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... Praxis eines Freien Trägers. Martin Czarnojan, Michael Wedekind . ... 2.6. Jugendliche im Arrest. Thomas Wilke, Jochen Drewes, Phil C. Langer, Uwe Koppe .
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M. Lehmann, M. Behrens, H. Drees (Hrsg.)

Gesundheit und Haft Handbuch für Justiz, Medizin, Psychologie und Sozialarbeit

Pabst

Marc Lehmann, Marcus Behrens, Heike Drees (Hrsg.)

Gesundheit und Haft Handbuch für Justiz, Medizin, Psychologie und Sozialarbeit

Pa bst S cience P ublisher s Lengerich (Westfalen)

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Inhaltsverzeichnis Geleitwort der Bundesministerin der Justiz Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    9 Geleitwort Bernd Maelicke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   11 Vorwort der Herausgeber Marc Lehmann, Marcus Behrens, Heike Drees. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   15

I

Allgemeiner Teil/Strukturen

1 1.1 1.1.1

Vor der Haft Haftvermeidung Aus politischer Sicht Steffen Bieneck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus juristischer Sicht Bill Borchert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus juristischer Sicht Ursula Groos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus medizinischer Sicht Jörg Gölz, Katharina Liebau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus sozialarbeiterischer Sicht Elke Bahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftvorbereitung Aus psychosozialer Sicht Jan Winkler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus medizinischer Sicht Marc Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.2 1.2.1 1.2.2

2 2.0.1 2.1 2.1.1 2.1.2

  24   34   42   50   62

  76   88

Während der Haft Juristische Aspekte der Medizin in Haft Karin M. Meissner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   98 Frühe Haftphase/Zugang U-Haft Aus sozialarbeiterischer Sicht Jörg Troike. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Aus medizinischer Sicht Stefanie Behrens, Marc Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5

Inhaltsverzeichnis

2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2

3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3

Im Laufe der Haft Aus psychologischer Sicht Michaela Stiepel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus medizinischer Sicht Thomas Menn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vor der Entlassung Aus sozialarbeiterischer Sicht Karola Kroworz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus medizinischer Sicht Thomas Menn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Spezieller Teil

1 1.1

Problemfelder Sucht Gundula Barsch, Astrid Leicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Substitution in Haft Karlheinz Keppler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Substitution in Freiheit Chaim Jellinek, Bernd Westermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabakgebrauch Heino Stöver, Catherine Ritter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychische Störungen/Erkrankungen Norbert Konrad. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suizidalität Katharina Bennefeld-Kersten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewalt und Aggression, Psychotrauma Jens Wittfoot. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Somatik Jochen Woltmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infektiologie Jukka Hartikainen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9

6

152

168 182

Nach der Haft Sozialer Empfangsraum Aus sozialarbeiterischer Sicht Gisela Seeger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Aus Sicht der Bewährungshilfe Bettina Rienth, Jenny Binscheck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Aus der Praxis eines Freien Trägers Martin Czarnojan, Michael Wedekind. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

II

1.2

135

226 253 277 290 304 320 331 343 355

Inhaltsverzeichnis

1.10 1.11 1.12

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9

Haftentlassung - Überleitungsmanagement Oliver Kaiser. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Versorgungsstrukturen Regina Schödl, Matthias Lauter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Patientenrechte Mario Bachmann, Ferdinand Goeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Zielgruppen Migration Meryam Schouler Ocak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexuelle Orientierung Marcus Behrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gender Marcus Behrens, Susanne Reuter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Altersgruppen im Vollzug (Alte im Vollzug) Petra Hinzmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendliche im Vollzug Andreas Schindler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendliche im Arrest Thomas Wilke, Jochen Drewes, Phil C. Langer, Uwe Koppe . . . . . . . . . Drogen, Tätowieren und Sex in Haft Bärbel Knorr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolle der Bediensteten Bernd Herzog, Jürgen Künecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschung zur Gesundheit in Haft Katrin Erbacher, Heike Drees . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III

Ausblick

1 1.1

Mehr Gesundheit im Gefängnis Beispiele aus der Schweiz Hans Wolff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus internationaler Sicht Jörg Pont. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus italienischer Sicht Robert Monarca . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus spanischer Sicht Fabio Sternberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.2 1.3 1.4

407 422 441 462 473 483 499 510 525

554 563 575 593

Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605

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8

Geleitwort der Bundesministerin der Justiz

„Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben. Bewahret sie! Sie sinkt mit euch, mit euch wird sie sich heben.“ Friedrich Schiller

