Geschlechtsbezogene Pädagogik in der Offenen ... - Regina Rauw

jeweilige polare Gegenüber: schwach, weich, klein, emotional, prozessorientiert. Männlichkeit und Weiblichkeit werden also ausgehend vom körperlichen ..... Münster 1994. Günter, Andrea: Weibliche Autorität, Freiheit und Geschlechterdifferenz: Bausteine einer feministischen politischen Praxis. Königstein/Taunus 1996.
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Michael Drogand-Strud, Regina Rauw

Geschlechtsbezogene Pädagogik in der Offenen Jugendarbeit

In: Deinet, Ulrich / Sturzenhecker, Benedikt (Hrsg.) Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit VS Verlag für Sozialwissenschaften 3., völlig überarb. Aufl. 2005. 662 S. ISBN: 3-8100-4077-0 .

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Geschlechtsbezogene Pädagogik ist eine Pädagogik, die bewusst Bezug nimmt auf die Kategorie Geschlecht. Doch auch die Tradition preußischer Kadettenanstalten zur Herausbildung soldatischer junger Männer oder die Mädchenbildung der 50er Jahre, die Mädchen auf die Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereiten wollte, haben die Kategorie Geschlecht eindeutig berücksichtigt. Auch die Koedukation (gemeinsame Erziehung von Mädchen und Jungen), die in der DDR von Beginn an und in der BRD an vielen Schulen in den 70er und 80er Jahren eingeführt wurde, hat Geschlecht insofern einbezogen, als nun Chancengleichheit für Mädchen und Jungen durch den gleichen Zugang zu Bildung hergestellt werden sollte. Geschlechtsbezogene Pädagogik meint aber noch etwas anderes als dieses und hat sich zum Teil aus der Kritik an der Koedukation heraus entwickelt. Es muss also genauer geklärt werden, was hier mit geschlechtsbezogener Pädagogik gemeint ist, d.h. insbesondere, welche Intention mit dieser Pädagogik in der offenen Arbeit verbunden wird, welche Vorstellung von Geschlecht und welche gesellschaftspolitische Analyse zugrunde gelegt wird . Letztlich zeigt sich dieser Hintergrund in der Haltung der PädagogInnen und in der durch sie geprägten pädagogischen Praxis der offenen Jugendarbeit. I. Zielsetzungen geschlechtsbezogener Pädagogik Geschlechtsbezogene Pädagogik versteht sich als eine Begleitung der Kinder und Jugendlichen auf ihrem Weg zum Erwachsen-Werden: Die Richtung in diesem ErwachsenWerden geben die Mädchen und Jungen selber an. De rBe g r i f fde s„ Be ge hr e ns “i s tma ßg e bl i c ha nde rZi e l be s t i mmungge s c hl e c ht s be z oge ne r Pä da g og i kbe t e i l i g t .Da s„ Be ge hr e n“be t ontda si nt e ns i veI nt e r e s s ena c hde m Er f ül l e ne i ge ne r Wünsche. Es beschreibt in Anlehnung an die Philosophie und politische Praxis der Mailänderinnen1 eine Kraft, die sich als Wunsch, Sehnsucht, Verlangen, Anspruch oder Bedürfnis ausdrückt und in Richtung auf etwas hin gerichtet ist: auf Freiheit, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Wohlbefinden. Geschlechtsbezogene Pädagogik geht von einem Blick auf die Kinder und Jugendlichen aus, na c hde mj e dePe r s one i n„ Be g e hr e n“i ns i c ht r ä g t ,a l s ol e t z t l i c hi me i g e ne nHa nde l nvonde m Wunsch getragen ist, dass es ihr/ihm gut geht und sie/er sich frei von Zwängen und Begrenzungen entfalten kann. Damit werden die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Empfindungen der Kinder und Jugendlichen zum Ausgangspunkt von pädagogischen Prozessen und Handlungen.

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Seit 1975 existiert der Mailänder Frauenbuchladen, politisches Zentrum und frauenbewegter Arbeitsort. Eng verbunden mit diesen Mailänderinnen sind die Frauen von DIOTIMA, einer Philosophinnengemeinschaft an der Universität von Verona, die 1983 von Luisa Muraro und Chiara Zamboni gegründet wurde. Einige wichtige Veröffentlichungen: Libreria delle donne di Milano: Wie weibliche Freiheit entsteht. Eine neue politische Praxis, Berlin 1989. Luisa Muraro: Die symbolische Ordnung der Mutter, Frankfurt 1993. Libreria delle donne di Milano: Das Patriarchat ist zuende. Es ist passiert - nicht aus Zufall. Rüsselsheim 1996.

2 Selbstbestimmung, die Entwicklung eines Selbstwertes und die Übernahme von (Selbst-) Verantwortung sind die zentralen Ziele geschlechtsbezogener Pädagogik. Wie lassen sich diese Ziele nun unter Bezugnahme auf die Kategorie Geschlecht konkretisieren? Selbstbestimmung in Bezug auf Geschlecht heißt, dass Kinder und Jugendliche ihrer ganz eigenen Art und Weise, Geschlecht zu leben bzw. eine Geschlechtsidentität subjektiv zu entfalten, entwickeln können. Sie sollen die Möglichkeit haben, ihre individuellen Potentiale auszubilden, ohne dabei von Vorgaben, wie sie als Mädchen oder Junge zu sein haben, eingeschränkt zu werden. Für die Entwicklung eines Selbstwertes brauchen Mädchen und Jungen eben jene Bestätigung und Akz e pt a nz ,i hr ej e we i l i g e„ Ei ge na r t “l e be nz u dür f e n.Di e Zi e l be s t i mmung eines positiven Selbstwertgefühls ist sowohl Voraussetzung als auch Absicht von Selbstbestimmung, denn je mehr eine Person eine Haltung des positiven Selbstwertes zu sich s e l be re i nne hme nka nn,um s ome hrka nns i es i c ha uc h„ e r l a ube n“ ,di ee i g e neSubjektivität unabhängig von äußeren Vorgaben zu entwickeln. In der geschlechtsbezogenen Pädagogik können Kinder und Jugendliche erfahren, dass sie als Personen ernst genommen werden und mit ihren jeweiligen Eigenschaften und Fähigkeiten wertgeschätzt werden. Die einem Geschlecht zugeordneten Verhaltensweisen werden nicht höher oder geringer gewertet als die dem anderen Geschlecht beigemessenen. Mädchen und Jungen werden gleichermaßen wertgeschätzt. Ihre dargestellten Handlungsweisen sollen nicht aufgrund ihres Geschlechts bewertet bzw. abgewertet werden. Die Übernahme von Verantwortung ist Teil dessen, die Kinder und Jugendlichen ernst zu nehmen und ihnen eine Haltung zu vermitteln, sich selbst und andere ernst zu nehmen. Dazu gehört auch der Respekt vor anderen und deren Grenzen. Selbstbestimmung darf kein wi l l kür l i c he s„ Aus l e be n de re i g e ne n Ma c ke n“ s e i n, und da be ig e me i ns c ha f t l i c he n Komponenten ausblenden. In der geschlechtsbezogenen Pädagogik wird Mädchen und Jungen Verantwortung zugesprochen, subjektiv zu handeln und zu entscheiden. Sie werden als Handelnde mit ihrer Beteiligung an Prozessen (z.B. innerhalb einer Gruppe) angesehen und ihnen wird zugemutet, diese auch selbst zu verantworten. In Bezug auf Geschlecht heißt das auch schon für Kinder und Jugendliche, die eigene Beteiligung am Geschlechterverhältnis zu erkennen, z.B. in der Art und Weise, wie sie sich geschlechtliche Vorgaben oder Hierarchien selbst zu nutze machen. Diese Zielsetzungen sind auch durch den Anspruch von „Di f f e r e nzi n Gl e i c hhe i t “ zu beschreiben (Prengel 1995). Differenz a l sHa l t ungl e gtWe r ta ufde nAs pe kt ,s i c hz uunt e r s c he i de nunddi e„ Ei ge na r t “z u entwickeln. Es gibt Unterschiede zwischen Menschen, sei es des gleichen Geschlechts oder eines anderen Geschlechts. Weder soll ein Bi l dvonde m„ e i g e nt l i c hr i c ht i ge n“Mä dc he node r Jungen als Leitbild oder zur Beurteilung von Handlungsweisen herangezogen werden, noch sollen sich Mädchen an Jungen oder Jungen an Mädchen angleichen. Differenz betont viel mehr die Erlaubnis zum Unterschied, d.h. die Freiheit von geschlechtlichen Konstrukten als Zielbestimmung. Die so entstehende Vielfalt wird als Bereicherung angesehen, nicht als Bedrohung. Doch braucht diese Vielfalt auch die Maxime der Gleichheit, sonst kann sie allzu schnell mit ungleichen Wertigkeiten (Hierarchien) bemessen werden. Gleichheit hingegen betont den rechtlich abgesicherten gleichen Zugang zu Ressourcen (wie Bildung, Geld, Ernährung, Gesundheit, Arbeitsplätzen), der allen Menschen, gleich welcher Unterschiedlichkeiten, offen stehen muss. Mit Gleichheit ist keine Gleichmacherei gemeint - Vielfalt ist hier unabdingbar - sondern sowohl eine Haltung der Gleichwertigkeit (der Unterschiede) als auch eine rechtliche Gleichheit, die damit auch einen einklagbaren Anspruch begründet.

