Ethische Uebung

Die ethische Übung : Ethik und Sprachkritik bei Wittgenstein und Sokrates / Agnese Grieco. – Berlin : Lukas Verl., 1996. Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1995.
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Die ethische Übung

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Agnese Grieco

DIE ETHISCHE ÜBUNG Ethik und Sprachkritik bei Wittgenstein und Sokrates

Lukas Verlag 3

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Grieco, Agnese: Die ethische Übung : Ethik und Sprachkritik bei Wittgenstein und Sokrates / Agnese Grieco. – Berlin : Lukas Verl., 1996 Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1995 ISBN 3–931836–02–9

© by Lukas Verlag Erstausgabe, 1. Auflage Alle Rechte vorbehalten Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte Kollwitzstr. 57 D–10405 Berlin Lektorat: Christiane Kühn, Berlin Umschlag und Satz: Verlag Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg gedruckt auf umweltfreundlichem Papier Printed in Germany ISBN 3–931836–02–9

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Inhalt Einleitung

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Sokrates und der ethische Intellektualismus Es werden die sokratischen Dialoge analysiert und sowohl die These »Tugend gleich Erkenntnis« als auch die Idee der Lehrbarkeit der Tugend kritisch bearbeitet.

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Ethik als Paradox Hier wird der Vergleich zwischen Sokrates und Wittgenstein anhand textueller Belege thematisiert. Sokrates kommt in den Texten Wittgenstein als ein Sprachkritiker vor. Insbesondere werden zwei ihnen gemeinsame Züge – auch durch die Sokrates-Interpretation von Schlegel und die letzten Bemerkungen von Weininger – analysiert: a) die weise Bescheidenheit beim Philosophieren b) das Selbstdenken.

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Ethik und Methode 88 Wie kann man die Sprachkritik als ethische und methodische Tätigkeit auffassen? Nach Wittgenstein ist eine gute Philosophie eine ethische Geste, und »der Mensch kann alles Schlechte in sich als Verblendung ansehen« (Vermischte Bemerkungen, 1948). Wittgenstein wie auch Sokrates praktizieren eine Methode, die alsTherapie des Denkens gelten soll. In diesem Kapitel wird dieser Begriff der therapeutischen Methode analysiert. Ethik und Wahrheit Ethik hat nichts mit der Tatsachenwelt zu tun, sondern mit der Welt als Ganzem (sub specie aeternitatis), mit dem Sinn der Welt. In diesem Kapitel wird hauptsächlich ein Vergleich zwischen der Konzeption der Wahrheit bei Platon (Politeia) und derjenigen Wittgensteins gezogen. Auch die Verbindung zwischen Ethik und Wahrheit wird thematisiert.

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Nachwort

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Abkürzungen/Zitierweise Literaturverzeichnis

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Meinem Vater gewidmet.

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Den Freunden, die mir durch Kritiken, Diskussionen, Auseinandersetzungen und Heiterkeit geholfen haben, möchte ich hier für alles danken. Ohne die Betreuung und das Vertrauen von Ursula Wolf hätte ich vielleicht das Ergebnis meiner Forschung nicht vorlegen können. Meiner Mutter, Vittorio Lingiardi, Gunter Gebauer, Giulio Giorella, Bona Ghisalberti, Aldo G. Gargani, Markus Otto, Marco Panza, Caroline Neubaur, Michèle Pépin bin ich aus unterschiedlichen Gründen besonders dankbar. Christiane Kühn und Frank Böttcher haben meinen deutschen Text sorgfältig korrigiert. Mailand und Berlin im März 1997

Agnese Grieco

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Einleitung

Die größte Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen. (Ludwig Wittgenstein) Und der Denker ohne Paradox ist wie der Liebende ohne Leidenschaft; ein mittelmäßiger Patron. (Søren Kierkegaard)

