wenn unser Gewahrsein feiner wird, dann kommt es nicht mehr so oft zu Verwechslung, dass man denkt, es wäre die eigene Qualität. Dann merkt man es ist die Qualität der Natur des Geistes. Das ist das, was Gendün

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Rinposche Dharma nannte, das sind Qualitäten des Dharmas, damit meinte er den Dharmakaya, den Wahrheitskörper in uns, der wahren Natur in uns. Das ist da mit Dharma gemeint. Ich zumindest befinde mich noch sehr am Anfang des Weges. Und selbst das eine Prozent an Motivation aufzubringen, von dem Gendün Rinposche spricht, dass ja schon schwer genug. Da könnte es ja helfen, wenn uns einen Emotion hilft uns auf das Kissen zu bringen. Deswegen die Frage, ob Stolz nicht ein bisschen sein darf, da hat mal was gut geklappt, oder ist das schon gefährlich? Welche Emotion Dich auch immer auf das Kissen birgt, ergreife sie beim Schopf. Ich bin auch schon aus Verzweiflung aufs Kissen gegangen, in der Wut, im Stolz, was auch immer, egal, welche Emotion uns da hin bringt. – es war meine einzige Rettung. Ich finde es ein unheimlich schwieriges Terrain. Fred Allmen macht mit uns am Abend oft so eine Übung: Wir sollen uns überlegen, welche schönen und positiven Dinge wir am Kissen den ganzen Tag vollbracht haben. Ich sitze da meistens da, und da kommt erstmals gar nichts. Und da fängt er an aufzuzählen: Ausdauer, Mitgefühl – und mir fällt schon wieder nichts mehr ein. Das ist die berühmte Wertschätzungsübung. Richtig, Ich finde es unheimlich schwierig das abzugrenzen. Auf der einen Seite zu versuchen, wirklich wert zu schätzen, die Arbeit, die wir hier machen und dann aber nicht daran zu haften und diesen Stolz nicht zu entwickeln. Ja, das kann ich verstehen, warum das ein bisschen schwierig ist. Da würde ich sagen, du darfst ruhig mal ein bisschen stolz sein. Ich finde, wir können alle ein bisschen stolz sein, dass wir jetzt schon drei Tage durchgehalten haben. Da ist nichts verkehrt daran. Das ist einen echte Wertschätzung und das darf man in der normalen Art des Sprechens ruhig mal sagen: Ja da bin ich jetzt stolz darauf, das mir das gelungen ist. Das darf ruhig sein. Das ist noch ein Stück etwas anderes sich damit zu identifizieren, zu denken: Ich hätte das gemacht. Irgendein Ich, der der Meister, der Chef von allem ist. Wir dürfen ruhig mal sagen: Ah da bin ich wirklich stolz, dass ich das endlich mal aufgeräumt habe. Oder, dass ich das durchgestanden habe. Ich habe mir auch angewöhnt zu sagen „Ich bin stolz“, weil es auch so was Gesundes hat. Das ist nicht dieser krankhafte Stolz, sondern dieses wie jedes Mal, wenn ich ein bisschen kritisiert werde, oder wenn etwas schief läuft, oder wenn andere anderer Meinung sind, dann nicht persönlich angegriffen zu fühlen, das ist der eigentliche Stolz. Wie das Leben als eine Attacke auf mein Sein zu verstehen, das ist stolz. Das andere, da kann man darüber schmunzeln, das ist so offenkundig, da darf man ruhig auch einfach mal sagen: Das hast Du aber gut gemacht. Wenn man das so ein bisschen übertreibt, dann ist der Stolz auch schon zur Hälfte geringer. .Wenn man das so richtig ins Bewusstsein holt. Der Stolz der uns Bewusst ist, ist nicht der gefährliche. Wertschätzung ist tatsächlich etwas anderes als Stolz, aber trotzdem, ich will es jetzt gar nicht auseinander halten, es ist völlig ok zu sagen ich bin stolz darauf. Aber das ist bewusst und hat noch nie jemanden krank gemacht. Das führt nicht zu Leid, diese Form von Stolz. Stolz ist erst dann wirklich aufgelöst, wenn wir gar nicht mehr das Gefühl haben, dass ich es bin der etwas tut, der zum Beispiel jetzt meditiert. Es ist so als würde das Nicht-Selbst meditieren, sprechen, hören.

5. Üble Nachrede Rezitation: Zufluchtgebete, die 4 Unermesslichen, Gebet an den Lama/ Guru-Yoga Nach diesen Erklärungen von heute Morgen versteht Ihr bestimmt auch besser den Sinn des letzten Vierzeilers, den wir gerade gesungen haben. Päldän tsawä lama rinpoche... – Strahlender, kostbarer Wurzel-Lama über meinem Kopf auf Lotus und Mond… Das ist vor jeder Praxis oder auch jetzt für mich vor der Unterweisung die Bitte an den Lama, seinen Segen zu geben und dann verschmilzt er nachher mit mir. Ich habe mir jetzt Milarepa vorgestellt, Milarepa um Segen gebeten, dass sein Segen, seine erahnbare Präsenz bei den Unterweisungen dann auch hilft, so dass die Unterweisungen nicht aus dem Ich heraus gegeben werden. Wenn wir das vor einer Praxis machen, dann bedeutet das, dass die Praxis nicht aus dem Ich heraus, ich meine jetzt mit Ich diese Ichanhaften, dass es

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nicht aus dem Ichanhaften, aus der Identifikation heraus geschieht, sondern aus dem Verbundensein mit diesen erwachten Qualitäten. Das ist der Sinn dieses letzten Gebetes. Die anderen beiden dürften euch relativ vertraut sein. Der erste Vierzeiler, den wir dreimal wiederholen, das ist das Entwickeln der Zuflucht, das Ausrichten auf diese erwachten Qualitäten. Da wird als Beispiel angefügt, wie Freigebigkeit und die anderen. Freigebigkeit, heilsames Verhalten, Geduld, freudige Ausdauer, meditative Stabilität, Weisheit usw., all die anderen befreienden Qualitäten und dass wir das zum Wohle aller praktizieren, dass wir zum Wohle aller Buddhaschaft verwirklichen möchten. Das ist der BodhicittaGedanke. Das nennt man auch das Bodhisattva- Versprechen, dass wir als Praktizierende in dieser Welt im Bewusstsein praktizieren, mit allem verbunden zu sein. Der mittlere Vierzeiler, den wir so ein bisschen monoton rezitieren, das sind die vier Unermesslichen. Die teilen wir mit allen buddhistischen Traditionen, das ist überall dasselbe, Liebe, Mitgefühl, Freude, Gleichmut. Aus diesen Geisteshaltungen heraus machen wir die Wünsche zum Wohle aller. Ich wollte das nur einmal im Kurs gesagt haben, weil wir jetzt schon seit ein paar Tagen diese Gebete machen. Ich weiß, dass es für ein, zwei Personen das erste Mal im Leben ist, dass sie diese Gebete hören. Wollen wir noch ein bisschen weiter hören, was Milarepa uns zu sagen hat in seinen allgemeinen Leitlinien für Dharmapraktizierende? In der fünften Zeile sagt er: „Das größte Übel oder der grüßte Schaden entsteht durch üble Nachrede“, sagte Marpa. Hier hat der Übersetzer ein christliches Wort gewählt „Die größte Sünde ist üble Nachrede“. Aber digpa auf Tibetisch bedeutet einfach „Schädliche Handlung“. Es ist vielleicht ganz gut, das christlich angehauchte Wort zu vermeiden. „Üble Nachrede“, das wäre uns vielleicht gar nicht so in den Sinn gekommen, dass das von Milarepa oder auch von seinen Lehrern als ein so großes Übel dargestellt wird. Wenn wir mal genau überlegen, wo wir unser stärkstes negatives Karma sammeln? Wenige von uns sind noch dabei, andere zu verkloppen, wir machen wenig direkte negative Handlungen mit dem Körper. Geistig denken wir uns so manches, aber es hat nicht so schädliche Auswirkungen auf andere, weil die Gedanken bei uns bleiben, erst mal. Wenn sie rauskommen als Rede, dann sind sie extrem kraftvoll. Ein Wutausbruch ist zwar sehr kraftvoll, geht aber vorbei und hat nicht diese langfristigen Folgen wie die üble Nachrede. Wenn wir beginnen, schlecht über andere zu sprechen, schlecht über einander zu sprechen, schlecht über andere, das in Freundeskreise hineintragen, in Vereine, in Teamsituationen und so weiter, zerstören wir die Bande des Vertrauens. Das ist das Kostbarste, was wir haben, die Freundschaftsbande und die Bande des Vertrauens. Damit ist nicht gemeint, auf konstruktive Kritik zu verzichten, es geht hier um ein Sprechen in der Absicht, jemanden runter zu ziehen, zu diskreditieren. Das hat langfristigste Folgen. Wenn aufrichtige Menschen zum Ziel von übler Nachrede werden, kann das unter Umständen bedeuten, dass sie ihren Beruf wechseln müssen, dass sie nicht weiter in der Stadt, in der Gemeinde leben können, in der sie zuhause sind. Das hat unheimlich starke Folgen und deswegen spricht Milarepa darüber. Und er hat auch einen anderen Grund und zwar weil in Dharmakreisen üble Nachrede immer wieder gangund gäbe war und leider heute noch ist, dass man irgendwie die andere Tradition, den anderen Lehrer, den Lehrer im Nachbardorf als Konkurrent, als Rivalen betrachtet und dann schlecht drüber spricht, um sich selbst indirekt hervorzuheben. Und das ist der eigentliche Grund, warum Milarepa das sagt „Sprich nicht schlecht über andere Lehrer, über andere Traditionen“. Keine üble Nachrede. Ein ganz, ganz wichtiges Prinzip. Ihr wisst, wie viele Religionskriege es schon gab und ihr habt vermutlich auch davon gehört, dass es auch in Tibet ziemlich heftig hergeht zu manchen Zeiten. Und dass es auch erwachte Lehrer nicht geschafft haben, die Auswirkungen von übler Nachrede einzudämmen. Und dessen ist sich Milarepa bewusst, dessen war sich auch sein Lehrer Marpa bewusst, der hatte das in Indien erlebt. Und es ist ein unglaublich kostbares Geschenk, wenn man erleben kann, dass religiöse Lehrer, spirituelle Lehrer, Dharma-Lehrer zusammenarbeiten und sich nicht das Wasser abgraben, sondern wirklich, echt einander die Hand geben und Synergien entwickeln. Wenn ich das sage, dann vergleicht ihr das ja mit den Beispielen, die ihr aus eurem Leben kennt und das ist ja wirklich etwas Seltenes. Es gibt da manchmal so etwas wie wohlwollende Stillhalteabkommen oder dass man sich nicht allzu sehr auf die Füße tritt wie die Protestanten und die Katholiken. Aber wenn es dann wirklich zur Sache geht, dann hört man Dinge, das ist schon heftig. Eine richtige Synergie ist schon selten zu finden und das auch in tibetisch-buddhistischen Kreisen in den vier großen Linien und den vielen, vielen kleinen Linien. Alle meinen, das Beste für sich gepachtet zu haben und bringen das manchmal ziemlich unverhohlen zum Ausdruck. Also darum geht es, den spirituellen Stolz zu mäßigen und nicht aus spirituellem Hochmut schlecht über andere Religionen zu sprechen. Ganz, ganz wichtig.

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Lasst uns das einfach beherzigen, mehr brauche ich darüber glaube ich nicht zu sagen. Nicht, dass das irgendjemand hier anders sieht, aber das ist der eigentliche Sinn dieses Satzes in diesem Kontext. Vorher hieß es: „Der größte Verführer ist Stolz“, sagte Marpa. Damit ist spiritueller Stolz gemeint. Der nächste ist deswegen über die üble Nachrede, weil aus dem Stolz passiert es dann, dass man abwertend über andere spricht.

6. Eifersucht „Am schädlichsten auf dem spirituellen Weg ist Eifersucht“, sagte Marpa. Und das Wort Eifersucht hier, tschadok auf Tibetisch, würde ich mit Rivalität übersetzen. Eifersucht und Rivalität, es geht im selben Thema weiter. Und zwar ist es das eifersüchtige Rivalisieren mit anderen Praktizierenden, sich vergleichen. Das fängt damit an, dass ich vergleiche, ob die Person neben mir gerader sitzt als ich oder umgekehrt, dass ich merke, dass ich Mühe habe, mich zu entspannen, meinen Körper einfach entspannen zu lassen, mich zu bewegen, weil ich daran denke, was der andere wohl denkt. Ohne es zu wissen, bin ich schon im Vergleichen. Und wer Dharmagruppen kennt, der weiß, wie die Post da abgeht. Kaum fängt einer an die Niederwerfungen zu machen, fragen die anderen schon „Na, wie viel machst Du denn am Tag?“, um dann irgendwie zu vergleichen, ob man selber mehr oder weniger macht. Es ist nicht zum Aushalten. „Wie lange sitzt Du denn und meditierst?“. Es geht immer um das Messbare. Und wenn man dann das nicht Messbare, die Qualitäten wahrnimmt, selbst dann kriegt man manchmal ein enges Gefühl im Herzen, weil jemand anders irgendwie mehr Qualitäten zu haben scheint, mehr Anerkennung bekommt, irgendwie etwas besonders gut gemacht hat: „Och!“ Aber so sind wir und ich glaube, es gibt auch keinen Weg heraus. Wir müssen es erst mal annehmen, dass es so ist, das dieses Vergleichen in uns abläuft, dass wir es selber tun, dass es nicht nur andere tun. Du schaust mich so fragend an? Teilnehmer: Mir stellt sich so die Frage, dass es manchmal zur Orientierung dient. Ja wenn es zur Orientierung dient, ist ja auch keine Eifersucht im Spiel. Das ist ja völlig in Ordnung. Aber das miteinander Konkurrieren - und letzten Endes ist es doch so, man will irgendwie am liebsten vor den anderen die Erleuchtung erlangen. Letzten Endes kommt es darauf an und deswegen ist das Gegenmittel die Grundhaltung, wenn wir schon mal anfangen wollen, anderen zu wünschen, dass sie besser sind als wir. Es wirklich zu wünschen, dass sie schneller die Erleuchtung, das Erwachen erlangen als wir. Dass sie vor uns dort ankommen. Wenn wir das wirklich spüren, dass wir sagen, ja komm, wir brauchen nichts zurückzuhalten, aber dass wir es allen wünschen, dass sie es noch schneller kapieren, als wir selbst, dass sie es leichter haben, dass sie noch bessere Bedingungen finden, dass ihre Qualitäten gesehen und geschätzt werden. Wenn wir das beginnen in unserem Herzen so zu kultivieren als Wunsch, beginnt das als echtes Antidot für diese Haltung zu wirken. Und dann, klar, ihr wisst es, Mitfreude entwickeln, immer wenn wir etwas Schönes bemerken bei jemandem, egal ob im spirituellen Umfeld oder ganz normal in beruflichen oder gesellschaftlichen Situationen. Sich mitfreuen, wenn andere etwas gut machen, wenn es ihnen leicht fällt oder wenn sie Schwierigkeiten überwunden haben, wenn sie Anerkennung bekommen. Teilnehmer: Ich möchte gern zur Analogie zum Stolz von gestern fragen. Das ist auch nicht so eine Rivalität, wenn zwei rennen und jeder versucht doch eher ins Ziel zu kommen und dann freuen sich beide, wie schnell sie waren, so ein bisschen. Genau, das ist was Nettes. Da kann man sehen, dass man das durchaus entschärfen kann, man kann es mit Humor aufnehmen, man kann gesunden, sportlichen Ehrgeiz entwickeln, aber das ist nicht diese Rivalität, die sogar so weit gehen könnte, dem anderen Hindernisse zu bauen. Ich glaube, es ist alles sehr offenkundig. Es ist einfach auch eine traurige Wahrheit, dass in den erleuchteten buddhistischen Kreisen dieses Thema durchaus gang- und gäbe ist, in allen Organisationen. Ich hatte ja das Glück, dass ich mich viele Jahre, sieben oder acht Jahre, mit den Vertretern anderer Organisationen in der EBU, der Europäischen Buddhistischen Union, getroffen habe und da hört man von überall her dasselbe. Alle haben dieselben Themen. Und wir merken, auch unter uns Lehrern ist es gar nicht so einfach, sich anzunähern und als Lehrer und voneinander zu lernen, eventuell. Weil eigentlich sollte man es ja besser wissen.

