Freunde Lüge Tod

stall erregte nie mein besonderes Interesse, wohl aber seine verschiedenen Gärten: Gemü- segarten, Gewürzgarten, sowie drei verschie- dene Obstgärten ...
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Inge Stender

Freunde Lüge Tod Es gibt kein richtiges Leben im falschen Roman

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© 2016 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2016 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag Coverbild: Iris Müller, Grafikdesignerin: www.arcoiris-portfolio. com Printed in Germany Taschenbuch: Großdruck: eBook epub: eBook PDF: Sonderdruck

ISBN 978-3-8459-1952-2 ISBN 978-3-8459-1953-9 ISBN 978-3-8459-1954-6 ISBN 978-3-8459-1955-3 Mini-Buch ohne ISBN

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Prolog

Mein Leben lang bin ich weggerannt. Vor dem Nachbarjungen, der stärker war als ich. Vor meiner Schwester, die laut schrie, wenn ich ihr etwas weggenommen hatte, was ihr gehörte, aber auch mir gefiel. Vor den angedrohten Strafen meines Vaters, bis er sie vergessen hatte, weil er zu viel um die Ohren hatte. Der Schule bin ich fern geblieben, wenn mich ein Lehrer ungerecht behandelt hatte, den ich von da an als meinen ärgsten Feind betrachtete. Du musst den unteren Weg gehen, sagte meine Mutter, wenn sie wegen meines unentschuldigten Fehlens angerufen oder in Fällen längeren Schwänzens in die Sprechstunde zur Schule bestellt wurde. Diesen Satz hasste ich, trotzdem liebte ich meine Mutter. Ich neigte nur sturen Autoritäten gegenüber zur Renitenz. Ansonsten bin ich umgänglich, gehe mit der Zeit, passe mich, wenn 4

es mir sinnvoll erscheint, durchaus an. Habe auch viele Freunde gehabt, jedenfalls in meinen Jugendjahren. Bin sicher nicht, was man einen Einzelgänger oder Außenseiter nennt. Obwohl, das erkenne ich heute, zeichnet mich etwas aus, hebt mich gewissermaßen etwas schwer Definierbares aus der dumpfen Masse heraus. Ich bin nicht nur, was ich von außen scheine: Ein hübsches, munteres, mutiges Mädel, an dem ein Junge verloren gegangen ist. Ich habe einen sehr starken Willen, der ein Eigenleben führt, der mich beherrscht wie ein Dämon. Schon in meiner frühesten Kindheit war ich ein böses Kind, war sofort gereizt, wenn man mir meinen Willen beschnitt. Aus dem Kindergarten musste Mutter mich herausnehmen, ehe ich noch mehr kaputt machte als die Autos, mit denen die Jungen spielten. Mutter verstand mich als einzige, versuchte mir beizustehen, wenn sie sagte, lasst Johanne in Ruhe, sie geht ihren Weg. Aber, wer hätte je auf Mutter geachtet? Außer mir vielleicht, 5

denn ich liebte sie, wie sonst niemanden. Weil sie an mich glaubte. Ich habe ihre Erwartungen nicht enttäuscht, bin meinen eigenen Weg gegangen, habe als einzige in meiner Familie Abitur gemacht. Die Jahre auf dem Gymnasium waren meine besten. Sozusagen meine fetten Jahre. Damals wusste ich noch nicht, dass auf die fetten unweigerlich die mageren Jahre folgen. Es könnten mehr als sieben werden. In der Frauenhaftanstalt. War mein sozialer Aufstieg kometengleich, angefeuert von dem festen Glauben meiner Mutter an meine intellektuellen Fähigkeiten, so mein Absturz nicht minder. Aber den hat Mutter nicht mehr miterlebt, sie ist, ich bin geneigt zu sagen, glücklicherweise für sie, vorher gestorben. An einem lächerlichen Autounfall. Ich konnte es nicht fassen. Hatte gerade wegen meines Abi-Durchschnitts von 1,3 den Numerus clausus für Medizin geschafft. Bin Hals über Kopf ausgezogen, um mein Studium zu beginnen, nur weg von der jam6