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Doch stellen wir unter Bezugnahme auf die Kategorie Geschlecht fest, dass gesellschaftliche Verhältnisse die Selbstbestimmungspotentiale von Mädchen und Jungen be- und verhindern. Wir finden ein Geschlechterverhältnis vor, welches von der gesellschaftlichen symbolischen Ordnung bis hin zu den individuellen Einstellungen der Gesellschaftsmitglieder wirkungskräftig ist und folglich auch die Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen umfasst. Dieses Geschlechterverhältnis stellt sich uns als ein Machtverhältnis dar, welches sowohl durch den Zwang zu geschlechtlichen Eindeutigkeit im Rahmen der Geschlechterdualität (Kultur der Zweigeschlechtlichkeit) geprägt ist, als auch durch eine Geschlechterhierarchie, die Menschen und deren Handlungsweisen nach bestimmten Leitbildern bewertet bzw. abwertet. Damit wird deutlich, dass das herrschende Geschlechterverhältnis gerade nicht von egalitärer Differenz gekennzeichnet ist. Die kritische Analyse dieses Geschlechterverhältnis halten wir für die geschlechtsbezogene Pädagogik für zentral, damit die Bedingungen erkannt werden, die Mädchen und Jungen in ihrer Selbstbestimmung und der Entwicklung ihres Selbstwertes verhindern. Damit wird sich auch erschliessen, inwiefern in der offenen Jugendarbeit Erfahrungen von Gleichheit in Differenz zu ermöglichen sind. II. Die Kultur der Zweigeschlechtlichkeit Das alltägliche Verständnis von Geschlecht in unserer Gesellschaft ist in der Regel mit der Aussage zu beschreiben: Es gibt Frauen und Männer, es gibt Mädchen und Jungen. Hinter dieser scheinbar simplen Aussage verbergen sich mehrere Denkweisen, die entschlüsselt werden müssen, um die Zielsetzung geschlechtsbezogener Pädagogik in Relation zu gesellschaftlichen Verhältnissen zu verstehen. Im ersten Schritt möchten wir den hinter dieser Alltagsannahme verborgenen Geschlechterdualismus sichtbar machen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass es genau zwei Geschlechter gibt: das männliche und das weibliche. Diese seien unveränderbar und klar voneinander abzugrenzen. Jeder Mensch sei also aufgrund bestimmter Merkmale als Mann oder Frau eindeutig zu erkennen. Bei einem Neugeborenen veranlassen körperliche Merkmale die Eltern und ÄrztInnen dazu, dem Kind das Geschlecht weiblich oder männlich zuzuordnen. Die Frage an die El t e r ne i ne sNe ug e b o r e ne n„ Wa si s te sde nn? “me i nts e l bs t ve r s t ä ndl i c hdi e Fr a gena c hde m Ge s c hl e c ht .Di e ss c he i nta l s oe i neFr a gede s„ Se i ns “z us e i n,j e ma ndI STe i n Mädchen oder ein Junge. Und dieses Sein –als Junge oder Mädchen –ist dann von zentraler Bedeutung für die weitere Entwicklung. Geschlechterdualismus bedeutet hier, dass die Existenz von genau zwei Geschlechtern für wahr gehalten wird. Ausgeblendet werden auf dieser Ebene, auf der es um körperliche Merkmale geht, Menschen, die biologisch nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen sind: Zwitter, die sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale aufweisen. Babys, deren körperliche Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig sind (dies ist etwa bei einem von 1000 Kindern der Fall), werden in dieser Hinsicht von der Wahrnehmung ausgeklammert. Sie we r de ni nuns e r e rKul t uri nde rRe g e ls of or tope r i e r t ,umi hne n„ e i nGe s c hl e c htz ug e be n“ . Di es c he i nb a r e„ Wa hr he i t “ ,da s se sa ufde rkör pe r l i c he nEbe nez we ie i nde ut i ga bz ugr e nz e nde Geschlechter gibt, ist biologisch nicht haltbar. Sie wird folglich gesellschaftlich und juristisch (z.B. im Namensrecht) aufrecht erhalten, indem Ambivalenzen und Zwischenbereiche ausgeblendet werden. Eine Entwicklung in geschlechtlicher Uneindeutigkeit ist aufgrund des Geschlechterdualismus in unserer Kultur nicht möglich. Ein Kind, welches als Zwitter aufwächst, Menschen, deren körperliche Erscheinung nicht unmittelbar einem Geschlecht zuzuordnen ist, lösen in der Regel Irritationen, häufig genug Ablehnung und Abwertung aus, weil dies in der gesellschaftlichen Normalität nicht vorhanden ist.

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Das Alltagswissen um die Existenz von Frauen und Männern umfasst aber noch weit mehr: Daran geknüpft sind Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, die jeweils einen ganzen Kanon von Eigenschaften, Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Ambitionen und Emotionen umfassen. Scheinbar naturhaft an das männliche Geschlecht geknüpft sind Adjektive wie: stark, hart, groß, rational, zielorientiert. Für das weibliche Geschlecht gilt das jeweilige polare Gegenüber: schwach, weich, klein, emotional, prozessorientiert. Männlichkeit und Weiblichkeit werden also ausgehend vom körperlichen Geschlecht als polares System angesehen, in welchem die dem einen Geschlecht zugeschriebenen Eigenschaften sich jeweils im Gegensatz bei dem anderen Geschlecht wiederfinden. In diesem System ergänzen sich Männlichkeit und Weiblichkeit gegenseitig; das eine Geschlecht stellt jeweils das Gegenteil des anderen dar und trägt es insofern immer schon als Negation in sich. Entsprechend diesem Geschlechterdualismus werden in unserer Kultur Normalitäten kons t r ui e r t ,di evor g e be n,wa sa l sr i c ht i gode rg e l unge ni nBe z uga uf„ We i bl i c hke i t “ode r „ Mä nnl i c hke i t “a nge s e he nwi r d. Menschen werden in ihrem Handeln danach beurteilt, ob sie sich in Relation auf die Kons t r ukt i on „ i hr e s “ Ge s c hl e c ht sr i c ht i g ve r ha l t e n.Auf g r und de r Vor a nna hme e i ne s biologisch eindeutig zugeordneten Körpers (biologisches Geschlecht, engl.: Sex) wird das Handeln entsprechend des symbolischen Systems von Weiblichkeit und Männlichkeit ( s oz i a l e sGe s c hl e c ht ,e ngl . :Ge nde r )be we r t e t .Fürdi e s eBe we r t ungg i l te sa l s„ r i c ht i g “ ,we nn das soziale Geschlecht dem biologischen Geschlecht entspricht. Die Ordnung des Geschlechterdualismus, anders ausgedrückt die Kultur der Zweigeschlechtlichkeit, wird also durch ein Wertesystem aufrecht erhalten, welches abweichendes Verhalten negativ sanktioniert. Der Dualismus, der diesem System zugrunde liegt, ist ein elementares Denkmuster unserer westlichen Kultur. Das dualistische Prinzip ordnet jegliches Erleben (Erfahrungen, Eigenschaften, Menschen, Welt) in zwei gegensätzliche Pole nach der Struktur des 'entwederode r ’ . Spektren, Vielfalt oder Ambivalenzen werden aufgespaltet in zwei Seiten. Ein integrierendes Denken in der Struktur des 'sowohl-als-auc h’ist nicht vorgesehen. Dieses System konkretisiert sich im Geschlechterverhältnis, es spiegelt sich aber letztlich in allen anderen symbolischen Ordnungen wider, wie zum Beispiel in den Polaritäten: WeißSchwarz, Gesund-Krank, Inländer-Ausländer, Kultur-Natur. In der geschlechtsbezogenen Pädagogik wird von einem Verständnis von Geschlecht ausgegangen, welches die strukturellen und sozialen Aspekte von Geschlecht in den Mittelpunkt stellt. Geschlecht wird als eine Strukturkategorie angesehen, die unser Verhalten und unser Beurteilen prägt. III. Die Geschlechterhierarchie Das Geschlechterverhältnis ist neben dem Dualismus durch eine hierarchische Struktur g e s t a l t e t ,di ede m„ mä nnl i c he n“Polme hrWe r tve r l e i hta l sde m„ we i bl i c he n“ . Im Al l g e me i ne ng e l t e ndi es oge na nnt e n„ mä nnl i c he n“Ei g e ns c ha f t e n,wi ez . B.Ra t i ona l i t ä t , Hä r t e und Zi e l or i e nt i e r ung a l s höhe r we r t i g e r .Fol g l i c hs t e l l e n di e de m „ Mä nnl i c he n“ zugeordneten Attribute allgemein erstrebenswerte Potentiale für Männer wie Frauen dar, die de m„ We i b l i c he n“z ug e or dne t e nPot e nt i a l ege l t e nhi ng e ge ni nde rRe g e lni c hta l sLe i t bi l df ür Mä nne r .Ei g ne ts i c he i nJ ung eode rMa nn„ z uvi e l e “At t r i but ea usde m we i bl i c he nSpe kt r um an, so gibt dies allgemein eher Grund zu seiner Abwertung bzw. Erniedrigung.