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Und da möchte ich euch aber auch von der anderen Situation erzählen, da ist es wunderbar, wenn der Knoten platzt und echte Synergien bemerkbar werden. Wenn der eine auf den anderen zukommt und alle bei jedem eigentlich lernen möchten und man dann frei und freigiebig austauscht, was man weiß und alle Erfahrungen, alle Quellen, alles was man irgendwie zur Verfügung hat zur Verfügung stellt und sagt: „Hier, da ist es. Gerne, wir können auch noch mal privat drüber sprechen.“ So etwas habe ich eben auch erlebt. Aus so einem Geist ist auch das Buch Mahamudra und Vipassana entstanden. Es gibt eben auch so Lehrer wie Fred (Fred von Allmen) und Ursula (Ursula Flückiger) und eine ganze Reihe ihrer Freunde, die überhaupt nicht in dieser Rivalität sind. Das ist ganz, ganz wunderbar und das tut einfach dem Herzen gut. Wenn ihr irgendwo merkt, dass Rivalität im Spiele ist, dann lasst die Hände davon. Das ist nicht die richtige Richtung. Da, wo Eifersucht ist unter Lehrern oder wenn abwertende Bemerkungen gemacht werden über andere, das ist nicht der richtige Ort. Diese Menschen diskreditieren sich selbst, in dem sie über andere schlecht reden. Das muss man einfach, da kann man ganz schnelle Schlüsse ziehen, ganz schnell sagen: „Nein, ist nicht mein Bier, da gehe ich nicht lang.“ Du schaust schon wieder so fragend. Du bist wirklich dabei, tief innerlich zu reflektieren. Ist das da jetzt noch eine Frage? Teilnehmerin: Nee, ich habe für mich selber eine eigene Anmerkung gemacht. Magst Du sie mit uns teilen? Ja, ich dachte mir, was du sagst kann ich wirklich gut nachvollziehen, aber es gibt ja auch manchmal Warnungen. Es kann ja jemand mal eine Warnung sagen: „Du kannst dahin gehen, aber pass auf.“ So in dem Ton. Das ist ja dann vielleicht keine üble Nachrede, sondern eine Erfahrung und Austausch. Der Grad ist schmal, das ist mir bewusst. Ja, ja. Wir haben auch manchmal als Dharmalehrer Mühe, Warnungen auszusprechen. Manchmal gehört es sich, dann müssen wir Warnungen aussprechen. Es ist eine große Kunst, eine Warnung so auszusprechen, dass sie nicht dem eigenen Wohl dient, sondern wirklich dem Wohl desjenigen, den wir warnen wollen, auf eine gute Art. Ja, wenn wir von einem Dharmalehrer wissen, dass da Missbrauch stattfindet oder so, dann gehört es sich eigentlich auch, Warnungen auszusprechen. Es geht dabei immer um Macht, Geld und Sex. Und da, wo keine Transparenz ist, da muss man schon doppelt aufpassen. Teilnehmerin: Ich wollte auch gern noch etwas sagen dazu. Ich war öfter schon im IMS, also bei Freds Lehrer, Joseph Goldstein, und die stehen ja eigentlich in der Theravadatradition. Und die sind inzwischen so aufgeweicht, dass die meisten buddhistischen Lehrer, die dort unterrichten, sich in anderen Traditionen bewegen und das auch mit einbringen, so dass wirklich auch zum Beispiel diese Gebete rezitiert oder gesungen werden, auf Englisch dann. Und ich finde das irgendwie sehr schön. Ich persönlich bin von Fred immer animiert worden, wirklich auch mal über den Teller zu gucken. Danke nochmal für dieses Teilen deiner direkten Erfahrung. Ich möchte nur noch anmerken, dass die ganze amerikanisch-europäische Vipassana-Bewegung, fast die gesamte, sich eigentlich schon aus dem Theravada gelöst hat. So wie auch manche Zen-Lehrer und andere Zen-Lehrer gar nicht. Aber es findet etwas statt, dass immer mehr Dharmalehrer merken: „Ja, die Traditionszugehörigkeit ist nicht das einzige. Es geht darum, den Dharma so zu lehren, dass er den Menschen, die wir vor uns haben auch tatsächlich direkt hilfreich ist.“ Und wenn die Tradition dem im Wege steht, einschränkend wirkt, dann kommt es zu einem Prozess, dass man sich lösen möchte. Es kommt auch manchmal vor, dass es Lehrer gibt, die sagen: „Schau nicht über den Tellerrand, geh nicht woanders hin und studiere nicht bei anderen Lehrern.“ Das ist auch immer etwas bedenklich. Ich möchte euch ermutigen, bei vielen Dharmalehrern zu studieren, viele Dharmalehrer aufzusuchen, bis sich bei euch ein eigenes Verständnis herausbildet von dem, was tatsächlich Dharma ist. Ihr braucht nicht bei einigen wenigen zu bleiben. Es tut gut, viele Lehrer zu haben. Es tut vielleicht auch gut, einen Lehrer/eine Lehrerin zu haben, bei dem ihr eure persönliche Praxis besprecht und eine Kontinuität aufbaut. Aber grundlegend ist es immer von Vorteil, viel Input zu haben, wenn man in der Lage ist, das zu verdauen und die Zeit dafür hat. Das ist gut, viel zu erfahren. Die Vipassana-Lehrer in den USA haben alle bei Kalu Rinpoche, Trungpa Rinpoche, Suzuki Roshi und so weiter und bei den ganzen anderen Dharmalinien studiert und Kurse gemacht und sind mit dem BodhicittaGedanken vertraut geworden, mit dem Mahamudra, dem Dzogchen. Sie unterrichten Vipassana, aber inspiriert von all den Begegnungen, die sie gehabt haben im Laufe der Jahre.

7. Alkohol !86

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Jetzt weiter. Was ist die nächste Falle für einen Praktizierenden? In Tibet war es der Alkohol. Nächster Satz: „Ins Verderben stürzt einen der Alkohol“, sagte Marpa. Viele Laien-Dharmagruppen in Tibet im 9./10./11. Jahrhundert, diese sogenannten Ngakpa- Kommunen, sind dem Alkohol zum Opfer gefallen. Und das ging auch noch viele Jahrhunderte weiter. Der Alkohol war eine große Herausforderung. Das ist auch nicht so bekannt, viele von euch dürften davon noch gar nicht gehört haben. Aber als wir die Laiengemeinschft in Croizet gegründet haben, in Frankreich haben wir neben dem Kloster einen Bauernhof ausgebaut in der Ortschaft Croizet, damals war der dringlichste Rat von Gendün Rinpoche: „Klar, um die allgemeine Ethik kümmert ihr euch, aber achtet auf den Alkohol!“ Das war der allerwichtigste Rat, damit hat er die meiste Zeit verbracht, uns darauf hinzuweisen. Und zwar hängt das damit zusammen, dass, wenn man eine gewisse innere Freiheit in der Praxis erlebt, beginnt man auch zu experimentieren und das ist auch gut und Alkohol ist nicht verboten. Es gibt nichts, was per se schlecht wäre, aber subtiler Stolz, etwas weniger wichtig zu nehmen in der eigenen Praxis, kann dazu führen, dass es zu exzessivem Alkoholgenuss kommt, zu täglichem und immer wieder exzessivem Alkoholgenuss. Und das ist dann, wie sich selber den Teppich unter der Praxis wegziehen. Man findet nicht nur am selben Abend nicht mehr in die Praxis, sondern auch schon am nächsten Morgen nicht mehr, und bevor man sich am nächsten Abend hinsetzt nimmt man schon ein Bierchen zu sich und ist auch nicht mehr ganz klar - und schon klappt es mit der Praxis nicht mehr richtig. Und bald hört man auf zu praktizieren. Das ist ein ganz ernst zu nehmender Hinweis. Ich denke jetzt nicht, dass das viele von Euch betrifft, aber den Alkohol in Maßen zu genießen, ist ganz, ganz wichtig. Sich da nicht drauf einzulassen, der Versuchung des Alkoholgenusses zu erliegen. Ganz wichtiger Hinweis, speziell, falls irgendjemand von euch in einer spirituellen Gemeinschaft leben möchte, dann darauf achten. Es wäre dann gut, dass in der Gemeinschaft einfach eine Klarheit darüber besteht. Tatsächlich sind in Tibet dadurch viele Gemeinschaften ruiniert worden durch den chang, wie es auf tibetisch heißt.

8. Vier reinigenden Kräfte Und dann kommt ein Rat, wie man aufräumen kann mit all den schlechten Handlungen, schädlichen Handlungen, die man schon ausgeführt hat „Reinigt man seine schädlichen Handlungen nicht mittels der vier reinigenden Kräfte, wandert man weiter in den sechs Daseinsbereichen umher“, sagte Marpa. Das heißt, man wandert weiterhin in den alten Mustern umher. Diese vier reinigenden Kräfte, ich glaube ich erkläre sie Euch noch mal kurz, weil das eine richtig gute Erklärung ist dazu, wie man aufräumen kann mit etwas, was einen belastet und mit etwas, wo man sich vielleicht gegen seine eigene Ethik vergangen hat oder jemand anderem geschadet hat. Ihr findet diese Erklärung, die bekannt ist als Die vier reinigenden Kräfte in Gampopa, Schmuck der Befreiung, im Kapitel über das Bodhisattva-Gelübte als Teil der Vorbereitung auf das Bodhisattva- Gelübte. In dem Buch Mahamudra – Licht des wahren Sinnes6 findet ihr diese Erklärungen im Kapitel über die Vajrasattva-Praxis, die Diamantgeist- oder Dorje Sempa- Praxis heißt, eine Reinigungspraxis, die die zweite der speziellen vorbereitenden Übungen ist. Und in dem blauen Buch (Mahamudra – Der Ozean des wahren Sinnes), findet ihr sie ebenfalls an dieser Stelle, S. 71 im Vajrasattva-Kapitel. Zunächst einmal brauchen wir als erste eine Kraft, ja, wie übersetze ich das am Besten - wir müssen bereuen, es ist die Kraft der Reue. Und das ist eine Kraft der Einsicht in die schädlichen Folgen unseres Handelns. Das ist eigentlich, wo wir beginnen zu bereuen, wenn wir sehen, was für schädliche Auswirkungen das gehabt hat. Dann gibt es als zweites die Kraft der Abkehr, also den Entschluss zu fassen, nach Möglichkeit nicht mehr so zu handeln. Da wir aber wissen, dass die Kraft der Abkehr, dass also unsere Motivation, nicht mehr so zu handeln, wohl möglich beim nächsten Test wieder etwas schwankend wird, brauchen wir noch eine dritte Kraft, und zwar die Kraft des Rückhaltes und eine vierte Kraft, die Kraft des Gegenmittels. Die Kraft des Rückhaltes ist bereits ein Gegenmittel. Das bedeutet, dass ich meine Motivation, eben nicht mehr so zu handeln, nehmen wir mal zum Beispiel eine krasse Handlung, nicht mehr zuzuschlagen, diese Motivation, mich physisch zurückzuhalten und nicht zu schlagen, dass ich das mit Zuflucht und Bodhicitta verankere. Dass ich mich also an die Zuflucht wende und mit den Qualitäten der Zuflucht verbinde, um eine 6

Djamgön Kongtrül Lodrö Thaye, Mahamudra – Das Licht des Wahren Sinnes, 2014, Norbu Verlag.

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Verstärkung dieser Motivation zu haben. Und dass ich den Bodhicitta-Gedanken in mir stärke, dass ja mein eigentliches Anliegen das Erwachen und das Wohl aller Lebewesen ist und nicht, ihnen zu schaden. Also eine doppelte Verstärkung der Motivation und die Ausrichtung auf das Wesentliche, die Qualitäten im Leben und auf den grundlegenden Entschluss zum Wohle der Wesen in der Welt zu sein. Und das hilft mir dann beim Umsetzen der Selbstkontrolle in der Situation, wo ich sonst zuschlagen würde. Das ist ja nur ein Beispiel, es geht ja genauso drum, ob es Fremdgehen ist, was auch immer wir an schädlichen Handlungen, zum Beispiel Lügen, was halt so in Frage kommt. Das sind ja auch manchmal ganz feine Tendenzen, mit denen wir es zu tun haben. Und dann braucht es noch die Kraft des Gegenmittels. Ein Gegenmittel, ein Antidot oder ein Heilmittel muss auf der Ebene ansetzen, wo mein Problem sitzt. Ich muss also rausfinden, warum ich so aggressiv reagiere. Und genau dahin, dort, wo der aggressive Impuls entsteht, genau dort muss das Heilmittel hinein gehen. Also das Gegenmittel muss stärker sein, auf der Ebene ansetzen, wo das eigentliche Problem entsteht. Das heißt, wenn ich das Bedürfnis habe, jemandem seine Frau oder seinen Mann auszuspannen, dann muss ich auf der Ebene ansetzen, wo bei mir das Bedürfnis entsteht. Ich muss dieses Bedürfnis anders beantworten, ich muss es entspannen können, ich muss es lösen können. Das ist das, was mit Gegenmittel gemeint ist. Da gibt es natürlich viele Gegenmittel, immer entsprechend dem Problem, dem Thema, dem Muster, was in mir aktiv ist. Es gibt aber auch universelle Gegenmittel, zum Beispiel das Erkennen des Nicht-Selbst, der Leerheit der eigenen Person und des begehrten Objekts oder der Wut, der Aggression, das ist ein Allheilmittel. Wenn wir unsere illusorische Natur von Ich und anderen und der emotionalen Regungen durchschaue, geht das an die Wurzel dieser emotionalen Thematik. Auch die Vajrasattva-Praxis, wo ja die Erklärungen der vier reinigenden Kräfte zu finden sind, ist solch ein Allheilmittel, weil sie uns ganz im Stil des Guru-Yogas, wie heute Morgen und die anderen Tage, mit den erwachten Qualitäten verbindet, wir Vajrasattva, den strahlend weißen Buddha über uns haben und den Bodhicitta-Nektar von Vajrasattva in unserem eigenen Wesen aufnehmen. Und diesen Bodhicitta-Nektar, also das Gewahrsein von Mitgefühl und Weisheit, in dieses Muster hinein lenken, da wo wir aggressiv werden und da, wo die Suchttendenz und das Verlangen entsteht. Dort hinein bringen wir Bodhicitta und das löst dieses Muster auf, wenn wir diesen Prozess tatsächlich auch machen. Und so gibt es eine ganze Reihe von Mitteln, die eigentlich für fast alle emotionalen Muster angewendet werden können und dann gibt es die spezifischen Heilmittel. Also ich fasse noch einmal zusammen, bei den ersten dreien war ich ziemlich schnell: Reue, Bereuen, ist das, was eine innere Umkehr ermöglicht. Ich muss erst mal überhaupt klar werden darüber, was denn die schädlichen Auswirkungen überhaupt sind. Wenn ich das nicht sehe, dann mache ich weiter. Das ist der erste wichtige Punkt, und Bereuen, kann in sich natürlich schon so stark sein, dass eine so klare Motivation entsteht, dass ich die anderen Kräfte gar nicht erst anzuwenden brauche. Allein das Bereuen kann manchmal so stark sein. Aber normalerweise entsteht aus dem Bereuen der feste Entschluss, nicht mehr so zu handeln. Und da, auf dieser Ebene stelle ich mir vor, tauchen wieder ähnliche Situationen auf, wo ich normalerweise schwach werde und meinem Muster nachgebe. Ich stelle mir vor, dass diese Situation wieder auftaucht und wie ich dann anders handele - ich bereite das also vor. Ich bereite die Situation vor und sage: „Dann werde ich so und so handeln!“ So bin ich besser vorbereitet, ich gehe nicht naiv in die nächste Herausforderung. Ich kann mir natürlich auch vornehmen, diese Art von Herausforderung ganz und gar zu vermeiden, so wie der Alkoholiker die Flasche ganz und gar vermeidet. Einfach aus einer realistischen Einschätzung des Risikos sage ich: „Nein, dem Risiko setze ich mich nicht aus!“ Das in sich kann auch schon reichen. Es braucht nicht unbedingt die nächsten zwei. Aber wenn ich merke, selbst mit Vorbereitung werde ich unter Umständen schwach, was brauche ich dann für einen Rückhalt? Da gibt es die Hotline zu den Buddhas: „SOS Buddhas, ich brauch jetzt Eure Hilfe!“ Ich rufe die Zuflucht an. Und vielleicht mache ich mir auch eine Hotline zu einem guten Freund, den ich dann anrufe, so dass ich tatsächlich jemanden hier auf dem Planeten anrufen kann, dass ich echte menschliche Unterstützung brauche, das gehört zu der Kraft des Rückhalts dazu. Und dieser Mensch, beziehungsweise die Buddhas haben die Aufgabe, in mir ausreichend Weisheit und Mitgefühl zu stimulieren, also eigentlich Bodhicitta, den Geist des Erwachens, dass ich aus dem Bodhicitta heraus, aus den Qualitäten des Erwachsens heraus die Kraft finde, bei meinem Vorsatz zu bleiben. Okay? Und irgendwann sagt der Freund: „Jetzt hast Du mich aber oft genug angerufen, es reicht jetzt, wende endlich mal ein tiefer gehendes Gegenmittel an, dass Du es aus eigenen Kräften schaffst!“ Im Grunde genommen braucht es neue Bahnungen - ihr wisst ja, in der Neurophysiologie spricht man heute über

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Bahnungen. Aber tatsächlich läuft es so, es braucht anderes, eine andere Sichtweise, eine andere Einstellung, die dann anspringt, wenn diese Herausforderung kommt. Also satt meiner eigenen Wut nachzugehen, meiner eigenen Begierde nachzugehen, und, und, und, Eifersucht, Stolz und die anderen Muster, springt etwas Neues an. Es kann im Bereich der Weisheit liegen, dass sich durchschaue, was da für Muster laufen und ich dadurch frei bin, diesen Mustern zu folgen. Es kann im Bereich des Mitgefühls und der Liebe sein, zum Beispiel das Mantra OM MANI PEME HUNG. Das wäre auch ein Beispiel für ein Allheilmittel, dass dieses Mantra OM MANI PEME HUNG mich mit Liebe und Mitgefühl verbindet und ich das Mantra rezitiere und mich nicht hinreißen lasse, sondern dass ich wirklich einer neuen Bahnung folge und zwar der Bahnung von Liebe und Mitgefühl. Oder, dass ich zum Beispiel da, wo ich meine Bedürftigkeit spüre, ich nehme jetzt mal ein Heilmittel/Gegenmittel aus der Psychotherapie, dass ich diesem bedürftigen Kind, das jetzt gerade da ist oder diesem aggressiven Kind, das gerade in mir aktiv ist, dass ich dem die Zuwendung schenke, die dieses Kind eigentlich gebraucht hätte vor vielen, vielen Jahren. Und das hilft, das wirkt und ersetzt das Ausagieren durch eine positiv heilende innere Erfahrung. Das ist ein Beispiel, es gibt viele Beispiele. Versteht ihr jetzt die vier Kräfte? Es geht nur darum, dass ihr die Prinzipien dieser vier Kräfte versteht. Das sind universelle Prinzipien, die haben gar nichts mit Buddhismus zu tun. Es braucht Einsicht in die Folgen mit Bereuen. Es braucht eine Umkehr, es braucht eine Stütze, einen Rückhalt und es braucht in der Tiefe wirksame Gegenmittel. Okay? Das ist auf allen Kontinenten, in allen Kulturen das Gleiche. Lest das ruhig noch mal nach in einer dieser Bücher. Die Erklärungen sind leicht verschieden in den Büchern, die ich Euch genannt habe, aber in der Essenz identisch. Ihr könnt sie auch einfach oben aus dem Koffer nehmen und mal quer lesen und sie wieder zurück stellen. Habt ihr Fragen dazu? Wenn man einen Freund anruft oder sich mit dem Buddha verbindet, ist da der Aspekt „Bekennen“ mit drinnen. Bekennen kenne ich als Teilaspekt? Ja, das Bekennen gehört sicherlich dazu. Du musst den Buddhas schon sagen, was los ist. Das Bekennen gehört aber schon zum ersten Schritt dazu. Das Bekenntnis gehört schon zum Bereuen mit dazu und dass man vor sich selbst eingesteht, was eigentlich gelaufen ist und was eigentlich die Konsequenzen sind vor sich selbst und vor anderen und das vertieft dann auch noch das Bereuen. ***