mernden Familie. Ich würde meinen Weg machen, das Vertrauen, dass meine Mutter immer in mich gesetzt hatte, niemals enttäuschen. Das schwor ich in ihrem Namen. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass mein Leben im Knast enden würde mit gerade mal fünfundzwanzig Jahren. Selbst, wenn sie mich nach fünfzehn Jahren rauslassen würden, wäre ich vierzig und nicht mehr ich selbst. Überhaupt weiß ich nicht, ob ich solange durchhalten kann. Wofür? Für wen? Vielleicht hätte ich früher in Religion bei Herrn Kegel besser aufpassen sollen, dann wüsste ich möglicherweise, was genau die sieben mageren Jahre in der Bibel bedeuten. Wahrscheinlich Pestilenz, Tod und Teufel. Den Menschen wurde mit der Religion doch schon immer Angst eingejagt. Vielleicht lese ich es mal in der Anstaltsbibel nach. Nur so. Zeit genug werde ich haben, mehr als ich totschlagen kann. Ich gestehe, dass ich Angst habe, weniger vor dem Prozess, als vor seinem Ausgang. Dass 7

ich verurteilt werde, ist klar, aber wie hoch wird die Strafe sein bei vorsätzlichem Mord? Mein Pflichtverteidiger will auf Unfall plädieren. Aber ich will die Wahrheit sagen. Ich muss mich ihr stellen, ganz allein. Alle, die mich kennen oder gekannt haben, werden mich verurteilen. Niemand wird mir beistehen, auf Familie konnte ich noch nie zählen, Freunde haben mich verlassen. Und Mutter ist schon zu lange tot. Ich bin eine Mörderin. Das klingt wie, ich bin Alkoholikerin, aber bei weitem gefährlicher. Zählte ich zu den letzteren, hätte ich nur mir selber Schaden zugefügt. Der mithilfe des öffentlichen Eingeständnisses mitunter sogar behoben werden kann. Jedenfalls, wenn man den Anonymen Alkoholikern Glauben schenken darf. Ob es Selbsthilfegruppen auch für Mörder gibt? Meine Gedanken fahren Achterbahn. Für das, was ich getan habe, gibt es keine Heilung. Mord ist keine Krankheit. Sven ist tot. Er wurde nur sechsundzwanzig Jahre alt. Wir sind dreizehn Jahre zusammen gewesen. 8

Eine Unglückszahl. Gibt es wirklich Magie, wie ich als Kind geglaubt hatte? Er war mein treuester Anhänger, der Knappe an meiner Seite, jederzeit bereit, mich zu verteidigen, obwohl er weiß Gott kein Kämpfertyp war, weder als Knabe noch als Mann. Andere Männer bekamen diese Chance nie, auch wenn sie darauf gehofft haben. Zwischen Sven und mir gab es ein unsichtbares Band, ein Band der unausgesprochenen Schuld. Blutschuld. Wir hatten Danny zwar nicht töten wollen, nicht in echt, es war nur ein Spiel, aber insgeheim seinen Tod gewünscht und ihn dann, als das Unglück geschah, billigend in Kauf genommen. Wir wurden nie zur Rechenschaft gezogen, weil wir noch nicht strafmündig waren, und konnten uns demzufolge nie wirklich entlastet fühlen. Die Stunden bei dem Psychoquacksalber, die Sven, Michael und mir aufs Auge gedrückt wurden, waren reine Zeitvergeudung. Nur wegen Svens technischer Begabung, wurde Michael ahnungslos zum Henker, als er die K 3/7 auf 9

Danny richtete, der daraufhin rollen- und wunschgemäß am Boden liegen blieb, wie bei früheren Aktionen auch. Daniel war einfach ein schlaffer Typ, ein Penner, schlief bei Nachtspielen oft auf dem Höhepunkt unserer Aktion ein, wenn ich ihm eine wichtige Rolle gegeben hatte. Ich hatte ihn schon mehrfach ganz vom Spiel ausgeschlossen, weil wir einen Klotz am Bein nicht gebrauchen konnten, aber er kam hartnäckig zurück. Winselte hündisch darum, wieder mitmachen zu dürfen, bis Sven ein gutes Wort für ihn einlegte. Aber er blieb der geborene Spielverderber. Er hatte keine Phantasie, hielt sich an keine Regeln, die ich mir während nicht enden wollender öder Mathe- oder langweiliger Religionsstunden ausdachte. Die einzige Lösung war, ihn früh auszuschalten. Nur dieses eine verhängnisvolle Mal war aus dem Spiel Ernst geworden und Danny wachte nicht mehr auf. Nachdem alles vorbei, Danny unter der Erde und Gras über die Geschichte gewachsen war, 10