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Di eGe s c hl e c ht e r hi e r a r c hi el ä s s ts i c ha l sunt e r s c hi e dl i c heBe we r t ungvon„ Mä nnl i c hke i t “und „ We i bl i c hk e i t “i na l l e nLe be ns be r e i c h e nna c hwe i s e n,s oz . B.i nde rge s c hl e c ht s s pe z i f i s c he n Arbeitsteilung, in psycho-sozialen Verhältnissen, in der Sprache, in der Aneignung von öffentlichen Räumen, in der Definitionsmacht, im Zugang zu Ressourcen und Kapital. Auch der entsprechend des Geschlechterdualismus segmentierte Arbeitsmarkt erfährt durch die Geschlechterhierarchie seine Bewertungsstruktur. Dies drückt sich zum Beispiel darin aus, da s s Be r uf e ,de r e n Be s c hr e i bung mi t„ mä nnl i c he n“ At t r i but e n,wi e Ra t i ona l i t ä tun d Durchsetzungsstärke assoziiert werden, besser bewertet werden als solche, die sich an sozialen und emotionalen Kompetenzen ausrichten. Gerade in der Hierarchie der pädagogischen Berufe –von der Erzieherin im Kindergarten bis zum Hochschullehrer – findet sich ein eindeutiges Geschlechtergefälle, dass sich in unterschiedlicher Bezahlung und Wertschätzung der geleisteten Arbeit ausdrückt. Die dualistische Zuordnung: Mann = Erwerbstätigkeit, Frau = Familie erzeugt darüber hinaus durch die hierarchische Bewertung, nach der nur Erwerbstätigkeit bezahlt wird, ökonomische Vorteile für Männer. Diese Geschlechterhierarchie hat letztlich zur Folge, das s„ Mä nnl i c hke i t “a l ss ol c he sni c ht thematisiert wird. Die männlichen Attribute gelten allgemein als die anzustrebenden, besseren und richtigen Eigenschaften. Die in der Hierarchie höher stehenden Werte geben die Leitlinie für erfolgreiches Verhalten an, sowohl für Frauen als auch für Männer. Männer gelten a l l e r di ng sdi e s e m Er f ol gquaGe s c hl e c htnä he r ,s i es i nddi e„ e i g e nt l i c hRi c ht i g e n“ .Fr a ue n hingegen haben ein Hindernis: ihr Geschlecht. Dies führt dazu, dass Frau-Sein in der öffentlichen Welt, d.h. im politischen Leben oder in der Be r uf s we l tvi e ls t ä r ke rpr ä s e ntg e ma c htwi r d.Ei n„ nor ma l e r “pol i t i s c ha kt i ve rund i m öf f e nt l i c he nLe be ns t e he nde rMe ns c hi s t„ mä nnl i c h“ ,ohneda s sda sGe s c hl e c htbe na nnt werden muss. Falls es sich um die Abweichung handelt, um eine Frau, so wird hierauf das Augenmerk gelegt. Sie muss in der Regel beweisen, dass sie trotz ihres Geschlechts diese Aufgabe bewältigen kann. Mä nne rs i ndi nde rLogi kde rGe s c h l e c ht e r hi e r a r c hi edi e„ e i g e nt l i c he nMe ns c he n“ ,Fr a ue n s i nddi e„ Sonde r f or m“ .I ndi e s e rFor m vonHe r r s c ha f twi r dvom a l shöhe r we r t i gge l t e nde n Pol aus die Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Welt definiert und mit Machtmitteln erhalten. Diese Ordnung existiert aber nur durch die Existenz und den gleichzeitigen Ausschluss des anderen Pols. Die Höherwertigkeit des Männlichen wird durch die Abwertung und Unsichtbarmachung des Weiblichen überhaupt erst aufgebaut. Parallel zum Dualismus schlägt sich diese Herrschaftshierarchie als zentrale Denkweise unserer Kultur in allen Lebensbereichen nieder. Ebenso wie die Kategorie Geschlecht ist z.B. auch die Kategorie Ethnizität oder Schichtzugehörigkeit von Hierarchie durchdrungen. Jeweils wird der eine Pol als der höherwertige und eigentlich richtige definiert. Jeweils wird ein scheinbar eindeutiges Kriterium herangezogen, mit Zuschreibungen aufgeladen und genutzt, um daran und damit Herrschaft aufzubauen und zu stabilisieren. Es ist uns wichtig, in der geschlechtsbezogenen Pädagogik eine kritische Analyse des Geschlechterverhältnisses vorzunehmen. Insbesondere das Erkennen von hierarchischen Strukturen sowie das Aufdecken von individuellen und kollektiven Erfahrungen von Geschlechterhierarchie ermöglichen es, die eigene Verantwortung hierin wahrzunehmen und in der Pädagogik Gegenerfahrungen zu eröffnen.