Die Menschenwürde gilt auch in Gefängniszellen Oft wird die Debatte über die Behandlung von Strafgefangenen in einem Duktus der Revanche, der Angst und des „law and order“ geführt. Diese Sichtweise widerspricht dem liberalen, aufgeklärten und humanistischen Erbe. Sie widerspricht dem Geist unseres Grundgesetzes. Die Menschenwürde gilt auch für diejenigen, die eine Straftat begangen haben und dafür ihre gerechte Strafe verbüßen – sei es in einer geschlossenen Justizvollzugsanstalt oder in anderer Form. Es gilt der Grundsatz der Resozialisierung. Dabei handelt es sich nicht, wie oft behauptet, um „Täterschutz“, sondern im Gegenteil um „zukünftigen Opferschutz“. Holzschnittartige Demagogien übersehen, dass Resozialisierung eine ganzheitliche Aufgabe ist, bei der Arbeitsmarktintegration, Bildungschancen und Gesundheit Hand in Hand gehen. Eine effektive Therapie für einen Drogenabhängigen führt dazu, dass dieser gesünder lebt und am Arbeitsmarkt besser vermittelbar ist. Ein ehemaliger Strafgefangener mit einer festen Arbeitsstelle und damit Routine in einem selbstbestimmten Leben und eigenem Einkommen wird weniger rückfällig und hat es leichter, Medikamente bei chronischen Krankheiten wie HIV einzunehmen. Ein höherer Bildungsabschluss durch Fortbildung während oder nach der Haft steigert die späteren Arbeitsmarktchancen. Und eine bessere psychosoziale Betreuung nach der Haft verringert die Rückfallquote. Es ist im gesamtgesellschaftlichen Interesse, die Rückfallquoten zu minimieren, die Kosten für die Gemeinschaft durch Belastungen des Gesundheitssystems oder Kosten des geschlossenen Vollzugs zu reduzieren und ehemalige Strafgefangene als steuerzahlende und arbeitende Mitglieder der Gesellschaft zu begrüßen. 9

Geleitwort der Bundesministerin der Justiz

Dies erfordert eine integrierte Anstrengung von Sozialarbeitern, Bewährungshelfern, JVA-Bediensteten, Jobcentermitarbeitern, Drogenberatern und dem Justizwesen. Die hier vorliegenden Publikation bietet Beiträge aus unterschiedlichsten Perspektiven von Praktikern und Wissenschaftlern und liefert wichtige Denkansätze und Anregungen. Eine Gesellschaft muss sich immer auch nach der Art und Weise beurteilen lassen, wie sie ihre Strafgefangenen behandelt. Ich freue mich, dass dieser Band einen wichtigen Schritt dazu leistet, diese Behandlung zu verbessern.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Bundesministerin der Justiz a.D.

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Geleitwort von Prof. Dr. Bernd Maelicke

Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen – der organisierte Beziehungsabbruch als Systemfehler der Resozialisierung Die Vorfälle wiederholen sich – immer wieder berichten die Medien über schwere Straftaten von gewalttätigen Jugendlichen oder von erwachsenen Sexual- und Gewalttätern, die bereits seit langem polizeiund gerichtsbekannt sind. Wenn man ihre Biographien und ihre Akten studiert, gibt es ein gemeinsames Merkmal – obwohl sie bereits unter Betreuung oder Aufsicht standen oder bereits mehrfach vorbestraft sind (nicht nur ambulant, sondern auch stationär: Jugendarrest, Jugendstrafe, Erwachsenen-Strafvollzug), wurden sie erneut straffällig. Für diese Mehrfach- und Intensivtäter werden ca. 80% der einschlägigen Personal- und Sachkosten der ambulanten Dienste der Jugendämter und der Strafjustiz aufgewendet. Obwohl ansonsten die meisten Straftäter durch die Maßnahmen des Jugendstrafrechts oder als Erwachsene durch die Geldstrafe oder die zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von weiteren Straftaten abgehalten werden können (die Gesamtzahl der Straftaten geht immer mehr zurück) beweisen diese „Chroniker“, dass jedenfalls für sie das derzeitige Hilfe-, Kontroll- und Bestrafungssystem nicht funktioniert. Rückfallquoten bis zu 80% aus dem geschlossenen Vollzug werden politisch und medial immer weniger hingenommen, und die sich wiederholenden Skandalfälle bringen die Jugendhilfe und die Justiz unter immer größer werdenden Legitimitätsdruck („Saustall Justiz“). Es ist klar, dass bei den meisten dieser Täter solche langjährigen Fehlentwicklungen vorliegen, dass einmalige strafrechtliche Interventionen und soziale Unterstützungsprogramme (Jugendhilfe, Bewährungshilfe) nicht das ausgleichen können, was jahrzehntelang versäumt wurde. Diese „verlorenen Seelen“ sind und waren selbst häufig Opfer, bevor sie Täter wurden. Aber leisten die Systeme der Jugendhilfe und der Justiz wirklich das fachliche Optimum, das dem nationalen und internationalen Stand der Fachdiskussion entspricht? Die langjährigen „Karrieren“ der jugendlichen Mehrfach- und Intensivtäter zeigen, dass über viele Jahre 11

