Gehirn, Geist und Bedeutung

geschichte der Neurowissenschaften, in nahe liegender Zukunft ... ist: Es muss »biologistische Erklärung« heißen, da ja die Erklärung nicht in der Biologie,.
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Robert Nitsch ist seit Ende 2009 Direktor des Instituts für Mikroskopische Anatomie und Neurobiologie und Sprecher des Forschungsschwerpunktes Translationale Neurowissenschaften (FTN) der Universität Mainz. Zuvor war er seit 1995 Direktor des Institutes für Zell- und Neurobiologie an der Charité, Sprecher eines Sonderforschungsbereiches und Governing Director des Exzellenzclusters NeuroCure in Berlin. Seit 2007 ist er Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Medizin und Philosophie studierte er an den Universitäten Kiel, Frankfurt, Freiburg und der Yale Medical School. Seine Publikationen finden sich unter anderem in Nature Neuroscience, Cell, Nature Cell Biology, PNAS, Lancet und Neuron.

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Nitsch · Gehirn, Geist und Bedeutung

In der neurowissenschaftlichen scientific community besteht vielfach die Ansicht, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis die – in der Philosophie traditionell dem Leib-Seele-Problem zugeordnete – Erklärung von Phänomenen des Bewusstseins, Denkens, Fühlens oder Glaubens biologisch geleistet werden kann. Hier wird dagegen die Position vertreten, dass erfahrungswissenschaftliche Forschungsprogramme, wie etwa das neurowissenschaftliche, abhängig von Prozessen sind, die vor der Erfahrung liegen: Nicht die Gegenstände, sondern die sprachlichen Voraussetzungen und die kommunikativen Standards, die sich als Ergebnis einer gestellten Aufgabe herausgebildet haben, definieren Kriterien für wissenschaftliche Theorien. Daraus folgt, dass naturwissenschaftliche Theorien über das Gehirn und seine Leistungen, psychologische Theorien über Kognitionsfunktionen und auch erkenntnistheoretische Erwägungen der Philosophie als gleichwertige wissenschaftliche Programme nebeneinander stehen. Von einem Primat naturwissenschaftlicher Erkenntnis der Neurowissenschaften gegenüber philosophischen Argumenten in der Leib-Seele-Diskussion kann also nicht die Rede sein.

Robert Nitsch

Gehirn, Geist und Bedeutung Zur Stellung der Neurowissenschaften in der Leib-Seele-Diskussion

03.10.12 08:42

Nitsch · Gehirn, Geist und Bedeutung

Robert Nitsch

Gehirn, Geist und Bedeutung Zur Stellung der Neurowissenschaften in der Leib-Seele-Diskussion

mentis MÜNSTER

Einbandabbildung: Eine Zeichnung aus dem Buch »A System of Phrenology« (1835) von George Combe (1788–1858).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ∞ ISO 9706

© 2012 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anne Nitsche, Dülmen (www.junit-netzwerk.de) Satz: Rhema – Tim Doherty, Münster [ChH] (www.rhema-verlag.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-794-0

Den Freunden des »Grand-Hotel-Abgrund« gewidmet

Der vorliegende Text stellt eine überarbeitete und aktualisierte Version meiner Dissertationsschrift mit dem Thema »Zur Stellung der Neurowissenschaften in der Leib-Seele-Diskussion« dar, die im Jahr 2008/2009 der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zur Begutachtung vorlag. Zu besonderem Dank bin ich meinem Doktorvater Dominik Perler verpflichtet. Die Offenheit, das in dieser Schrift bearbeitete Thema als Doktorarbeit anzunehmen, war für mich ebenso keine Selbstverständlichkeit, wie die Präzision der philosophischen Kritik, die den verschiedenen Entwurfsfassungen der Arbeit seinerseits zuteil wurde. Ebenso möchte ich mich bei Herbert Schnädelbach und Michael Pauen bedanken, die sich bereit erklärt hatten, die Mühe der Zweit- bzw. Drittbegutachtung auf sich zu nehmen. Pascal Nicklas hat mich bei der textlichen Überarbeitung der Dissertationsschrift für das vorliegende Buch mit großem Engagement unterstützt. Frank Stahnisch, Christoph Demmerling und auch Pascal Nicklas bin ich für zahlreiche kritische Anmerkungen dankbar, die den Argumentationsgang der Studie geschärft haben. Schließlich möchte ich mich bei meinen philosophischen Lehrern, eingeschlossen derer aus meiner Schulzeit, bei meiner Familie sowie den zahlreichen Freunden und Kollegen bedanken, die mich über die Jahre ermuntert oder gewarnt haben, meine philosophischen Interessen weiter zu verfolgen. Besonderer Dank gilt hier Frauke Zipp, Ingo Bechmann und Michael Frotscher, die ich auf je unterschiedliche Weise mit dieser Arbeit vom Sinn meiner philosophischen Seitensprünge überzeugen möchte. Der Beginn der Erstellung der Arbeit war mir während eines Forschungsfreisemesters im Sommer 2007 möglich, eine Zeit, die ich für meine persönliche und intellektuelle Entwicklung nicht missen möchte.

