Epidemien

20.07.2006 - Der Kontaktprozess ist ein Modell der gerichteten Perkolation, das (stark vereinfacht) die ... Die Gitterpunkte i können zwei Zustände einnehmen: infiziert (si(t) = 1) oder gesund. (si(t) = 0). .... der Fall für S0 > N/R0. [1]. Dividiert ...
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Epidemien Manuel Kempf 20.7.2006

1) Vorbemerkungen und Motivation Die theoretische Beschreibung von Seuchenausbreitungen und Epidemien ist sehr komplex. Allerdings lassen sich die wesentlichen Aspekte bereits anhand einfacher Modelle gut verstehen. Die Grundlage hierzu ist die Theorie der Nichtgleichgewichtsphasenübergänge. Ausschlaggebend für die Phase, in der sich das betrachtete System im stabilen Zustand befindet, sind dabei ein oder mehrere kritische Größen.

2) Grundlagen 2.1) Stationäre Zustände Stationäre Zustände im Gleichgewicht und Nichtgleichgewicht unterscheiden sich dadurch, dass im Gleichgewicht die effektiven Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen zwei mikroskopischen Zuständen verschwinden, während dies im Nichtgleichgewichtsfall nicht gegeben ist.

Abb. 1 Hypothetisches System mit drei mikroskopischen Zuständen A, B, C. In beiden Fällen ist die stationäre Verteilungsfunktion P(A) = P(B) = P(C) = 1/3. Links: Die Übergänge finden mit gleichen Wahrscheinlichkeiten in alle Richtungen statt, verschwinden also effektiv. Rechts: Die Übergänge erfolgen im Uhrzeigersinn, die Überganswahrscheinlichkeiten verschwinden somit nicht und das System befindet sich außerhalb des Gleichgewichts. [7]

1

2.2) Nichtgleichgewichtsphasenübergänge und absorbierender Zustand Bei sich räumlich und / oder zeitlich entwickelnden Systemen können Nichtgleichgewichtsphasenübergänge beobachtet werden. Ein instruktives Beispiel ist die gerichtete Perkolation, die auch als einfaches Modell für die Ausbreitung ansteckender Krankheiten herangezogen werden kann. Die gerichtete Perkolation zeigt einen Phasenübergang von einer fluktuierenden Phase in einen absorbierenden Zustand. Die kritische Größe ist dabei die Perkolationswahrscheinlichkeit p. Durch die Dynamik des Systems kann der absorbierende Zustand erreicht, aber nicht mehr verlassen werden ( Nichtgleichgewicht).

Abb. 2 Cluster gerichteter Perkolation in 1+1 Dimensionen. Wachstum ausgehend von einem einzelnen Keim unter, an und über der Perkolationsschwelle pc. [7]

3) Der Kontaktprozess (Harris, 1974) Der Kontaktprozess ist ein Modell der gerichteten Perkolation, das (stark vereinfacht) die Ausbreitung von Epidemien beschreibt. 3.1) Das Modell • • • • • •

d-dimensionales Gitter Die Gitterpunkte i können zwei Zustände einnehmen: infiziert (si(t) = 1) oder gesund (si(t) = 0). Das Gitter wird in einen (d+1)-dimensionalen Raum eingebettet, wobei die zusätzliche Dimension die Zeit darstellt. Infektionsausbreitung durch Kontakt mit nächsten Nachbarn Pro Simulationsschritt werden (zufällig) ein i und ein Prozess (Infektion, Genesung) ausgewählt. Wird ein Punkt ausgewählt, so gelten für diesen Punkt und den Simulationsschritt folgende Übergangsraten: Infektion: [si(t) = 0

si(t + dt) = 1] = λ ⋅

Genesung: [si(t) = 1

si(t + dt) = 0] = 1 2

n q

: Infektionsrate (wie viele Neuinfektionen verursacht ein bereits Infizierter) n: Anzahl kranker Nachbarn q: Koordinationszahl • • •

Eine Infektion kann nur stattfinden, wenn ein nächster Nachbar bereits infiziert ist. Genesung findet nur statt, wenn der Punkt infiziert ist. Nach jedem Schritt, egal ob erfolgreich oder nicht, wird die Zeit um t inkrementiert.