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IV. Das Geschlechterverhältnis als Sozialisationsrahmen für Mädchen und Jungen Der Geschlechterdualismus hat sich historisch mit der Veränderung der Produktionsverhältnisse, der Herausbildung der Manufakturen und der Aufklärung als Rahmen für das soziale Miteinander der Menschen herausgebildet. Mit den sich ändernden Lebensverhältnissen, den rasanten technischen und ökonomischen Entwicklungen sowie den neuen sozialen Strukturveränderungen hat sich auch die Grundlage für den Orientierungsrahmen verändert, der den Geschlechterdualismus hervorgebracht hat. Wir sehen heute, dass der Geschlechterdualismus Menschen in ihrer Entfaltung eher einschränkt, als ihnen Orientierung zu geben: Kinder wachsen von Geburt an in unsere Kultur der Zweigeschlechtlichkeit hinein. Identitätsentwicklungen werden nur im Rahmen der eindeutigen dualistischen Geschlechterordnung zugelassen. Jungen wie Mädchen werden entsprechend des biologischen Ge s c hl e c ht smi tbe s t i mmt e nEr wa r t unge nkonf r ont i e r t ,s i c hg e mä ße i ne r„ we i bl i c he n“ode r „ mä nnl i c he nNor mz uv e r ha l t e n.I hrHa nde l nwi r da ufde rFol i eGe s c hl e c hti nt e r pr e t i e r tund sanktioniert. Die Geschlechterhierarchie konkr e t i s i e r ts i c h i n de r Abwe r t ung de r„ we i bl i c h“ zugeordneten Potentiale. Dies hat zum einen eine reale Benachteiligung von Mädchen und Frauen zur Folge, zum anderen werden die sozialen, emphatischen und fürsorglichen Aspekte in unserer Gesellschaft zu wenig wertgeschätzt. Für die Sozialisation von Mädchen bedeutet dies, dass sie einerseits der Anforderung „ we i bl i c h“z ue nt s pr e c he nha be n,g l e i c hz e i t i gdi e s e rVe r ha l t e ns ka t a l oga be rmi tg e r i nge r e m We r tbe me s s e ni s ta l sde r„ mä nnl i c he “ .Di e s eAmbi va l e nzi s te i nGr unde l e me ntwe i bl i c he r Sozialisation. Für Mädchen und Frauen eröffnet es zwei Alternativen, die beide nicht einer wirklich selbstbestimmten Entfaltung des Subjekts entsprechen: Zum e i ne nkönne ns i eve r s uc he n,s owohlde r„ we i bl i c he n“a l sa uc hde r„ mä nnl i c he n“No r m z ue nt s pr e c he n:Ge nug„ Fr a u“z us e i n,um g e l i e btz uwe r de n,undge nug„ i hr e nMa nnz u stehen“ ,um e r f ol g r e i c hz us e i n.Be gr e nz twi r d di e s e sMode l le i ne r s e i t sda dur c h,da s s Mä dc he nu n dFr a ue ni nde r„ mä nnl i c he n“We r t e s phä r ei mme rde nMa ke lmi ts i c ht r a ge n, kein Mann zu sein. Andererseits führt dieses Modell allzu leicht in die Falle der Schuldgefühle. Es ist letztlich viel zu umfangreich, all diesen Anforderungen entsprechen zu wollen. Ein Scheitern wird aber in den individuellen Verantwortungsbereich geschoben. Zum a nde r e nkönne nMä dc he nundFr a ue ns i c hvol lundga nza ufdi eEr wa r t ung ,„ e i ne richt i g eFr a u“z us e i n,konz e nt r i e r e n.Da mi tne hme ns i edi eAbwe r t ungi nKa uf ,i m Ve r g l e i c h zur männlichen Norm als die Unterlegenen zu gelten (Part der großzügigen Verliererin). Sie ve r s uc he na be rg l e i c hz e i t i g ,de n„ we i bl i c he n“Pa r tz u pe r f e kt i oni e r e n.Um s o wichtiger erscheint es aber dann, für diesen Anerkennung von Männern zu erhalten und damit wieder eine Aufwertung aus dem männlichen Sektor zu erfahren. Für die Sozialisation von Jungen baut das hierarchische Geschlechterverhältnis einen immensen Druck a uf ,s i c ha l s„ r i c h t i ge rMa nn“z ube we i s e n,de nnnurdi e sve r s pr i c ht Ane r ke nnung .Daa be rg l e i c hz e i t i g„ Mä nnl i c hke i t “ke i nve r ha nde l ba r e sThe mai s t- es wird ja l e di g l i c hübe rdi e„ nor ma l e nMe ns c he n“ge s pr oc he n- ist für Jungen keine positive Antwort präsent ,wi e„ Mä nnl i c hke i t “g e l e btwe r de nka nn.Di e swi r dda dur c hve r s t ä r kt ,da s sMä nne ri n der Sozialisation von Kindern absolut unterrepräsentiert sind, und somit auch eine aktive Aus e i na nde r s e t z ungmi tr e a l e r ,vi e l f ä l t i ge rund’ be g r e i f ba r e r ’Mä nnl i c hke i tf e hlt. Dagegen lernen die Jungen männliche Stereotypen als unerreichbare Vorbilder kennen, die auch von

7 den Vätern, Lehrern und anderen sichtbaren Männern kaum in Frage gestellt werden. Eine s c he i nba r eLös ungf ürJ ung e n,e i n„ r i c ht i g e r “Ma nnz uwe r de n,be s teht dann darin, sich von a l l e ma l s„ we i bl i c h“ge l t e nde na bz ug r e nz e nunde sa bz uwe r t e n.De rGe s c hl e c ht e r dua l i s mus ma c hte smög l i c h,da s s„ Mä nnl i c hke i t “dur c hdi eNe g a t i onvon„ We i bl i c hke i t “g e f ül l twe r de n kann. Ei newe i t e r eMög l i c hke i tf ürJ ung e n,s i c h„ Mä nnl i c hke i t “i nde rGe s c hl e c ht e r hi e r a r c hi e anzueignen, ist der Versuch, sich ständig überlegen zu zeigen: Den Beweis der Männlichkeit antreten zu müssen, bedeutet, in Konkurrenz zu gehen, sich durchsetzen zu können. Es reicht nicht aus, sich einfach nur zu bemühen, Jungen müssen siegen –zumindest aber alles gegeben haben. In erster Linie beweisen sie sich untereinander ständig, wer der Stärkere, Bessere oder der Erste ist; aber selbstverständlich müssen sie besser als alle Mädchen sein. Jungen konkurrieren so aus Prinzip miteinander –daraus erklären sich viele scheinbar sinnlose Verhaltensweisen von Jungen und auch Männern, wie beispielsweise im Guinness Buch der Rekorde dokumentiert wird. V. Geschlechtsbezogene Pädagogik in der offenen Jugendarbeit: Ein Erfahrungsraum von Differenz in Gleichheit Geschlechtsbezogene Pädagogik intendiert, die Selbstbestimmung von Mädchen und Jungen angebunden an ein positives Selbstwertgefühl und die Übernahme von (Selbst-) Verantwortung zu fördern. Dabei wird eine gesellschaftskritischen Analyse berücksichtigt, die insbesondere die Einschränkungen durch die Konstruktionen von Geschlecht und die damit verbundenen Herrschaftsverhältnisse wahrnimmt. Diese Machtverhältnisse sollen perspektivisch abgebaut werden, weil sie der Selbstbestimmung der Subjekte entgegen stehen. Doch ist geschlechtsbezogene Pädagogik selber keine Politik sondern eben Pädagogik und das heißt, für die Begleitung von Kindern und Jugendlichen zuständig. Wi ekönne na l s oKi nde rundJ ug e ndl i c heda r i nbe g l e i t e twe r de n,i hr„ Be g e hr e n“z ue nt de c ke n und in Kontakt mit ihren Wünschen nach Wohlbefinden und freier Entfaltung zu stehen? Wie können sie auf dieser Basis Selbstbestimmung entwickeln, was die Wahl ihrer Lebensweise und hier insbesondere ihren Umgang mit Geschlecht angeht? Wie können sie lernen, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und auch ihren Beitrag an der Gestaltung des Geschlechterverhältnisses erkennen? Auf dem Hintergrund der vorangegangenen Analyse wird abermals deutlich, wie wichtig der Anspruch von Gleichheit in Differenz für die Entwicklung von Selbstbestimmung und Verantwortung ist. Die beiden Komponenten Gleichheit und Differenz müssen zusammen wirken, damit die Überwindung von Herrschaftsstrukturen gelingen kann: Der Abbau von Geschlechterdualismus bedeutet, der Vielfalt Raum zu geben, die menschliches Potential mit sich bringt. Die scheinbare Eindeutigkeit von zwei Geschlechtern als polare Ergänzung soll aufgehoben werden zugunsten eines frei wählbaren Kanons von Handlungsoptionen. Damit werden Zuordnungen von Eigenschaften zu einem der Geschlechter hinfällig. Sichtbar wird die Vielfalt an Handlungsoptionen unabhängig von einer wie auch immer gearteten Geschlechtszugehörigkeit. Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen werden zur Wahrnehmung zugelassen und als Strategie begrüßt, die den Dualismus enttarnt und Verhaltensalternativen begünstigt. Der Abbau von Geschlechterhierarchie bringt in erster Linie eine Veränderung der Wertigkeiten mit sich, die bisher den Geschlechtern zugeordnet waren. Gleichwertigkeit von soge na nnt e n„ we i bl i c he n“und„ mä nnl i c he n“At t r i but e ni s thi e re i ne r s t e rwi c ht i ge rSc hr i t t , der sich konkretisieren muss darin, dass auch die gesellschaftlichen Ressourcen und

