Feuilleton Aufflammende Lust inmitten von Bibliotheksregalen ...

Feuilleton. W as die Philosophin und stellver- tretende Chefredakteurin des. Magazins „Philosophie“ Svenja. Flaßpöhler in Buchform vorlegt, ist Etiket-.
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Feuilleton

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Kritik in Kürze

F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G

Neue Sachbücher

Genietour Die Pilgerfahrt zu den Stätten großer Dichter und Denker zählt zu den Ritualen der Kulturreligion des neunzehnten Jahrhunderts. Bis heute findet sie ihre äußerst erfolgreiche kommerzielle Fortsetzung im Massentourismus. Auf eine kuriose Wandertour ließ sich der in Cambridge lehrende Literatur- und Kulturhistoriker Simon Goldhill ein, der sich hauptsächlich mit den Auswirkungen der griechischen Tragödie auf die Moderne befasst hat: Von seinem Verleger überredet, machte er sich mit seiner Frau und Freunden auf, verschiedene Orte viktorianischer Genieverehrung zu besuchen. Auf dem Programm standen Touristenmagneten wie Walter Scotts protziges Anwesen Abbotsford hoch oben in Schottland, die ersten und letzten Wirkungsstätten von William Wordsworth, in deren Kontrast sich bereits der zu Lebzeiten eintretende Ruhm des Dichters spiegelt, das Heim der Brontë-Schwestern in Yorkshire und schließlich auch das Shakespeare-Haus in Stratford – auch dies eine Erfindung der Viktorianer – sowie das Freud-Museum in London. Obwohl Freud kein Engländer ist, zollt ihm Goldhill als letztem Viktorianer Tribut, der das zwanzigste Jahrhundert nachhaltig geprägt hat. Der Reisebericht liest sich zuweilen unterhaltsam, fällt allerdings überwiegend erwartbar aus. Der Gelehrte folgt beharrlich seiner Marschroute, doch vor allem, um die Selbstinszenierungen und Trivialisierungen der kanonischen Autoren mit spöttischen Bonmots zu bedenken. Die wahren Abenteuer, daran ist für ihn nicht zu zweifeln, spielen sich letztlich doch im Kopf ab. (Simon Goldhill: „Freud’s Couch, Scott’s Buttocks, Brontë’s Grave“. The University of Chicago Press, Chicago und London 2011. 131 S., geb., 17,99 €.) asmr

Spätwerk Gérard Genette ist zwar ein Heiliger der von Erzählformen, rhetorischen Figuren, Para- und Subtexten handelnden Literaturwissenschaftler. Aber das lässt ihn gleich ein wenig schulmäßiger aussehen, als er eigentlich ist. Denn die hübsch sich rundende Theorie war eigentlich nie Sache des mittlerweile über achtzigjährigen Genette. Eher schon die spielerische Theorieproliferation, temperiert durch stilistische Eleganz und Zwischentöne, samt herrlich wuchernden Taxonomien, von denen auch der Autor offenkundig nicht immer wusste, wohin sie eigentlich führen sollten. So konnte man bei diesem großen Leser strukturalistischer Prägung auch die Erfahrung machen: Es müssen die Distinktionen gar nicht glatt aufgehen, um trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb mehr über die ins Auge gefassten Texte zu lernen. So ganz überraschend war es deshalb nicht, dass Genette in späten Jahren zu einer noch idiosynkratischeren Form fand. Mit einem alphabetisch angelegten Inventarium von – nun, allem Möglichen: Erinnerungen (an Menschen, Bücher, Musik, Szenen . . . ), Literaturinterpretationen in nuce, Mini-Essays, Maximen, Glossare, gelehrte und ungelehrte Digressionen und immer mitlaufende Wortauskultationen. Nun ist bereits ein dritter Band dieses unabschließbaren Sammelsuriums erschienen, und wie sich die drei Durchgänge von A bis Z zueinander verhalten, das kann der Leser dort unter dem Lemma nachlesen, das bei Genette doch nicht fehlen durfte: „Titel“. Um dann, ganz nach Belieben, das ihm hier eingeräumt ist, seinen Parcours durch die Einträge zu nehmen. Die Funde, versteht sich, wird er dabei selten dort machen, wo er sie vermutet hätte. Auch das gehört zum vergnüglichen Spiel. (Gérard Genette: „Apostille“. Éditions du Seuil. 328 S., br., 21,– €.) hmay

Klassenkampf: Amerika schafft sich ab on Charles Murray zu behaupten, er sei der Thilo Sarrazin AmeriV kas, ist nicht ganz falsch. Murray sorgte

Wenn die Gedanken nur so sprudeln, dann unterscheidet sich ein Bordell produktionstechnisch gar nicht grundsätzlich von einer Studierzelle.