Abb. 3 Veranschaulichung des Kontaktprozesses für d = 1. Zum Zeitpunkt t = 0 ist nur der Ursprung (0) infiziert. Die Raumzeit eines infizierten Individuums wird durch die dicken Linien beschrieben. Die Kreise markieren die Genesungspunkte, die Pfeile stellen die Infektionen der nächsten Nachbarn dar. [2]

Der Übergang von den diskreten Zeitschritten zum Kontinuum erfolgt dadurch, dass t durch eine exponentiell verteilte Wartezeit ersetzt wird. Es ergeben sich zwar kleine Unterschiede für kurze Zeitspannen, aber die Langzeitdynamik und die stationären Eigenschaften bleiben die gleichen.

3.2) Das „Phasendiagramm“ Unter welchen Umständen kann nun die Epidemie fortdauern, d. h. wann ist die stationäre Dichte, also der dauerhafte Anteil infizierter Gitterpunkte, ungleich Null?

ρ (i, t ) = Wk [si (t ) = 1] d λ ρ (i, t ) = − ρ (i, t ) + dt q Die Summe geht über die nN von i

(1)

[

]

Wk si (t ) = 0, s j (t ) = 1 j

(2)

Die Mean-field Näherung betrachtet die Besetzungswahrscheinlichkeiten jeder Stelle i als statistisch unabhängig. Mit der Annahme räumlicher Homogenität ( (i) = ) wird (1) zu dρ = − ρ + λρ − λρ 2 dt

(3)

3

Als stationäre Lösungen ρ ergeben sich:

ρ=

, λ ≤1

0 1−

1

λ

(4)

, λ >1

Für λ > λc = 1 ist also der aktive Zustand stabil, für λ ≤ λc das leere Gitter. Betrachtet man ρ als Ordnungsparameter, so gilt am kritischen Punkt λc

ρ ~ (λ − λc )β ,

(5)

wobei die Mean-field Theorie = 1 liefert (λ > λc ) . Der beste bekannte, numerisch berechnete Wert in 1+1 Dimensionen für c ≅ 3,29785(8). Die Mean-field Theorie liefert also nur qualitative Informationen über das Phasendiagramm. Ebenso wie c sind auch die Mean-field Exponenten erst für d dc = 4 richtig.

4) Die kritischen Exponenten β , ν ⊥ und ν

Nahe dem kritischen Punkt variiert der Ordnungsparameter gemäß dem Potenzgesetz (5). Am kritischen Punkt verschwindet die stationäre Dichte besetzter Gitterpunkte. ist also der zur Partikeldichte gehörende kritische Exponent. Aus Abbildung 4 ist ersichtlich, dass von der Dimension des betrachteten Systems abhängt. In der doppellogarithmischen Auftragung entspricht der Steigung der beiden Geraden.

Abb. 4 Stationäre Dichte stat in der aktiven Phase gerichteter bond – Perkolation in 1+1 und 2+1 Dimensionen in linearer und doppellogarithmischer Auftragung. p-pc entspricht dabei - c im Text. [8]

Eine weitere Eigenschaft von Ausbreitungsprozessen sind bestimmte Korrelationslängen. Im Gegensatz zu statischen Gleichgewichtsmodellen ist bei den kritischen Nichtgleichgewichtsphänomenen die Zeit in Form einer zusätzlichen Dimension zu berücksichtigen. Dies führt zu 4

zwei verschiedenen Korrelationslängen: einer räumlichen ( ξ ⊥ ) und einer zeitlichen ( ξ ), zu denen die entsprechenden Exponenten ν ⊥ und ν gehören. Nahe am kritischen Punkt divergieren die Korrelationslängen wie folgt:

ξ ⊥ ~ (λ − λc )−ν

(6)



ξ ~ (λ − λc )−ν Die kritischen Exponenten ν ⊥ und ν sog. dynamischen Exponenten z =

ν ν⊥

(7)

sind dabei i. A. verschieden. Man kann auch noch den definieren, über den sich eine Beziehung zwischen

den beiden Korrelationslängen herstellen lässt:

ξ ~ ξ⊥ z

(8)

Tab. 1 Kritische Exponenten der gerichteten Perkolation. Ergebnisse aus der Mean-field Näherung und numerischen Berechnungen. [7]

Eine Interpretation der Korrelationslängen liefert Abbildung 5.