8 Machtpositionen gleichermaßen zwischen Frauen/Mädchen und Männern/Jungen verteilt werden müssen. Letztlich wird aber angestrebt, diese zwanghafte Zuordnungen nach Geschlecht außer Kraft zu setzen und statt dessen die Wahlmöglichkeit und Entfaltung individueller Potentiale auf der Basis von Gleichheit zu eröffnen. Dies ist in der offenen Jugendarbeit in erster Linie dadurch zu vermitteln, dass die Haltung von Gleichheit und Differenz für die Kinder und Jugendlichen erfahrbar wird. Offene Jugendarbeit kann einen Rahmen bzw. einen Erlebnisraum zur Verfügung stellen, in dem sich Mädchen und Jungen ausprobieren können darin, Selbstbestimmung zu praktizieren i ns be s onde r e ,wa sda sLe be ne i ne ri ndi vi due l l e nGe s c hl e c ht s i de nt i t ä ta nge ht ,di e„ e i ge na r t i g “ undmög l i c he r we i s ea uc h„ e i nz i g a r t i g “i s t . Die offene Jugendarbeit ist wie kaum ein anderes pädagogisches Handlungsfeld so sehr von dem Prinzip der Freiwilligkeit gekennzeichnet: Jugendliche kommen in ein Haus der offenen Arbeit, besuchen die Räume, um sich dort miteinander zu treffen, um zu spielen, sich zu unterhalten, um ihre Freizeit angenehm zu verbringen. Sie sind sehr frei darin, wie viel sie von sich zeigen, ob sie von sich erzählen oder einfach nur dabei sind. Und dabei nehmen einige von ihnen auch hin und wieder an angeleiteten Angeboten teil, andere kommen ausschließlich für diese Workshops oder Seminare in die Einrichtung. Manche Kinder und Jugendlichen suchen den Kontakt zu den MitarbeiterInnen, sei es, indem sie Gespräche führen, einfach gerne in der Nähe sind oder z.B. durch Regelverstöße negativ auf sich aufmerksam machen. Wenn ihnen etwas nicht gefällt, gehen sie einfach wieder, und kommen möglicherweise ein anderes mal wieder –oder auch nicht. Gerade auf diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie denn offene Jugendarbeit überhaupt pädagogische Ziele vermitteln kann. Aus unserer Sicht eignet sich gerade diese hohe Freiwilligkeit für einen geschlechtsbezogenen Ansatz, in dem die AdressatInnen sich frei von Erfolgskontrollen oder Lernzielvorgaben als Personen mit all ihren alltäglichen Fragen und Erlebnissen einbringen und in der offenen Jugendarbeit neue Erfahrungen machen. Die Cha nc ef ürge s c hl e c ht s be z og e nePä da g og i kl i e g tge na uda r i n,di eZi e l edur c he i ne„ a nde r e “ Realität zu vermitteln, die sich vom Alltag der Kinder und Jugendlichen darin unterscheidet, dass sie wirklich Selbst b e s t i mmunge r öf f ne tundi hne ne i n„ Be ge hr e n“unddi eÜbe r na hme von Verantwortung zuspricht. Die Qualität liegt in einem Erfahrungsraum, der von Gleichheit in Differenz gestaltet ist, und somit alternative Erfahrungen zur geschlechtshierarchischen Normalität vermittelt und gleichzeitig dadurch ermöglicht, diese Normalitäten überhaupt wahrzunehmen. Damit sei nicht gesagt, dass im Alltag der offenen Jugendarbeit mit einem geschlechtsbezogenen Konzept nicht auch diskriminierende Erlebnisse aufgrund von Geschlecht oder Erfahrungen von Grenzüberschreitungen bzw. Fremdbestimmungen gemacht werden. Geschlechtsbezogene Pädagogik –eingebunden in einen Alltag der Beteiligten –ist nicht losgelöst von einer geschlechtshierarchischen Normalität zu sehen, die ja letztlich immer durch die Individuen gestaltet wird. Hier kommt es entscheidend darauf an, wie dann mit solchen Erlebnissen umgegangen wird, wie sie reflektiert werden und wie die Verantwortung der einzelnen und die Eingebundenheit in gesellschaftliche Kontexte aufgearbeitet werden. Di eQua l i t ä tde rEr f a hr ungvon„ a nde r e n“Pa r a di g me n( Di f f e r e nzi nGl e i c hhe i t )be we i s ts i c h letztlich immer daran, wie diese zu den dominanten Paradigmen (Dualismus und Hierarchie) in Beziehung stehen und ob sie auch im Alltag Bestand haben und integriert werden können.

9 VI. Die Haltung der pädagogischen Fachkräfte Der Erfahrungsraum, der Kindern und Jugendlichen in der offenen Arbeit zur Verfügung gestellt wird, ist entscheidend geprägt von der Haltung der pädagogischen Fachkräfte. Was sonst unterscheidet offene Jugendarbeit von einem Treff unter Jugendlichen auf der Parkbank, dem Spielen auf dem Schulhof oder der Kindergeburtstagparty im Fast-FoodRestaurant? Folglich liegt die zentrale Bedeutung der geschlechtsbezogenen Pädagogik für die pädagogische Praxis in der grundlegenden Überprüfung und Veränderung der Haltung der PädagogInnen zu den Mädchen und Jungen, zu ihrem Auftrag und letztlich auch zu sich selber. Die konsequente Anwendung der Idee von Vielfalt in Gleichheit im Arbeitsfeld, im Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen und mit den KollegInnen eröffnet neue Chancen für Selbstbestimmung und die Befreiung von einengenden Zuschreibungen. Diese Haltung lässt sich aus unserer Sicht mit folgenden vier Kriterien umschreiben, die die Qualität geschlechtsbezogener Pädagogik in der offenen Jugendarbeit ausmachen: 1. Die Geschlechterfrage wird konsequent in das gesamte Spektrum der pädagogischen Arbeit einbezogen. Schon das 1990/91 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz hat die Verankerung dieser Sichtweise befördert, in dem es die Jugendhilfe dazu aufgefordert, “di e unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen zu f ör de r n”. (KJHG § 9 Abs. 3) Das bedeutet, dass im pädagogischen Alltag aller Arbeitsbereiche die Geschlechterfrage zur Normalität wird. Erforderlich sind geschlechtsbezogene Analysen der pädagogischen Aufgabe und des Klientels, des Angebotes und des Settings (Räume, Zeiten, MitarbeiterInnen) sowie der Struktur der Einrichtung (Leitung, Beteiligungsprozesse, Personalpolitik). Fragen für die offene Arbeit können zum Beispiel sein: - Wie ist die Verteilung zwischen Jungen und Mädchen in der BesucherInnenstruktur? - Welche Angebote sprechen tendenziell Mädchen, welche Jungen an? - Welche Räume werden eher von Mädchen, welche eher von Jungen in Anspruch genommen? - In welchen Beziehungsstrukturen kommen Jungen bzw. Mädchen in die Einrichtung (mit FreundInnen, alleine, als BeziehungspartnerIn,...)? - Wie sieht die Personalstruktur in der Einrichtung aus? - Welche Angebote werden von Frauen, welche von Männern durchgeführt? - Wie sieht die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung innerhalb des Teams aus? - Welche Geschlechterkonzepte liegen der Darstellung der Einrichtung in der Öffentlichkeit (Pressearbeit, Werbeflyer, Ausstellungen)? Auf dem Hintergrund dieser Analysen gilt es dann, Konzepte, Angebote, Räume, Strukturen und Personalpolitik zu gestalten, die dem Ziel der Differenz in Gleichheit entsprechen, d.h. die keine geschlechterdualistischen Einschränkungen vornehmen und die Ressourcen für Mädchen und Jungen gleichermaßen zugänglich machen. Jegliche Entscheidungen gilt es infolge dessen unter Einbezug der Geschlechterfrage zu treffen, seien es z.B. die Fragen, wo der Kicker stehen soll, wie die Toiletten renoviert werden, wie viel Geld für den Mädchenraum ausgegeben wird, wer aus dem Team mit welchen Angeboten die nächste Ferienfreizeit durchführt und wer die Küche aufräumt. Di e s eHa l t u ngwi r da uc hdur c hde nAns a t zde s„ Ge nde r -Ma i ns t r e a mi ng“ve r f ol g t ,de rdi e Geschlechterfrage in alle politischen Entscheidungsprozesse einbeziehen will. Mit der