versprachen Sven und ich uns, nie wieder von ihm zu sprechen. Nur wenn Mutter nach dem Staubsaugen den Sessel ein paar Zentimeter verrückt hatte, sah ich den Rand, der dunkler geblieben war, von seinem Blut, auf unserem pfirsichfarbenen Teppichboden. Dann wurde mir jedes Mal schlecht. Ansonsten machten wir weiter, als hätte Danny nie existiert. Heute ahne ich, dass wir ihn nie losgeworden sind, dass sein unsichtbarer Schatten mit seinem vergossenen Blut an Sven und mir kleben geblieben ist. Wir blieben Shadowrunner von der siebten Klasse bis zur Oberstufe. Ich war der einzige weibliche Shadowrunner, von dem ich je gehört habe. Und ich war gut. Wenn uns Mitschüler, die nicht zu meiner Gang gehörten, von weitem in Aktion sahen, zogen sie freiwillig ab. Ich wurde schnell zum Spielleiter für ungezählte Abenteuer, die ich mir nach eingehendem Studium der Charaktere von Shadowrun, dem tollsten Fantasy-Rollenspiel, das ich kenne, ausdachte. Für meine Geschichten 11

verwendete ich Schulhefte, die größtenteils statt Hausaufgaben Handlungen und Rollenanweisungen für Gefolgsleute und Kumpel enthielten. Ich schuf Zwerge, Orks, Elfen und Trolle, stattete sie mit den entsprechenden Attributen aus, legte für jeden Charakter den Zustandsmonitor sowohl für körperlichen als auch für geistigen Schaden fest und bestimmte für jede Waffe ihren Schadenscode. Ich schrieb alle Geschichten minutiös auf, versah sie mit Zeichnungen für die jeweiligen Örtlichkeiten und technischen Angaben für die Waffen, die benutzt werden sollten. Sven wurde deswegen schnell meine rechte Hand, weil er in der Lage war, nach meinen Vorgaben brauchbare Modelle zu bauen, so dass wir etwas in der Hand hatten, wenn wir gegen die Quarks kämpfen mussten, um die Prinzessin zu befreien, die natürlich Johanne hieß. Aber lieber noch war ich Krieger, verpasste mir mit Mutters Lippen- und Augenbrauenstift eine furchteinflößende Kriegsbemalung oder verbrannte Holz und schwärzte mir das Gesicht. 12

Ich war spitz auf Action. Gab mich ungern zufrieden mit ausschließlich erwürfelten Stärkeoder Gewandtheitspunkten, die zwar letztlich den Kampf entschieden, verlegte aber unsere Abenteuer, die mal im Mittelalter, mal in der Zukunft spielten, wann immer es möglich war, nach draußen. Wald, Wiesen und wogende Kornfelder im Spätsommer, oder Botanischer Garten samt Poppelsdorfer Schloss dienten meiner Phantasie als vielfältig zu nutzende Kulissen, boten Verstecke oder Hinterhalte. Astgabeln alter Buchen wurden zu Wehrtürmen, was Ikea-möblierte Kinder- oder Wohnzimmer so ausschweifend niemals vermocht hätten. Wir schleppten alles, was nicht niet- und nagelfest in elterlichen Schuppen ein trostloses Dasein fristete in entlegendste Verstecke, bauten aus Brettern oder Sperrmüllmöbeln Burgen und futuristische Behausungen, die einem Gaudí alle Ehre gemacht hätten, denn Lars und Christian klauten zuhause nicht nur Nägel und Werkzeug, deren Verlust immer ihrem schusseligen Vater 13

zugeschrieben wurde, sondern lieferten auch halbvolle Farbeimer, mit deren Inhalt sie fantasievolle Designs auf unsere bizarren Blockhütten zauberten, die Christian entworfen hatte. Sie ließen schon damals ihr Talent für ihre späteren Studiengänge erkennen. Wir hatten sogar auf dem Venusberg im Dickicht einer Tannenschonung eine Fallgrube ausgehoben, die wir mit ein paar von einer Baustelle gestohlenen Eimern voller Sand - war das eine Schlepperei! - füllten. Hier wandten wir einen speziellen Zauber an, so dass der Boden zu rumoren begann und sich unter den Füßen unserer Feinde in strudelnden Treibsand verwandelte, der unseren Angreifern buchstäblich den Boden unter ihren Füßen wegriss und sie in Sekundenschnelle hinabzog, bis sie verschwunden waren. Dieser Zauber hieß SAND und funktionierte nur, wenn der Spieler, der ihn anwenden wollte, etwas Sand in seiner Tasche bei sich trug, den er vor der Grube ausstreute, und ein goldenes Medaillon um den Hals. Das war gewöhnlich Lars´ Speziali14