Erklärungen zu OM MANI PEME HUNG Kannst Du das Mantra noch mal wiederholen und die Bedeutung? Du meinst OM MANI PEME HUNG? Ja hast du es schon da stehen? Es gibt eine ganz einfache Erklärung. Erst einmal ist es das Mantra des erwachten Mitgefühls und es ist verbunden mit dem Buddha Avalokiteshvara, der wird hier als Buddha betrachtet, als der Buddha des Mitgefühls. OM ist die Weisheit aller Buddhas, die angerufen wird. MANI heißt „Juwel“, PEME beziehungsweise PADME heißt „mit dem Lotus“ und HUNG ist die Aktivität des Mitgefühls. Also: „Möge durch die Weisheit aller Buddhas (OM), die Aktivität des Mitgefühls (HUNG) sich vollziehen, von dem, der mit dem Juwel und dem Lotus ist, das ist Avalokiteshvara.“ Guck mal hinter dir in dem mittleren Thangka da ist das Standardbild von Tschenresi beziehungsweise Avalokiteshvara. Der hält zwischen den beiden Händen ein Juwel vor der Brust und einen Lotus in der links ausgestreckten Hand. Er hat vier Hände, deswegen kann er so viel halten. Rechts hält er noch eine Mala. Und wenn er ganz viele Hände braucht, dann hat er 1000. So wie der hinter dir, da musst Du mal näher ran gehen, dann siehst du, wie viele Arme der hat. Das ist symbolischer Ausdruck dessen, dass das Mitgefühl sich ganz natürlicherweise wünscht, unzählige Hände, Arme und Augen zu haben, um überall helfen zu können. Wenn wir an die Flüchtlingswelle denken, die jetzt rein kommt nach Europa aufgrund der Armut, der Verfolgung und des Krieges in den Balkanstaaten, Kleinasien und so weiter, dann hat man eigentlich nur den Wunsch, sich so multiplizieren zu können, um allen helfen zu wollen. Ein Ausdruck dieses Wunsches ist der 1000-armige Avalokiteshvara. Und dessen Mantra ist auch OM MANI PEME HUNG. Und wenn wir dieses Mantra sprechen und singen, dann verbinden wir uns mit diesem erwachten Mitgefühl, das auch die Tiefe des Problems kennt und weiß, dass alle diese Probleme aus der Ich-Bezogenheit kommen. Die Profitgier einiger oder vieler und die Armut anderer, alles kommt aus der Ich-Bezogenheit. Alles kommt daraus, dass Menschen an sich denken und ihren Clan und andere nicht mit im Auge haben. Diese Grundeinstellung schafft auch diesmal wieder Krieg und Armut und Vertreibung und Bevölkerungsströme von einem Land ins andere. Es ist immer dasselbe Thema und wenn wir uns mit OM MANI PEME HUNG verbinden, dann wissen wir, dass die Antwort darauf die Praxis von Mitgefühl ist, die sich ausdrückt in Freigebigkeit und den anderen befreienden Qualitäten.

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Kannst du noch ein Wort zu der Symbolik von dem Lotus sagen, weil der taucht ja immer wieder auf? Ja, gerne. Der Lotus, der taucht ständig auf. Das ist sogar seine Eigenschaft, aufzutauchen. Und zwar taucht der auf aus dem Sumpf, aus dem Wasser unter der Wasseroberfläche und deswegen ist er zu einem starken Symbol geworden. Du kennst ja auch Seerosen, es ist kein großer Unterschied, Lotusse sind ganz ähnlich. Sie wurzeln im Schlamm, man kann sagen im Dreckwasser und ihre Stütze zeigt sich dann über der Wasseroberfläche. Wenn sie sich öffnen, sind sie völlig unberührt von dem Schlamm, in dem sie wurzeln, völlig klar und rein. Und dieses Phänomen, dass etwas total Reines, Klares, Strahlendes aus dem Schlamm wachsen kann, das hat dann dazu geführt, dass der Lotus zum Beispiel für den Erleuchtungsgeist wurde, für das Erwachen selber. Der Schlamm ist in diesem Fall fast wörtlich zu nehmen, es ist der Schlamm unserer Emotionen und Verwirrung und Verstrickung. Und inmitten dieser Welt der Verstrickung zeigt sich das Erwachen, nicht woanders. Inmitten dieser Welt der Verstrickung ist es möglich, solch eine Klarheit, solch eine Freiheit und Strahlkraft zu entwickeln. Das war ursprünglich Anlass dafür, dass der Lotus zum Symbol wurde in der buddhistischen Tradition. Und dieses Symbol zieht sich durch bis heute. Überall, wo der der Lotus auftaucht, ist damit die völlig reine erwachte Qualität unseres eigenen Geistes gemeint. Könntest du etwas zu dem OM und dem HUNG sagen. Denn was du eben gesagt hast, Weisheit der Budhhas und die Qualität des Mitgefühls? OM und HUNG haben in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Bedeutung. OM als Anfangssilbe fast aller Mantren ist eine Anrufung des erwachten Geistes. Mit Weisheit ist ist die Weisheit aller Buddhas gemeint. Und HUNG in diesem Kontext ist eine Aktivitätssilbe. Du kennst das vielleicht noch aus anderen Zusammenhängen, zum Beispiel mit dem Licht. Hier ist es die Aktivität des Mitgefühls, die Aktivität des Erwachens. Und jetzt meditieren wir noch ein bisschen. ***

9. Verdienst Der letzte Leitsatz handelte von den vier reinigenden Kräften. Jetzt gibt Milarepa den nächsten Leitsatz seines Lehrers Marpa an seinen Schüler Rechungpa weiter. Die Grundlage zum Bereinigen ist das Ansammeln von Verdiensten. „Sammelt man nicht eifrig Verdienste an, wird man das Glück der Befreiung nicht erlangen“, sagte Marpa. Positive Kraft ist ein besserer Ausdruck als Verdienste. Das sind Auswirkungen unseres Denkens, Kommunizierens und körperlichen Handelns, die positive Auswirkungen hervorrufen. Insbesondere nennt man Verdienste das, was dem Erwachen von einem selbst und allen Lebewesen gewidmet ist. Also etwas Heilsames, das getan wurde mit der Widmung beziehungsweise dem Wunsch, dass es allen Lebewesen dienen möge, ihnen das Erwachen zu erleichtern. Warum sagt er das? Es ist klar, dass man heilsame Kraft braucht als Grundlage des Erwachens. Er sagt das, weil wir hier in einem tantrischen Kontext sprechen und weil im Jahrhundert vor Marpa und Milarepa der Dharma ziemlich darnieder lag in Tibet. Eine der irrigen Annahmen war, man könne es sich sparen heilsam zu handeln, wenn man die Natur des Seins durchschaut, wenn man die Leerheit verstanden hat. Das ist ein genauso irrige Annahme wie der Punkt mit dem Alkohol vorher. Gendün Rinpoche meinte einst: „Verdienste ist wie ein Schweizer Bankkonto: das wirft immer Zinsen und trägt immer gute Früchte. Da müssen Sie investieren.“ Er meinte, dass der Schatz positiver Handlungen das ist, was uns nie verloren geht. Da, wo wir heilsam gehandelt haben, das begleitet uns. Es ist für uns und für andere eine Quelle von Freude; es hat unsere positiven Kräfte gestärkt und begleitet uns. Auch wenn zwischendurch das Leben schwierig wird: das Heilsame, das wir getan haben, ist eine immense Kraft, die uns tatsächlich vorwärts bringt. In einem anderen Kontext brachte er auch etwas materialistische Beispiele: „Mit dem Erwachen ist es so: irgendwann läuft die Tonne der Verdienste über.“ Wenn Tropfen für Tropfen Verdienste angesammelt werden – also Heilsames getan wird -, dann entsteht irgendwann die Schau des non- dualen Gewahrseins. Auch das lässt sich bei genauerem Hinschauen nachvollziehen. Echte heilsame Handlungen, die obendrein noch gewidmet werden – also aus der Ich-Bezogenheit entlassen werden und wirklich allen zu Verfügung gestellt

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werden, ohne dass man sich damit identifiziert – führen zu einer Schwächung der Ich-Bezogenheit. Es liegt in der Natur des wirklich heilsamen Handelns, dass es zum Schwächen der neurotischen Ich-Bezogenheit führt und irgendwann ist die Ich-Bezogenheit aufgelöst. So einfach kann man es auch beschreiben: Das immer-weiter-Machen mit Einstellungen und Formen des Handelns, die unsere Ich-Bezogenheit schwächen und irgendwann wird es passieren. Teilnehmer: Aber mit der Ich-Bezogenheit ist es nicht einfach, wirklich heilsam zu handeln. Ja, das ist nicht einfach. Darum ist die Widmung so wichtig. Wenn ich hier unterrichte, ist das eine so genannte heilsame Handlung. Und da mischt sich leicht ein bisschen Ich-Bezogenheit hinein. Dann ist es wichtig, dass ich selber dafür sorge, dass sie sich wieder auflöst – dass ich widme, dass ich in den Segensstrom eintrete – um diese Beimengungen zu verringern. Das ist tatsächlich der Weg: so viel wie möglich freigebig zu handeln und die anderen Formen heilsamen Handelns auszuführen. Teilnehmer: Ich kann eine Widmung aussprechen, spüre das aber nicht so, als habe ich es tatsächlich gewidmet. Ich finde es sehr schwer, das Loslassen des Ichs und die innere Einstellung zu kultivieren. Das ist nicht leicht. Verweile nach dem Widmen noch ein wenig natürlich, ohne daran zu denken und stehe dann auf mit dem Gefühl „niemand hat meditiert, niemand hat praktiziert“. So enteignest du ganz das Heilsame, das da entstanden ist. Das hilft wirklich. Manchmal denke ich: „Meine Güte! Wir wurden gebeten zu unterrichten, als wir überhaupt noch nicht reif waren dafür. Unser Stolz war noch so groß wie ein Omnibus. Es war viel zu früh. Und dann auch noch unterrichten! Das kurbelt den Stolz ja noch mehr an. Kann man uns das nicht ersparen? Muss das denn sein?“ Tatsächlich gibt es keinen Weg drum herum. Wenn du es nicht tust, dann tust du es auch wieder aus Ich-Bezogenheit nicht. Es geht darum, es immer ein Stückchen freier und natürlicher zu tun, ohne sich so viel damit zu identifizieren. Einfach weitermachen mit dem heilsamen Handeln, auch wenn es unvollkommen ist, in dem Vertrauen, dass es der richtige Weg ist, um Ich-Bezogenheit aufzulösen. Anders geht es nicht. Wenn ich negativ handele, ist da ganz klar starke Ich-Bezogenheit. Wenn ich das ich-bezogene heilsame Handeln unterlasse, weil ich schlechte Konsequenzen für mich daraus erwäge: das ist Blödsinn, Mangel an Mitgefühl. Wenn der Dharma unterrichtet werden muss, dann muss er halt unterrichtet werden. Dann nimmt man halt diejenigen, die das einigermaßen können, und die müssen dann selber damit zurecht kommen. Das Dilemma kennen wir. Einfach weitermachen, widmen, sich nicht identifizieren, den Dharma sprechen lassen, den Lama sprechen lassen – also den Buddha in uns -, die Linie sprechen lassen, nicht so viel eigenen Salat machen: dann kommt das schon gut mit der Zeit. Teilnehmerin: Du hast von einmal der Freude als Anker gesprochen. Für mich ist der einfachste Weg zu sinnvollem Handeln die Freude: mir klarzumachen, dass etwas Sinnvolles entstanden ist. Wenn wir in die Freude des Heilsamen hineinfinden können, ist genau das der Schlüssel. Freude löst IchBezogenheit auf. So können wir es machen: uns wirklich freuen und mitfreuen. Dadurch wird es leicht. Teilnehmerin: Manchmal wehre ich mich dagegen, etwas zu machen um des Verdienstes willen, zum Beispiel eine Sadhana. Ich mache die Praxis doch nicht um Verdienste anzusammeln. Eben. Ich auch nicht. Das ist eine gute Revolte. Es gibt andere Gründe eine Sadhana zu machen als deswegen, weil es verdienstvoll ist. Sondern weil es heilsam ist. Eine schöne Haltung, eine Sadhana wie Tara oder Chenresi zu praktizieren ist, das als Gratisgeschenk für alle in die Welt hinein zu geben.

10. Nicht-heilsame Handlungen aufgeben „Verwirft man nicht die zehn nicht-heilsamen Handlungen, muss man die Leiden der niederen Daseinsbereiche erdulden“, sagte Marpa. Das ist die Grundlage aller Dharmapraxis. Zusammengefasst haben die zehn nicht-heilsamen Handlungen alle etwas mit mangelndem Respekt zu tun. Die drei nicht-heilsamen Handlungen des Körpers sind Töten, Ehebrechen und Stehlen: alles mangelnder Respekt. Die vier der Rede – Lügen, entzweiende Rede, harsche Rede und sinnloses Geschwätz – auch alles mangelnder Respekt. Im Fall von sinnlosem Geschwätz: unsere

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Zeit ist kostbar, die Zeit der anderen ist kostbar, und es wäre sinnvoll und respektvoll, die Zeit mit Sinnvollem zu verbringen. Damit ist nicht gemeint, nicht zu scherzen oder humorvoll zu sein. Es ist sinnvoll und heilsam, humorvoll zu sein und auch mal rumzublödeln – aber es gibt viele Formen von sinnlosem Geschwätz, die den Geist überhaupt nicht aufheitern und ihn freier machen, die nicht dazu führen, dass man sich näher kommt. Das Pendant des heilsamen Sprechens tut wahnsinnig gut: verbindend und wertschätzend zu sprechen, die Wahrheit und Sinnvolles zu sagen. Das ist gute Kommunikation. Genauso macht es Freude, Leben zu schützen und sanft mit anderen umzugehen, freigebig zu sein, Beziehungen zu schützen und zu stärken. Die drei nicht-heilsamen Handlungen des Geistes: Begehren dessen was jemand anderes hat, Böswilligkeit, dickköpfiges Festhalten an offenkundig falschen Anschauungen. Diese zehn stehen nur stellvertretend für eine Gruppe. Dahinter sind ganz viele Verhaltensweisen, die uns allesamt nicht guttun. Das ist die klassische Liste; eigentlich wollte der Buddha keine Listen geben, aber manchmal musste er benennen um zu sagen, wo es lang geht, weil manche Menschen nicht das feine Gespür für sich selber hatten. Die buddhistische Ethik hat eigentlich keine Listen die befolgt wurden, sondern hat einen ganz anderen Weg genommen als andere Verhaltensregeln, die vom Himmel gefallen sind wie die zehn Gebote. Sie ist aus dem Beobachten von Erwachten entstanden: was tun sie und was tun sie nicht? Denen kommt es überhaupt nicht mehr in den Sinn zu lügen oder etwas wegzunehmen, was ihnen nicht gegeben wurde. Diese Handlungen sind völlig abwesend, weil die Ich-Bezogenheit weg ist, die es braucht um so zu handeln. Wenn ich mich darin übe, nicht so zu handeln und entsprechend das Heilsame zu tun, dann nähere ich mich dem natürlichen Handeln an – so wie man natürlicherweise handelt, wenn man frei ist. Das ist die Idee hinter den ethischen Richtlinien im Buddhismus. Sie weisen uns in eine Richtung, wie es ohnehin natürlicherweise der Fall wäre, wenn wir Liebe und Weisheit im Herzen hätten. Zehn Gebote – was man tun und lassen soll – haben sich erst im Lauf der Jahrhunderte so herausgebildet, weil Buddhismus in vielen Ländern Volksglaube wurde und es einfache Richtlinien für Menschen brauchte, die nicht so reflektierten über ihr Handeln. Teilnehmerin: In den vier Sprachvorsätzen ist eigentlich alles enthalten, was wir heute so an gewaltfreier Kommunikation haben. Ja so ist es. Wenn wir es entspannt anschauen, wird da ein ganz natürliches, heilsames, gut-tuendes Verhalten beschrieben.