10 Einführung der EU-Strategie des Gender Mainstreaming ist 1996 ein Verfahren zur systematischen Einführung der Kategorie Geschlecht auf den allen Ebenen der Politik als Top-Down-Verfahren beschlossen worden, also auch der Bereich der Jugendhilfe. Bezogen auf die Kinder- und Jugendarbeit findet sich diese Richtlinie in dem Kinder- und Jugendplan des Bundes wieder, der Gender Mainstreaming als allgemeinen Grundsatz in den Richtlinien verpflichtend vorgibt: „De rKi nde r - und Jugendplan soll (...) darauf hinwirken, dass die Gleichstellung von Mädchen und Jungen als durchgängiges Leitprinzip gefördert wi r d( Ge nd e rMai ns t r e ami ng) . “( Gemeinsames Ministerialblatt I.1 Absatz 2c vom 10. Januar 2001, S.18 f) 2. Es werden möglichst wenig Bilder transportiert, wie ein Junge oder ein Mädchen in ihrer Geschlechtsidentität zu sein haben. In der Haltung der pädagogischen Fachkräfte dürfen Mädchen bzw. Jungen nicht auf ein bestimmtes Bild von Mädchen-Sein oder Junge-Sein festlegen werden. Allzu oft bestimmen Vorstellungen in den Köpfen von PädagogInnen die Konzepte, Räume und Begegnungen der offenen Arbeit. Sei es, dass z.B. vermutet wird, Mädchen würden bestimmt großen Wert auf eine gemütliche Atmosphäre legen oder Jungen bräuchten eine Produktorientierung, um sie für Angebote zu motivieren. Welche Vorannahmen auch immer, sie verstellen den Blick auf die lebendigen Mädchen und Jungen. Geht es doch darum, dass die Kinder und Jugendlichen mit ihrer eigenen Realität und Selbstdefinition da sein können, mit ihren Widersprüchen, Brüchen und Ungereimtheiten. Gerade diese zum Ausgangspunkt von geschlechtsbezogener Pädagogik zu machen, bedingt aber, ihnen den Raum möglichst weit zu öffnen, ihnen vorurteilsfrei zu begegnen und neugierig zu sein auf die Mädchen und Jungen mit ihren ganz individuellen Geschichten und Interpretationen. Außerdem gilt es in der geschlechtsbezogene Pädagogik die Spannung auszuhalten, einerseits das Geschlechterverhältnis zu kritisieren und andererseits keine neuen Leitbilder zu definiert, mit denen die Jugendlichen das Geschlechterverhältnis ändern sollen. Weder sollen Mädchen am besten Emanzen und Jungen am besten Hausmänner werden, noch sollen Jugendliche am besten sogenannte männliche und sogenannte weibliche Aspekte gleichermaßen ausbilden. Geschlechtsbezogene Pädagogik ist frei von einer Zielvorstellung, wie die Jugendlichen werden sollen. Die Überwindung der hierarchischen Machtverhältnisse darf nicht als Erbe den AdressatInnen offener Jugendarbeit mit auf den Weg gegeben werden. Gleichzeitig darf dennoch die Analyse des Geschlechterverhältnisses nicht ausgeblendet werden, denn es bestimmt maßgeblich den Sozialisationsrahmen und den gesellschaftlichen Kontext, in den Kinder und Jugendliche hineinwachsen. Das Handeln von Mädchen und Jungen (und auch das eigene Handeln) kann auf dem Hintergrund des Wissens, wie die Geschlechterkonstruktionen wirken, besser erkannt und verstanden werden. Diese Haltung impliziert auch bei den Fachkräften eine Reflexion der eigenen Bilder von „ Mä dc he n-Se i n“ode r„ J ung e -Se i n“s owi ea uc hde rFr a ue n- und Männerbilder. Diese sind zumeist Produkte eigenen Erfahrungen und der eigenen geschlechtsspezifischen Sozialisation. Sie wahrzunehmen und zu erkennen eröffnet den Raum, sie immer weniger als Projektionen auf die Mädchen und Jungen zuzuschreiben. In einer eigenen –auch biographischen – Auseinandersetzung können sich pädagogische Fachkräfte der subjektiven Geschlechterzuschreibungen bewusst werden und damit einen Umgang finden. Damit überlassen sie den Mädchen und Jungen die Selbstdefinition ihres Geschlechterkonzeptes selbst und ermöglichen damit Selbstbestimmung. Eine Reflexionsebene unter KollegInnen ist hier sehr hilfreich und fördert eine aufmerksame und permanente Überprüfung eigener Bilder im Alltag.

11 3. Männer und Frauen stellen sich selbst als Personen zu Verfügung. Die eigene Beteiligung am Geschlechterverhältnis wird erkannt und reflektiert. Um die geschlechtsbezogene Blickrichtung pädagogisch anwenden zu können, muss sie bewusst in das eigene Handlungskonzept einbezogen werden. Gerade in der offenen Arbeit kommt dem Angebot durch die pädagogisch wirksamen Frauen und Männern eine Schlüsselrolle zu. Die Beziehungsarbeit und der Kontakt zu den BesucherInnen sind in der Regel der originäre Bestandteil des Konzeptes eines offenen Jugendhauses. Oft sind Einrichtungen von ihrem Stil her, z.B. im Umgang miteinander, im Umgang mit Regeln, in der Raumgestaltung und Atmosphäre nahezu Spiegelbilder der sie gestaltenden PädagogInnen. Die Kinder und Jugendlichen suchen hier nach Erwachsenen, an denen sie sich orientieren können, die für sie Vorbilder darstellen, die sie etwas fragen können oder an denen sie sich reiben können. Gerade in Bezug auf die Entwicklung einer eigenen Geschlechtsidentität stellen die pädagogischen Fachkräfte für die Mädchen und Jungen selbstverständlich auch eine Orientierung dar. ´Da gibt es eine reale Frau, einen realen Mann –jenseits von Vater und Mutter –der/ die sich mit mir beschäftigt und wo ich mir was abschauen kann.` In dieser Hinsicht suchen häufig Mädchen Orientierung bei Frauen, Jungen Orientierung bei Männern, was die Vorbildfunktion angeht, selber einmal Frau bzw. Mann zu werden. Unabhängig davon, ob sich eine pädagogische Fachkraft dessen bewusst ist, von den BesucherInnen wird sie immer und unmittelbar als Frau oder Mann wahrgenommen, sie trägt permanent dazu bei, welches Frauen- oder Männerbild sich bei den Kindern und Jugendlichen entwickelt. In der geschlechtsbezogenen Pädagogik geht es darum, diese Funktion bewusst wahrzunehmen und sich selbst mit dem eigenen Geschlechterkonzept zur Verfügung zu stellen. Dazu gehört, sich überhaupt dessen bewusst zu sein, sich mit der eigenen Art, Geschlecht zu inszenieren, auseinanderzusetzen, und die eigene Beteiligung am Geschlechterverhältnis zu erkennen In der Praxis gilt es dann, den Kontakt bewusst in das professionelle Selbstverständnis einzubeziehen und sich als greifbare/r Frau oder Mann anzubieten, sich fragen zu lassen, wie ich lebe, was ich mag und was ich denke. Dazu gehört, mit den eigenen Grenzen präsent und verständlich zu sein. Eine wichtige Rolle spielt auch, ob das, was ich über meine Person aussagen will, bei den Jugendlichen verstanden wird. 4. Partizipation wird als Gestaltungsprinzip von geschlechtsbezogener Pädagogik verstanden I m Si nned e s„ Be g e hr e ns “(s.o.) geht es in der geschlechtsbezogenen Pädagogik darum, dass Mädchen und Jungen einen Raum erleben, indem sie von sich selbst ausgehend ihre I nt e r e s s e nf o r mul i e r e nkönne n.De rAus g a ng s punkti s ta l s oni c htda s„ Mä dc he n-Se i n“ode r „ J ung e -Se i n“ ,ni c hte i neI de nt i t ä ti m Si nne„ We rbi ni c h? “ ,s ondern die Perspektiven, Wünsche, Sehnsüchte und Interessensbekundungen der beteiligten Mädchen oder Jungen als Ant wor ta ufdi eFr a g e„ Wa swi l li c hh i e r ? “ Damit wird der Raum in einer Weise eröffnet, dass an den Selbstäußerungen der Kinder und Jugendlichen und ihrer Motivation angeknüpft werden kann. Mit dieser Herangehensweise wird es möglich, das Selbstverständnis und Lebensgefühl der Mädchen und Jungen a uf z ug r e i f e n,we i ls i es i c he be nni c hta ufe i n„ Mä dc he n-Se i n“ode r„ J u ng e -Se i n“ ,„ Ande r s Se i n“ ode rübe r ha upti r ge ndwi e„ Se i n-müs s e n“ f e s t g e l e g ts e he n,s onde r ni hr ee i g e ne n Wünsche und Ideen einbringen können, die häufig gar nicht das Geschlecht thematisieren. Dies verlangt aber den PädagogInnen eine Haltung ab, die Beteiligung der TeilnehmerInnen