Diese Arbeit hat sich in Form einer Konfrontation zweier Denker – Wittgenstein und Sokrates – entwickelt. Mein Ziel war es anfangs, die ethische Motivation bei Wittgenstein zu analysieren; während ich diese Arbeit niederschrieb, bin ich jedoch zu der Überzeugung gekommen, daß eben eine solche Konfrontation helfen könnte, den Ursprung dieser besonderen und unzeitgemäßen ethischphilosophischen Einstellung zu klären und sie gleichzeitig zu ergänzen. In der Philosophie gäbe es keinen Fortschritt, meint Ludwig Wittgenstein. Genauer gesehen sei der Begriff »Fortschritt« sogar ein unphilosophischer Begriff. Man hört immer wieder die Bemerkung, daß die Philosophie eigentlich keinen Fortschritt mache, daß die gleichen philosophischen Probleme, die schon die Griechen beschäftigen, uns noch beschäftigen. Die das aber sagen, verstehen nicht den Grund, warum es so sein muß. Der ist aber, daß unsere Sprache sich gleich geblieben ist und uns immer wieder zu denselben Fragen verführt (VB),

schreibt Wittgenstein im Jahre 1931. Mein Ausgangspunkt war die Annahme, daß die philosophische Arbeit bei Wittgenstein und Wittgenstein zufolge im Grunde eine ethische Arbeit sein sollte. Das heißt, kurz formuliert, daß die Philosophie selbst – und infolgedessen die Sprachkritik – Ethik ist. Denken wir an Wittgensteins kurzen Vortrag über Ethik, beziehungsweise an das darin eindeutig geäußerte philosophische Verbot, über Ethik philosophisch zu reden und zu schreiben, so ist das Paradoxe dieser Bestimmung der Philosophie sofort offensichtlich. Die Philosophie soll eine ethische Arbeit, eine ethische Bildung und Selbstbildung sein, aber man darf nicht eine philosophische Ethik begründen. Der Sinn des Tractatus »ist ein Ethischer«, schreibt Wittgenstein seinem Freund und Verleger Ludwig von Ficker. Aber über

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Einleitung

diesen ethischen Sinn kann man nicht schreiben: »Es wird nämlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von Innen her begrenzt; und ich bin überzeugt, daß es, streng, NUR so zu begrenzen ist«.1 Schon in seiner ursprünglichen Motivation zum Philosophieren kann man bei Wittgenstein eine andauernde und manchmal vernichtende Kritik am Begriff »Philosophie« selbst und deren Ziel erkennen. Es handelt sich hier, von Anfang an, auch um eine Selbstkritik, und diese Selbstkritik bedingt auch den grundlegenden dialogischen Charakter der gesamten Philosophie Wittgensteins. In den Bemerkungen Wittgensteins kann man aber nicht nur eine pars destruens erkennen. Seine Arbeit deutet auch auf eine positive und fruchtbare Haltung hin. Die Philosophie kann als Philosophie im guten Sinne gelten – das heißt, daß sie praktiziert werden soll – insoweit sie das Ziel erreicht, eine ethische Übung zu werden. In diesem Zusammenhang ist auf Wittgensteins Aussage hinzuweisen: »Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit« (T. 4.1112). Und es liegt genau auf dieser wesentlichen philosophischen Ebene, daß die Konfrontation zwischen Sokrates und Wittgenstein stattfinden kann. Was bedeutet aber in diesem Zusammenhang Ethik, und was bedeuten überhaupt Philosophie und Sprachkritik? Es könnte der Eindruck entstehen, daß es unser Schicksal sei, uns hoffnungslos im Kreise zu bewegen. Wie können wir diese besondere ethische Motivation fassen, in jedem Fall weit entfernt von der heutigen Debatte über Ethik zu sein scheint? Ein Jahr vor seinem Tod schreibt Wittgenstein: Wenn man philosophische Probleme nicht LÖSEN will, – warum gibt man es nicht auf, sich mit ihnen zu beschäftigen. Denn sie lösen heißt seinen Standpunkt, die alte Denkweise ändern. Und willst du das nicht, so solltest du die Probleme für unlösbar halten.2

Einige Jahre vorher hatte er auch geschrieben: Die Lösung des Problems, das Du im Leben siehst, ist eine Art zu leben, die das Problemhafte zum Verschwinden bringt. Daß das Leben problematisch ist, heißt, daß dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt. Du mußt Dein Leben verändern, und paßt es in die Form, dann verschwindet das Problematische. Aber haben wir nicht das Gefühl, daß der, welcher nicht darin ein Problem sieht, für etwas Wichtiges, ja das Wichtigste, blind ist? Möchte ich nicht sagen, der lebe so dahin – eben blind, gleichsam wie ein Maulwurf, und wenn er bloß sehen könnte, so sähe er das

1 Ludwig Wittgenstein: BW, N. 107, Oktober oder November 1919. 2 Ludwig Wittgenstein: Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie (1949–1951), Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1993, S. 112.

