Exilsituation und inszeniertes Leben

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ISBN 978-3-89785-767-7

EXILSITUATION und INSZENIERTES LEBEN Marx · Koopmann (Hrsg.)

Wer in das Exil ging, erlebte fast immer eine Identitätskrise; die Parameter des bisherigen Lebens waren durcheinander geraten. Manche Exulanten antworteten darauf mit einem gesteigerten Selbstbewußtsein, andere mit einem Verlust ihres Ichgefühls. Fast alle gerieten in ein eigentümliches Rollendasein; sie definierten ihre eigene Existenz neu, sahen sich andererseits in Rollen gedrängt, die sie um des Überlebens willen annehmen mußten; sie inszenierten, mit anderen Worten, ihr Leben - vor ihrer neuen Umgebung, aber auch vor sich selbst. Die Beiträger des Bandes untersuchen diverse Rollenspiele der Exulanten, die exilbedingte neue Artikulation in der Literatur, im Theater, in der Musik und im Film. Zur Inszenierung des Lebens gehörten Schriftstellerkongresse wie auch Netzwerke exulierter Komponisten und Schriftsteller, wie sie sich besonders in New York und Los Angeles herausbildeten. Aber einzelne Exulanten inszenierten sich auch vor sich selbst (Else Lasker-Schüler, Mascha Kaléko). Die Vortragsreisen berühmter Exulanten waren ebenso »Inszenierungen« wie die literarischen Hilferufe einzelner Autoren. Ein besonders markantes Beispiel literarischer Inszenierungen des Exils bieten Brechts »Flüchtlingsgespräche«. Inszenierungen waren oft aber auch noch die Retrospektiven in den nachträglich verfaßten Autobiographien. Besonderes Gewicht bekommt der Band durch die Beiträge von »Zeitzeugen« (Clemens Kalischer, Egon Schwarz, Guy Stern), die Exil und die Notwendigkeit von »Inszenierungen« persönlich während ihrer Vertreibung erleben mußten. Frido Mann wurde im Exil geboren; sein Beitrag betont die moralische Autorität der Exulanten und schlägt die Brücke zur Gegenwart.

Leonie Marx · Helmut Koopmann (Hrsg.)

EXILSITUATION und INSZENIERTES LEBEN

Marx/Koopmann (Hrsg.) · Exilsituation und inszeniertes Leben

Leonie Marx, Helmut Koopmann (Hrsg.)

Exilsituation und inszeniertes Leben

mentis MÜNSTER

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung Einbandabbildung: Felix Nussbaum (1904–1944), Der wandernde Jude (Wanderer im Gebirge), 1939 Öl auf Leinwand Felix-Nussbaum-Haus Osnabrück mit der Sammlung der Niedersächsischen Sparkassenstiftung © VG Bild-Kunst, Bonn 2013

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ∞ ISO 9706

© 2013 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Satz: Rhema – Tim Doherty, Münster [ChH] (www.rhema-verlag.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN: 978-3-89785-767-4

INHALTSVERZEICHNIS Einleitung 9

ZEITZEUGEN Clemens Kalischer Exil und Photographie: »Displaced Persons« – Ein Zeitzeugenbericht 15 Egon Schwarz Wie es zu dem Buch Verbannung kam 35

NETZWERKE Hermann Haarmann »Die ausländischen Gäste hatten sehr gute Plätze«. Inszenierungen des Exils: Der I. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller 1934 43 Hanns-Werner Heister Sechseck zwischen Hollywood und New York: Adorno – Brecht – Eisler – Thomas Mann – Schönberg – Weill 57

DIE BÜHNE DER EINZELNEN Hans-Jürgen Schrader Der Prinz von Theben und Madame Vulkan ohne ihren Hofstaat. Rollenpositionen der Exilerfahrung und Exilpoesie der Else Lasker-Schüler und der Mascha Kaléko 101

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Inhaltsverzeichnis

Hans Rudolf Vaget Thomas Mann unterwegs in Amerika: From Sea to Shining Sea 139 Ehrhard Bahr Exil-Dialektik als Performanz: Bertolt Brechts »Flüchtlingsgespräche« (1936–1944) 151 Leonie Marx Über das Sehen bei Nacht. Alexander Moritz Freys Salzburger Berg- und Tal-Spiel auf das Jahr 1937 163

INSZENIERTER RÜCKBLICK Helmut Koopmann Nachträglich inszeniertes Dasein: Lebenserinnerungen zurückgekehrter Exilanten 185 Guy Stern Exilfiguren auf Bühne und Leinwand