tät, der dabei ein goldenes Kreuz, das er in der Schmuckschatulle seiner Großmutter gefunden hatte, um den Hals band. Statt mit dem Schwert oder einer modernen Laserwaffe einen Kampf für sich zu entscheiden, konnte man natürlich generell versuchen, einen Zauber anwenden. Aber das bedurfte eines erfahrenen Spielers, denn Zauber kosteten Stärkepunkte und man musste sie auswendig können. Vor einem Spiel durfte man sich beliebig lange mit dem Zauberbuch beschäftigen, aber sobald wir uns auf den Weg gemacht hatten, musste man sich bis zum Ende des Abenteuers auf sein Gedächtnis verlassen. Das war eindeutig Michaels Domäne. Er war unser unbestritten erfolgreichste Magier, weil er von uns allen die meisten aus vier Buchstaben bestehenden Codes behielt und sie immer vorteilhaft anwandte, nicht wie Danny, der sich nur einen einzigen Code merkte, nämlich ZACK, der einen Blitzstrahl aus der rechten Zeigefingerspitze bewirkte, aber eben auch einen der mächtigsten An15

griffszauber darstellte, der den Spieler enorm viele Stärkepunkte kostete. Danny war oft schon tot, bevor das Abenteuer sich voll entwickelt hatte. Dann musste er die AbenteuerProtokolle führen, was er im übrigen auch immer ohne zu murren getan hat. Ich selber zeichnete mich nicht nur als Erfinder vieler Abenteuer aus, sondern auch durch den Einsatz bestimmter Fertigkeiten. Meine frühen Kenntnisse in Botanik, die ich meinem Opa Meckenheim zu verdanken habe, verschafften mir eine deutliche Überlegenheit gegenüber meinen Mitspielern. So erweiterte ich mein Wissen ständig um z.B. Giftpflanzen wie Giftsumach oder Maiglöckchen, mit deren Hilfe ich mich von aus dem Ruder gelaufenen Orks oder Menschenfressern befreien konnte. Schrieb ich Rollen, wo ich Prinzessin zu sein hatte, die aus den Klauen irgendeines Ungeheuers befreit werden musste, so ließ ich meine Rettung häufig nur durch das Auffinden einer bestimmten Pflanze, einer Blume, wie z.B. das Buschwindröschen, das im Frühjahr 16

am Fuße des Venusberges wuchs, möglich werden. Es würde zu weit führen, alle minutiös ausdifferenzierten Einzelheiten von Shadowrun mit all seinen Charakteren, deren Attributen, zu denen neben körperlichen durchaus gleichberechtigt auch geistige wie Charisma, Intelligenz oder Wissenskraft zählten, hier zu memorieren, obwohl ich kein einziges Detail vergessen habe. Festhalten möchte ich nur, dass ich in diesen Jahren glücklich gewesen bin, auch nicht an Pubertätsproblemen gelitten habe wie andere Mädchen in meiner Klasse, aber auch keine weibliche Figur bekam. Als Shadowrunner verwandelte ich mich in eine tapfere Heldin oder einen unverwundbaren Helden. Ich beklagte mich nicht über meine kleinen, spitzen Brüste, große, schwere hätten mich nur behindert. Büstenhalter, dieses monströse Etwas aus Lycra und Spitze habe ich bis heute nicht nötig, obwohl sich inzwischen mein Busen vergrößert hat. Das liegt daran, dass ich seit zwei Jahren die Pille neh17