Geleitwort von Prof. Dr. Bernd Maelicke

und bei Erwachsenen auch Jahrzehnte eine Vielzahl von Fachkräften und Institutionen interveniert haben, ohne dass weitere Straftaten und erneute Rückfälligkeit verhindert werden konnten. Eine Fall- und Systemanalyse macht deutlich, wo die Mängel liegen: Es gibt weder gesetzlich, noch konzeptionell, noch organisatorisch, noch personell, noch finanziell in Deutschland ein abgestimmtes Gesamtkonzept der Resozialisierung jugendlicher oder erwachsener Straftäter. Selbst Jura-Professoren haben spätestens seit der Föderalismusreform den Überblick verloren und sprechen von einem „Verwirrsystem“ der einschlägigen Bundes- und Landesgesetze (beginnend mit Regelungen und zahllosen Novellierungen seit den 1950er Jahren und nun fortgesetzt durch aktuelle Gesetzgebungen der 16 Länder z.B. zum Jugend- und Erwachsenenstrafvollzug, zur U-Haft, zum Jugendarrest, zur Bewährungshilfe etc.). Konzeptionell schwanken die Gesetzgeber wie Ruten im Wind: mal mehr soziale Integration, mal mehr Repression (letzteres überwiegt immer mehr). Die Rückfallquoten der Intensivtäter wurden so nicht verringert – auch internationale Beispiele (USA) belegen eindrucksvoll, in welche Sackgassen höhere Strafen und vor allem mehr Freiheitsstrafen führen. Hauptmängel liegen in der unzureichenden Kooperation und Koordination der Fachkräfte und der Institutionen. Das gesetzliche Verwirrsystem teilt die oftmals langjährigen „Wertschöpfungsketten Resozialisierung“ auf in viele Teilleistungen z.B. der Polizei, der Jugendhilfe, der Jugendbewährungshilfe, des Jugendarrests, des Jugendvollzugs, der Gerichts- und Bewährungshilfe für Erwachsene, der U-Haft, des Strafvollzugs, der Führungsaufsicht, der Haftentlassenenhilfe, der Straffälligenhilfe der Kommunen und der freien Träger, der Drogenhilfe, der Schuldnerberatung, der ARGEN und Optionskreise und so weiter und so fort – in sich immer wiederholenden zirkulären Prozessen finden wir bei den Aktenanalysen hier die gravierendsten Lücken in den Übergängen von Hilfe, Betreuung und Kontrolle, die dann auch zu den öffentlich wahrgenommenen Skandalen führen. Dabei ist die Reso-Kette nur so stark wie das schwächste ihrer Glieder. Dauerhaftigkeit, Zuverlässigkeit und Berechenbarbeit personaler Konstanz sind zentrale Erfolgsfaktoren gelingender Resozialisierung, permanenter Beziehungsabbruch dagegen hat in den wechselhaften Lebenswegen der „Karrieristen“ ihr Urvertrauen und ihr Selbstvertrauen dauerhaft zerstört. Die Ursachen für diese Segmentierung liegen nicht im fehlenden Engagement oder in unzureichender Qualifikation der handelnden Fachkräfte. Die Fallzahlen und Pensenschlüssel sind nicht so berechnet, dass die Übergänge und Schnittstellen fachlich kompetent und 12