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INSZENIERUNG ALS PFLICHT? Frido Mann Zwischen den Rassen – Zwischen den Kulturen. Exil als Herausforderung 223

»All the world’s a stage, And all the men and women merely players; They have their exits and their entrances, And one man in his time plays many parts …« Shakespeare, As you like it II, 7

»Nachdem es stets nötig war Wird es dringend nun: Eh es ganz zu spät, mußt du Kleiner Mann, was tun!« 13.4.1933 Margarete Steffin*

(* Konfutse versteht nichts von Frauen. Berlin: Rowohlt, 1991, S. 69. Hier handelt es sich um die dritte Strophe eines Gedichts, das Margarete Steffin als Reaktion auf Hans Falladas Roman Kleiner Mann, was nun? schrieb, kurz bevor sie ins Exil ging.)

EINLEITUNG Wir alle spielen täglich Theater. Erving Goffmans Feststellung 1 gilt für die Situation der Exulanten während der nationalsozialistischen Epoche 1933–1945 ganz besonders; ihr Dasein war nur zu häufig »inszeniertes Leben«, denn inszeniert war vieles, wenn nicht alles. Es gab eine Vielfalt von Erscheinungsformen. Wer im Exil war, sah sich ständig der Spannung zwischen privater und öffentlicher Sphäre ausgesetzt; vieles hing für die tägliche und längerfristige Existenz davon ab, wie diese Spannung auszuhalten war. Angesichts extremer Erfahrungen, existentieller Gefährdungen sowie hoher emotionaler Belastungen erforderte das Überleben in physischer, seelischer oder sozialer Hinsicht unterschiedliche Formen und Grade von Inszenierung im Exilalltag – und oft auch eine solche der Exulanten sich selbst gegenüber. Das Thema »Exilsituation und inszeniertes Leben« ist bislang so gut wie nicht behandelt worden. Zu Beginn der Exilforschung ging es vorrangig um anderes, vor allem um Bestandssicherungen: Sammlungen und Bibliographien entstanden; einige Biographien zu prominenten Exilautoren wurden geschrieben, Fragen zur Typologie der Exilliteratur wurden gestellt, die Rolle einzelner Exilländer wurde befragt, literarische Strategien des Schreibens im Exil und die Orientierung an klassischen Mustern der Exilliteratur (etwa in der Antike) kamen hier und da zur Sprache; es wurde auch erforscht, welche literarischen Gattungen im Exil genutzt wurden, ebenfalls, wieweit im Exil literarische Arbeiten aus der Zeit davor weitergeführt wurden und wie sich politische Ereignisse in Deutschland nach 1933, in Österreich nach 1938 und in Frankreich nach 1940 in der Exilliteratur spiegelten; untersucht wurde, wie die Länder, die Exulanten aufgenommen hatten, im literarischen Rückspiegel erschienen und wieweit das Exil die Sprache und das Schreiben der Exulanten beeinflußt hatte. Eine Reihe von Arbeiten der letzten Jahre galt der Literarisierung des Exils bei Brecht, Werfel, Thomas und Heinrich Mann. Zudem wurde immer noch (und wird immer wieder) die Frage der gelungenen oder mißlungenen Akkulturation diskutiert. Allmählich rückte auch die Behandlung des Exils in anderen Medien wie Musik, Film, Fotografie in den Vordergrund, kamen kulturelle Phänomene wie die Fähigkeit (oder auch Unfähigkeit) des Erinnerns hinzu. Aber es gibt keine größere Untersuchung zu Fragen des Selbstverständnis1

Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München u. Zürich [1959] 2003.