Inhaltsverzeichnis

1

Einleitung

2 2.1

Das neurowissenschaftliche Paradigma . . . . . . . . . John R. Searles Irrtum: Warum Gehirne nicht hinreichend für Bewusstsein sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die naturalistische Unterbestimmtheit des Gehirns . . . . . . . Die naturalistische Unbestimmtheit des Gehirns . . . . . . . . Korrelation vs. Kausalität: Der Rückzug vom reduktiven Physikalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Physikalismus und Neurowissenschaften . . . . . . . Korrelation statt neurobiologischer Physikalismus . . . . . . . Zwischenresümee: Searles Gehirne sind Postulate, keine Forschungsgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3

Exkurs: Wege der Welterschließung . . . . . . . . . . . Neurowissenschaften und Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . Naturalismus und Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . Naturalismus ohne Physikalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom methodologischen Naturalismus zum Physikalismus . Vom Physikalismus zum Empirismus . . . . . . . . . . . . . . . Naturalismus und Neurowissenschaften: Schlussfolgerungen

4 4.1

Der Ort der Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . Der Repräsentationsbegriff in einer Neurowissenschaft des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ort der Bedeutung – warum die Neurowissenschaften nicht Gedanken lesen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis von Neurowissenschaften und Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einbettung der Neurowissenschaften in eine pragmatisch-kulturalistische Weltbeschreibung . . . . . . . . Pragmatistische Annäherung an die Leib-Seele-Diskussion

2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.2

4.2 4.3 4.4 4.5 5 5.1

....................................

13

....

21

.... .... ....

23 30 53

.... .... ....

58 59 74

....

84

. . . . . . .

. . . . . . .

87 87 88 89 95 97 99

......

101

......

101

......

118

......

123

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . 130 . . . . . . 139

Über die möglichen Beiträge der Neurowissenschaften zur Leib-Seele-Diskussion . . . . . . . . . Biologische Voraussetzungen für die zentralen menschlichen Fähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147 147

10 5.2 5.3

Inhaltsverzeichnis

Perspektiven für ein Forschungsprogramm der Neurowissenschaften innerhalb der Leib-Seele-Diskussion . . . . . 151 Neurowissenschaften: Auf dem Weg zu einer engeren Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

Man kann’s drehen und wenden, wie man will, Bedeutungen sind einfach nicht im Kopf ! Hilary Putnam Putnam, 1979 (original 1975), S. 37.

1 Einleitung Einer gängigen Auffassung innerhalb der neurowissenschaftlichen scientific community zufolge bestehen für eine biologische Erklärung all jener Phänomene, die in der Philosophie traditionell dem Leib-Seele-Problem 1 subsumiert werden, nur noch quantitative, keine qualitativen Probleme mehr. Dass bis heute ein solches biologistisches Erklärungsprogramm mentaler Phänomene noch nicht (manche würden sagen: in vollem Umfang) erfolgreich gewesen ist, liegt nach dieser Auffassung allein an der Tatsache, dass die Menge an gesicherten Daten über die Struktur und Funktion des Gehirns noch nicht ausreichend ist, um Phänomene wie Bewusstsein, Denken, Fühlen und Glauben eindeutig erklären zu können. Die noch fehlenden Daten würden demnach allerdings, in Fortschreibung der Erfolgsgeschichte der Neurowissenschaften, in nahe liegender Zukunft bereitgestellt werden können. Diese Vorstellung ist 2004 von elf deutschen Neurowissenschaftlern in einem Manifest niedergelegt worden: Wir haben herausgefunden, dass im menschlichen Gehirn neuronale Prozesse und bewusst erlebte geistig-psychische Zustände aufs Engste miteinander zusammenhängen und unbewusste Prozesse bewussten in bestimmter Weise vorausgehen. Die Daten, die mit modernen bildgebenden Verfahren gewonnen wurden, weisen darauf hin, dass sämtliche innerpsychischen Prozesse mit neuronalen Vorgängen in bestimmten Hirnarealen einhergehen – zum Beispiel Imagination, Empathie, das Erleben von Empfindungen und das Treffen von Entscheidungen beziehungsweise die absichtsvolle Planung von Handlungen. Auch wenn wir die genauen Details noch nicht kennen, können wir davon ausgehen, dass all diese Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind. Diese näher zu erforschen ist die Aufgabe der Hirnforschung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten. 2