Abb. 5 Die Korrelationslängen ξ ⊥ und ξ fast kritischer gerichteter Perkolation in 1+1 Dimensionen unterhalb (A, C) und oberhalb (B, D) des kritischen Punkts. In A und B wächst ein Cluster ausgehend von einem einzigen Keim, in C ist das vollbesetzte Gitter der Anfangszustand. D zeigt die stationäre gerichtete Perkolation in der aktiven Phase. [8]

Die mittlere Größe und Lebensdauer der Cluster unterhalb des kritischen Punkts sind proportional zu ξ ⊥ und ξ (A). Über dem kritischen Punkt (B) ist der Öffnungswinkel des „Wachstumskegels“ durch das Verhältnis ξ ⊥ / ξ bedingt. Im stationären Zustand der aktiven Phase bestimmen die beiden Korrelationslängen die mittlere Größe inaktiver Bereiche (D). 5

5) Verbesserte Modelle und Anwendungen

Bei dem bisher betrachteten Kontaktprozess – Modell gab es nur zwei mögliche Zustände: infiziert und gesund. Um realistischere Beschreibungen der Ausbreitung infektiöser Krankheiten zu erhalten ist es nötig weitere Zustände wie Immunität oder Tod und Parameter wie unterschiedliche Infektionsraten, Inkubationszeiten, Mutationen und Diffusion zu berücksichtigen. Die wichtigsten Verfeinerungen sollen im Folgenden behandelt werden. Ziel der meisten Modelle ist es die zeitliche Entwicklung des Anteils infizierter Individuen in einer Population zu beschreiben. 5.1) Das (deterministische) SIR - Modell

Eine Population der Größe N wird in drei Klassen aufgeteilt: • S (susceptible) • I (infected) • R (recovered / removed) Die Größen S, I und R sind zeitabhängig, während die Gesamtzahl N konstant bleibt:

S (t ) + I (t ) + R(t ) = N

(9)

Der Infektionsverlauf wird unter der Annahme beschrieben, dass die Änderung des infizierbaren und infizierten Bevölkerungsanteils proportional zur Infektionsrate und der Konzentration Infizierbarer und Infizierter ist: dS λ = − SI dt N

(10)

dI λ = SI − β I dt N

(11)

Der zweite Term auf der rechten Seite von (11) beschreibt die Genesung oder die effektive Entfernung Infizierter aus der Bevölkerung. R(t) ergibt sich dann aus (9). Die Anfangsbedingungen S(t0) und I(t0) und die Parameter N, und bestimmen die zeitliche Entwicklung des Systems. Der Quotient / = R0 wird als Reproduktionszahl bezeichnet und beschreibt die durchschnittliche Anzahl neuer Infektionen, die von einem bereits Infizierten verursacht werden.

Abb. 6 Grippeepidemie in einem englischen Internat (British Medical Journal, 4.3.1978). Tatsächliche Daten (Punkte) und numerische Best-Fit-Lösung des SIR – Modells (10), (11). N = 763, S0 = 762, I0 = 1, R0 = 3,77. Die Bedingungen für eine Epidemie (R0>1 und S0 > N/R0) sind also gut erfüllt. [1]

6

Abb. 7 Überlebender Anteil = S(t= ) der ursprünglichen Dichte infizierbarer Füchse nach dem Durchgang einer Epidemienfront (Tollwut). Die Abszisse beschreibt die Heftigkeit der Epidemie. = N / (R0S0). Ein kleines entspricht einer starken Epidemie. [1]

Eine Epidemie

dI dt

Infizierbarer S (t 0 ) >

> 0 ereignet sich also, falls R0 > 1 und eine ausreichende Anzahl t0

N vorhanden ist. R0

Abb. 8 Phasentrajektorien in der S - I Phasenebene für das SIR – Modell. Die Kurven sind bestimmt durch die Anfangsbedingungen I0 und S0. Mit R(t=0) = 0 beginnen alle Trajektorien auf der Linie S + I = N. Es gilt stets: 0 < S + I N. Eine Epidemie liegt formal vor, wenn I(t) > I0 für eine beliebige Zeit t > 0. Dies ist der Fall für S0 > N/R0. [1]

N/R0

Dividiert man S und I durch die Größe N der Population, so erhält man die relativen Anteile s = S/N und j = I/N. Mit der Reskalierung der Zeit t t lassen sich (10) und (11) schreiben als: ds = − R0 sj (12) dt dj = R0 sj − j dt

(13)

Die Zeit wird hierbei in Einheiten von -1 = , der Zeitspanne während der ein Individuum infiziert ist, gemessen. Der einzig übrig gebliebene Parameter ist also R0. Das SIR – Modell ist also unabhängig von der Populationsgröße. 7

So wie oben vorgestellt ist das SIR - Modell deterministisch. Stochastische Effekte, die Quantisierung in einzelne Individuen und die damit einhergehenden Fluktuationen werden nicht berücksichtigt. Besonders im Anfangsstadium einer Epidemie sind aber die Fluktuationen von Bedeutung wenn die Zahl der Infizierten noch sehr klein ist.