11. Mitgefühl „Vereint man in seiner Praxis nicht Offenheit und Mitgefühl, wird man die höchste Buddhaschaft nicht erlangen“, sagte Marpa. Offenheit hier steht für Leerheit, das heißt für Weisheit, das Erkennen der nicht-fassbaren, leeren Natur aller Dinge. Wer das Erkennen der natürlichen Offenheit, der Leerheit allen Seins, mit Mitgefühl vereint, ist auf dem Weg zur Buddhaschaft. Das ist, was Gendün Rinpoche und viele Meister sagen: „Die Praxis braucht mindestens zwei Beine, damit wir den Weg gehen können - Mitgefühl und Weisheit.“ Wir sollten in unserer tägliche Praxis darauf achten, dass wir mit einem Aspekt unserer Praxis Mitgefühl stärken – Liebe, das Mitschwingen mit anderen zum, Beispiel durch die Praxis von Tonglen, den Herzensatem. Es gibt auch andere Praktiken, die uns irgendwie im Herzen warm machen und uns öffnen, indem wir das Leid nicht ausgrenzen, sondern uns berühren lassen von all dem, was in der Welt ist und mitschwingen, eingehen darauf, etwas tun dafür, dass es weniger wird. Bei den meisten von euch wird der andere Aspekt, Weisheit, durch das Kultivieren von Geistesruhe und intuitiver Einsicht gestärkt. Durch stille Meditation und das Betrachten der geistigen Bewegungen kommt ihr zu einem immer tiefer werdenden Verständnis von dem wie es ist, wie die Natur des Geistes beschaffen ist. Also den Raum aller Möglichkeiten zu verstehen: wie alles erscheint und sich wieder auflöst, shardröl – entstehen und sich im selben Moment wieder befreien. Diese Prozesse zu durchschauen wird Weisheit genannt, das „Verständnis von Leerheit“, das „Verständnis der nicht- fassbaren Natur aller Erscheinungen“. Es gehört zusammen mit Mitgefühl und Liebe. Achtet darauf, dass ihr in eurer täglichen Praxis diese beiden Elemente vereint. Widmet zum Beispiel einen Teil eurer Praxis der stillen Meditation und übt dabei nicht nur Geistesruhe, sondern schaut auch hinein in die Natur dessen was passiert, wie es entsteht und vergeht, wie es substanzlos ist. Das ist der Weisheitsaspekt. In einer anderen Phase in eurer Praxis holt ihr bewusst Schwierigkeiten ins Bewusstsein - einen Menschen, mit dem es schwierig war, oder eine herausfordernde Situation. Auch mit euch selbst Mitgefühl zu üben ist ein wesentlicher Teil des Mitgefühls – und nehmt eine andere, mitfühlendere, fließendere, offenere, annehmende Sichtweise ein. So könnt ihr ganz konkret diese beiden Aspekte in eurer täglichen Praxis stärken. Sie sind

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nicht wirklich getrennt voneinander, und wir brauchen sie nicht künstlich zu trennen. In dem Moment, wo ich verstehe, wie die Natur der Erscheinungen ist, entsteht auch Mitgefühl für mich selbst und andere für all die Momente, wo wir nicht verstehen wie die Natur der Erscheinungen ist, wo wir im Greifen und festhalten sind. Und jedes mal, wenn ich merke, wie sich eine Emotion auflöst, wie ich wieder ins Mitgefühl finde, da erkenne ich auch die nicht-fassbare, substanzlose Natur dieser Emotion, und das ist Weisheit. Mitgefühl führt zu Weisheit, Weisheit führt ins Mitgefühl. Aber achtet ein bisschen drauf, dass beide ihren Platz bekommen. In Praktiken wie Chenresi oder Tara sind beide Aspekte vertreten. Chenresi und Tara sind nicht nur Mitgefühl sondern auch Weisheit, und ebenfalls vereinigen Chöd und Guru Yoga beides in sich. Beim Zuflucht Nehmen stelle ich mir vor, dass alle Lebewesen um mich sind, den Segen erhalten und zu ihrem wahren Wesen erwachen – das sind die Mitgefühlsaspekte.

12. Frei von Ablenkung „Möchtest du in diesem Leben Buddhaschaft erlangen, dann betrachte ohne Ablenkung den Geist“, sagte er. Das ist ein Schlüsselsatz, der für mich extrem wichtig ist. Egal in welcher Situation ich mich befinde, ist es meine Praxis, den Geist zu betrachten. Also zu schauen: Wie ist es eigentlich zu sein? Was ist gerade los im Geist, wie zeigen sich Anspannungen, wie lösen sie sich auf? Immer den Geist betrachten, Subjekt lösen, Objektbezug durchschauen, immer wieder. „Betrachte den Geist“ bedeutet: sei dir deiner Motivation gewahr, sei dir des Auftauchens und Vergehens all dieser verschiedenen Geistesbewegungen gewahr. Betrachte den Geist nach Möglichkeit so, dass du in dem Moment, wo du ihn betrachtest, die wahre Natur des Geistes siehst. Das ist natürlich die beste Art ihn zu betrachten. Aber alles andere gehört dazu: die eigenen Schleier wahrzunehmen, die Mischungen in unseren Motivationen, das gewisse Festhalten, die Möglichkeit loszulassen, zu spüren wann ich etwas fließender und wann ich etwas fixierender bin. Könnt ihr etwas damit anfangen, spürt ihr was damit gemeint ist, den Geist zu betrachten? Das ist das, was hier hier im Retreat üben. Teilnehmerin: Bei der Frage „Wie ist es zu erleben?“ geht es nicht um das „Wie“, sondern um das „zu erleben“. Ja, ganz ins Erleben zu kommen. Zum Beispiel wenn ich im Zug sitze, muss ich nicht immer etwas tun. „Wie ist es zu sein?“, das ist interessant genug. „Reist da gerade jemand, ist da jemand unterwegs? Ist jemand zuhause, oder ist niemand da? Was geht in mir vor, wenn sich Menschen zu mir setzen?“ Die Regungen mitzubekommen: „Fühle ich mich angespannt? Entspannt? Wie gehe ich damit um?“ Das ist der springende Punkt. Und damit es dann irgendwann zur Buddhaschaft führt, geht es darum, nicht mehr den Geist zu betrachten, sondern ihn mit den Fragen der vier edlen Wahrheiten zu betrachten: „Ist da Anspannung, ist da Leid? Wodurch entsteht es? Gibt es eine Möglichkeit das aufzulösen? Wie kann ich es auflösen?“ Diese Art des Betrachten des Geistes. Wie kann ich jetzt in Entspanntheit finden, jetzt gerade und immer wieder in Gelöstheit finden? Wenn ich das konsequent fortsetze, enthüllen sich immer feinere Schichten dieser Anspannung und immer adäquatere Lösungen für diese Anspannungen. Das ist die ganze Reise zum und ins Erwachen, und mit dem Erwachen in alle Aktivitäten. Einfach nur wahrzunehmen: „Wo ist unnötige Anspannung, und wie kann sie gelöst werden?“ Das ist alles, und das nennt man den Geist betrachten. Am Anfang unseres Lebens gab es viele Situationen, die uns unter Anspannung gesetzt haben. Davon sind verschiedene Muster geblieben, die – meist als Schutz oder Sorge – immer wieder diese Anspannung erzeugen. Jetzt merken wir, dass es oft möglich wäre, ganz loszulassen. Vielleicht nicht immer, aber oft. Das finden wir dann noch raus, ob es immer möglich ist. „Möchtest du in diesem Leben Buddhaschaft erlangen, dann betrachte ohne Ablenkung den Geist“ bedeutet: Lass dich nicht vom Wesentlichen ablenken. Das Wesentliche ist, den Geist zu kennen und zu befreien, und alles andere ist aus dieser Perspektive Ablenkung. Teilnehmerin: Es geht aber nicht darum, sich immer zu beobachten, den Geist immer zu checken? Zum Beispiel im Gespräch ist nicht jemand da draußen der da spricht, sondern man ist einfach im Gespräch. Heißt das, ich soll da rausgehen um mich zu beobachten? Solange wir nicht verspannt sind sondern natürlich und authentisch, brauchen wir keine beobachtende Funktion hinzuzuholen. Wenn wir merken, dass etwas beginnt schief zu laufen oder eine Anspannung reinkommt, sollte es uns auffallen. Das ist damit gemeint und dann setzt unsere Praxis sofort ein. Nicht das

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bewertende Beobachten ist gemeint, sondern ein ganz sympathisch-mitfühlendes, weises Hineinfühlen wie ich noch leichter und gelöster durchs Leben gehen kann. Diese Art des Kurz-mal- Hinschauens und Beobachtens würde selbst so ein schönes Gespräch nicht stören – es ist nichts was zusätzliche Spannung erzeugt. Es ist nicht dieses neurotische Hinschauen „Oh je, ich darf keine Fehler machen!“ Mit der Zeit finden wir heraus, wie es uns gut tut. Gendün Rinpoche antwortete auf solch eine Frage: „Wenn ihr im Bodhicitta seid“ - also wirklich in einer Haltung von Liebe - „könnt ihr gar keine Fehler machen. Das braucht ihr nicht zu checken.“ Diese Leitsätze sind ein bisschen wie in der Schule, Unterricht zu Buddhistischer Allgemeinbildung. Der Rahmen ist notwendig, weil es nicht alles nur um die letztendliche Ebene und alles-Loslassen geht. Es geht auch um alltägliches Tun und um Ethik. Entspannen wir uns damit.

13. Sechs Yogas von Naropa „Praktiziere die sechs Yogas, sie sind die letztendliche Essenz der Tantras“, sagte Marpa. Die sechs Yogas sind: die Praxis der Inneren Hitze - Tummo, übersetzt „die Furcht erregende Mutter“, die Praxis des Illusorischen Körpers, die Praxis des Traumyogas und die Praxis des Klaren Lichtes. Das sind die vier Hauptpraktiken. Dann gibt es noch die beiden Yogas von Bewusstseinsübertragung – Phowa – und Bardo – bei dem es um den Nachtodzustand geht. Das ist die Quintessenz der Tantras und eigentlich auch das, worauf die Mahamudrapraxis zuläuft. Wer Mahamudra wirklich praktiziert wird in diesen sechs Yogas landen, ob er es will oder nicht, fast natürlicherweise. Tummo ist berühmt geworden durch Yogis, die Schnee und Eis schmelzen können, aber darum geht es gar nicht, das ist ein Nebenprodukt. Die eigentlich die Praxis von Tummo ist, sich durch und durch von Bodhicitta durchdringen zu lassen. Dieses Bodhicitta wird speziell mit der Energie von sexueller Begierde verbunden, aber auch mit allen anderen Emotionen. Das Bodhicitta durchdringt unser Verlangen und anderen Emotionen und ist im Grunde genommen das Weisheitsfeuer. Es geht nicht darum, äußerlich zu glühen anzufangen. Es ist ein Weisheitsfeuer, das in der Verbindung von relativen und letztendlichen Bodhicitta all die emotionalen Manifestationen auflöst, all die dualistischen Erscheinungen, die im Geist auftauchen. Das ist mit „verbrennen“ gemeint. Es ist eine Visualisationspraxis, bei der man hier, vier Finger unter dem Nabel, das Weisheitsfeuer entfacht – da ist man sehr nahe am Zentrum der sexuellen Energie – und alles kommen lässt, was auch immer kommen mag und in diesem Weisheitsfeuer sitzt. Welche Projektion, welche Idee, welche Vorstellung auch immer im Geist auftaucht – alles wird in seiner wahren Natur erkannt und durchschaut. Das ist das eigentliche Tummo: ein Sitzen im Feuer der Weisheit. Dabei entsteht eine Wärme im Bauch und im Becken, die sich auf den ganzen Körper erstrecken kann und dazu führt, dass es um einen herum warm wird. Aber man selber hat kein Fieber. Das ist ein sehr erstaunliches Phänomen. Ein Augenzeuge berichtete uns, dass sich in einem Umkreis von zwei Metern kein Schnee um die Hütte des neunzehnjährigen Gendün Rinpoche ansammelte, als der in seinem zweiten Retreatjahr war. Und so gibt es heute noch Yogis, die unbekleidet in Höhlen leben in 5000, 6000 m Höhe. Gendün Rinpoche hat nach einem weiteren, fünfjährigen Retreat eine Chöd-Pilgerreise gemacht. Damals war es für Chöd-Pilger so, dass, wenn sie nicht liefen und kein Chöd mit der Trommel praktizierten, sie dann Tummo praktizierten. Er hatte das Gelübde, wie so manche andere auch, nie ein Dach über dem Kopf zu akzeptieren. Er hat sich die Stiefel ausgezogen, sich auf die Fellstiefel gesetzt, die Füße verschränkt, die Arme über den aufgestellten Knien verschränkt, und so die Nacht über das Weisheitsfeuer erzeugt und sich völlig warm gehalten. Er hatte nur seine Mönchskutte dabei – kein Fell, keinen Pelz, nichts dergleichen. Genau wie Milarepa. Er ist so durch ganz Tibet gereist ohne ein Dach über dem Kopf, egal bei welcher Kälte und welchen Stürmen. Wir haben das mit mehr oder weniger Erfolg versucht zu praktizieren. Wenn man die Essenz versteht ist es phantastisch. Eigentlich ist es das konstante, unbeirrbare, unabgelenkte Sein im Bodhicitta – und ich meine damit nicht einmal das letztendliche Bodhicitta. Tummo entsteht indem wir ganz in Liebe, in Mitgefühl und Freude aufgehen – den ersten drei der vier Unermesslichen. Dadurch dass die Freude immer stärker wird, wird auch das Weisheitsfeuer immer stärker, und dann enthüllt sich die letztendliche Dimension, und da entsteht ganz, ganz tiefer Gleichmut, ganz tiefe Weisheit. Das ist die Praxis von Tummo, der Hauptpraxis der sechs Yogas. Sie wird in der Meditationssitzung praktiziert, läuft aber den ganzen Tag über weiter. Eine Zusatzpraxis für die Aktivitäten am Tag ist der Illusorische Körper. Da praktiziert man sich durchgehend, immer wenn man wach ist, als Yidam. Man sieht sich selbst als Verkörperung der erwachten Qualitäten – meistens visualisiert man sich als Vajrayogini oder Khorlo Demchog oder einer von diesen größeren Yidams – und geht in jede Situation mit dem Bewusstsein, Yidam zu sein hinein, und hält dieses Bewusstsein in der gesamten Situation aufrecht. Also beim Sprechen, beim Essen, was auch immer ist. Beim

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Meditieren ist Tummo die Praxis, und in der Interaktion in der Welt praktiziert man den Illusorischen Körper, um mit allem Anhaften an eine vermeintliche, konkrete Existenz aufzuräumen. Das Weisheitsfeuer geht also so weiter, es wird in die Interaktion hinein getragen. Das ist für die beiden großen Phasen tagsüber: die Meditationspraxis und die Pausenpraxis zwischen den Meditation. Nachts wird auch während der Tiefschlafphase praktiziert; das ist die Praxis des Klaren Lichtes oder der Erhellenden Klarheit, die nächtliche Fortsetzung der Tummo-Praxis. Das ist das Aufgehen in einem Gewahrsein ohne Inhalte: es findet kein Denken statt. Völlig bewusst, völlig gewahr, transparent, strahlende innere Helligkeit ohne dass man irgendwelche Inhalte verfolgt. Dann gibt es nachts noch die zweite Phase: die Traumphase. Das entspricht der Praxis des Illusorischen Körpers tagsüber, die Pausenpraxis. Wenn es zum Träumen kommt, wenn es dazu kommt, dass nachts im Schlaf Träume – also Bilder, Vorstellungen – entstehen, dann praktizieren wir genauso wie bei der Praxis des Illusorischen Körpers im vollen Bewusstsein der Natur dieser Erscheinungen als Yidam usw. die verschiedenen Aspekte des Traumyogas. Es fängt an mit luziden Träumen, mit Transformationen. Und dann sich als Yidam praktizieren im Traum, und im Traum das Wohl aller Lebewesen bewirken. Es geht einfach weiter, genauso wie tagsüber in der Phase des Illusorischen Körpers, wo wir das Wohl aller Lebewesen bewirken. Und so werden alle Zeiten – Tag und Nacht, tags die Meditationsphase und die Aktivitätsphase und nachts die Meditationsphase und die Aktivitätsphase, Tiefschlaf und Traum – alle werden 24 Stunden, rund um die Uhr, genutzt für die Praxis. Das sind die vier essenziellen Yogas oder Meditationspraktiken im Mahamudra oder Tantra. Wenn man das jetzt noch anwendet als Vorbereitung auf den Tod - den großen Übergang in das Leben danach – da ist es wichtig, wie wir unseren Geist ausreichten: das nennt man Phowa. Da wird im Mahamudra nicht zunächst der Amitabha-Phowa praktiziert, sondern der Mahamudra-Phowa: die Fähigkeit, den Geist jederzeit in den Mahamudrazustand hineinzubringen. Im Bardo – wenn Nachtoderscheinungen auftauchen – übt man genauso wie im Traumyoga alle Erscheinungen zu durchschauen und darin Befreiung zu erlangen. Das ist in der Essenz, was mit Phowa- und Bardo- Yoga gemeint ist. Das sind die sechs Yogas, und das ist das was Milarepa in seiner Höhle – und Gendün Rinpoche, und all die vielen anderen, von denen wir hören - eigentlich praktiziert hat. Es wird wenig darüber gesprochen, und es hat auch wenig Sinn, mehr zu sagen als das, weil um das umzusetzen und zu üben, braucht es ganztägige, ganzjährige Langzeitretreats, damit man allmählich in das hineinfinden kann. Es ist ein bisschen schwierig, das im Berufsalltag zu tun. Es braucht eine unglaubliche Präsenz, und vor allem Dingen muss man sich ganz weit von diskursivem, begrifflichen Denken lösen, um diese tieferen Ebenen zu entwickeln. Das entzieht unserem Organismus immer wieder viel von seiner Energie. Teilnehmerin: Wie wichtig ist es das zu machen um Erleuchtung zu erlangen? Ich denke, man kommt nicht drum herum. Auch wenn es jetzt nicht diese Namen erhält, aber wenn du die Berichte liest, wie der Buddha und die Arhats in den Palisutren ihre Praxis beschreiben: Wie ein heißer Stein. Keine Wahrnehmung, keine Erscheinung wird nicht erkannt in ihrer Vergänglichkeit, in ihrem nicht-Selbst, in ihrer nicht-fassbaren Natur. Es ist völlig klar, dass ihre Praxis genauso Tag und Nacht stattfindet wie es auch hier beschrieben wird, und das ist das Erleben von allen Erwachten, die ich bisher getroffen habe. Einmal habe ich in Burma einen siebzigjährigen Haushälter getroffen, der Tag und Nacht praktizierte, tagsüber in die Slums ging und sich um die Armen kümmerte, und nachts in Meditation verbrachte. Der sich nicht mehr hinlegte, nur noch saß und ganz in der Erfahrung aufging, die wir das Klare Licht nennen würden. Wir haben uns miteinander ausgetauscht und seine Frau konnte bestätigen, dass er seit über einem Jahr nicht mehr schlief im normalen Sinne. Die Erfahrungen, die dieser Praktizierende aus der Theravada-Tradition beschrieb, waren ganz ähnlich wie das was wir aus den Tiefschlafyogas kennen. Es macht einfach Sinn, denn wenn man schon erkennt, warum soll man dann mit dem Erkennen aufhören? Es ist doch klar, dass sich die Praxis ausweitet in andere Bereiche des Seins hinein. Die Frage ist, ob man es schafft, so wach und gewahr zu bleiben in der Interaktion mit anderen. Es könnte sein, dass man ein bisschen davor zurückschreckt, dann in die Aktivität zu gehen, mit Menschen zu sein, sich um Kinder zu kümmern, sich um Arme zu kümmern und so. dass man vielleicht meint, man müsse in der Meditation bleiben um das zu tun, aber das sind die Berichte der Erwachten. Die Erwachte unterrichten und kümmern sich um andere und sind nicht weniger erwacht dadurch. Das geht in all diese Formen der Kommunikation hinein. Teilnehmer: Mich überfordern diese Berichte von Erwachten oder fast Erwachten. Du praktizierst es ja zurzeit nicht so konsequent. Es fällt mir deutlich leichter, dich zum Vorbild zu nehmen. Richtig, ich schlafe gerade ziemlich viel. Aber ich habe meine Retreats schon geplant, in denen ich die sechs Yogas wieder praktiziere. Und nachts finden immer noch solche Erfahrungen statt, das hat nicht einfach aufgehört sondern geht weiter. Schau, dass du dir noch ein anderes Vorbild nimmst.