me. Aber ich will nicht vorgreifen. Sven stand auf androgyne Körper und fand meine Brüste nie zu klein. Ich habe mich auch in meinem wirklichen Leben, als Shadowrun schon längst der Vergangenheit angehörte, immer wieder in Kämpferrollen gestürzt, ohne zu bedenken, dass die Wirklichkeit selten Heldenrollen für ihre weiblichen Mitglieder bereithält. Wenn du nicht genau weißt, wohin du gehst, geräts du leicht dahin, wo du nie hinwolltest! Von wem habe ich nur diesen Rat, der mir auf einmal um den Kopf schwirrt wie ein lästiger Brummer? Plötzlich sehe ich Kegel vor Augen, sehe, wie er geifernd für seinen Unterrichtsstoff beim Sprechen spuckt, mit den Armen gestikuliert, sich die Brille vom Gesicht haut und höre das Gelächter der Klasse. Es muss einer seiner Lieblingssprüche im Religionsunterricht gewesen sein, dass sogar ich ihn mitgekriegt habe. Aber wie hätte ich ihn ernst nehmen sollen? Kegel war ein geschwätziges Fossil. Als Shadowrunner interessierten 18

mich keine Sinnfragen oder Ziele einer Erwachsenenwelt, die Mädchen wenig Abenteuer verhießen. Jetzt kann ich nicht mehr wegrennen. Nicht vor dem Erwachsenwerden, mit fünfundzwanzig ist man das. Eigentlich begann es in dem Jahr als Danny starb. Ich war fast vierzehn, aber im Herzen noch ein Kind. Lebte in einer Fantasy-Welt. Heute bin ich nicht nur vor dem Gesetz mündig und verantwortlich für alles, was ich getan oder unterlassen habe. Heute bin ich alt, obwohl an Jahren noch jung, voll aufgewacht in einer grauenvollen Realität. Denn mein Leben ist zuende. Alle meine Attribute sind gegen null gesunken. Aber ich will die Jahre zurückgehen, so wahrhaftig, wie Erinnerung es nur zulässt, Spuren folgen, die ich auf meinem Weg bis hierher hinterlassen habe. Damit ich wenigstens heute begreife, wie ich dahin kommen konnte, wo ich jetzt bin. Denn eines ist gewiss, da wollte ich nie hin. Der lächerliche Herr Kegel hat Recht behalten. 19

Kapitel 1

Opa Meckenheim war mein Opa mütterlicherseits. Er hieß so, seit ich denken kann. Weil er in Meckenheim wohnte. Nicht gerade neben unserer Haustüre, die sich in Poppelsdorf befand. Er sei ein Eigenbrötler, sagte mein Vater. Als Kind dachte ich, weil er sein eigenes Brot buk. Denn, wenn die Familie ihn besuchen fuhr, gab es immer dicke Scheiben Graubrot, Leberwurst und saure Gurken, beides aus eigener Herstellung. Der Schweinestall erregte nie mein besonderes Interesse, wohl aber seine verschiedenen Gärten: Gemüsegarten, Gewürzgarten, sowie drei verschiedene Obstgärten, Kirsch- und Pfirsichgarten im Südosten und Apfelgarten zur anderen Hausseite gen Westen gelegen. Am interessantesten aber fand ich sein Gewächshaus für Kaltorchideen, das er selber gebaut hatte. Es befand sich praktisch in seinem Wohnzimmer. 20

Er hatte das Nordfenster ausgebaut und mit einem gläsernen Vorbau und Glasschiebetüren versehen, die man direkt vom Wohnzimmer aus betreten konnte. In heißen Sommern reichte das Sprühen mit der Flasche nicht mehr aus, um die notwendige Luftfeuchtigkeit zu halten, dann durfte ich, wenn ich zu Besuch war, die ebenfalls von Opa Meckenheim selbst konstruierte Berieselungsanlage einschalten. Ich liebte die lautlos fallende Feuchte, die die Haut federsanft netzte und gleichzeitig kühlte, blieb oft lange drin und beobachtete die Tropfen, wie sie bald innen an den Fensterscheiben und den Glastüren zum Wohnzimmer größer wurden und Wettrennen spielten. Verkehrte Welt, dachte ich. Es regnet drinnen statt draußen, wo nach wie vor unerträgliche Schwüle herrschte. Nachdem ich zählen gelernt hatte, zählte ich über neunzig Töpfe, die auf einem treppenförmig ansteigenden gefliesten Regal dicht an dicht standen, sodass sich ihre Blätter berührten und manchmal blütenschwere Stängel 21