5.2) Stochastische Einflüsse

Infektion und Genesung sind grundsätzlich wahrscheinlichkeitsbehaftete Prozesse. Zu einer verbesserten Beschreibung der Dynamik von Infektion und Genesung muss das bisherige SIR – Modell also um stochastische Einflüsse erweitert werden. Ein erster Ansatz sind folgende „Reaktionsgleichungen“: λ S+I → 2I

(14)

β I → R

(15)

Trifft ein infiziertes Individuum auf ein infizierbares, so resultieren daraus mit der Wahrscheinlichkeitsrate zwei Infizierte (14); Infizierte genesen oder werden aus der Population effektiv entfernt mit der Rate (15). Die gesuchte Größe ist nun die Wahrscheinlichkeit p(S, I; t) S Infizierbare und I Infizierte in einer Population der Größe N zu einem Zeitpunkt t zu finden. Die sog. Master-Gleichung (16) beschreibt den Wahrscheinlichkeitsfluss zwischen verschiedenen Konfigurationen durch Zunahme- und Verlustbeiträge: d λ p (S , I ; t ) = ⋅ (S + 1) ⋅ (I − 1) ⋅ p (S + 1, I − 1; t ) + dt N (16) + β ⋅ (I + 1) ⋅ p (S , I + 1; t ) − −

λ N

SI − βI ⋅ p(S , I ; t )

Der erste Term auf der rechten Seite steht für das Ereignis „ein Infizierbarer wird infiziert“ (S+1, I-1) (S, I). Der zweite Term beschreibt die Genesung eines Individuums (S, I+1) (S, I), der dritte Term die Ereignisse (S, I) (S-1, I+1) und (S, I) (S, I-1). Im deterministischen SIR – Modell stehen (12) und (13) für die zeitliche Entwicklung der Größen s(t) und j(t), während (16) die Entwicklung der Wahrscheinlichkeit p(S, I; t) liefert. Für große aber endliche Populationen N>>1 kann (16) durch eine Fokker-Planck-Gleichung angenähert werden. Dieses Verfahren liefert mit Reskalierung der Zeit t t

ds = − R0 sj dt +

1 N

dj = R0 sj dt − j dt −

R0 sj dW1 (t ) 1

N

R0 sj dW1 (t ) +

(17) 1

N

j dW2 (t )

(18)

dW1(t) und dW2(t) berücksichtigen die Fluktuationen von Ansteckung und Genesung, wobei und = dt. Die Stärke der Fluktuationen ist ~ 1 N und verschwindet für N . Dann gehen (17) und (18) in (12) und (13) des deterministischen SIR – Modells 8

über. Allerdings spielen auch bei sehr großen N die Fluktuationen im Anfangsstadium eines Epidemieausbruchs eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Die Anfangsbedingungen einer Epidemie sollen z. B. sein, dass annähernd die gesamte Bevölkerung infizierbar ist (s 1) und R0 > 1. Dann gilt für die relative Änderung der Zahl Infizierter < j> in einem kurzen Zeitintervall t:

∆j ≈ (R0 − 1) j 0 dt

(19)

mit j0 als relativer Anfangskonzentration Infizierter. Die typische Abweichung der Änderung relativ zur erwarteten Änderung j ist gegeben durch den Quotienten aus Standardabweichung und Mittelwert, was von der Ordnung 1 / Nj0 ist.

∆j 2 1 ≈ ∆j N ⋅ j0

(20)

Im Anfangsstadium ist j0 von der Größenordnung 1/N. Das bedeutet, dass die relative Änderung (20) von der Ordnung eins ist! Auf er anderen Seite ist j = 0 die Grenze eines absorbierenden Zustands, da es nur dann zu einer Epidemie kommen kann, wenn auch Infizierte vorhanden sind. Es ist also eine Frage der Wahrscheinlichkeit, ob es zu einem Ausbruch kommt oder nicht. Das deterministische SIR – Modell ist nicht in der Lage, die Anfangsphase korrekt zu beschreiben, da es hier immer auch für noch so beliebig kleine j0 > 0 zu einer Epidemie kommt.