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Ich habe einen ganz starken Impuls – und auch einen Auftrag, nicht nur von Gendün Rinpoche – jetzt, wo es nur wenige Westler gibt, die das lehren können, das weiter zu geben, und ich bin froh, wenn ich das nicht mehr zu tun brauche. Solange es das braucht, mache ich es sehr gerne. Ich habe erst große Mühe gehabt, habe unter strömenden Tränen nur genickt, als Gendün Rinpoche mir sagte, ich dürfe nicht weiter ins Retreat, sondern müsse unterrichten. Das war sehr schwer, aber mit der Zeit habe ich gemerkt, dass meine Praxis, genauso wie er es vorhergesagt hatte, weiterhin Fortschritte macht trotz des Unterrichtens – oder vielleicht dank des Unterrichtens - und daher mache ich weiter. Aber manchmal ist es zu viel – es ist nicht nur das Unterrichten, sondern auch das drum herum. Und deshalb möchte ich ganz klar wieder Retreatperioden und das ein bisschen drosseln, und das kommt auch. Um weiter zu gehen. Ich möchte das auch noch weiter auskundschaften. Teilnehmer: Sind die sechs Yogas unausweichlich, weil wenn man sich weiterentwickelt sich die Bedingungen so fügen werden, dass es dazu kommt? Vermutlich schon, weil die anderen Dinge etwas weniger interessant werden. Teilnehmerin: In der Essenz sind das doch alles Gewahrseinspraktiken, die eigentlich unabhängig von diesem Yidam-Rahmen sind. Ja, die sind unabhängig vom Yidam-Rahmen; wovon sie abhängig sind, ist das ganz tiefe Selbstvertrauen zu haben, dass alles was es zum Erwachen braucht, schon da ist. Das braucht es, nicht den den Yidam. Es braucht dieses tiefe, tiefe Selbstvertrauen im besten Sinne des Wortes: das was stattfindet wenn man vor einem Lehrer sitzt und der sagt und zeigt einem ganz klar: „Alles ist da. Werde so wie ich.“ So wie man sich in der Situation zwischen Buddha und seinen Schülern vorstellen kann. Das spricht ja so aus diesen Lehrreden heraus. Genau diese Vertrauen. „Zweifle nicht an deiner Fähigkeit“: darum geht es in der Yidampraxis. Es ist nicht vom Yidam der Visualisation abhängig. Was noch hilfreich ist, ist die Arbeit mit den subtilen Energien. Da gibt es ein Wissen um die Arbeit mit den inneren Energiekanälen, das schon unglaublich erleichternd und fördernd auf den Prozess wirkt. Dadurch geht es leichter und schneller.

14. Methoden des geheimen Mantrayana Nochmal ein bisschen Dharma-Grundstudium mit Milarepa. Wir können den Song ja nicht unabgeschlossen lassen. Wir haben noch ein paar Leitsätze zum Bearbeiten. Der Nächste ist auch nicht viel besser als der Letzte. Der Letzte war ja: „Praktiziere die sechs Yogas, sie sind die letztendliche Quintessenz der Tantras“. Und jetzt heißt es: „Praktiziere die Methoden des geheimen Mantrayana, praktiziere die Methoden des Tantras heißt es eigentlich, sie sind die letzte Quintessenz der Unterweisungen“, sagte er. Es geht also noch eine Stufe weiter. Die Aufforderung Milarepas an Rechungpa bzw. von Marpa an Milarepa tatsächlich das sogenannte Geheime Mantrayana zu praktizieren. Dieses Wort „Geheimes Mantra“ ist einfach nur ein feststehender Ausdruck. Es bedeutet nicht, dass die Mantren alle geheim sind, sondern dass es sich um eine Lehre handelt, die damals, als sie im indischen Kontext ab den zweiten, dritten nachchristlichen Jahrhundert entstanden ist, geheim war, sich am Rande der Gesellschaft entwickelt hat und überhaupt nicht Mainstream war, weil dort die Konventionen radikal hinter sich gelassen wurden. Zum Beispiel, dass Praktizierende verschiedener Kasten auch mit Kastenlosen zusammen waren, Männer und Frauen praktiziert und sich als gleichwertig behandelt haben, weder Fleisch noch Alkohol tabuisiert waren und so weiter. Das waren viele Elemente, die dazu führten, dass diese Praxis eher geheim war. Eigentlich bedeutet sang ngak also geheimes Mantra, auf tibetisch „tantrische Praxis“.

Symbole des Tantra am Beispiel der Vajrayogini Und warum ist das die Essenz der Unterweisungen? Das könnte ich euch an vielen Beispielen klarmachen. Tantrische Praxis arbeitet mit Symbolen. Es ist eine Praxis, wo anstatt der Begriffe Symbole benutzt werden. Begriffe gab es zu Anfang relativ wenige. Inzwischen haben sich sehr viele Kommentare gebildet. So trägt

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zum Beispiel die rote Vajrayogini, von der hier auch schon mal die Rede war, eine Halskette aus 51 frisch abgeschlagenen Köpfen als Schmuck. Ich merke, ihr seid damit nicht so ganz vertraut. Es trieft auch noch. Ein Symbol für das sofortige, unmittelbare Durchtrennen, also Auflösen, der 51 Geistesfaktoren. Man muss es nur wissen, wofür es steht. Es hat damit zu tun, sich radikal und sofort aus allen dualistischen Geisteszuständen zu befreien. Das ist jetzt ein drastisches Beispiel. Aber dafür stehen die Symbole, das ist eine Symbolsprache für das Sprengen von Tabus. Natürlich hat da nie irgendjemanden den Kopf abgehauen. Die tantrischen Yogis haben einfach auf den Leichenäckern gelebt, das war ihr Lieblingsort. Dort, wo in Indien die Leichenfeuer waren und auch entsprechend viele Knochen herumlagen und man sie in Ruhe gelassen hat, weil andere Leute diese Plätze gemieden haben. Hier konnten sie in Ruhe praktizieren. Es gibt bestimmt Gruppen in unserer Gesellschaft, die denen vergleichbar sind. Ich will jetzt mal keine nennen. Aber es gibt keine Gruppe bei uns, die diesen hohen spirituellen Standard leben würde, diese hohe spirituelle Praxis. Tiefe meditative Versenkung, Bodhicitta, in völliger Einfachheit. Und jede tantrische Praxis beinhaltet auf der Symbolebene den gesamten Dharma. Da haben wir die 51 Geistesfaktoren, die sechs Dharmas, die Einheit von Mitgefühl und Weisheit, die Motivation des Bodhicitta, die erwachte Aktivität. Alles kommt symbolisch zum Ausdruck ohne viele Worte und es geht um das Essentielle, es ist der Ausdruck des eigentlich Wesentlichen. Wenn die Vajrayogini hier Hakenmesser schwingt, dann geht es um die radikale Haltung des Aufräumens mit hinderlichen Mustern. Das ist ganz klar. Es geht nicht darum, selber ein Hakenmesser zu schwingen, sondern es geht darum, diese radikale innere Haltung zu entwickeln, die wirklich aufräumt und sich nicht mit seinem Dharma-Mäntelchen zu umkleiden und so ein bisschen Freizeitbuddhismus zu üben. Ich könnte jetzt noch unendlich viele Beispiele anführen. Man kann sagen, das ist die Essenz der Unterweisung, worin die ganze Radikalität des Dharmas zum Ausdruck kommt. Der Buddha hat keinen einzigen Glaubenssatz verkündet, und ist auch keinem einzigen Glaubenssatz angehängt. Im ganzen Dharma geht es von Anfang darum, alles Meinen, alles Glauben hinter sich zu lassen, wie ihr in den Pali-Sutren und auch im Theravada nachlesen könnt. Dass das später dann von Scholastikern alles verschult wurde, und sich dann doch wieder anhört wie Glaubenssätze, das hat nichts mit Buddha zu tun. Das ist das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit, Religion und Zugehörigkeit. Aber eigentlich geht es darum, alle diese dualistischen Bezugspunkte, was man so Meinungen und Glaubenssätze nennt, hinter sich zu lassen. Und so war die tantrische Bewegung eine Erneuerungsbewegung. Es war eine radikale Bewegung in Nordindien bis in die Spätblüte des Buddhismus im 12. Jahrhundert hinein. Dann kamen die muslimischen Invasionen, die den Buddhismus in drei großen Wellen innerhalb eines Jahrhunderts zerstört haben. Aber Tantra war ursprünglich eine Erneuerungsbewegung, um zur Essenz der Praxis zurückzukehren und auch undogmatisch die wunderbaren Entwicklungen, die in der Zwischenzeit unter den hinduistischen Yogis im Hinduismus stattgefunden haben, aufzunehmen und der buddhistischen Praxis zugänglich zu machen. Einfach weil es, wenn man es im rechten Kontext praktiziert, supergut wirkt. Dann fand ebenfalls eine Bewegung statt, die allerdings in Indien gar nicht zu stark wurde. In Indien begann das Tantra sich schon zu integrieren in den buddhistischen Klöstern und Klosteruniversitäten. Aber die tiefste Form des Tantra, das Anuttarayoga-Tantra, wo es wirklich ganz intensiv darum geht, all das normierte Denken hinter sich zu lassen, das wurde bis zuletzt eigentlich aus den Klöstern und Universitäten ausgegrenzt. Was in Tibet passiert ist, dass die großen indischen Lehrer, die nach Tibet kamen und die tibetischen Schüler, die dann als Lehrer aus Indien zurück nach Tibet kamen, das die besonders fasziniert und angetan waren von dieser Form des Tantras, das man Anuttarayoga-Tantra nennt. Also die radikalste Form der tantrischen Bewegung. Und dann passierte es, dass in Tibet zeitgleich in dieser Erneuerung des 11./12. Jahrhunderts die Klöster, die nach einer Zeit der Verfolgung ziemlich darnieder lagen, wieder begonnen haben zu florieren und dass in den Klöstern mit einem Verständnis der tantrischen Praxis geübt wurde. Gampopa, der Begründer der Kagyü-Linie, war so einer. Er hat 53.000 Mönche ordiniert, das muss man sich mal vorstellen. Er hat Zeit seines Lebens wie sein Lehrer Milarepa nur in Höhlen gelebt. Er lebte oberhalb seines Klosters in einer Höhle und praktizierte Tantra. Da fand in der Kagyü-Linie die Verschmelzung von Yogi und Mönch statt. Gendün Rinpoche war so einer, er war Yogi und Mönch zugleich. Äußerlich von seinem Verhalten her Mönch und innerlich von der Haltung und der Praxis her Tantriker. Und das ist ganz typisch für die Kagyü-Linie. Das ist etwas ganz Neues gewesen, dass die Institution versucht hat, diesen radikalen Ansatz innerhalb des monastischen Lebens zugänglich zu machen. Da ist einiges von der Radikalität verloren gegangen, da ist ein bisschen abgespeckt worden, aber es blieb höchst wirksam. Ich wollte einfach mal ein bisschen darüber erzählen, weil ihr wahrscheinlich selten darüber mit jemanden sprechen könnt.

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Die eigentliche Essenz der tantrischen Praxis ist das Mahamudra oder Dzogchen, es geht um dasselbe. Für die äußere Praxis, also das was man tut, gibt es die Visualisation. Man arbeitet ganz viel auf der Symbolebene mit Visualisationen. Mit den entsprechenden Sadhanas kann man in tiefes Samadhi finden. Dann gibt es die Mantras, die man benutzt um den Geist in dieser reinen Sichtweise des Geistes zu stabilisieren. Und es gibt die Mudras, der körperliche Ausdruck als Buddha oder in dem Fall als Yidam in dieser Welt unterwegs zu sein. Das nennt man Samadhi, Mantra und Mudra, die drei Kernpraktiken des Vajrayana. Vajrayana, der Diamantweg, ist ein Synonym für buddhistisches Tantra. Und darin kann man spüren, wenn man es schafft, sich darauf einzulassen und mit den Herzen hin zu fühlen, dass darin wirklich die Essenz der Praxis wie in einer Nußschale zu finden ist. Es braucht gar nicht viel, es ist alles da. Die großen buddhistischen Unterweisungen sind in den Sadhanas wieder zu finden. Und vielleicht hat auch das dazu geführt, dass dann so Lehrer wie Gendün Rinpoche und Dilgo Khyentse und andere den Dharma so wunderbar auf den Punkt bringen können, weil eben auch das Vajrayana, der tantrische Weg, die Dinge immer so auf den Punkt bringt, immer in der völligen Direktheit ausdrückt. Das waren jetzt allgemeine Unterweisungen, Erklärungen zu dem was hier gemeint ist, mit „praktiziere die Methoden des geheimen Mantrayana“. Damit sind Samadhi, Mantra und Mudra der Yidam-Praktiken des Anuttarayoga-Tantra gemeint. Sie sind die letzte Quintessenz der Unterweisungen – sagte Marpa. Marpa war ein absoluter Tantriker.

15. Schädliches Streben nach Gewinn, Ehre und Ruhm Jetzt geht es in einer anderen Dimension weiter. „Wenn du nach Gewinn, Ehre und Ruhm strebst, wirft du dich in den Rachen der Maras“, sagte er. Maras sind die Gegenkräfte des Erwachens. Das Streben nach Gewinn, Ehre und Ruhm macht uns unauthentisch. Das tut es auch im Alltag, egal ob in der spirituellen Praxis oder im ganz normalen, alltäglichen Verhalten. Immer wenn wir auf persönlichen Gewinn aus sind, auf Ehre, auf Ruhm, passen wir uns an. Dann passen wir uns diesen Zielen an und verraten eigentlich uns selbst – unser wahres Selbst. Und für einen Dharma-Praktizierenden, der so wie Retschungpa hochbegabt ist, wie für jeden Dharmalehrer, ist das Verlangen nach Gewinn, Ehre und Ruhm absolut schädlich. Es korrumpiert die Unterweisungen, es korrumpiert die Beziehung zu Schülern und Schülerinnen. Weil im Hintergrund andere Motivationen aktiv sind als das Bodhicitta. Für das Unterrichten gibt es nur eine Motivation, die angemessen ist: das ist den Dharma zu geben, um wirklichen Nutzen damit zu erzielen und nicht, um sich irgendwie selbst aufzubauen, materiellen Gewinn daraus zu ziehen, besonders berühmt zu werden, verehrt zu werden oder eine große Anzahl von Anhängerschaft zu bekommen. Das sind absolute Fallen für Dharmalehrer und viele tappen da hinein. Es ist ganz schwierig, das zu vermeiden.

16. Abgrund Eigenlob Darum dieser Hinweis: „Wenn du dich selbst lobst und andere tadelst, fällst du in einen fürchterlichen Abgrund“, sagte er. Es geht gerade weiter, dieselbe Unterweisung. Sich selbst hervorheben und andere kritisieren ist Ausdruck dieser Rivalität, dieser Eifersucht. Nicht in Frieden sein mit sich und der Welt.

17. Geist zähmen „Wenn du den wilden Elefanten deines eigenen Geistes nicht gezähmt hast, sind deine Lehrreden scheinheilig“, sagte Marpa. Das ist auch sofort einleuchtend. Der ganze Dharma geht darum, den wilden Elefanten des eigenen Geistes zu zähmen. Kennt ihr diese berühmten Bilder mit dem Elefanten, der schrittweise gezähmt wird auf einem Weg. Zuerst ist der Elefant ganz schwarz und wild und allmählich bekommt er ein paar weiße Punkte, dann

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wird er immer weißer, bis er dann ein ganz weißer gezähmter Elefant ist. Das ist eine berühmte Darstellung, die auf eine Lehrrede im Palikanon zurückgeht. Besonders die chinesische Tradition und dann die japanische haben die entsprechenden Bilder dazu gemalt und oft findet man diese Bilder in Zenbüchern, dort sind sie mit einem Ochsen dargestellt. Der Ochse wurde dann zu einem Elefanten. Bringen wir es auf den Punkt. Gendün Rinpoche sagte zu uns: „Unterrichtet bittet nur das, was ihr persönlich erfahren habt.“ Auch sich selber nicht der Gefahr auszusetzen, etwas zu unterrichten, was man aus der persönlichen Erfahrung nicht kennt. Man muss wissen, wie man den eigenen Geist diszipliniert bzw. durch Entspannung zähmt. Das Zähmen des Elefanten besteht nicht in einem Kampf, in dem man versucht, stärker als der Elefant zu sein, sondern es ist ein enormes Geschick im Umgang mit den Kräften des Geistes. Ein Elefant ist auch ein Arbeitstier und unglaublich einfühlsam. Ein Elefant ist von einem höchsten Einfühlungsvermögen und das muss man geschickt einsetzen können. So wie unser Geist, unser Herz unglaublich einfühlsam sind. Und es geht darum, den Geist ganz geschickt zu lenken. Zu wissen, wann wir uns entspannen müssen, wann wir uns anstrengen müssen, wann es gut tut, ihn zu üben, wann es gut tut, ihn in Ruhe zu lassen. All das muss man lernen. Es ist klar, dass man den Dharma nicht lehren sollte, wenn man nicht das, was man lehrt, selber verwirklicht hat. Da muss man manchmal Kompromisse machen, man muss manchmal Dinge ansprechen, die man selber nicht verwirklicht hat. Dann ist es gut, dazuzusagen „Ja das habe ich gelesen, das habe ich gehört oder so hat es mir der Lehrer erklärt.“ So dass man klar macht, in dem Moment spreche ich vom Hörensagen und aus dem Studium und nicht aus persönlicher Erfahrung.