zum Nachbarn nickend beugten, als wollten sie sich freundlich begrüßen. Manchmal schien ein Streit um den besten Platz zu entflammen, so wie ich es von meiner Schwester und mir kannte, wenn wir uns zu nahe kamen. Dann vermischte sich vor meinen weit aufgerissen Augen Gelb mit Rot und verschmolz, wenn ich blinzelte, zu Orange, als würden glühende Funken von einer Blüte zur anderen springen. Ich stellte mir rotglühende Schwerter als Waffen vor, dem menschlichen Auge unsichtbar, deren Gebrauch sich aber in Funkenregen materialisierte. Daher hatten bestimmt auch die gelben Schwertlilien ihren Namen, die am Ufer eines nahegelegenen Weihers lebten. In Opas Orchideentöpfen steckten ähnliche schmale weiße Schildchen mit seltsam klingenden Namen wie im Gewächshaus im Botanischen Garten, mit denen ich die Streithähne anfeuerte oder beschwichtigte, je nachdem, ob es sich um einen meiner Lieblinge oder weniger geliebten Exemplare handelte, auch wenn ich deren Bedeutung zu22

nächst nicht kannte. Als Opa Meckenheim merkte, dass ich die fremden Namen auswendig konnte, übersetzte er mir etliche. Er konnte als einziger in meiner Familie meine Wissbegier befriedigen, denn er hatte als Junge ein paar Jahre ein altsprachliches Gymnasium besucht und Griechisch und Latein gehabt, ehe sein Gymnasium den Bomben zum Opfer fiel und er mit seinen Eltern ebenfalls ausgebombt wurde, aber zu seinem ältesten Bruder aufs Land flüchten konnte. So kam es, dass er von Mülheim an der Ruhr an den Rhein verschlagen wurde, wo er in der Landwirtschaft seines Bruders - Klitsche, wie mein Vater zu sagen pflegte - alle Arbeiten, die anfielen, bis zu dessen Tod und darüber hinaus übernahm und nie mehr dazu kam, sein Abitur nachzumachen oder etwas Anständiges zu lernen, wie mein Vater es dünkelhaft nannte. Dabei habe ich meinen Opa Meckenheim nie die Bildzeitung lesen gesehen, meinen Vater aber täglich. Er kam mit seinem Schwiegervater nicht besonders gut klar, sprach von Bauernschädel 23

oder Dickschädel, nannte ihn verächtlich rote Socke, wenn wir zu uns nach Hause fuhren, weil er sich wieder mit ihm über Politik gestritten hatte. Ich spürte schon als Kind den gehässigen Unterton, der immer mitschwang, wenn mein Vater über Opa Meckenheim herzog, als ob gerade er die Weisheit mit Löffeln gefressen hätte. Dabei hatte er es mit seinem Realschulabschluss gerade mal zu einem Bürojob ohne Aufstiegschancen geschafft, wie meine Mutter bemerkte, wenn mein Vater es nicht hören konnte. Wenn ich mich während der Autofahrt über gefleckte oder weiße Odontoglossum ausließ, und wortreich erklärte, was die griechischen Worte bedeuteten, Zahn und Zunge nämlich, wegen der zungenförmigen, am Rande gezähnten Blütenblätter, wurde mein Vater fuchsteufelswild und schrie: „Wen interessiert das denn?“ Damit war das Thema Opa Meckenheim wieder für oft lange Monate tabu und Besuche fanden vorläufig nicht statt. 24

Zuerst war ich noch zu klein, die Beine zu kurz, um den langen Weg zu Opa Meckenheim alleine zu bewältigen. Aber das änderte sich, als ein plötzlicher Wachstumsschub mich in die Höhe schießen ließ wie ein Spargel. Da muss ich etwa elf gewesen sein. Ich wurde eine ausdauernde Läuferin und schaffte an Ferientagen den Hin- und Rückweg zu Opa Meckenheim an einem Tag, ohne dass meine Eltern Wind davon bekamen. Vielleicht haben mich diese Läufe zum Shadowrunner prädestiniert, der ich ungefähr ein Jahr später wurde. Als sich das schreckliche Unglück mit Danny ereignete, und ich begriff, dass er tot war, - es war später Nachmittag an einem besonders warmen, aber regnerischen Vorfrühlingstag, wie es sie nur im Rheinland gibt, wie Mutter immer sagte, weil nirgends sonst, aber auf der Poppelsdorfer Allee schon die Kastanien rot und weiß blühten, und wir wegen des Regens drinnen weiter gespielt hatten - , ließ ich Michael, Sven und die anderen einfach stehen und rannte los. Den ganzen Weg, zwanzig Ki25