12 wirklich auch zu wollen und insofern Kontrolle über Geschehnisse, wie z.B. Programmplanung oder Renovierungen abzugeben. Die Qualität von Partizipation hängt entscheidend davon ab, ob sie ernst gemeint und glaubhaft ist und wirklich ein entsprechender Rahmen abgesteckt wird, den die AdressatInnen überblicken und verantworten können, in dem sie dann aber tatsächlich die Möglichkeiten haben, ihre Interessen einzubringen, auszuhandeln und umzusetzen. In der offenen Jugendarbeit heißt das, zu überprüfen, wie Kinder und Jugendliche möglichst weit in die Planung und Gestaltung der Angebote, Räume und sogar Strukturen einbezogen werden können. Angefangen von der Verantwortung für den Thekendienst, über die Renovierung des Mädchenraumes bis hin zur Jahresplanung oder der Planung einer gesamten Jugendzentrums können Beteiligungsprozesse mit Jugendlichen durchgeführt werden. Im Sinne von Selbstbestimmung und der Übernahme von Verantwortung ist hier die Betonung auf Prozess besonders wichtig. Partizipation muss gelernt werden, denn die eigenen Interessen mit anderen abzustimmen und dann auch dafür Verantwortung zu übernehmen ist keine Kleinigkeit. Hier ist auf die Haltung der PädagogInnen bezogen wieder wesentlich, wie diese die Geschlechterfrage insofern einbezieht, als Jungen und Mädchen gleichermaßen ein Zugang zu Entscheidungen und Ressourcen ermöglicht wird. Das heißt, dass z.B. bei einem koedukativen Projekt sowohl bei der Äußerung eigener Interessen sehr genau darauf geachtet werden muss, dass Mädchen wie Jungen sich einbringen können –hier sind möglicherweise geschlechtshomogene Settings nötig –als auch bei dem Abstimmungsprozess miteinander ein Verhandlungsmodus gefunden werden muss, in dem Mädchen und Jungen sich beteiligen, wohlfühlen und Grenzen respektiert werden. VII. Mädchenarbeit, Jungenarbeit, reflexive Koedukation Geschlechtsbezogene Pädagogik setzt sich aus drei Bestandteilen zusammen: Jungenarbeit, Mädchenarbeit sowie reflexiver Koedukation. Es bedeutet weder, dass alle Angebote nur noch geschlechtshomogen durchgeführt werden sollen, noch, dass sich Mädchen- und Jungenarbeit nun in einem gemeinsamen Konzept aufheben. Die Frage, ob ein Angebot für Mädchen und Jungen zugänglich sein soll oder für eine geschlechtshomogene Gruppe konzipiert wird, entscheidet sich unter der Maßgabe der Zielbestimmungen Selbstbestimmung, Entwicklung von Selbstwertgefühl und Übernahme von Verantwortung. Aufgrund der oben beschriebenen Haltung der pädagogischen Fachkräfte wird es möglich sein, abzuwägen und zu entscheiden, ob geschlechtshomogene oder geschlechtsgemischte Gruppenzusammensetzungen den Zielsetzungen am ehesten entsprechen. Bei diesem Abwägen ist zu berücksichtigen, um was für ein Angebot es sich handelt, welche Intention mit dem spezifischen Angebot verbunden wird, welcher Stellenwert diesem Angebot im Gesamtkonzept zukommt, und welche Möglichkeiten geschlechtshomogene Gruppen einerseits und geschlechtsgemischte Gruppen andererseits bieten. Will zum Beispiel ein Jugendzentrum die Anzahl der weiblichen Besucherinnen erhöhen, so wird es sinnvoll sein, zunächst gezielte Maßnahmen für Mädchen zu planen, die ihnen die Schwelle, in die Einrichtung zu kommen, vermindern. Dies kann zum Beispiel ein Mädchentag sein, an dem keine Jungen ins Haus kommen dürfen. Damit können Mädchen die häufig von Jungen dominierten Räume selbst einnehmen und damit auch für gemischte Zusammenkünfte ein höheres Selbstverständnis entwickeln, sich in den öffentlichen Bereichen auszuhalten. Die Maßnahmen können aber auch darin bestehen, gezielt Mädchen

13 anzufragen, wie zum Beispiel der offene Bereich sich räumlich anders gestalten sollte, damit sie sich darin wohler fühlen. Dunkle Eingangsbereiche, permanent von Jungen besetzt Kicker im Flur oder ein Mangel an gemütlichen Plätzen (Sofas, kleinen Tischgruppen) halten viele Mädchen von einem Besuch im Jugendzentrum ab. Hier könnte zum Beispiel ein gemischtgeschlechtlich genutzter Teil bewusst von Mädchen neu gestaltet werden. Oft hat eine solche Umgestaltung den Nebeneffekt, dass Jungen sich auch erlauben dürfen, sich mal gemütlich in eine Ecke zurückzuziehen bzw. die Frage, mit was sie sich wohlfühlen eine neue Qualität unter Infragestellung der männlichen Normen mit sich bringt. Will ein Jugendzentrum die Kommunikationskultur untereinander verbessern, so wird es sinnvoll sein, auch hier geschlechtsgetrennte und geschlechtsgemischte Diskussionszirkel zu errichten, um die Dimension der Thematik mit verschiedenen Qualitäten zu erschließen. Die Beteiligung der Jugendlichen kann in geschlechtshomogenen Gruppen deutlich erhöht we r de n,dador tvi e l e„ a l l t ä g l i c he “Nor ma l i t ä t e nz wi s c he nde nGe s c hl e c ht e r na uße rKr a f t gesetzt sind. Eine sexualpädagogische Einheit wird in den meisten Fällen sinnvoller in geschlechtshomogenen Gruppen durchzuführen sein. Für die Jungen eröffnet das zum Beispiel die Möglichkeit, auch mal Unsicherheiten zu zeigen und Fragen zu stellen, ein Verhalten, was die meisten sich sicherlich im Beisein der Mädchen nicht trauen würden. Insbesondere der Austausch unter Jungen und Männern über Empfindungen und reale Erlebnisse ist ein seltenes Erlebnis, denn im geschlechtsgemischten Alltag überwiegt häufig der Druck, sich überlegen zeigen zu müssen (s.o.). Für Mädchen ist es in einer geschlechtshomogenen Gruppe oft leichter, die eigenen Gefühle und Wünsche zu äußern. Auch fällt die Angst vor grenzüberschreitendem Verhalten (Sprüche, Blicke, Berührungen) durch die Jungen weg, was für die meisten Mädchen eine deutliche Entspannung mit sich bringt. Unter Mädchen zu sein bedeutet, die Realität von Mädchen und Frauen aufzuwerten, ihr einen Wert zu verleihen, und die eigenen Erfahrungen im Zusammenhang mit der Zuschreibung des weiblichen Geschlechts thematisierbar zu machen. Die Chancen von geschlechtsgetrennten Erfahrungen liegen also insbesondere darin, dass eine alltägliche Normalität außer Kraft getreten wird, nach der Mädchen und Jungen zusammen erzogen werden (z.B. in Kindergarten, Schule und Jugendarbeit). In dieser Normalität wird einerseits Geschlecht in der Regel nicht thematisiert und unter einem Gleichheitsanspruch geschlechtsbezogene Komponenten ignoriert. Andererseits stellt sich gerade in der scheinbar geschlechtsneutralen Normalität das Geschlechterverhältnis immer wieder in seiner dualistischen Struktur her. Zu leicht werden Kinder und Jugendliche nur in den polaren Gr uppi e r ung e n„ di eJ ung e n“und „ d i eMä dc he n“wa hr g e nomme n und e nt s pr e c he nd de r binären Denkweise als Komplementarität angesehen. Geschlechtsgetrennte Jugendarbeit ermöglicht also, diese Dualitäten in Frage zu stellen, weil in Mädchen- oder Jungengruppen der Blick geöffnet werden kann für die Vielfalt zwischen den Jungen bzw. zwischen den Mädchen. Jungen oder Mädchen können lernen, sich aufeinander zu beziehen, die Qualität des Austauschs realer Erfahrungen, insbesondere Erfahrungen mit der Geschlechterhierarchie kennen und schätzen zu lernen. Gerade das Thematisieren von geschlechtsbezogenen Aspekten verschiedenster Themen, wie zum Beispiel der Anpassungsdruck an Geschlechterrollen in der Berufswahl oder in der Familienplanung, ist in geschlechtshomogenen Gruppen viel leichter möglich. Aber auch dies hängt natürlich wieder von der Haltung der PädagogInnen ab. Ob zum Beispiel Fußballspielen mit Jungen ein gutes oder schlechtes Angebot im Sinne geschlechtsbezogener Pädagogik ab, steht nicht per se fest. Wie ein Pädagoge durch seine Person, seine Haltung und seine Interventionen deutlich macht, dass er die Vielfalt der Jungen positiv stärken will, dass er traditionelle Männlichkeitsbilder wie Einzelkämpfertum und