18. Erleuchtete Geisteshaltung kultivieren Der nächste Satz ist: „Die beste Feldarbeit ist eine erleuchtete Geisteshaltung zu kultivieren“, sagte er. Also das Feld des Bodhicitta zu bestellen. Marpa war auch Bauer, hatte einen großen Hof. Das spricht für sich, den Rest erkläre ich morgen. Ich möchte jetzt einem anderen Wunsch entsprechen und noch etwas mehr von Bodhicitta und dem Entwickeln von Mitgefühl zu sprechen. Ich habe in diesem Kurs noch nicht viel über Bodhicitta gesagt. Wir haben uns sehr stark mit Einsicht beschäftigt. Sehr viel den Geist erforscht, das ist das Hauptanliegen. Ohne es zu benennen, haben wir viel die Einsichtsmeditation geübt. Das Hineinschauen in den Geist und erkennen, wie er ist, insbesondere wie er ist, wenn wir ihn in Ruhe lassen. Das ist eine Arbeit mit dem letztendlichen Bodhicitta, mit dem letztendlichen Geist des Erwachens. So, wie der Geist letztendlich wirklich ist, wenn wir ihn in völlige Lösung gehen lassen. Und dann zeigt sich auch ein ganz natürliches Mitgefühl. Ihr habt das vielleicht bemerkt, dass durch das Beschäftigen mit dem Geist in euch viele Themen wach geworden sind. Das aber in euch auch etwas weich geworden ist, ihr seid wie weichgeknetet worden durch die Beschäftigung mit dem Geist. Da ist viel im Herzen losgegangen. Es ist aber auch eine ganz weiche und mitfühlende Atmosphäre in der Gruppe. Das ist auch schön zu sehen. Ohne dass wir groß über Mitgefühl gesprochen hätten. Wir habe nicht viel Mitgefühl geübt, es ist einfach so eine Fürsorge füreinander entstanden. Und das ist auch so, wir brauchen Mitgefühl nicht wirklich zu erzeugen, aber es gibt hilfreiche Methoden, mit denen wir dem Mitgefühl etwas nachhelfen können, weil es tatsächlich auch die Einsicht voranbringt, wenn das Herz sich öffnet und weich wird und diese mitfühlende Qualität einzieht. Man nennt das das relative Bodhicitta. In tibetisch ist relativ eigentlich künsob und das heißt fabriziert. Es ist das fabrizierte, das allgemachte Bodhicitta, weil wir da mit Methoden arbeiten. Wir gehen etwas künstlich ran. Jedes Mal wenn ich eine Methode einsetze, gehe ich ja mit etwas künstlichem Ansatz an die Arbeit mit den Geistern. Methode ist nicht das, was wir natürlicherweise aus uns heraus machen,, sondern etwas, dass wir anwenden, um in etwas hineinzufinden, was uns ein Anliegen ist. Methode ist so etwas wie der Schlüssel, der etwas öffnen soll. Aber jede Methode hat ein bisschen einen künstlichen Geschmack.

19. Beste Sicht Der nächste von Marpas Leitsätzen, die Milarepa wiedergibt lautet: Die ungeborene Wirklichkeit zu sehen ist die beste Sicht. Das wäre auch die beste Sicht in genau so einer Situation. 'Ungeboren' bedeutet auch: nicht sterbend und nirgendwo verweilend. Etwas das nicht geboren ist, verweilt nicht und stirbt nicht. Das ist ein anderer

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Ausdruck für etwas das wir schon untersucht haben: dass eigentlich gar nichts entsteht. Dass Entstehen und Weiterentwicklung – also Befreiung oder Wandel – eigentlich simultan sind. Dass es nur Wandel gibt, nur Prozess. Das ist eigentlich mit 'ungeboren' gemeint. Es bedeutet, dass es nichts Fassbares gibt. Auch die schwierige Emotion, die wir vielleicht gerade erleben, ist nur Prozess und kann sich im Nu lösen – insbesondere wenn wir nicht glauben, dass sie Substanz hätte. Sie kann sofort in ein anderes Erleben übergehen. Das ist mit 'ungeboren' gemeint. Die ungeborene Wirklichkeit ist diese Wirklichkeit, in der schardröl (Wylie: shar grol) zu beobachten ist: Entstehen (schar) und Befreiung (dröl: sich in ein anderes Erleben hinein öffnen) simultan. Das ist das Sehen der ungeborenen Natur des Seins. Wenn wir das wachhalten können egal in welcher Situation, dann sind wir immer ganz fein in tune mit der Natur des Seins, dann wird Frische entstehen, immer wieder neu. Dann haben wir die ganze Beweglichkeit des Geistes zu Verfügung. Es wird deswegen eine Sicht genannt, weil es keine Meinung, kein Standpunkt ist, sondern das Sehen von dem was ist. Die Schau der nicht-fassbaren, dynamischen Natur des Geistes. Habt ihr heute morgen in der ersten Phase der Meditation erkannt, dass ich wieder kurz die fünf Elemente habe einfließen lassen? Zwischendurch habe ich euch geholfen zu spüren, wie verlässlich, wie stabil der Geist ist, wie kontinuierliches Erleben stattfindet, wie lebendig das ist, wie es sich wieder auflöst, wie dynamisch das ist, und welche raumgleiche Qualität das hat. All das ist mit 'ungeboren' gemeint. Diese fünf Aspekte des zeitlosen Gewahrseins, die ich ich heute Morgen habe einfließen lassen, das ist das, worin wir uns 'verankern'. Das ist die eigentliche Quelle unserer Kraft: in dieser Schau der wahren Natur des Seins zu sein. Das sind unbeholfene Ausdrücke unserer Sprache. Aber damit verbunden zu sein, darin aufzugehen in jeder Situation ist die beste Sicht.

20. Tantrische Methoden Milarepas nächster Satz ist: „Der Weg der tantrischen Methoden ist die tiefgründigste Praxis.“ Auch das haben wir heute Morgen praktiziert. Die Definition von tantrischer Methode ist, die Frucht als Weg zu nehmen. Der Weg der Frucht. In der Meditation haben wir den kleinen Kugel … gemacht, und dann … (unverständlich) und ich habe euch ermutigt, euch wirklich ganz als die erwachten Qualitäten zu spüren. Das ist die Essenz der tantrischen Praxis, darum geht es mir auch: ganz im Erwachen zu sein, ohne Zweifel. Volles Selbstvertrauen in dieses Nicht-Selbst, wo kein Ego aktiv ist. Das ist das eigentliche Selbstvertrauen: das Vertrauen in diese ungeborene Natur des Seins, in der alle erwachten Qualitäten aktiv sind, das ist Tantra. Es hat nichts mit allen möglichen Techniken zu tun. Es ist dieses Wissen um die eigentliche Natur des Seins mit allen Qualitäten. Auch wenn es euch gar nicht so vorgekommen ist, dass wir Tantra praktiziert haben, haben wir es doch jeden Tag mehr und mehr hineingenommen in unsere Praxis. Ich hoffe, ihr könnt es irgendwie zuhause umsetzen und es schaffen, in dieses Selbstvertrauen zu finden, das jenseits von Selbst führt, einfach ins Sein hinein.

21. Arbeit mit den Energiebahnen „Praktiziere die Methoden mit den Energiebahnen und -strömen, sagte Marpa.“ Der Sanskritausdruck für Energiebahnen ist nāḍi, für Ströme - die subtilen Energien - prāṇa. Damit haben wir in diesem Kurs nicht gearbeitet. Die Barlung-Praxis und der Reinigungsatem sind Beispiele für eine Praxis mit Energiebahnen und -strömen. Die Sieben-Punkte-Haltung dient dazu, die Energie in den Energiebahnen gut zirkulieren zu lassen. Praktiken mit der Energiezirkulation helfen, den Geist zu öffnen, immer wieder in Klarheit zu finden. Unsere Praxis mit den Energiebahnen und -strömen sieht so aus, dass wir zu jedem Zeitpunkt – rund um die Uhr – darauf achten, immer die Körperhaltung einzunehmen, die zur größtmöglichen Klarheit des Geistes und Öffnung des Herzens beiträgt. Das ist die eigentliche Praxis mit den Energiebahnen. Das ist dann keine Praxis, die man so ausführt, weil sie so gemacht werden muss, sondern sie dient der Öffnung des Herzens und der Klarheit des Gewahrseins. Das heißt wenn ihr euch in jeder Situation bewusst seid, welche Körperhaltung euch jetzt gut tut, dann seid ihr bereits dabei, mit den Energiebahnen zu arbeiten. Denn energetisch macht es einen Riesenunterschied, ob man mit eingeklemmtem oder freiem Bauch sitzt, ob die Wirbelsäule gerade oder krumm ist. Manchmal ist energetisch das Ausstrecken auf dem Sofa die absolut

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beste Praxis mit den Energiebahnen, weil genau dort die größte Öffnung des Herzens und Klarheit des Geistes entsteht. Aber das müssen wir selber wissen. Irgendwann kann es kippen und wir werden schläfrig, und dann ist etwas anderes angesagt. Da gibt es viel zu entdecken. Es gibt einen Schatz an klassischen Yogahaltungen, Prāṇāyāma -techniken und so weiter für die Arbeit mit unseren Energiebahnen und -strömen. Aber das sprengt den Rahmen dieses Retreats. Ihr könnt einfach das einfließen lassen von dem ihr wisst, dass es euch guttut. Am besten praktiziert ihr Methoden wie Tai Chi mit Bodhicitta. Das heißt, dass wir sie genauso entspannt und anstrengungslos praktizieren wie unsere Meditation. Also keine Ziele verfolgen und nicht wieder in diesen ich-will-Modus verfallen, sondern uns mit Hilfe dieser Methoden öffnen. Mit tiefster Entspannung da hineingehen, Zuflucht nehmen – also uns auf das Wesentliche ausrichten -, Bodhicitta entwickeln und aus der Haltung heraus praktizieren, dass alles so wie es ist schon vollendet ist. Wir müssen es nicht immer noch besser machen. Es geht im Grunde genommen eigentlich darum , den Geist zu entspannen, und das tut gut und ist sehr hilfreich. Nehmt in eure Übungen all das hinein, was ihr an Dharma gelernt habt. Ich persönlich brauche für meine Balance ein richtiges Aktivieren der Muskeln, des Herzens, der Lungen durch Radfahren, Laufen, usw. Dann öffnen sich Herz und Geist. Stillstehübungen wie Chi Gong sind nichts für mich. So muss jeder mit seiner inneren Befindlichkeit einfach wissen, was ihm guttut. Auch zum Beispiel im Fitnessstudio können wir mit derselben Einstellung trainieren. Die Wirkung auf Geist und Herz ist das Entscheidende. Das Lockern von körperlichen Verspannungen öffnet ganz viel innerlich. Wir gehen im Tantra – und überhaupt in der Praxis – von der Einheit von Körper und Geist aus. Das tibetische Konzept heißt lung sem yerme (Wylie: rlung sems dber med): prāṇa und Geist untrennbar. Wenn wir eine Körperempfindung haben, ist das die Empfindung, wie die subtilen Energien gerade zirkulieren. Die geistigen Bewegungen sind untrennbar davon. Wir können keinen einzigen Gedanken denken oder irgendeine Emotion haben, ohne dass sich die Zirkulation der subtilen Energien und damit unsere Körperbefindlichkeit ändert. Wir können die Arbeit mit den körperlichen Energien nutzen, um auf den Geist zu wirken, Geist und Herz zu öffnen, und wir können durch Öffnung des Herzens und des Geistes den Körper ins freie Zirkulieren bringen. In diesem Kurs haben wir vor allem das Zweite gemacht, und ihr habt bei euch vielleicht körperliche Lösungsprozesse aufgrund der immer offeneren geistigen Einstellung bemerkt. Teilnehmer: Ein Zen-Spruch lautet: „Move your ass, and your mind will follow; move your mind, and your ass will follow!“ Das ist ein richtig guter Merksatz. Genießen wir es noch für eine Weile, in der Weite des gewahren Seins zu sitzen, ganz weit und entspannt. … Vielleicht möchtet ihr einmal damit experimentieren wie es sich anfühlt, wenn ihr ganz gerade sitzt und euch vorstellt, dass da eine Verlängerung von der Wirbelsäule durch die Scheitelöffnung – da wo früher die Fontanelle war – bis in den Himmel hinauf und bis in den Erdmittelpunkt hinunter. … Von dieser zentralen Achse geht es ringsherum in alle Richtungen. …

22. Zeitloses Gewahrsein Und Milarepa fährt fort und singt: Erkenne das gleichzeitig vorhandene ursprüngliche Bewusstsein, zeitlose Gewahrsein. Das haben wir doch gründlich in diesen Tagen geübt. Ursprüngliches Bewusstsein, zeitloses Gewahrsein sind Übersetzung desselben Wortes yeshe auf tibetisch. Das ist das worauf es ankommt. Es ist gar nicht unbedingt um glücklich zu sein. Natürlich macht einem das völlig frei und glücklich, aber darum geht es wenn wir vom Erwachen sprechen., und das ist worum es geht, wenn wir vom Sterben sprechen. Im Sterbeprozess wird alles von uns abfallen, alles was uns jetzt ausmacht. Wenn sich Körper und Geist getrennt haben und der Geist sich wieder vom Körper gelöst hat, dann sind wir weder Mann noch Frau mehr, wir sind weder Deutsche, Österreicher, Italiener, Schweizer – nichts von all dem. Wir haben kein Alter und keinen Beruf mehr, keine Kinder, keine Eltern, alles vorbei. Auch das normale Wissen kommt nicht mit. Das

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ist wichtig, sich das klarzumachen. Was dann bleibt, das ist das, was wir jetzt üben. Deswegen ist das so wichtig. Einfach nur gewahr zu sein. Zu Sein. Es kommt dann wieder offenbar zu neuen Sinneseindrücken. Ihr merkt das ja, die Sinneswahrnehmungen sind gar nicht abhängig von den Sinnesorganen. Wir können visualisieren ohne mit den Augen zu sehen, wir können Höreindrücke haben, ohne mit den Ohren zu hören. Wir können im Traum nachts alles erfahren, ohne dass wir dazu die körperlichen Sinne brauchen. Das wird offenbar wieder anfangen, hat aber keine Basis in einem Erleben dieses Körpers mehr. Und da kommt es darauf an, dass wir vertraut sind mit dem Sosein, mit dem gewahren Sein. Wie es ist zu sein, ohne sich überhaupt identifizieren zu können. Ganz abgesehen davon, dass schon jetzt Identifikationen hinderlich sind, aber nach dem Tod werden wir gar nicht mehr wissen, wer wir sind. Wir werden versuchen uns zu identifizieren, haben keinen Körper, keine Zugehörigkeit, keine Freunde, keinen Beruf, keine Aufgaben. Wer sind wir denn dann eigentlich? Wer bin ich, wenn all das wegfällt? Großes Fragezeichen. Das ist das, was im Tod dann wichtig ist und das haben wir diese Woche ein wenig geübt. Ich habe euch immer wieder – so gut ich konnte – in Geisteszustände geführt, wo das alles abgefallen war und keine Rolle mehr gespielt hat. Wenn ihr es zugelassen habt, wenn ihr nicht trotzdem noch jede Menge Identifikationen angeregt und unterhalten habt und Beschäftigung mit diesem und jenem. Worum es geht, ist dieses zeitlose Gewahrsein, das ist das Gleiche was wir auch das Nichtbegriffliche Gegenwartsbewusstsein nennen. Also das nicht zu greifende Jetzt, in dem es keine Orientierungen an vorher und nachher gibt, einfach jetzt, dieser Dynamik gewahr, kontinuierlich, immer in Bewegung, total lebendig, ohne Substanz, all das. Das geht weiter. Das ist das, was uns im Tod noch ausmacht. Das ist nicht von Bedingungen abhängig. Es ist dieses nicht von Bedingungen abhängige Gewahrsein. Die anderen Formen des Seins, die uns vertrauten Formen, z.B. jetzt zu sehen und zu hören mit den äußeren Sinnen, das ist alles von Bedingungen abhängig. Und in diesem bedingten Erleben ist aber die nichtbedingte Qualität des Gewahrseins ständig da, bloß für den nicht informierten Menschen nicht wahrnehmbar. Es ist immer die Grundlage des Seins, das andere sind die Ausformungen. Diese Ausformungen – das ist wie ein Nadelöhr – da passt das nicht durch was sich alles so in diesem Menschenleben so aufgebaut hat. Da ist dann nur noch grundlegendes Gewahrsein das weitergeht. Deswegen – auch wenn es spätere Leben gibt - wir sind ein anderer Mensch. Wir sind anders, es ist nicht so, dass wir als das was jetzt vertraut ist, weitergehen. Wir sind grundlegend neu, es formt sich alles wieder neu unter dann bestehenden Bedingungen. Wenn wir Befreiung erlangen wollen, es uns wirklich darum geht, ganz in Offenheit aufzugehen, dann ist das eine sehr gute Möglichkeit. Der Tod ist die Möglichkeit tatsächlich dann ganz in diesem offenen Gewahrsein aufzugehen. Es muss nicht sein, dass es zu einer neuen Existenz kommt. Wenn ein neues Greifen stattfindet und mit dem starken Wunsch nach Existenz, nach Dasein, dann wird sich eine neue Existenz formen entsprechend diesen Greifens. Das ist bei den meisten Lebewesen der Fall, dass dies wie eine mächtige Gewohnheit ist, erneut zu greifen. Dann bleiben wir in einen dieser Träume, in diesen Wahrnehmungen die im Bardo entstehen, dann verfestigt sich das, zum Teil als Geistwesen, zum Teil in dem es tatsächlich nochmal zum Formannehmen eines Körpers kommt, so wird das beschrieben. Ich habe das Verständnis von diesem Prozess nur aus dem Erkennen meines eigenen Geistes während der verschiedenen Traumyoga, klares Licht usw. Es ist eine völlige Kongruenz zwischen dem was innerlich erlebbar ist und dem was beschrieben wird, was stattfindet. Aber wissen kann ich das nicht. Aber es gibt offenbar Menschen, die diese Prozesse auch schon bewusst durchlaufen haben und das sehr kompetent beschreiben, was es da alles für Möglichkeiten gibt. Wenn euch das interessiert, wenn ihr da ein bisschen mehr reinlesen möchtet, ladet euch doch meine Vorträge runter, die über Tod, Bardo und Wiedergeburt. Es gibt zwei solcher Vorträge. Ich glaube wir haben den einen Text in einem Audio zusammengefasst. Auf der Webseite gibt es eine detaillierte Beschreibung dieses Übergangs. Da geht es um dieses zeitlose Gewahrsein und deshalb ist das so wichtig, es im Leben zu üben. Wir können im Leben ja auch so schon glücklich sein. Einfach so, weil wir heilsam denken und handeln. Um das Glücklichsein geht es dann irgendwann gar nicht mehr. Es geht um das frei sein. Es geht darum, frei zu sein von Identifikationen, von Greifen, in der Tiefe aufzuräumen mit den feinen Formen von Stress und Anspannung, die das gröbere Glücklichsein gar nicht hindern, aber wir merken, dass wir in diesem Glück, in dieser Freude immer noch verhaftet sind, immer noch Greifen. Um das Auflösen dieser Stressformen geht es. Es ist für das Leben das was unseren Geist seine absolute Beweglichkeit zurück gibt und es ist eben unglaublich wichtig, um dann im Übergang von diesem Leben in das was danach kommt, nicht wieder in dieses reaktive Greifen hinein zu kommen. Wirkliche Befreiung gibt es nur, wenn wir dieses zeitlose Gewahrsein verwirklichen. Das ist das was Leerheit genannt wird, das ist das was Nichtselbst genannt wird.