Geleitwort von Prof. Dr. Bernd Maelicke

verantwortbar ausgestaltet werden können. Nach wie vor bereiten die Bewährungshelfer nicht die Entlassung vor, finden aus Personalmangel viel zu wenig Ausgänge zur Vorbereitung der Entlassung statt, dauert es oft Wochen und Monate, bis der mit Führungsaufsicht Entlassene sich bei der Aufsichtsstelle und dem betreuenden und kontrollierenden Bewährungshelfer meldet – und dann hat dieser über 100 Probanden und deshalb nur alle 6 Wochen Zeit für ein maximal halbstündiges Gespräch. Und die Gefangenen werden nicht mehr von Beratern der Arbeitsämter bereits im Vollzug beraten und bei der Entlassung begleitet – heute sind sie auf anonyme Call-Center verwiesen und Anträge werden erst nach der Entlassung angenommen – was häufig nicht nur direkt in die Arbeitslosigkeit, sondern auch zu fehlendem Krankenversicherungsschutz führt. Die Justiz ist mit ihren finanziellen Ressourcen aus medialen und politischen Gründen voll auf den Vollzug konzentriert, er benötigt bei Tagessätzen von bis zu 100 Euro ca. 90% der verfügbaren Mittel (für ca. 70.000 Gefangene und ca. 37.000 Bedienstete). Für die bundesweit ca. 2.500 Bewährungs- und Gerichtshelfer (ca. 200.000 Probanden) werden ca. 8% aufgewandt, der Rest geht an Integrationsprojekte freier Träger. Zugleich hat der Vollzug die höchsten Rückfallquoten – eine am Ziel der Resozialisierung ausgerichtete Justiz müsste schon aus Gründen der Effektivität und Effizienz zu ganz anderen Zuteilungsraten kommen – bundesweit fehlen mindestens 1.000 zusätzliche Bewährungshelfer, um die soziale Inte­gration, aber auch die ambulante Kontrolle zu intensivieren und so die Rückfallquoten weiter zu senken. „Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen“ – dies gilt nicht für Täter, sondern häufig auch für die Opfer und die handelnden Akteure. Es ist an der Zeit, dass die Justizpolitiker ihre Gesamtverantwortung erkennen und sich nicht mit „Leuchtturmprojekten“zufrieden geben, die leider oft nur Schminke sind. Wir brauchen eine schonungslose und flächendeckende Bestandsaufnahme, veränderte Bundes- und Landesgesetze („Landesresozialisierungsgesetze“) und eine rationale Umverteilung der Ressourcen. Das derzeitige Verwirrsystem und der organisierte Beziehungsabbruch sind nicht mehr hinnehmbar. Prof. Dr. Bernd Maelicke

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Vorwort Gesundheit ist ein verbrieftes Recht nach dem deutschen Grundgesetz, die körperliche Unversehrtheit ist geschützt und deren Verletzung eine Straftat. All dieses gilt auch für Menschen, die mit dem Problem der staatlichen Freiheitsentziehung im Sinne dieses Buches mit Haft konfrontiert sind. Gesundheit ist dabei nach der bekannten Definition der Weltgesundheitsorganisation „ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen“. Throughcare im Sinne dieses Buches bezeichnet mit einem neueren Begriff die Durchgängigkeit von medizinischen Versorgungen. Bei der Versorgung von Gefängnisinsassen wechselt jeweils mit Haftantritt und Haftende zwischen Leistungsträgern und Versorgungseinrichtungen die Zuständigkeit. Bedauerlicherweise kommt es hierbei immer wieder zu Versorgungsveränderungen, Versorgungsunterbrechungen und schlimmstenfalls sogar zu Versorgungsabbrüchen. Ziel dieses Buches ist es, den in diesem Feld handelnden Akteuren Handlungshilfen und -empfehlungen zu vermitteln, mit denen es ihnen möglich ist, Versorgungsschwierigkeiten zu minimieren und generell die gesundheitliche Situation der Gefangenen zu verbessern. Angesprochen werden sowohl die Akteure vor als auch in bzw. während der Haft sowie die „Versorger“ nach einer Zeit der Haft, wobei es sich hierbei im Sinne eines Kreises sogar um eine erneute Zeit vor der Inhaftierung handeln kann. Im Rahmen der ethischen Betrachtung ist auch zu berücksichtigen, dass o.g. Recht auf Gesundheit ein verbrieftes Grundrecht im deutschen Raum darstellt, das auch durch die Vollstreckung einer gesetzmäßigen Freiheitsentziehung nicht aufgehoben oder beeinträchtigt wird. Eine Einschränkung der medizinischen Versorgung ist nicht Teil der Strafe, und das Verhindern entsprechender Einschränkungen ist elementare Aufgabe eines jeden Gefängnisarztes. Hierzu müssen diese Fachkräfte jedoch über die notwendige professionelle Unabhängigkeit in Ausübung ihres Handelns verfügen. Elementares Grundprinzip ist, dass die Versorgung in Haft gleichwertig zu der Versorgung der Bevölkerung im jeweiligen Staat zu erfolgen hat. Dies wird als Äquivalenzprinzip bezeichnet und findet sich an vielen Stellen des Buches wieder. Bei der Ausgestaltung einer angemessenen gefängnismedizinischen Versorgung und der Festlegung einer geeigneten Organisationsform der gesundheitlichen Versorgung in Haft und der Gestaltung 15