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Einleitung

ses der Emigranten und zur Kommunikation dieses Selbstverständnisses, auch nicht zur Umsetzung solcher Kommunikation in theatralische Formen. Wie stilisieren sich die in der Fremde meist bedeutungslos gewordenen Exulanten einerseits sich selbst und andererseits ihrer Umwelt gegenüber? Wie setzen sie sich in Szene? Wie werden Ereignisse des Exilalltags vermittelt? Daß es in der Regel ohne Stilisierungen und Inszenierungen nicht abging, bezeugen viele Emigranten selbst – in Briefen, in ihren Autobiographien und Tagebüchern. Ein wenig Vorarbeit zur Beantwortung solcher Fragen ist bereits vor längerer Zeit von Werner Vordtriede und Guy Stern geleistet worden; deren Studien sollen hier in vertiefter und erweiterter Form ergänzt werden durch Untersuchungen, die sich den unterschiedlichsten Formen der »Inszenierung« des Daseins während des Exils und in der Zeit danach widmen. »Inszeniertes Leben« bezieht sich also einerseits auf das inszenierte Ereignis, das für ein Publikum vorbereitet wurde und sich vor ihm abspielt, andererseits auf jede Art sozialen Verhaltens, etwa die alltägliche zwischenmenschliche Interaktion mit ihrem breiten Spektrum von Rollenspiel, Inszenierung und Selbstinszenierung, auf die Erving Goffman hingewiesen hat. Gegenstand der Untersuchung sind sowohl soziale und historische Prozesse, die sich im Alltagsleben von Emigration, Exil und Remigration abspielen, als auch solche, die sich in Texten, bildender Kunst und Musik artikulieren oder in Theater, Film und Vortrag zur Aufführung kommen. Dabei sollen besonders literarische Texte daraufhin befragt werden, mit welchen sprachlichen und künstlerischen Mitteln ein Thema in Szene gesetzt wird. Dieses (Sich-)In-Szene-Setzen kann sich innerhalb der eigenen Gruppe manifestieren, kann aber auch für ein zeitgenössisches Publikum in der Fremde gedacht sein, ebenso für die Nachwelt. Im Gegensatz zur Inszenierung auf der Bühne und im Film ist »Inszenierung« auf gesellschaftlicher Ebene zwar ebenfalls bedeutsam, wird jedoch als Phänomen nicht unbedingt positiv gewertet – vorausgesetzt, es wird überhaupt als solches erkannt. Gerade in der oft prekären Lage der Exulanten und angesichts der Bedingungen, unter denen das Verständnis für ihre Situation vermittelt werden soll, kann viel von einer wohlvorbereiteten Darbietung abhängen. Derartige Inszenierungen beinhalten immer ein Risiko, denn sie können als Inszenierungen um ihrer selbst willen, als unglaubwürdiges Theater mißverstanden werden. æ æ æ

Dieser Band erhält besonderes Gewicht durch die Darstellungen von Zeitzeugen: ins Exil gehen mußten Clemens Kalischer, Egon Schwarz, Guy Stern; Frido Mann wurde im Exil geboren. Clemens Kalischer hat von seinen Erlebnissen im Exil erzählt; seine bewegende Darstellung ist hier in der Form festgehalten, in der er sie mündlich gegeben hat. Aber bei ihm sprechen auch der Blick, das Foto, über seine Erfahrungen auf dem Weg aus einer relativen Freiheit des französischen Exils durch eine Reihe von Arbeitslagern ins amerikanische Exil; das läßt ahnen, welches Maß