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

Da geht es nicht um den Intellekt, der Intellekt kann das alles verstanden haben, aber das bringt gar nichts. Man muss es innen drin so verstanden haben, dass man auch nachts oder im Traum dessen gewahr ist. So tief muss man es verstanden haben. 23. Auf verwirklichte Meister stützen Ja und dann sagt Milarepa: Stütze dich auf hochentwickelte Meister. 


Damit meint er, um das zu verwirklichen, brauchst du Meister die genau das verwirklicht haben und die dir den Weg zeigen können. Die dir zeigen können, wie du in dieses wache, nicht identifizierte Sein hineinfindest. Das ist das Kostbarste was es gibt. Abgesehen von unserem Geist, ist das Kostbarste auf dieser Welt, dass es Menschen gibt, die uns den Weg des Erwachens zeigen. Das ist auch noch zweierlei. Es verwirklicht zu haben und es dann noch zu zeigen. Das sind auch noch zwei paar Stiefel. Es gibt sicherlich mehr, die es verwirklicht haben, als die die dann tatsächlich aktiv sind. Weil es ist eine verflixte Herausforderung, sich um Schülerinnen und Schüler zu kümmern. Es ist ganz schön anstrengend und braucht einen unglaublichen Einsatz. Ich habe das mit Lama Gendün so mitbekommen, was das bedeutet. Vielleicht habe ich es auch in die Biographie hineingeschrieben. Aber wisst ihr als Lama Gendün nach Indien kam war noch alles okay für ihn. Er wollte seine Praxis einfach in Indien fortsetzen. Er war eigentlich nur mal kurz gekommen, um sich beim Karmapa zu melden, dass er aus Tibet herausgekommen ist und er wollte eigentlich direkt weiterziehen, um als unerkannter Bettler auf den Straßen Indiens das zu verwirklichen, was wir den Regenbogenkörper nennen. Also die völlige Verwirklichung, dass im Tod kein Körper mehr übrigbleibt, nur noch die unbelebten Fingernägel und Haare und alles andere sich ganz in den Energiekörper auflöst. Das ist eine Verwirklichung die es gibt, das ist möglich, weil tatsächlich dieser Körper Energie ist. Aber es ist eine sehr, sehr seltene Verwirklichung. Das war eigentlich der weitere Weg den er weiter gehen wollte. Dann hat ihn der Karmapa (Rangjung Rigpe Dorje) quasi am Schlafittchen gepackt und gesagt, nein, nein, nein. Du kommst mir nicht so leicht davon, ich brauche dich. Ich brauche dich, um zu unterrichten. Bitte stehe mir zur Verfügung, es gibt Schüler in dieser Welt, die Unterricht haben wollen. Da sagt Lama Gendün: Aber ich habe nie unterrichtet. Das war ja in Tibet auch gar nicht notwendig. Es gibt doch dich, Karmapa und Dilgro Khyentse und die anderen Lehrer, die unterrichten. Es braucht doch mich nicht dafür. Dann hat Karmapa ihm das erklärt: Doch, wir können nicht überall sein. Es gibt tatsächlich gar nicht viele, die das unterrichten können. So hat sich das dann anders entwickelt. Dann dachte sich Gendün Rinpoche, okay, wenn ich jetzt schon hier sein muss, dann gehe ich in das Retreat mit Kalu Rinponche. Kalu Rinponche war auch nach Indien gekommen und hatte ihn Sonada begonnen, wieder ein Retreatzentrum aufzubauen und da sollte auch ein Dreijahres-Retreat beginnen. Und da dachte Gendün Rinpoche, da gehe ich dann einfach da rein. Dann schickte Karmapa seinen persönlichen Chauffeur mit seinem Jeep nach Sonada, um Gendün Rinponche abzufangen und wieder zurück zu bringen. Dann hat er ihn erstmal in Bhutan eingesetzt zum Unterrichten und später dann im Westen. Sowas ist unglaublich kostbar und Karmapa wusste das. Es gibt nicht zig solcher Lehrer, die durch die Welt fahren. Das ist wirklich etwas unglaublich Kostbares und die dann auch bereit sind, zu unterrichten. Ich habe viele tibetische Lehrer mitbekommen und es gibt zwei hier in unserem Dunstkreis, die seitdem sie die Verantwortung übernommen hatten für Schüler zu sorgen, nie mehr nach Tibet zurückgekehrt sind oder in ihre Familienkreise. Das ist Lama Gendün und das ist Lama Tönsang aus Montchardin. Völliges Komittment und Rümpa Rinpoche war auch so einer. Kein Hängen mehr an der Vergangenheit, sondern völlige Präsenz mit den Schülerinnen und Schülern – bedingungslos. Gendün Rinponche hatte so einen Stapel von Post von tibetischen Verwandten, die eigentlich gerne Geld von ihm möchten oder dass er zurückkommt, um die Clanwirtschaft weiter zu führen. Diese blieben unbeantwortet, er hat gesagt, nein, das sind keine Praktizierende. Das sind keine Menschen, die wirklich das Erwachen möchten. Das sind einfach Menschen, die Nutzen daraus ziehen möchten, dass ich ein berühmter Lama bin. Es hat andere tibetische Zentren ruiniert, dass die alle ihre Verwandtschaft haben kommen lassen oder immer nur darauf aus waren, Spenden zu sammeln, um anderswo Projekte zu finanzieren. Das ist eine ganz andere Mentalität. Gendün Rinponche ging es nur darum, uns in das Erwachen zu führen. Es gab keine andere Motivation. So jemanden zu treffen – schaut euch ein bisschen um – es gibt wunderbare Lehrer. Ich kenne jetzt nicht so viele, weil ich selber gar nicht mehr gesucht habe. Ich habe schon alles gefunden, was ich gesucht habe. Aber schaut euch um, diese Qualität von Lehrer, die diese völlige Präsenz zeigen und sich ganz einlassen, das ist etwas sehr kostbares. Haltet euch dann an die. Geht mit denen euren Weg.

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

Frage: Warum sollen Haare und Nägel keine Energie sein? Sie sind nicht keine Energie, aber sie leben nicht mehr. Nägel leben nur am untersten Teil, der Rest ist nicht mehr einbezogen in den Lebensprozess. Das wächst einfach von unten nach und oben schneiden wir es ab. Das ist nicht mehr lebendiges Gewebe in dem Sinne, dass es auch absorbiert werden könnte in dem Transformationsprozess. Haare wachsen nur an der Haarwurzel. Der Rest kann nicht mehr vom Körper zurückgeholt werden.

Lehrer im Westen Frage: Ich vermute, dass es nicht einfach ist, Namen zu nennen. Aber könntest du trotzdem Namen nennen, bei denen du denkst, das sind gute Lehrer? Ihr könnt euch natürlich erstmal den 17. Karmapa anschauen. Ich kenne jetzt nur den einen, es gibt auch noch den anderen. Lama Tönsang ist schon sehr alt. Hat nicht diese Qualität von Verwirklichung wie Lama Gendün. Das ist nochmal ein großer Unterschied. Chatral Rinponche ist z.B. auch schon sehr, sehr alt, ein Nyingma Lama. Absolut dieses Kaliber von Verwirklichung. Der es eigentlich aufgegeben hat mit Westlern zu arbeiten, weil die seiner Anschauung nach fast alle nicht die Kraft haben, die Unterweisungen umzusetzen. Chatral Rinponche lebt normalerweise in Kathmandu. Er ist vielleicht im Moment der Leuchtturm unter den verwirklichten Meistern. Es gibt den früheren Retreatmeister von Rumtek , Lama Tsony. Der ganz zurückgezogen in Sikkim lebt. Der scheint eine richtige Praxisenergie zu haben. Der war vom 16. Karmapa als Retreatmeister eingesetzt worden. Da gibt es so hier und da mal welche von denen ich höre. Ich selber suche nicht danach, ich brauche es nicht. Ich merke, es lebt in mir. Ich habe da wirklich alles erhalten und wenn ich Fragen hätte, würde ich mich als erstes wohl an Karmapa wenden. Nächstes Jahr gehe ich mal für ein Monat zu Sakia Tridzin, dem Oberhaupt der Sakya-Linie, um dort für ein Monat zu lernen, meine eigene Fortbildung zu machen. Aber schaut euch einfach selber um. Es gibt unter den jüngeren Lama sehr gute, von denen ich höre. Dzongsar Khyentse Rinpoche ist ein hervorragender Lama. Es gibt auch noch andere. Da gibt es in den USA einen aus der Dudjom - Linie. Dudjom Lingpa oder wie heißt der? Es gibt einen alten tibetischen Lama, den ich wahnsinnig ins Herz geschlossen habe und der absolut erreichbar ist. Der lebt in New York. Khenchen Rinponche, das war der Retreatmeister vom 17. Karmapa als der bei uns in Le Bost ein Retreat machte. Khenchen Rinponche ist ein wenig beachteter Lama, aber eine Seele von Mensch. Tief verwirklicht, das ist auch eine gute Adresse. Frage: Mir fällt noch der Name Dzogchen Ponlop Rinponche ein, der das Buch geschrieben hat, kannst du was zu ihm sagen? Dzogchen Ponlop Rinpoche wäre auch eine gute Adresse. Den würde ich mir auch mal anschauen. Frage: Khandro Rinponche auch…. Khandro Rinponche habe ich kennengelernt beim Unterrichten. Ganz kraftvoll und ganz wunderbaren Dharma, den sie unterrichtet. Frage: Du hast jetzt nur Tibeter genannt? Ja, ich kenne mich in den anderen Linien auch nicht so aus. Ich habe von einem Theravada Mönch gehört in Sri Lanka, von dem meine Freunde sagen, dass er die Inkarnation des Mitgefühls. Eine absolut überströmende Liebe. Leider kann ich den Namen jetzt nicht mehr sagen. Beim Raimund Beyerlein, der den Beyerlein-Steinschulte Verlag führt, habe ich die Bilder gesehen. Der Name fängt mit M an. So gibt es hier und da richtig herausragende Lehrer. Auch wenn Ajahn Chah jetzt noch leben würde. Das sind Lehrer, wo man allein schon merkt, wenn man ihre Texte liest oder wenn man die Schüler hört, was sie von denen sagen, dass sie etwas ganz tief Bewegtes und Bewegendes haben. Unabhängig von Bedingungen. Es geht nicht darum, ob jemand viele Schüler hat. Frage: Ist es nicht so, dass wir zu den Lehrern geführt werden?

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

Ich muss ehrlich sagen, im Vergleich zu vor 30 Jahren, sind die heutigen Schüler ziemlich reisefaul geworden. Für uns waren Entfernungen von Freiburg nach Amsterdam oder nach Turin oder sonst wohin in der Welt überhaupt nichts. Wir sind mal gerade für eine Dharma-Veranstaltung nach Paris gefahren. Ihr müsst euch bewegen, so wie einige im Raum hier – es ist nicht gerade ein Katzensprung von Graz oder von Bremen hierher. Das braucht es. Wir müssen uns bewegen. Wir müssen wirklich hin zu den Lehrern. Wenn wir wirklich suchen, dann ist es wichtig, dass wir uns bewegen. Frage: Wir haben gerade im Westen oder auch ich immer die Tendenz weiter zu suchen. Da gibt es ja auch dieses Beispiel, man kann hundert Wasserlöcher graben – immer nur einen Meter tief oder man kann ein Loch mal hundert Meter tief graben. Ja, das mache doch dann einfach. Wenn du dann Gutes findet, dann bleib. Wenn du Gutes, Nährendes findest, dann bleib und gehe damit in die Tiefe. Und das ist so erfüllend und befriedigend, ich sage es euch wirklich. 1997 ist Gendün Rinponche gestorben. Ich habe nie mehr das Bedürfnis gehabt, nach einem Lehrer zu suchen. Wenn man dann da bleibt und sich ganz einlässt und wirklich praktiziert, dann ist das so erfüllend und ein ständiger Quell. Es sprudelt dann in einem auch weiter. Da ist man an so einem Quell dann angeschlossen. Man muss halt bleiben. Frage: Von westlichen, jüngeren Lehrern gibt es da gar niemanden, der auch in diese Richtung geht? Gibt es sicher, aber das ist auch schwierig, weil ich die ja auch nicht so kenne. Wie soll ich da über die sprechen. Man muss einfach wirklich schauen, wo einem das Herz und der Geist aufgeht. Es gibt gute Lehrer. Frage: Wer mich sehr überzeugt hat, von den paar Malen wo ich ihn Live getroffen habe und von dem was ich gelesen habe, ist der Mathieu Ricard. Ja, man hört viel, viel Gutes von ihm. Also schaut sie euch an und dann geht euren Weg. Es ist sowieso so, wenn man noch keinen Führerschein hat, braucht man noch keinen Porsche in der Garage. Frage: Unter uns gesagt, hier haben wir ja auch einen, der nicht völlig zu verachten ist. Also solange tatsächlich eine Linie wirkt und man merkt, dass ein Lehrer angeschlossen ist an eine Übertragungslinie, dann wird der Unterricht dadurch auch inspiriert und man bekommt nicht nur das mit, was dieser Lehrer, diese Lehrerin als Person darstellt, sondern da fließt noch was anderes durch. Das ist auch ein wunderbares Phänomen. So kann man durchaus auch von Lehrern lernen, die von sich sagen, ohne sich dadurch mindern zu wollen, das habe ich noch nicht so verwirklicht, das geht noch ein ganzes Stück weiter für mich selbst. Das was da an Unterweisung rüberkommt ist trotzdem tief authentisch, kann große Kraft entwickeln und weit über das hinausweisen, als das was der Lehrer schon selber verwirklich hat. Das ist ein tolles Phänomen. Frage: Als Schüler kann man das ja auch so wahrnehmen. Ich so Lehrer im Mandala, wie dich und andere, die dieses Mandala auch so leben. Genau so kannst du das sehen. Da bist du dann in deinem Mandala unterwegs und hast eine ganze Vielzahl von Lehrern zur Verfügung, bei denen du unterschiedliche Anregungen bekommst. Das ist wie so eine Familie. Ja, genau. Also einfach nur zur Ermutigung an euch die gut zu nutzen. Frage: Ich denke, es liegt im Auge des Betrachters, ob einer ein guter Lehrer ist. Wenn man selber das Gefühl hat, dann finde ich, ist das der beste Lehrer. Ja, so sehe ich das auch. Da wo wirklich dieses tiefe Vertrauen in uns wach wird, da geht es lang.

24. Kostbares Menschenleben Wollen wir mal schauen, wie es weitergeht hier:


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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

Vergeude dein Menschenleben nicht mit Zerstreuungen. Klare Botschaft. Immer das Wichtigste zuerst, dann haben wir keine Zeit mehr für das Unwichtige. Frage: Also den ganzen Tag meditieren. Das habe ich nicht gesagt. Ist das das Wichtigste für dich? Das ist das Wichtigste. Okay, dann mache das, bis etwas anderes wichtig wird. Immer das Wichtigste zuerst. So einfach. Man muss das Wichtigste, das was der stärkste Herzimpuls ist, so schnell wie möglich leben, weil alles andere kann man nicht wissen und nicht erfahren, bevor nicht dieser erste Herzensimpuls quasi wie abgearbeitet ist. Man muss es erst mal leben und dann schauen, wie es weitergeht. Solange das noch so etwas bleibt, was ich eigentlich machen möchte, aber nie dazu komme, weiß ich nicht, was auftaucht, wenn ich das dann endlich mal lebe. Kann ich nicht wissen. Ich bin immer in der Hinbewegung auf etwas, was ich nie lebe. Das bremst mich, das hält mich gefangen in dieser Hinbewegung auf das Ungelebte. Wenn ich es lebe, dann kann ich es leben und dann weiß ich, wo es hinführt. Dann weiß ich, was dann kommt. Es ist so ein wichtiges Prinzip, was ich euch gerade erklärt habe. Das ist das Prinzip, das dazu führt, dass einige Menschen sich schnell entwickeln und andere langsam oder gar nicht. Es hängt davon ab, wie schnell und konsequent wir unser erstes Herzensanliegen umsetzen. Wenn wir das aufschieben, schieben wir den ganzen Reifungsprozess auf, der damit zusammenhängt. Natürlich lernen wir auch noch anderes, aber wir lernen im weniger wesentlichen Bereich. Aber das Wesentlichste sofort leben, sofort. Sofort umsetzen. Dann können wir auch sofort die Erfahrung damit machen, schauen, was daran Illusion war, was sich daran bewahrheitet, daraus unsere Schlüsse ziehen und dem nächsten Herzenswunsch folgen, der sich dann offenbart. So geht der Lebensweg weiter, indem wir immer ganz an unsere innerste Inspiration dran sind. Kann ich euch wirklich nur absolut an das Herz legen und das ist, was Zerstreuung genannt wird. Es gibt nicht einen Sack, in dem wir finden könnten, was da mit Zerstreuung gemeint ist. Zerstreuung ist immer das, was nicht das Wichtigste ist. Das was uns vom Wesentlichen ablenkt, das ist Zerstreuung. Was das dann genau ist, das muss jeder für sich selbst rausfinden. Es kann Zerstreuung sein, tanzen zu gehen. Es kann absolut voll im schwarzen Zentrum des Wesentlichen sein, tanzen zu gehen. Man kann es von außen nicht wissen. Das muss jeder für sich selbst herausfinden.