14 Überlegenheit in Frage stellt und den Jungen ihre Verantwortung an der Gestaltung des Miteinanders aufzeigt, ist hier entscheidend. Auch ein Step-Aerobic-Kurs für Mädchen entspricht nicht nur durch die Zielgruppe der Qualität von Mädchenarbeit. Hier kommt es zum Beispiel darauf an, ob die Mädchen auch mit ihren ganz unterschiedlichen Körperbildern und Körpergefühlen wertgeschätzt werden und damit dominante weibliche Schönheitsbilder als Ideal außer Kraft gesetzt werden. Eine große Rolle spielt auch, wie sich die Pädagogin mit ihren eigenen Erfahrungen bzgl. der Normierung des weiblichen Körpers einbringt und damit eine begreifbare Realität zur Verfügung stellt, die die Mädchen ermutigen kann, auch eigene Erlebnisse ernst zu nehmen und auszutauschen. Reflexive Koedukation ermöglicht als Ergänzung zu geschlechtshomogenen Angeboten die Er f a hr ung ,z us a mme n mi tJ ung e n und Mä dc he n unt e r„ a nde r e n Vor z e i c he n“ e t wa sz u erleben. Wichtig ist hier vor allem der reflexive Charakter der gemeinsamen Aktionen. Die Geschlechterfrage muss aktiv in die Gestaltung einbezogen werden und die Zielsetzung der Differenz in Gleichheit als Überprüfungskriterium permanent herangezogen werden. Das Miteinander zwischen Jungen und Mädchen spiegelt immer in irgendeiner Form das Geschlechterverhältnis wider, und genau dies soll der Reflexion zugänglich gemacht werden. Dies ist im Alltag der offenen Jugendarbeit sicherlich häufig schwierig, geht es doch meist eher um Erlebnisse als um deren Reflexion. Doch gilt es auch hier wieder, dieses in den Alltag zu integrieren, anstatt eine neue Pädagogik zu erfinden. Wird zum Beispiel eine Disko von Mädchen und Jungen zusammen geplant und durchgeführt, so soll diese während dessen und anschließend mit Blick auf die Kategorie Geschlecht reflektiert werden. Fragen wären zum Beispiel: o Wer hat eigentlich welche Aufgaben übernommen? o Welche Tätigkeiten von wem waren öffentlich sichtbar, welche standen eher im Hintergrund? o Inwiefern spiegelt sich hierin das hierarchische Geschlechterverhältnis wider? o Inwiefern haben sich Mädchen und Jungen mit ihren Aufgaben wohl gefühlt oder hätten sie gerne etwas anderes gemacht? Neben der Betrachtung der Geschehnisse und damit der eigenen Beteiligung am Geschlechterverhältnis ist es wichtig, Alternativen aufzuzeigen und vorzuleben bzw. zusammen mit den Jugendlichen Veränderungsideen zu entwickeln und einen Raum herzustellen, diese auszuprobieren. Reflexive Koedukation impliziert die Möglichkeit, sich selber neu kennen zu lernen und sich im Miteinander neu auszuprobieren. Hier wird der Rahmen aufgemacht, Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen, was die Konstruktionen von Geschlecht und deren Bewertung angeht. Dies drückt sich sowohl in der Räumen, den pädagogischen Angeboten und dem Setting aus als auch in der Haltung den Kindern und Jugendlichen gegenüber. Geschlechtsbezogene Pädagogik in der offenen Jugendarbeit ist eine Herausforderung –in erster Linie für die dort Tätigen MitarbeiterInnen. Sie geht davon aus, dass alle Menschen ein „ Be ge hr e n“ha be n,e ss i c hg utg e he nz ul a s s e n,We r t s c hä tzung zu erfahren und die eigenen Wüns c he ums e t z e nz u könne n.Anknüpf e nd a n di e s e s„ Be g e hr e n“ we r de n di e Zi e l e Selbstbestimmung, Entwicklung eines Selbstwertgefühls und die Übernahme von (Selbst)Verantwortung definiert. Das Geschlechterverhältnis mit seiner dualistischen und hierarchischen Struktur be- und verhindert die Selbstbestimmungspotentiale der Kinder und Jugendlichen. Vielfalt in Gleichheit hingegen eröffnen die Chancen, sich selbst mit den subjektiven Interessen zu entfalten und dabei auch eine ganz eigene Art und Weise herauszufinden, sich zur Kategorie Geschlecht in Beziehung zu setzen. Deswegen will Geschlechtsbezogene Pädagogik in der offenen Jugendarbeit Räume eröffnen und Erlebnisse vermitteln, in denen Vielfalt in Gleichheit erfahren werden kann. Dies basiert auf einer

15 Haltung der Fachkräfte als professionelle Kompetenz, die Geschlechterfrage in den Alltag der offenen Jugendarbeit zu integrieren. Die Konkretisierung dieser Zielsetzungen findet in Formen der Mädchen- und Jungenarbeit sowie der reflexiven Koedukation statt. Letztlich hat sich die Qualität der Angebote daran zu messen, inwieweit sie die Selbstbestimmung der Kinder und Jugendlichen fördert und zu ihrem Wohlbefinden im Prozess des Erwachsenwerdens beiträgt.

Connell, Robert W.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 1999. Drogand-Strud, Michael: Braucht die Jugendhilfe Gender Mainstreaming? Eine Auseinandersetzung mit einem Strategiekonzept und ein Schlaglicht auf die Jungenarbeit. In: Gender Mainstreaming, FORUM der BZGA, Heft 4-2001, S. 25-32 Glücks, Elisabeth; Ottemeier-Glücks, Franz Gerd (Hrsg.): Geschlechtsbezogene Pädagogik. Ein Bildungskonzept zur Qualifizierung koedukativer Praxis durch parteiliche Mädchenarbeit und antisexistische Jungenarbeit. Münster 1994. Günter, Andrea: Weibliche Autorität, Freiheit und Geschlechterdifferenz: Bausteine einer feministischen politischen Praxis. Königstein/Taunus 1996. Jantz, Olaf/ Grote, Christoph: Perspektiven der Jungenarbeit, Opladen 2003 Prengel, Annedore: Pädagogik der Vielfalt, 1995 Rauw, Regina: Gender Mainstreaming in der Jugendarbeit –eine neue Strategie, aber kein neues Thema. In: Gender Mainstreaming: Herausfordungen für den Dialog der Geschlechter, hrsg. von Jansen, Mechthild M. u.a.. München 2003, S. 253-269 Rauw, Regina/ Jantz, Olaf/ Reinert, Ilka/ Ottemeier-Glücks, Franz Gerd: Perspektiven geschlechtsbezogener Pädagogik, Opladen 2001 Rauw, Regina/ Reinert, Ilka: Perspektiven der Mädchenarbeit, Opladen 2001

Heimvolkshochschule "Alte Molkerei Frille" Mitteldorf 1 32469 Petershagen Tel.: +49 (0)5702-9771 Fax: +49 (0)5702-2295 eMail: [email protected] [email protected] www.hvhs-frille.de www.gender-perspektiven.de