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Problem? Oder soll ich nicht sagen: daß, wer richtig lebt, das Problem nicht als Traurigkeit, also nicht problematisch, empfindet, sondern vielmehr als eine Freude; also gleichsam als einen lichten Äther um sein Leben, nicht als einen fraglichen Hintergrund. (VB, 1937)

In diesen Sätzen findet man einige grundlegende Aspekte dessen, was ich mit ethischer Motivation bei Wittgenstein meine. Die Philosophie soll ein endgültiges Unternehmen sein, das nach Stillstand strebt: »Die Lösung des Problems, das Du im Leben siehst, ist eine Art zu leben, die das Problemhafte zum Verschwinden bringt«. Das heißt, anders ausgedrückt: Die Philosophie strebt nach einer tiefen Übereinstimmung mit sich selbst und mit der Welt. So zeigt sich auch, welches überhaupt die Ziele einer Ethik sind. Dieser Begriff der Übereinstimmung kommt aus der Antike. Klassische Begriffe wie »Harmonie« oder die griechische Eudaimonia, die für den Menschen eben durch die Weisheit erreichbar sind, können uns helfen, die philosophische Landschaft Wittgensteins zu rekonstruieren. Mit der oben angeführten Bemerkung beschreibt Wittgenstein diejenige Spannung, die als Grundstimmung oder auch als desideratum seine eigenen Arbeiten begleitet. Diese Grundstimmung soll auch im Leser entstehen: das Problem – das Problematische – nicht als Traurigkeit, sondern als Freude zu sehen, gilt als ein philosophisches und gleichzeitig ethisches und existentielles Ziel – ein Ziel, das eigentlich den Anfang einer Lösung bildet. Was ich hier meine, ist, daß bei Wittgenstein von einer Grundstimmung die Rede ist, die einem grundlegenden philosophischen Glauben entspricht, der unsere ganze Art zu leben, und nicht nur zu denken, erhellen soll. Das Empfinden eines Problems als Freude in dieser Bemerkung Wittgensteins deutet in der Tat auf keine zufällige, sondern im Gegenteil auf eine tiefe Einheit zwischen der intellektuellen und der existentiellen Ebene: Die wahre Philosophie soll zum guten und zum glücklichen Leben führen. Es gibt eine oft zitierte Anekdote: Russell berichtet von einem Abend, an dem Wittgenstein im Zimmer auf und ab lief, woraufhin Russell fragte: . Worauf Wittgenstein erwiderte: .3

In einem undatierten Brief an Russell notierte Ludwig Wittgenstein: »[...] aber wie kann ich Logiker sein, wenn ich noch nicht Mensch bin! Vor allem muß ich mit mir selbst in’s Reine kommen.«4 Um das Wort Sünde in diesem Kontext vielleicht besser zu verstehen, können wir einige Zeilen von Søren Kierkegaard heranziehen. Er schreibt in seinem sokratischen Aufsatz Philosophische Brocken:

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Brian McGuinness: Der Grundgedanke des »Tractatus«, in: Texte zum Tractatus, Hg. Joachim Schulte, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1989, S. 48. Ludwig Wittgenstein, BW, N. 34.

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Die Unwahrheit ist also nicht bloß außerhalb der Wahrheit, sondern ist polemisch gegen die Wahrheit, was dadurch ausgedrückt wird, daß er (der Lernende) selbst die Bedingung verloren hat und sie verscherzt.5

Angenommen, daß uns im allgemeinen die Möglichkeit gegeben sei, die Wahrheit zu erreichen, ist es unser eigenes Verschulden, wenn wir sie nicht erreichen. Darüber hinaus immer Kierkegaard: Wie aber könnten wir diesen Zustand nennen, die Unwahrheit zu sein und dies durch eigene Schuld zu sein? Nennen wir ihn Sünde?6

In Wittgensteins Geheimen Tagebüchern 7 lesen wir: Lebe in der Sünde dahin, das heißt unglücklich. Bin verdrossen, freudlos. Lebe mit meiner ganzen Umgebung in Unfrieden. (11.8.1916)