Einleitung

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an Intuition und Improvisation der Exilalltag erforderte. Egon Schwarz berichtet über Verbannung, sein frühes Buch über Exilschicksale; es gab der Exilforschung einen wesentlichen Anstoß. Guy Stern informiert über Exilerfahrungen, wie er sie in Theater und Film von Exilländern gespiegelt sah. Die übrigen Analysen des Bandes widmen sich verschiedenen Bereichen: Netzwerken exulierter Autoren, einzelnen Exulanten und der Retrospektive auf das Leben im Exil. Hermann Haarmann behandelt Schriftstellerkongresse als Foren der Selbstvergewisserung. Schriftstellerkongresse bieten eine Plattform zum wechselseitigen Austausch untereinander und zur Herstellung einer (Gegen-)Öffentlichkeit in den Niederlassungsländern. Es ist die Kommunikation im Kreis der Exulanten, und es ist die Kommunikation in das Land, das sie aufgenommen hat. Das bedarf des gesprochenen Wortes, und eben hier setzen mehr oder weniger deutliche Versuche einer Selbstinszenierung an. Hanns-Werner Heisters Untersuchung behandelt das spannungsvolle Beziehungsgeflecht von einigen exulierten Komponisten und Schriftstellern in New York und Los Angeles, die, neben direkten und persönlichen Kontakten, untereinander besonders intensiv zusammenarbeiteten. Dabei geht es um Selbstdarstellungen wie um Fremdbilder. Hinzu kommen unmittelbar-lokale Netze in diesen Zentren des künstlerischen Exils; darüber hinaus räumlich entferntere über Korrespondenzen, Telefonate. Daraus resultieren zugleich vervielfachte Möglichkeiten der wechselseitigen Spiegelung. Mehrere Beiträge befassen sich mit der »Bühne« einzelner Autorinnen und Autoren. Hans-Jürgen Schrader stellt die Frage nach der Lebens- und Künstlerinszenierung zweier Autorinnen, Else Lasker-Schüler und Mascha Kaléko, die vor ihrer Vertreibung durch die Nazis Königinnen des literarischen Berlin und der im »Romanischen Café« versammelten Künstler-Bohème waren. Für beide werden die im Exil gefundenen Rollenpositionen mit jenen verglichen, die sie vor der Flucht innehatten. Hans Rudolf Vaget konzentriert sich auf die Vortragsreisen Thomas Manns; wenn im Hinblick auf Thomas Manns Exiljahre von »inszeniertem Leben« die Rede ist, so ist nicht zuletzt an seine Rolle als politischer Redner zu denken, zumal an seine fünf großen Vortragsreisen quer durch die Vereinigten Staaten mit drei Abstechern nach Kanada. Er unternahm diese Reisen letztlich, um das zwar gutwillige, aber, wie er meinte, ahnungslose Volk der Amerikaner für den Kampf gegen Hitler-Deutschland zu motivieren. Ehrhard Bahr zeigt, wie Brecht eine spezifische Performanz der Dialektik und damit eine dem Exil angemessene Darstellungsform für die Flüchtlingsgespräche nutzt. Performanz ist hier nicht als Dramatisierung zu verstehen; vielmehr wird dieser Text als typisch für die ExilDialektik gedeutet; aus ihr ergeben sich Einsichten in die Denkoperationen der Dialektik im Vollzug einer Reihe von Gesprächen. Leonie Marx analysiert Alexander Moritz Freys 1945 erschienenen Roman Hölle und Himmel, dessen Strategie in der Inszenierungskunst des Autors besteht. Ausgehend von der ersten Zeile des Romans mit ihrem Hilferuf wird gezeigt, daß die folgende Romanhandlung um

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Einleitung

einen deutschen Exulanten im Salzburger Exil einer Inszenierung dieses Hilferufs entspricht. Indem die verschiedenen Ebenen in einer historischen und kulturellen Zusammenschau kombiniert werden, ergeben sie ein kleines Welttheater zur Einsicht in gefährdete Wahrheit. Im inszenierten Rückblick der Autobiographien von Exulanten untersucht Helmut Koopmann deren späte Reinszenierungen des eigenen Lebens. Wem der Weg in die neue Gegenwart eines Exillandes verschlossen blieb, der flüchtete sich nicht selten in eine vergangene bessere Welt – auch davon berichten die nachträglichen Selbstinszenierungen. Darin waren sie geradezu Heimat-Rekonstruktionen. Zur virtuellen »Heimat« konnten selbst ganze Jahrhunderte werden – etwa das achtzehnte. Der Versuch, sich mit sich selbst als wieder zusammengehörig zu empfinden, gelang selten im Exil selbst, wohl aber häufig in der nachträglichen Inszenierung des eigenen Daseins im Exil. Guy Stern zeigt, wie die internationale Rezeption und Inszenierung von Exilgestalten und Exilschicksalen, darunter vor allem die ethischen Wertvorstellungen, die sie repräsentieren, in Theater und Film behandelt werden. Abschließend richtet Frido Mann aus der Sicht des im Exil Geborenen den Blick auf Autoren, deren kulturelle Position in der Zeit vor dem Exil sie für die Rolle einer moralischen Autorität geradezu prädestinierte: etwa Stefan Zweig, Thomas und Heinrich Mann. Er schlägt den Bogen in die Gegenwart zum Exildasein des Dalai Lama. Die Beiträge dieses Bandes wollen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, wie komplex sich exilbedingte Inszenierungen gestalteten; sie wollen anhand exemplarischer Szenarien das Verständnis für die Vielseitigkeit der Inszenierungssituationen unter den Bedingungen des Exils wie auch in deren nachträglichen Spiegelungen vertiefen und zur Diskussion über fortbestehende Exilszenarien der Gegenwart anregen. An dieser Stelle sei der Fritz Thyssen Stiftung für die Unterstützung des Symposions zum Thema »Exilsituation und inszeniertes Leben« gedankt, das an der University of Kansas im Oktober 2010 stattfand, sowie für die Förderung des vorliegenden Bandes. Leonie Marx Helmut Koopmann

ZEITZEUGEN