5.3) Langreichweitige Wechselwirkungen

In der Realität gibt es mehrere Ansteckungs- und Ausbreitungsmöglichkeiten für Infektionskrankheiten. Zusätzlich zum direkten Kontaktprozess kommen z. B. noch Überträger wie Mosquitos, Langstreckentransport durch Flugzeuge, das typische Reiseverhalten der Leute etc. in Frage. Um eine vernünftige Vorhersage zu bekommen benötigt man also ein Modell, das die Verteilung der Infektionsreichweiten berücksichtigt. Einen interessanten Ansatz verfolgten Brockmann, Hufnagel und Geisel. Sie werteten die räumlichen und zeitlichen Trajektorien von Geldscheinen in den USA aus (www.wheresgeorge.com) und kamen zu dem Ergebnis, dass die Verteilung der Reisestreckenlänge durch ein Potenzgesetz beschrieben wird.

P(r ) ~ r − (1+ µ )

(21)

ist ein Kontrollparameter für den hier der Wert 0,59 gefunden wurde. Es stellt sich heraus, dass diese langreichweitigen Wechselwirkungen den Phasenübergang nicht zerstören, sondern nur das kritische Verhalten ändern. Numerische und Mean-field Untersuchungen zeigen, dass die kritischen Exponenten kontinuierlich mit variieren.

9

5.4) Zwei wechselwirkende Populationen

Es soll ein System aus zwei abgeschlossenen, gleich großen Populationen A und B betrachtet werden. In jeder einzelnen verläuft die Epidemie nach Schema (14), (15). Mit einer gewissen Rate können einzelne Individuen zwischen den beiden Populationen ausgetauscht werden. Für das Gesamtsystem lässt sich also schreiben:

γ

IA  → I B

λ SA + I A  → 2I A λ SB + I B  → 2 I B γ IB  → IA

β IA  → R β IB  → R γ SA  → SB

(22) γ

SB  → S A

Der Systemzustand ist durch die Wahrscheinlichkeit p(SA, IA, SB, IB; t) gegeben. Die zeitliche Entwicklung verläuft analog der in 5.2 für eine einzelne Population. Für den Anfangszustand soll nun eine kleine Zahl Infizierter I0 in Gruppe A eingeführt werden; in B befinden sich keine Infizierten. Für ein ausreichend großes I0 folgt eine Epidemie in A und nach einer Verzögerung T eventuell auch eine in B. Abbildung 9 zeigt die Wahrscheinlichkeit p( ), dass eine Epidemie in A auch einen Ausbruch in B zur Folge hat.

p(γ ) = 1 − exp −

mit der kritischen Rate

γ∗ ≈

γ γ∗

R0 + 1 1 ⋅ R0 − 1 2 I max, A

(23)

(24)

Abb. 9 Zwei getrennte, Individuen austauschende Populationen. Die Einschübe zeigen die zeitliche Verzögerung T zwischen den Epidemieausbrüchen in A und B, falls es überhaupt zu einer Epidemie in B kommt. Je kleiner desto höher ist die Varianz von T. Die Kreise sind die Ergebnisse von 100000 Simulationsdurchgängen, Gleichung (23) liefert die durchgezogene Linie. [4]

10

Für ausreichend große ist die Wahrscheinlichkeit nahe eins, da genügend Infizierte von A nach B gelangen. Für sehr kleine Austauschraten werden B während der Epidemie in A keine Infizierten zugeführt, so dass aus 0 folgt p( ) 0. Für mittlere Werte von kann einer Epidemie in A auch eine in B folgen, muss aber nicht. Diese Unsicherheit ist wiederum auf die Fluktuationen im System zurückzuführen. 1 die Verzögerungszeit T immer noch eine Bemerkenswert ist auch, dass für p( ) stochastische Größe mit einer deutlichen Varianz ist (Einschübe in Abbildung 9, Abbildung 10) Die Parameter für die Simulation waren NA = NB = 10000, R0 = 4 und die anfängliche Zahl Infizierter I0 = 20 in Gruppe A. Für jA(t=0) >>1/N in A, was hier gegeben ist, fallen die verschiedenen Realisierungsmöglichkeiten von IA(t) fast zusammen. Die Fluktuationen wirken sich also in Population A nur gering aus. Im Gegensatz dazu ist der Verlauf von IB(t) großen Schwankungen unterworfen, da anfänglich keine Infizierten in B vorhanden waren und der Ausbruch der Epidemie nur von der Immigration Infizierter aus A abhängt. Also gilt in der Anfangsphase in B, dass jB(t) von der Ordnung 1/N ist. Ist jB(t) >> 1/N geworden, so greift das deterministische SIR – Modell und die jeweilige Kurve verläuft dementsprechend wie erwartet.