Foto Prisma/McPhoto

Aufflammende Lust inmitten von Bibliotheksregalen Wo sich Laienpsychologie und Körpersäfte, Marxismus und Glücksversprechen mischen: Svenja Flaßpöhler sucht das richtige Maß, den Zwängen der Leistungsgesellschaft zu entkommen. as die Philosophin und stellvertretende Chefredakteurin des Magazins „Philosophie“ Svenja Flaßpöhler in Buchform vorlegt, ist Etikettenschwindel, Sympton einer Krise. Denn von Anfang bis Ende wird hier wieder nur über die schrecklichen Auswirkungen der Arbeit geklagt, unkritisch nachgebetet, dass „wir in einem Burn-out-Zeitalter leben“ und was als Ergebnis herauskommt ist, dass man auch mal etwas sein lassen soll. Mit ein bisschen Freud, Marx und einer Dosis Hirnforschung gibt jemand vor, die Welt zu erklären durch eine HinterWelt, die nur dem Eingeweihten zugänglich ist. Der gravitätische Ton und die Humorlosigkeit, mit denen das vorgetragen wird, verfehlen nicht ihre Wirkung. Da wird begierig aufgesogen, dass Triebverzicht nach Freud darauf zurückzuführen sei, dass unsere männlichen Vorfahren in einer Art homosexuellen Aktes das phallisch aufragende Feuer auspinkelten. Dass solche unfreiwillig komischen Deutungen heute wissenschaftlich, vorsichtig gesagt, als überholt gelten, hindert die Autorin nicht daran, sich vor lauter Begeisterung diese Pinkelgeschichte am liebsten über den Schreibtisch zu hängen. Und so geht es weiter, wenn Bettnässen nichts anderes als das Selbstherstellen mangelnder Mutterwärme sein soll und bei einer Frau „die öffentliche Zurschaustellung ihrer geistigen Fähigkeiten (. . .) bedeutete, dass sie sich selbst als im Besitz des Penis ihres Vaters zur Schau stellte“. Da wird umstandslos eine frauenfeindliche Ikonographie des neunzehnten

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Jahrhunderts in eine Zeitdiagnose des einundzwanzigsten Jahrhunderts umgetitelt. Richtig lustig wird es, wenn angeblich das Über-Ich zum Genießen zwingt und die Arbeitsleidenschaft nur durch Triebverzicht zu erklären sein soll. Wie ist dann das Phänomen Dominique StraussKahn zu erklären, dessen Arbeitsleidenschaft keinesfalls mit Triebverzicht einherging? Doch solche mystisch klingenden psychoanalytischen Deutungen beschwichtigen offenbar die allgemeine Ratlosigkeit. Wie verzweifelt muss diese Ratlosigkeit sein, wenn man sich dazu hinreißen lässt, zu behaupten, „dass die Studierzelle nicht asketischer ist als ein Schlafzimmer. Oder ein Bordell. Denn all diese Orte haben gemeinsam, dass es in ihnen um die Produktion von Lust geht: Hier sollen Körpersäfte fließen, dort Gedanken hervorsprudeln.“ Sehr beliebt ist heute die Laienpsychologie, mit der man scheinbar alles erklären und vor allem Betroffenheit erzeugen kann. Nur leider stimmt dann meistens das meiste nicht. Dass „Aktivismus häufig nichts anderes als ein verzweifelter Kampf gegen die Depression“ ist, klingt gut, kann in Wirklichkeit aber nur jemand behaupten, der noch nie eine schwere Depression erlebt hat. Mit den Begriffen „Arbeitssucht“ und „Sportsucht“ wird dann versucht, möglichst breite Bevölkerungskreise den psychisch Kranken zuzurechnen, und wenn es dramatisch heißt, neun Prozent der Deutschen seien „kaufsüchtig“, dann wäre das Weihnachtsgeschäft ein einziger Horrortrip und man könnte weite Teile Deutschlands zu psychiatrischen Freilandversuchen erklären. In Wirklichkeit würden solche Zahlen natürlich die völlige Auflösung des Suchtbegriffs bedeuten. Auch ansonsten ist psychiatrisch-psychotherapeutisch fast alles falsch, klingt aber trotzdem wegen des Klagehabitus gut: Natürlich ist Burn-out kein Euphemismus für Depression, natürlich gibt es keine „neurotische Selbstoptimierung“, und es ist schlicht Volksverdummung, zu