Die Autoren des Manifests lassen in ihren Ausführungen keinen Zweifel daran, dass es den Neurowissenschaften um die umfassende Erklärung sämtlicher innerpsychischer Prozesse durch physikochemische Vorgänge geht. Eine solche Erklärung soll innerhalb des Forschungsprogramms der Neurowissenschaften in den nächsten Jahrzehnten gelingen und damit konsequenterweise andere Erklärungsansätze, etwa aus den Geisteswissenschaften, ersetzen. International wird

1

Ich verwende mit Janich den Begriff Leib-Seele-Diskussion oder »Leib-Seele-Problem« bedeutungsgleich mit »Körper-Geist-Diskussion« oder »Körper-Geist-Problem«. Unter »Seele« verstehe ich hier nicht etwas von außen hinzukommendes, sondern mentale Eigenschaften wie zum Beispiel Bewusstsein, Denken und Intentionen. 2 Elger et al. 2004, S. 33.

14

1. Einleitung

diese Position am einflussreichsten 3 durch den im Jahr 2000 mit dem Nobelpreis für Physiologie ausgezeichneten Neurobiologen Eric Kandel vertreten: Wenn es »noch vor wenigen Jahren […] unvorstellbar [war], dass Biologen in der Lage sein könnten […] die biologische Natur von Wahrnehmung, Lernen, Gedächtnis, Denken, Bewusstsein und die Grenzen des freien Willens [zu] verstehen«, so »richteten die Biologen ihre Aufmerksamkeit auf ihr höchstes Ziel: die biologische Erklärung des menschlichen Geistes.« 4 Begrifflich fallen damit für Kandel sämtliche Aspekte mentaler Phänomene unter die Leistungen des menschlichen Geistes, die eine »biologische Natur« haben und demnach auch mittels Methoden der Biologie, also »biologisch« 5 erklärt werden sollen. In Bezugnahme auf die Erfolge der molekularen und zellulären Neurobiologie stellt Kandel fest, dass »dank dieser außerordentlichen Errungenschaften […] die Biologie eine zentrale Stellung in der Ordnung der Naturwissenschaften, vergleichbar mit der Physik und der Chemie […] erlangte.« 6 Tatsächlich hat diese Position seit einiger Zeit Eingang in die allgemeine Diskussion führender Feuilletons, aber auch in Talk-Shows und die allgemeine Tagespresse gefunden. 7 Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht menschliches Verhalten durch neueste neurowissenschaftliche Befunde – die häufig genug keineswegs neueste Ergebnisse sind – erklärt wird, in kaum einer Debatte über die großen Gesellschaftsthemen, etwa bei der Bildungs- und Schulreform oder der Frage nach Schuld und Bestrafung, fehlt der neurowissenschaftliche Beitrag, der die biologischen Grundlagen in der Diskussion bereitstellen soll. Dabei wird mit Bezug auf die Befunde der Neurowissenschaften eine bisher mit pädagogischen oder juristischen Argumenten geführte Auseinandersetzung zunehmend naturalisiert: Es gibt, so die weit verbreitete Meinung, harte naturwissenschaftliche Gründe für Entscheidungen, die vormals von anderen Disziplinen vorbereitet und dann entsprechend politisch umgesetzt wurden. Zunehmend übernehmen die Neurowissenschaften die Rolle des Letztentscheiders in solchen Debatten und garantieren mit naturwissenschaftlicher Objektivität die Richtigkeit einer dar3 4 5

6 7

Daneben sind sicherlich noch Beiträge von Francis Crick, Gerald M. Edelman sowie Antonio Damasio, und im deutschen Sprachraum etwa Wolf Singer und Gerhard Roth zu nennen. Kandel 2006, S. 11. Peter Janich hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Rede von einer »biologischen Erklärung« nicht korrekt ist: Es muss »biologistische Erklärung« heißen, da ja die Erklärung nicht in der Biologie, sondern durch das biologistische Forschungsprogramm geleistet werden soll. Das ist insofern wichtig, als dass schon bei dieser Sprechweise zum Ausdruck kommt, dass man keine methodische Trennung zwischen dem Naturgeschehen, der Biologie, und dem Forschungsprogramm, welches selber immer von forschenden Menschen unter bestimmten Zwecksetzungen durchgeführt wird, einhält. Siehe dazu Janich 2009. Kandel 2006, S. 11. Eine systematische Untersuchung zur Darstellung der Neurowissenschaften in den allgemeinen Medien findet sich (allerdings für den anglo-amerikanischen Sprachraum) in Racine et al. 2010, S. 725–33.