Und weiter: Du weißt, was du zu tun hast, um glücklich zu leben; warum tust du es nicht? Weil du unvernünftig bist. Ein schlechtes Leben ist ein unvernünftiges Leben. Es kommt darauf an, sich nicht zu ärgern. (12.8.1916)

Mit den Worten der Antike können wir sagen: Die Besonnenheit steht mit der Glückseligkeit in Verbindung. Unsere Hypothese, die den Dialog zwischen Wittgenstein und Sokrates ermöglicht, lautet: Bei Wittgenstein ist eine besondere Bearbeitung der sokratischen These »Tugend sei Erkenntnis« aus dem Protagoras erkennbar. Natürlich eröffnet sich damit eine Reihe historischer und gleichzeitig theoretischer Probleme. Es stellt sich sofort die Frage, ob »Tugend gleich Erkenntnis« bei Sokrates und im allgemeinen tatsächlich als eine These, daß heißt mindestens als eine Einstellung innerhalb eines theoretischen Kontexts, angesehen werden kann. Dieses Problem weist auf eine historisch-kritische querelle, die direkt mit der Auslegung und der Wertung der Figur Sokrates zu tun hat. – Wegen dieser bekannten These »Tugend gleich Erkenntnis« gilt Sokrates in der Geschichte der Ethik, wie schon Aristoteles schreibt, als Begründer der Ethik überhaupt und der sogenanten intellektuellen Ethik insbesondere. Man muß sich aber fragen, ob der Terminus »ethischer Intellektualismus« in der Tat geeignet ist, die sokratische Position und die ethische Einstellung, die unser Forschungsobjekt bildet, zu bezeichnen. Im Lauf der Arbeit werden wir feststellen, wie man unter ethischem Intellektualismus eine komplexe 5 Søren Kierkegaard: Philosophische Brocken, Europäische Verlaganstalt, Hg. Liselotte Richter, Frankfurt a.M., 1992, S. 17. 6 Ebenda, S. 17. 7 Ludwig Wittgenstein: Geheime Tagebücher, Hg. Wilhelm Baum, Turia & Kant, Wien 1991.

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philosophische und existentielle Einstellung verstehen kann. – Durch die platonischen Dialoge entsteht nämlich erst unsere philosophische Sprache. Und innerhalb dieser Dialoge, besonders in der strengen Auseinandersetzung mit den Sophisten, taucht das Bedürfnis einer Analyse des Wesens der Erkenntnis auf. Ich werde versuchen zu zeigen, daß es sich bei Sokrates nicht unmittelbar und unbedingt um eine These handelt, und wie die sokratischen Schwierigkeiten in diesem Kontext eben in einen Dialog mit den Untersuchungen Wittgensteins gebracht werden können. »Tugend gleich Erkenntnis« ist bei Sokrates nicht – oder noch nicht – eine These, weil er die reine und vollkommene theoretische Ebene der Philosophie nicht – oder noch nicht – erreicht hat. Und »Tugend gleich Erkenntnis« ist auch bei Wittgenstein keine These, weil er die theoretische Ebene des philosophischen Denkens abschaffen will. Bei Wittgenstein bekommt die Bearbeitung von »Tugend gleich Erkenntnis« auf jeden Fall eine besondere Färbung, da sie sich im Grunde von Anfang an als paradoxal zeigt. Bekanntermaßen gilt Wittgenstein in der Ethik als Antikognitivist, und er hat gerade die Begriffe »Erkenntnis« und »Wissen« in ihrem philosophischen Sinne dekonstruiert. Anstelle von Wissen sollten wir in seiner Weltanschauung am Ende von Gewißheit in Verbindung mit einer anerkannten Lebensform sprechen, welche gleichzeitig durch den Akt einer erreichten übersichtlichen Darstellung (Rekonstruktion) relativiert wird. Sowohl Sokrates als auch Wittgenstein sind paradoxe Denker, und das bildet den Kern ihrer Ethik. Wir können dieses Paradox für Wittgenstein so formulieren: Wittgenstein, einer der Propheten des Endes der abendländischen Philosophie, jemand, der sich eigentlich ausdrücklich dieses Ende wünscht, war ein reiner Philosoph, ein philosophisches Hirn überhaupt, wie Thomas Bernhard8 schreibt. Das heißt: Er war ein luzider Vertreter eines bestimmten Glaubens an die philosophische Aktivität und letztendlich an λγος. Ein Glauben – hier befindet sich der Ursprung des Paradoxons –, der aber auf keiner metaphysischen Letztbegründung beruhen kann und der trotzdem endgültig ist. Diese Annahme zwingt uns, all die philosophischen Begriffe, die eigentlich unsere philosophische Weltanschauung bilden, neu zu untersuchen. Um diesen grundlosen Glauben, diese nicht-metaphysische innere Notwendigkeit der Philosophie erfassen zu können, muß man eine besondere Art der Analyse entwickeln, die immer an der Grenze zwischen Philosophie und Vernichtung der Philosophie, zwischen Sagen und Schweigen, arbeitet. 8