25. Geist betrachten Betrachte den ungeborenen Geist. 


Das hatten wir in einer anderen Form schon. Das ist zentral, immer wieder das zu praktizieren, was dann auch im Tod helfen wird. Eine Art und Weise den Dharma darzustellen ist: Denk nicht nur an dieses Leben, denk daran, was du im Sterbeprozess brauchst und was dich darauf gut vorbereitet und auch für das was danach kommt. Das wäre weise, das zu bedenken. Wenn der Tod dann kommt und wir sind nicht vorbereitet, ist es zu spät, sich vorzubereiten. Dann sterben wir unvorbereitet. Sterben selbst ist nicht schwierig, hat noch jeder geschafft. Aber wie es dann weitergeht, wenn dann wieder die automatischen Reaktionen ablaufen, dann stehen wir danach wieder vor denselben Aufgaben wie jetzt. Frage: Ist das, was wir hier machen, wirklich eine Sterbevorbereitung? Selbstverständlich ist das eine Sterbevorbereitung. Wir können gerne noch mal einen Kurs zur Sterbevorbereitung machen. Es geht um nichts anderes als das. Ich habe jetzt in das Buch, das wir gerade abgeschlossen haben, ein Kapitel über Sterbevorbereitung hinein genommen. Worauf ich mich da beziehe das ist für mich absolut die beste Essenz – sind die Lodjong-Instruktionen, Sieben-Punkte-Geistestraining – der vierte Punkt: Die Essenz von dem, was im Leben und im Sterben zu praktizieren ist. Fünf Kräfte – fünf Kräfte im Leben und dieselben fünf Kräfte im Sterben.Wenn ihr euch das mal anschaut. Ihr könnt auch bis zum Frühjahr warten, wenn das Buch rauskommt. Das ist was absolut Zentrales, das Boddhicitta in seinen verschiedenen Facetten im Leben zu praktizieren – also inklusive Letztendliche, dieses zeitlose Gewahrsein und dasselbe dann im Sterbeprozess zu praktizieren. Das ist die absolute Essenz des Dharmas. Die erwachte Präsenz jetzt in jeder Situation umzusetzen und im Sterbeprozess, darum geht es. Das haben wir hier gründlich geübt. Da habt ihr – ohne dass es jetzt so angesprochen wurde – viel gelernt. Ich habe mein Bestes getan, was ich konnte.

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

Die Unterweisung selbst über diese fünf Kräfte ist ganz kurz. Das ist in zwei Stunden erklärt.

26. Kein Frieden in Samsara Erwarte keine Befriedigung im Daseinskreislauf. Nächster Satz. Ganz wichtig. Erwarte nicht, dass Salzwasser den Durst löscht. Das ist die entsprechende Metapher, die benutzt wird. Daseinskreislauf bedeutet die Welt des Greifens. Die Welt von Hoffnung und Furcht, Anhaftung und Ablehnung. Das ist was Daseinskreislauf meint, Samsara, die Welt der Verstrickung. In der Welt der Verstrickung, im Funktionieren in diesen verstrickenden Mustern gibt es keinen Frieden, gibt es keine Befriedigung. Das ist im Prinzip des Greifens, des Wollens inbegriffen. Wenn wir im Wollen sind, gibt es keinen Frieden. Wir sind im Wollen. Das muss uns ganz, ganz tief klarwerden. Es wird nie Frieden geben. Alle die mit mir in den Einzelgesprächen gesprochen haben, haben beschrieben, dass in den Momenten in dieser Woche, wo das Wollen von euch abgefallen ist, ihr mal irgendwie einfach mal so ohne zu wollen da ward, genau da die größte Offenheit, das größte Glück, den größten Frieden erfahren habt. Das ist ein Grundgesetz, ein Naturgesetz. Und das ist da, wo ihr erahnen könnt, was Befreiung und Frieden bedeutet. Es ist das Ende des Greifens, das Ende des Wollens. Das Ende der Verstrickung. Wo Verstrickung ist, ist kein Frieden. Verstrickung in Hoffnung und Furcht, Anhaftung und Ablehnung, das ist damit gemeint. Da ist kein Frieden, keine Befriedigung. Immer nur ganz kurz, das ist so wie die Schokolade nach dem Mittagessen, ganz kurz. Frage: Wie steht das Wollen der Erleuchtung für alle fühlenden Wesen, zur Relation zu dieser Art von Wollen. Genauso unbefriedigend. Das Wollen der Erleuchtung ist eine Sackgasse. Wie müssen es auch aufgeben, die Erleuchtung zu wollen. Ob sie für uns ist oder für alle Lebewesen. Das Sichausrichten, die Bereitschaft in das offene Sein einzutreten für alle, ist kein Wollen. Das ist eine andere Form der Bereitschaft zu sein. Also tatsächlich dieser Wunsch, wie es oft heißt, ist kein Wollen. Wenn es ein Wollen ist und es führt in uns manchmal zu einem Wollen, ist es wieder eine neue Fixierung. Wie kann man das unterscheiden? In dem man merkt, dass das eine in uns Anspannung und das andere Entspannung auslöst. Das ist der große Unterschied. Wollen löst immer Anspannung aus und diese freudige Bereitschaft sich einzulassen, öffnet uns immer weiter. Es ist wirklich gegenteilig erfahrbar. Es ist eine starke Richtung. Gar nicht, wir verstehen das so diese starke Richtung, so stellen es auch die Texte manchmal dar. Es ist das Aufgeben dieser starken Richtung dessen was ich will, in ein Hineintreten in das was allen gut tut. Was da über das starke Ausrichten auf Erleuchtung zum Wohle aller beschrieben wird, hört sich so an, als ob wir ganz stark etwas wollen, weil wir so auch funktionieren und weil manche Lehrer das auch so aus dem Wollen heraus noch darstellen, aber wenn du es erlebst oder von Lehrern hörst, die wirklich wissen, worum es geht, dann ist genau das eine Hilfe um ganz aus dem Wollen auszusteigen. Und um dir das nochmal in einem biographischen Beispiel deutlich zu machen: Als Gendün Rinpoche vor seinem Tod gefragt wurde, ob er denn wiederkommen wird, sagt er: Keine Ahnung, ich lasse den Geistesstrom dahin gehen, wo er am meisten gebraucht wird. Da merkst du, diese Haltung. Da ist kein Wollen, da ist nur die Bereitschaft zu dienen. Das ist genau, worum es geht. Diese Bereitschaft zu dienen, das drückt sich eigentlich in dieser Boddhisattva-Absicht aus. Es ist gar keine Absicht, es ist eine Bereitschaft zu dienen. Ich finde das toll, was du erklärt hast. Wo ich noch hänge, ist – die Lehrer die sich vom Boddhicitta durchdringen lassen – von außen betrachtet sehen die so aus, als wenn sie unheimlich einsgerichtet wären. Auf eben genau diese Tätigkeit, Tag und Nacht , Tag und Nacht, so wie du das auch beschreibst von der Praxis her, auf dieses tätige Mitfühlen. Es ist doch eine ziemlich stark ausrichtende Kraft. Guck mal, das ist jetzt Interpretation.

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

Ja, das ist die Frage eben. Die sind so ausgerichtet, weil alles Unwichtige von ihnen abgefallen ist. Also weil das die Natur des Geistes schlechthin ist? Ja, weil das in der Natur des Mitgefühls liegt. Einfach da zu sein und den Dharma, das Beste was man kennt, weiterzugeben. Wenn du eine Krankheit hast und begegnest einer Therapie, wendest sie an und die wirkt hundertprozentig. Wenn du von dieser Erfahrung nach Hause kommst, wirst du allen die nur irgendwie ansatzweise mit Symptomen dieser Krankheit erfasst sind, sofort von dieser Therapie erzählen. Das ist die natürliche Regung. Weil du daran gelitten hast, weißt du was es bedeutet und wenn das Herz warm ist, wirst du alles tun, um diese wunderbare Therapie anderen zur Verfügung zu stellen. Das ist das, was im Dharma eigentlich passiert. Man war krank und leidend und hat etwas gefunden, was absolut sicher hilft und wenn man dann ein freundschaftliches Herz gegenüber anderen hat, hat man nur noch das Bedürfnis, das weiterzugeben. So spontan, wie du das machen würdest, würdest du sofort in das Internet gehen, die Adressen heraussuchen, alles tun und das würde dir auch gar keine Anstrengungen bereiten, das zur Verfügung zu stellen. Weil das Herz so völlig dafür schlägt. Du würdest sagen: Okay, und wenn es notwendig ist, ich reise mit dir dahin. Es würde alles eine Leichtigkeit des Seins sein, denn du weißt genau, das braucht es. Die Liebe und das Mitgefühl gibt unendliche Kraft. Frage: Ist das Wollen konzeptionelles Denken? Ja, sicher. Wollen ist eine Form des begrifflichen Denkens, dass wir uns eine Vorstellung machen, von etwas, was ein Ziel außerhalb von uns ist – ich hier und dort das Ziel. Dann entsteht diese Dynamik sich in seiner Vorstellung auf ein Ziel hin auszurichten.

27. Vorteile des Leides Betrachte Leid nicht als Nachteil. Das ist jetzt das Nächste. Leid ist da wo wir am meisten lernen. Von daher großer Vorteil. Da wo es schwierig wird, lernen wir am meisten. Oh Mensch, wie oft ich mir das sagen muss. Aber es stimmt und ich habe es viele Male überprüft. Wenn es mir allzu gut geht, dann bin ich nicht mehr mit der ganzen Intensität präsent. Wenn die Herausforderung aktiv ist, dann stimuliert das alle inneren Kräfte, das ist schon so. Wenn jemand – auch da kann ich mich an Situationen erinnern – zu Gendün Rinponche kam und klagte, dass er seine Praxis nicht so auf die Reihe kriegt und den Anlauf nicht findet, dann hat er manchmal einfach geantwortet: Dir geht es zu gut. Ihr braucht euch jetzt nicht extra auf ein Nadelkissen zu setzen, aber vielleicht reicht es auch aus, sich klar zu machen, dass es uns gar nicht so gut geht. Dass wir eine gehörige Dosis an Herausforderungen und auch Leid in unserem Leben haben, eigentlich ausreichend, wenn wir da nur hinschauen würden und schnurstracks zur Praxis – ohne Umwege. Aber wir machen da oft einen Schleier der Ignoranz darüber, nicht so hinschauen zu wollen und das führt dann auch zur entsprechenden Faulheit. Wir nutzen dann unser Leid nicht als das, was es sein könnte, also unser bester Lehrer.

28. Geist verstehen Verstehst du den Geist, bist du ein Buddha. Verstehst du ihn nicht, bist du keiner. Auch ganz einfach zu verstehen – was den Satz angeht.

29. Geschäftigkeit aufgeben Viel Geschäftigkeit ist unnötig.

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

Auch das bezieht sich jetzt gar nicht so sehr auf das Leben eines normalen Menschen, sondern war auch für das Leben des Yogis gedacht. Auch Yogis, Praktizierende sind oft von einer unglaublichen Geschäftigkeit. Da werden dann 20 Bücher auf einmal gelesen und dieses und jene gehört und es ist eine große Unruhe in der Praxis. Das ist Geschäftigkeit. Das ist das Fortsetzen der Mechanismen des Wollens, Hoffnung und Furcht in die Dharmapraxis hinein. Geschäftigkeit ist ein Anzeichen dafür, dass man noch unglaublich im Wollen ist, dass man es noch nicht geschafft hat, sich auf das Wesentliche zu beschränken und dabei zu bleiben. Schaut euch das mal an. Es geht gar nicht darum, jetzt nicht viele Dinge zu tun. Geschäftigkeit und viele Projekte laufen zu haben, ist ein Unterschied. Geschäftigkeit ist ein Geisteszustand, ist eine innere Unruhe. Im Grunde gar nicht zu wissen, was ich mit mir anfangen soll, wenn ich nicht schon das Nächste zu tun habe. Frage: In der tibetischen Tradition lernt man ja viele Rituale und Tormas machen und was man alles auf den Schrein stellen muss usw.. Ich finde das irgendwo faszinierend, aber ich habe das Gefühl, ich kann das überhaupt nicht meistern. Ich muss da soviel lernen. Wenn du meinst, du kannst das nicht, ist das natürlich auch schon mal gut. Das ist dann schon ein Schutzschild. Aber tatsächlich wird das in tibetischen Texten als die typische Geschäftigkeit der Mönche beschrieben. Damit die Mönche nicht allzu viel Unfug machen. Ganz ehrlich, lest mal Patrul Rinpoche und andere, die schreiben da ganz offen darüber. Die hatten es mit großen monastischen Gemeinschaften zu tun, in denen die Mönche gar nicht unbedingt auf das Wesentliche ausgerichtet waren, weil viele gar nicht aus starkem eigenen Antrieb dahin gekommen waren. Dann gab man ihnen einfach Rituale und Tormas und dieses und jenes zum auswendig lernen und immer um das Wesentliche herum, um den Geist auszurichten auf das. Das sind alles Methoden, die in dieser Plethora nur möglich sind, weil es eine ganze Gemeinschaft gibt, die das macht und von dem aber viel auch einfach Geschäftigkeit ist. Dann werden plötzlich Details für enorm wichtig gehalten, die es gar nicht sind. Es ist völlig egal, welche Farbe so ein Ornament hat. Das muss man sich doch mal klar machen. Für welche Erleuchtung soll das denn wichtig sein? Frage: Ich kann es nachvollziehen, dass man nicht wirklich Motivierte beschäftigt. Aber was ich das Bedauerliche daran finde, dass es Leute gibt, die ernsthaft suchen aber nicht den richtigen Zugang bekommen zu Leuten, die das so erläutern, wie du das jetzt machst und dann davon abgeschreckt sind und denken, dass sie so eine Ritualgemeinschaft nicht brauchen. Dann macht man einen Bogen um die Gemeinschaften, wo im Kern das Wissen vorhanden ist. Nach 20 Jahren erkennt man, dass wenn man damals an die Leute geraten wäre, die einem das besser erläutert hätten, dann hätte man nicht einen großen Bogen darum gemacht. Das finde ich traurig. Völlig richtig. Ich nehme das jetzt so als eine Zeugenaussage. Das ist genau das, dass oft hinter diesem Äußeren der wesentliche Kern nicht so deutlich wird und dass man sich abschrecken lässt. Da ist es gut, ein bisschen Mut zu haben. Ich habe das ja auch alles gelernt. Es war nicht alles wesentlich, was ich da gelernt habe. Frage: Heute kam mir so ein Schützergebet. Und dann kam aber auch im Hinterkopf, das darfst du jetzt nicht rezitieren. Denn wenn du das jetzt rezitierst, musst du was opfern, sonst sind dir die Schützer böse. Das braucht tiefere Erklärung, weil die echten großen Dharmaschützer, die Gewahrseinsschützer, die brauchen gar keine Opferung. Das alles braucht ein tiefes Wissen, sich auskennen, schauen mit wem man da welche Beziehungen eingeht und es löst sich immer wieder alles in Wohlgefallen auf, wenn man dann tatsächlich zur Essenz durchdringt. Opferungen brauchen immer nur die weltlichen Gottheiten. Also die, die noch selber in Hoffnung und Furcht stecken. Das Wesentliche ist, den Geist zu kennen. Die Gesetze des Herzens zu kennen und anzuwenden, wie der Herzensgeist sich befreit, wie Liebe und Mitgefühl entstehen, wie wir tiefen, inneren Frieden finden, wie wir jede Situation im Leben zur Praxis machen können, das ist worum es wirklich geht. Wer von euch dann viel Zeit hat, der kann über das hinaus, was für die einzelne Personen notwendig ist, den Methodenkoffer auch noch ein bisschen erweitern, um mehr Methoden zur Verfügung zu haben, um sie anderen weiterzugeben. Das ist eine Motivation, die über das eigene persönliche Wohl hinausgeht und dann einfach auch noch das lernt, was anderen hilfreich sein kann. Aber erstmal, wenn wir so wenig Zeit haben, wie die meisten von euch, geht es darum, ganz konsequent das und nur das anzuwenden, was dem eigenen Geist, dem Herzensgeist wirklich hilft. Darum geht es. Da haben wir keine Zeit zu verlieren. Es geht erstmal darum, selber frei zu werden. Dann können wir ja weiterschauen, wenn wir da noch Zeit im Leben haben.

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Gewahrsein entwickeln

Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2015

Das ist so, wie wir in der Psychotherapie sagen, erst mal die Selbsttherapie, erst mal selber klar werden und dann die Lehrtherapie und das Fortbildungsinstitut usw. , um zu lernen, was wir anderen zur Verfügung stellen können. Aber erst mal muss bei einem selber aufgeräumt sein. Das ist das Allerwichtigste. Vorher sollte man auch gar nicht groß versuchen, anderen helfen zu wollen. Es bleiben uns noch zwei Sätze von Milarepa.

30. Tiefgründigste Unterweisung 


Tiefgründigere Unterweisungen als diese gibt es nicht. Das ist der nächste Satz. Setze sie in die Praxis um. So heißt der letzte Satz. Es war viel Stoff in diesem kleinen Gesang mit 30 Leitsätzen. Eine Rundumdarstellung des Dharmas im Grunde genommen, die da mitschwingt. Die anderen Gesänge von Milurepa sind auch poetisch viel inspirierender und haben eine reichere Bilderwelt. Aber dies hier war jetzt eine satte Zusammenfassung des Wesentlichen. Damit hätten wir das abgeschlossen.

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