behaupten, dass „gerade Psychopharmaka enorme Nebenwirkungen“ hätten und „Stimmungsaufheller“ schnell gegen ein bedrückendes Gefühl auf der Brust wirkten. Man mag es einer jungen Philosophin durchgehen lassen: „Schmerz gibt Anlass zum Denken, wer ihn eindämmt, um möglichst schnell wieder arbeiten zu können, beugt sich dem Leistungsdiktat.“ Wer sich auch nur ein wenig mit wirklichen Schmerzen und moderner Schmerztherapie auskennt, kann bei solchen wirklichkeitsfremden Spekulationen aber nur den Kopf schütteln. Was man einer Philosophin allerdings nicht durchgehen lassen darf, ist, dass sie behauptet, dass Kant irre, bloß weil sie Kants transzendentalen philosophischen Pflichtbegriff in der Eile mit dem psychologischen Pflichtgefühl verwechselt. Und dann ist da noch dieses Svenja Flaßpöhler: „Wir Genussarbeiter“. Über Freiheit und Zwang in der Leistungsgesellschaft. Deutsche Verlagsanstalt, München 2011. 208 S., geb. 17,99 €.

nervige inklusive „Wir“, das schon im Titel prangt und das ganze Buch durchzieht. Allerdings mit unfreiwillig komischen Effekten. So raunt es masochistisch: „Es scheint, als sehnten wir uns heute regelrecht nach dem Schmerz“, und andererseits flötet es kapriziös: „Wer kennt sie nicht, die aufflammende Lust inmitten von Bibliotheksregalen?“ „Wir“, das scheint freilich bloß der engere Freundeskreis der Autorin zu sein. Auf diese jedenfalls Besserverdienenden wird dann aber, weil es an neuen Einsichten mangelt, ebenso umstandslos das alte marxistische Konstrukt der entfremdeten Arbeit angewandt, bei der man getrieben wird, auch abends und am Wochenende zu arbeiten,

da man sonst nicht mehr im Sattel sitzt. Leute, bei denen der böse krakenhafte ausbeuterische Arbeitgeber in einer abgefeimten „Konkurrenzgesellschaft“ profitgierig auch noch die Freizeit auffrisst, stehen andererseits aber nicht lustvoll in Bibliotheken, so dass die Klage spektakulär ins Leere läuft. Svenja Flaßpöhlers Kenntnis des Christentums ist erschreckend mager. Da wird dann aus dem – falschen – antikatholischen Klischee der „Werkgerechtigkeit“ und dem – falschen – antiprotestantischen Klischee der Weltverachtung am Schreibtisch eine neue Sekte zusammengezimmert und umstandslos „Christentum“ genannt. Leider ist auch unbekannt, dass die strenge Trennung von geistiger und körperlicher Liebe keineswegs die Auffassung des Christentums war, sondern der Irrtum seiner Häresien seit den Montanisten, den Enkratiten und den Manichäern. Luther und natürlich auch barocke Katholiken waren höchst genussfähig und die Gnade Gottes entlastete Christen vom Zwang, alles selbst machen zu müssen, wie noch der kluge Agnostiker Max Weber sehr gut wusste. Unvermeidlich dann die Klage über den Niedergang sexueller Lust, die es schon bei Freud gibt und die bei der Autorin darin gipfelt, Sexualität schon als „ehemaliges Glücksversprechen“ in Rente zu schicken. Das Buch ist eine Mischung von unverdautem Marxismus, dessen praktisches Scheitern an der Bibliothek der Autorin offensichtlich komplett vorbeigegangen ist, von unfreiwillig komischen Psychoanalyse-Highligths ohne ernsthaften Erkenntnisgewinn, von allgemeiner Zeitgeistklage, wie man sie sonst eher von Konservativen hört, und das alles aus einem Milieu der Besserverdienenden heraus, für die die Probleme der breiten Masse des Volkes offenbar „Peanuts“ sind und die Billigwaren natürlich nur kaufen, weil die Jagd darauf so Spaß macht, und nicht, weil sie sonst nicht über die Runden kommen. Es war immer schon richtig, dass man „zu viel des Guten“ auch bei der ArMANFRED LÜTZ beit tun kann.