lometer oder mehr, querfeldein, über den Venusberg, durch Röttgen und den geliebten Kottenforst, Ort vieler unserer Spiele, wo ich jeden Weg wie meine Westentasche kannte, bis ich am Hof meines Opas ankam und mich gegen den Zaun lehnen musste, um nicht umzufallen. Ich hatte mehr als drei Stunden gebraucht. Erst als es ganz dunkel geworden war, traute ich mich ins Haus. „Johanne, meine Kleine, wo kommst du denn her?“ Aber ich konnte nicht sprechen. „Du bist ja ganz aus der Puste, setz dich, hierhin“, er packte mich am Arm und lotste mich in seinen Ohrensessel. „Ich hole dir einen Apfelsaft von den James Grieve vom vorigen Jahr, den magst du doch besonders gerne.“ Ich nickte nur. Später aßen wir noch Leberwurstbrote mit Gurkenscheiben. Dann rief er meine Eltern an. Ich hatte bis dahin kein Wort gesprochen. 26

Er drang nicht in mich. Erkannte auch ohne lange Erklärungen, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste. Die Welt geht noch einmal an eurem Geschwätz zugrunde, pflegte er zu sagen, und ließ meinen Vater oder irgendwelche entfernten Verwandten, die ihn überraschend besuchten, im Grunde aber nur frisches, ungespritztes Gemüse oder ein Glas Schweinskopfsülze abstauben wollten, abrupt stehen und machte sich auf in den Schweinestall. Der war sozusagen besuchsfreie Zone, denn Schweine stinken bekanntlich. Was ich im Übrigen niemals feststellen konnte. Ich hegte sogar den Verdacht, dass Opa Meckenheim, wenn Besuch im Verzug war, die Gülle extra nicht aufs Land schaffte, sondern auf dem Beton im Eingangsbereich des Stalles ausgoss, um dem Gerücht von den stinkenden Schweinen neue Nahrung zu geben. Ich mochte meinen Großvater. Nicht so wie meine Mutter. Obwohl sie sich ähnlich sahen: die hohe Stirn, das kräftige Kinn mit dem lustigen Grübchen drin und die gleichen grau27

blauen Augen. Aber allein die üppigen, in Form eines Dreiecks gewachsenen buschigen, fast weißen Augenbrauen meines Opas, die er nach oben und unten bewegen konnte, wenn er mich zum Lachen bringen wollte, gaben seinem Gesicht etwas - wie soll ich sagen Trolliges. Er selber sprach von sich als Wurzelsepp. Was er genau damit meinte, blieb sein Geheimnis. Mutter dagegen, mit ihrer porzellanartigen viel helleren Haut und den rosa angehauchten Wangen sah aus wie eine Madonna, die ich einmal auf einem Kalenderphoto von Edeka gesehen hatte. Auch war sie ihrem Wesen nach viel sanfter. Vielleicht bildeten Opa Meckenheim und ich in meiner Familie auch nur eine Notgemeinschaft schwarzer Schafe in einer weißen Herde. Als meine Eltern in dieser Unglücksnacht Opas Haus betraten, hörte ich, wie mein Vater mit gepresster Stimme Opa Meckenheim mitteilte, dass er, als er von der Arbeit nach Hause gekommen wäre, die Polizei und einen to28

ten Jungen mit einer Art Schussverletzung bei sich angetroffen hätte, sowie drei weitere Jungen aus meiner Klasse, wie Mutter ihm bedeutet hätte. Jetzt klang seine Stimme höher als gewöhnlich. Ich hörte eine Art Empörung heraus. Ob wegen des Toten in seinem Wohnzimmer oder überhaupt wegen der fremden Jungen konnte ich nicht entscheiden. Natürlich kannte er weder Danny, noch Sven, Michael, Lars oder Christian, der harte Kern meiner Truppe, denn, wenn wir wegen des Wetters drinnen spielen mussten, hörten wir immer rechtzeitig auf, bevor mein Vater nach Hause kam und nur wieder rumgemeckert hätte. Er interessierte sich auch nicht für meine Freunde, kannte nicht einmal Danny, der nur zwei Häuser weiter auf unserer Straße wohnte, mit dem ich seit der ersten Klasse den gleichen Schulweg teilte. Sven und Michael wohnten am Bonner Talweg und waren auch seit der Grundschule befreundet. Die Zwillinge Lars und Christian waren von Norddeutschland in die Bundeshauptstadt gezo29