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In: Martin Huber: Wittgenstein auf Besuch bei Goethe. Zur Rezeption Ludwig Wittgenstein im Werk Thomas Bernhards, in: Wittgenstein und, Hg. Wendelin Schmidt-Dengler, Martin Huber, Michael Huter, Wien, 1990, S. 193.

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Das philosophische Paradox bei Wittgenstein kommt auch in der folgenden Einstellung ans Licht: Wir können sagen, daß es bei Wittgenstein eine richtige – dabei sollten wir »richtig« auch im ethischen und ästhetischen Sinne verstehen – Rede gibt, aber keine richtige These. Die Philosophie soll als Lehre verschwinden, um sich in eine andauernde Aktivität zu verwandeln. Man soll Philosophie praktizieren wie die Philosophie in der Antike, in der sie eine »geistige Übung«9 war. Die Suche nach dieser richtigen Rede ist ein ethisches Unternehmen, das aus uns anständige Menschen (das heißt: gute Menschen und höchstwahrscheinlich glückliche Menschen) machen kann. Wir sollten an eine Ethik ohne Theorie denken. Was wir damit erreichen, ist eine philosophische Methode, die sich im Grunde der cartesianischen entgegengesetzt zeigt und die sich im Gegenteil in eine Art von Maieutik verwandelt. Der Leser Wittgensteins kann sich der Zwanghaftigkeit seiner Methode – die übrigens auch als ein echt sokratischer Zug angesehen werden kann – jenseits ihrer befreienden Wirkung nicht entziehen. Vom Endgültigkeitspathos im Tractatus bis hin zu den steten Wiederholungen von Sprachübungen des späteren Wittgenstein bleibt diese Spannung immer erkennbar. Das Paradox taucht immer wieder auf: Der Unterminierung der Philosophie steht Wittgensteins tiefer Glaube an ihre Mittel gegenüber. Die Wittgensteinsche Erkenntnis der Grund-losigkeit unseres Wissens, wenn wir letzen Endes an eine Letztbegründung denken, erzeugt eine Art von intellektueller und antidogmatischer Disziplin, die uns trotzdem bilden soll. Die oft erwähnte sokratische Arztmetapher für den Philosophen (Philosophie als Therapie) glänzt bei Wittgenstein nochmal in ihrer ganzen Vielschichtigkeit. Der Philosoph ist der, der in sich viele Krankheiten des Verstandes heilen muß, ehe er zu den Notionen des gesunden Menschenverstand kommen kann (VB, 1944),

schreibt er. Interessant auch, daß hier von der Möglichkeit der »Gesundheit des Menschenverstandes« die Rede ist. Die Bildung mittels Philosophie ist ein wichtiger Aspekt innerhalb unserer philosophischen Tradition. Sokrates war ein »Erzieher«, und mit seiner Figur erhält die Bildung von Anfang an eine vieldeutige Färbung: Sie gilt als die Krönung des Benehmens und gleichzeitig als Utopie. Abgesehen von dem Lehrer Sokrates, der für sich erkannt hat, daß er nichts weiß, treten auf der platonischen Bühne bekanntermaßen keine vollkommen gute und wissende Menschen auf. Oft werden junge Leute wie beispielweise Theaitetos gelobt, in deren Benehmen die Bereitschaft zum Lernen und die unmittelbare und ehrliche Suche nach der Wahrheit und der Schönheit zum Ausdruck 9 Diese Definition findet man bei Pierre Hadot: Exercises spirituels et philosophie antique, Etudes Augustiniennes, Paris, 1981.

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