1994 für Aufruhr in der denkenden Klasse, als er zusammen mit dem Psychologen Richard J. Herrnstein „The Bell Curve“ veröffentlichte, eine Studie, die unter anderem zu dem Ergebnis kam, dass Intelligenz ethnisch bedingt sei und sowohl genetisch als auch sozioökonomisch geprägt werde. Mit „Coming Apart. The State of White America 1960 – 2010“ (Crown Forum, New York 2012), seiner neuen Analyse des Verfalls der amerikanischen Gesellschaft, hat der Politikwissenschaftler jetzt wieder in ein intellektuelles Wespennest gestochen. Diesmal geht es ihm nicht länger um Differenzen zwischen Ethnien, sondern um „die Nähte der Klassen“, die zu zerreißen drohten. Murray beschreibt eine Unter- und Mittelschicht, deren Lebensstandard beständig sinkt, und eine Oberschicht, der es immer besser geht, nicht zuletzt, weil sie finanziell, bildungsmäßig und klassenbewusst mit ihren Vorteilen zu wuchern versteht. Damit zeichnet er ein Bild Amerikas, das inzwischen keine Überraschungen mehr bietet und kaum noch angezweifelt wird. Nur über die Gründe der langjährigen Entwicklung gehen die Meinungen auseinander. Murray macht dafür ein moralisches Defizit verantwortlich, das er auf den Verlust von Grundtugenden des amerikanischen Bürgerlebens zurückführt: Die weiße Arbeiterklasse habe ihre einst festen Familienbande gelockert, überlasse ihre Kinder alleinerziehenden Müttern, gehe seltener in die Kirche, verweigere sich dem Staatswohl und befinde sich folglich in einer Abwärtsspirale. Auch die wilden sechziger Jahre sollen wieder einmal ihre Spuren hinterlassen haben. Seltsam unberührt davon will Murray jedoch die florierende Oberschicht erscheinen, die ihre Kinder zu Höchstleistungen antreibe, bloß noch untereinander heirate, sich gleichsam aristokratisch abkapsle und so ihren Vorsprung ausbaue und ihn für die nächste Generation sicherstelle. Wie in der „Bell Curve“ sind nun auch in „Coming Apart“ Murrays Statistiken und seine Auswertung derselben unter schweren Beschuss geraten. Ihm wird vorgeworfen, die gewünschten Ergebnisse durch eine selektive Auswahl von Daten und manchmal allzu intuitiver Beobachtungsmethoden zu erzielen. Seine Verteidiger, in der Regel konservativ, haben es nicht leicht, ihn gegen durchaus voraussehbare Angriffe von links in Schutz zu nehmen. Ebenso apart wie notorisch ist der Kampf, den sich Paul Krugman und David Brooks, die beiden Kolumnisten der „New York Times“, liefern. Brooks ist froh darüber, dass Murray die Debatte über die „soziale Spaltung“ abermals in Gang gebracht hat und sich nicht scheut, auf moralische Versäumnisse zu verweisen. Als Gegenmittel empfiehlt er etwas vage einen „bürgerlichen Paternalismus“, der durch den Aufbau von Strukturen das Verantwortungsbewusstsein der Bürger reaktiviere, manchmal sogar mit Hilfe des Staates. „Nein“, schleudert ihm Wirtschaftsnobelpreisträger Krugman entgegen, „es geht vor allem um Geld.“ Der soziale Wandel in der amerikanischen Arbeiterklasse sei zum allergrößten Teil eine Folge der sich weiter verschärfenden Ungleichheit, nicht ihre Ursache. JORDAN MEJIAS

Literatur

Ein Land im Schatten des Parasiten Der aus Simbabwe stammende Tendai Huchu hat mit „Der Friseur von Harare“ einen Roman über Vorurteile und Moral geschrieben, in dem er ein Tabuthema Afrikas aufgreift: die Homosexualität. Ein witziges, kluges Debüt. imbai ist ein Biest. Selbstgerecht, streitlustig, eitel, ein bisschen schlau, ein bisschen dumm. Als allein erziehende Mutter eines kleinen Mädchens ist sie eine Löwin. Ihre Familie hat sie aus Missgunst verstoßen. Sie verzeiht es ihr nicht, dass sie die Alleinerbin ihres früh im englischen Exil verstorbenen Lieblingsbruders wurde. Außerdem ist Vimbai Herrin einer Landpomeranze, die für sie als Dienstmädchen arbeitet. Ihr Geld verdient sie als beste Kraft des Hauses in einem Friseursalon für weiße und schwarze Kundinnen. Denen macht sie die Haare glatt. Die Kundinnen sind ihr ergeben – bis zu dem Tag, an dem Dumi den Laden betritt und sogleich erobert, ein Junge voller Ideen, klug, schön, rücksichtsvoll, begabt, witzig. Ein Konkurrent, der Vimbais Leben auf den Kopf