gen, und zu uns in die sechste Klasse Gymnasium gekommen. Sie waren erfahrene Shadowrunner und ich nahm sie sofort in unsere Clique auf. Mutter blieb in stummer Verzweifelung wie eine Statue vor meinem Sessel stehen, als alle drei ins Wohnzimmer kamen, weißer als sonst im Gesicht, als wollte sie mich vor dem Zorn meines Vaters beschützen, der mit Opa mitten im Wohnzimmer stehen blieb und weiter auf ihn einredete, als hätte der Schuld an dem unfassbaren Unglück. Die Polizei hätte die Jungen gleich vernommen, aber sie hätten alle unisono - er sagte wirklich, unisono - behauptet, nicht zu verstehen, wie das hatte passieren können. Also müsste wohl seine Tochter mehr wissen, denn sonst wäre sie wohl kaum weggelaufen. Bei diesen Worten drehte er sich zum erstenmal in meine Richtung und forderte mich knapp zum Gehen auf. Auf dem Weg ins Auto nahm meine Mutter mich am Arm und flüsterte mir zu: „Sie haben Danny schon weggebracht und die anderen 30

nach Hause geschickt. Morgen gehen wir beide zur Polizei und du erzählst ihnen, was passiert ist. Dann sehen wir weiter.“ An das polizeiliche Verhör kann ich mich im Einzelnen nicht mehr erinnern, wusste ich doch selber nicht, wieso Danny tot sein konnte. Das alles kam erst später raus, als die Waffe gefunden wurde, die Michael geistesgegenwärtig hinter ein Sofapolster gesteckt hatte. Die K 3/7 hatte eine Art Bolzen enthalten, der sich in einer Schiene beim Abdrücken gelöst und Danny ins Herz getroffen hatte. Sven hat mir nur gesagt, dass er im letzten Drittel der Schiene eine Sperre befestigt hätte, um den Bolzen rechtzeitig zu stoppen, aber vorher sollte noch das Geräusch zu hören sein, als hätte wirklich ein Projektil die Waffe verlassen. Ich glaubte ihm. Er hatte schon viele solcher Waffen gebastelt, die ich entworfen hatte. Sie waren alle ungefährlich gewesen. Das habe ich auch bei der Polizei zig Male ausgesagt, bis man uns endlich in Frieden ließ. 31

Dass wir Danny möglicherweise gehasst haben könnten - ich meine, er war uns nur lästig -, hat weder Sven noch Michael zugegeben, ich selbstredend auch nicht. So kamen wir mit ein paar Stunden bei dem Psychomenschen davon, der von Kindern überhaupt keine, sprich null Ahnung hatte, schlimmer als ein Alien. Er begriff nicht einmal, was es hieß, Shadowrunner zu sein. Wir nahmen unsere Spiele wieder auf, als wäre nichts geschehen, aber nie mehr bei mir zu Hause. Dann wurde Opa Meckenheim plötzlich sehr krank. Ich bin oft mit dem Fahrrad zu ihm ins Krankenhaus gefahren. Jedes Mal fragte er mich in breitestem Rheinisch: „Liiiebschen, wie geht es dir?“ Und ich: „Opa, wie geht es dir?“ „Mach dir um mich keine Sorgen, ich hatte eine gute Zeit. Jetzt will mich der große Zampano abberufen. Das ist in Ordnung. Aber erzähl, was tust du so!“ 32

Ich erzählte ihm, dass ich die Beste in Latein wäre, dass es Griechisch leider nur am humanistischen Gymnasium, dem früheren Jungengymnasium, gäbe, dass ich aber fragen wollte, ob der Griechischlehrer mich vielleicht privat unterrichten könnte, worauf mein Großvater sagte, er würde die Stunden gerne bezahlen, denn bei mir lohne sich eine anständige humanistische Bildung. Dazu ist es leider nicht mehr gekommen. Denn eines Tages traf ich ihn nicht mehr in seinem Krankenzimmer an. Der Bettnachbar teilte mir mit, dass er in der Nacht verstorben sei. Als feststand, wann die Beerdigung stattfinden würde, bin ich zu seinem Hof geradelt, wie ich es seit Wochen getan hatte, um den Betrieb in Gang zu halten, habe den Haustürschlüssel aus dem Blumenkübel genommen, bin ins Kaltgewächshaus gegangen und habe alle weißen Odontoglossum abgeschnitten, die gerade überschwänglich blühten, um sie 33