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stellt, weil er die Kundinnen nun ebenfalls schön macht. Der Debütroman von Tendai Huchu „Der Friseur von Harare“ beginnt wie eine dieser epischen postkolonialen Erzählungen und verwandelt sich plötzlich in einen reißenden Strom. Halt scheint bald nirgends mehr in Sicht. Zwar arrangiert sich Vimbai mit dem schönen Dumi, ja er zieht sogar als Mieter in ihr Haus ein, und sie werden Freunde. Die reiche Familie Dumis hofft, in ihr eine energische Schwiegertochter zu finden. Wäre da nicht diese Geheimnistuerei Dumis. Was verbindet ihn mit dem Ehemann der Ministerin? Vimbai fühlt sich verraten – und verrät Dumi. Und dennoch kommt es zu einem Happyend, einem traurigen zwar, aber wenigstens kommen alle, wenn auch versehrt, davon. Der Leser weiß mitunter kaum, wie ihm geschieht. Die Erzählstimme, gestaltet als innerer Monolog Vimbais, ergreift zunehmend von ihm Besitz. Dabei ist Vimbai keine Heldin, sondern das Gegenteil, nicht nur spöttisch, sondern auch unsympathisch, geschwätzig, verschlagen, missgünstig und arrogant. Tendai Huchu gelingt mit seinem Roman etwas Erstaunliches. Im Friseursalon, dem Mikrokosmos des Gefallenwollens, kommt alles zusammen: die sozialen Milieus, die Macht, die Ohnmacht. Vor den Spiegeln des Salons, im Schatten der

Fußpfleger mit einem Händchen für Stoffe: Tendai Huchu, Jahrgang 1982

Foto Verlag

neidvoll belauerten verzaubernden Hände Dumis erzählt Vimbai vom Kampf um das tägliche Überleben. Ein Parasit hat das Land befallen. Gegen ihn hilft nichts. Als Zaubermittel finden oder erfinden die Leute im Handumdrehen verwickelte verwandtschaftliche Beziehungen, verwandeln die eigenen Körper in Tentakel des Parasiten. Die Grenzen zwischen Wirten und Parasiten verschwimmen. Selbst die Gattin des Diktators scheint eine Kusine oder Tante von Vimbais Familie aus ferner Zeit zu sein. Diese Familienbande sichern dem Parasiten das Überleben. Tendai Huchu nutzt das Bild des Parasiten als erzählerischen Trick. Erst tobt er als Vimbais Stimme im Kopf des Autors. Der reicht sie an den Leser weiter. Vimbai ist gewissermaßen eine simbabwische Schwester Gullivers. Ihr Erfinder wurde 1982 in Simbabwe geboren. Das Bergbaustudium, das er einst in Harare begann, brach Tendai Huchu schon im Laufe des ersten Semesters ab. Danach tingelte er von Job zu Job und kehrte schließlich an die Universität zurück. Mittlerweile lebt er in Schottland, wo er als Fußpfleger arbeitet. Als er im vergangenen Herbst in Berlin auf Einladung von Dante Connection, einem auf afrikanische und italienische Literatur spezialisierten Buchladen, aus seinem Roman vorlas, erzählte er im Anschluss von

seiner literarischen Arbeit: Mit dem Schreiben des Romans habe er am Weihnachtstag 2009 begonnen. Nur zwei Wochen später stand die erste Fassung. Offenbar fand er Gefallen an der Schriftstellerei: Bereits ein Jahr später gab es seinen zweiten Roman als E-Book im Netz, der einen ganz anderen Stoff verhandelt, die Geschichte eines Terroristen, den die Liebe vom selig machenden Pfad abbringt. Huchu ist ein manischer Leser und Schreiber, der im nasskalten Edinburgh davon träumt, eines Tages vom Schreiben leben zu können. Nach Schottland sei er gezogen, weil die Männer dort Röcke tragen und die Schotten die Engländer so hassen. Tendai Huchu ist ein schwarzer Urenkel Jonathan Swifts mit vielen Stimmen im Kopf, die keine Ruhe geben und danach drängen, aufgeschrieben zu werden. Was HANS HÜTT für ein Versprechen! Tendai Huchu: „Der Friseur von Harare“. Roman. Aus dem Englischen von Jutta Himmelreich. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2011. 311 S., geb., 19,90 €.