Abb. 10 Die schmale linke Kurve beschreibt den Infektionsverlauf IA(t) in A. Die Schattierung steht für die Varianz eines Ensembles von 100000 Realisierungen des Prozesses. Rechts die entsprechende Kurve für IB(t); zwei einzelne Simulationsdurchgänge sind hervorgehoben. [4]

Das zwei – Populationen – Modell kann auf eine beliebige Anzahl von M Populationen erweitert werden. Die Beschreibung der Dynamik dieses Systems ist analog zu (22), wobei durch eine Matrix ij ersetzt wird. Sie steht für die Umverteilung der einzelnen Individuen zwischen den verschiedenen Populationen i und j (i, j = 1,…,M; i j). In einem realen Netzwerk variieren die ij über viele Größenordnungen. Ein gutes Beispiel hierfür ist der internationale Flugverkehr.

11

Abb. 11 Luftverkehrsaufkommen zwischen den 500 größten internationalen Flughäfen in über 100 Ländern. Jede Linie repräsentiert eine direkte Verbindung zwischen zwei Flughäfen. Die verschiedenen Grautöne stehen für die Anzahl an Passagieren, die pro Tag zwischen den jeweiligen Flughäfen transportiert werden. [4]

Für eine zuverlässige Vorhersage benötigt man die Verteilung der stark unterschiedlichen Transferraten ij. Eine Abschätzung dafür liefert die Wahrscheinlichkeitsdichte

π (γ ) =

Das Intervall [

1

γ log max γ min min,

max]



1

γ

γ max ≤ γ ≤ γ min

(25)

umfasst dabei mehrere Größenordnungen.

5.5) Anwendung des Modells auf SARS

Es stellt sich nun die Frage in welchem Umfang die bisherigen Überlegungen die Ausbreitung einer weltweiten Epidemie vorhersagen können, wenn die lokalen Infektionsparameter (R0) und die globalen Verbreitungsparameter ( ) bekannt sind. Brockmann, Hufnagel und Geisel testen ein Modell (das im Wesentlichen dem bisher entwickeltem entspricht) indem sie die lokale Infektionsdynamik von SARS mit der stochastischen Verteilung einzelner Individuen im weltweiten Luftverkehrsnetz kombinierten (s. Abb. 11). Die lokale Infektionsdynamik wurde durch ein erweitertes SIR – Schema modelliert. Zusätzlich zu den drei Klassen S, I und

12

R wurde noch eine Klasse L (latent) eingeführt, die der Inkubationszeit Rechnung trägt. Die Reproduktionszahl R0 sowie deren zeitliche Entwicklung und die Verteilung der Zeitspannen, während der ein Individuum infektiös ist, sind bekannt. Abbildung 12a zeigt das Ergebnis der Simulation für die Ausbreitung von SARS 90 Tage nach der ersten Infektion. Zum Vergleich in 12b die tatsächlichen Beobachtungen der WHO. Man sieht, dass in der Simulation fast alle betroffenen Länder richtig wiedergegeben wurden und auch die entsprechenden Zahlen der Infektionen gut mit den Daten der WHO übereinstimmen. a)

b)

Abb. 12 Die verschiedenen Grautöne stehen für die Anzahl an SARS – Fällen in den entsprechenden Gebieten. a) Simulation der Ausbreitung von SARS 90 Tage nach der ersten Infektion in Hong Kong. Die Simulation entspricht der Situation Ende Mai 2003. b) SARS Ausbreitung am 30. Mai wie von der WHO und den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) berichtet. [4]

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Literatur

[1]

J. D. Murray, “Mathematical Biology“, Springer 1993

[2]

Geoffrey Grimmet, “Percolation”, Springer 1999

[3]

Marro and Dickman, “Nonequilibrium Phase Transitions in Lattice Models”, Cambridge University Press, 1999

[4]

D. Brockmann, L. Hufnagel and T. Geisel, “Dynamics of modern epidemics”, Oxford University Press, 2005

[5]

D. Brockmann, L. Hufnagel and T. Geisel, “The scaling laws of human travel”, Nature Vol. 439, 26. January 2006

[6]

D. Brockmann, L. Hufnagel and T. Geisel, “Forecast and control of epidemics in a globalized world”, pnas vol. 101, no. 42 19. October 2004

[7]

H. Hinrichsen, “Non-equilibrium phase transitions”, Lecture Notes, http://www.newton.cam.ac.uk/webseminars, March / April 2006

[8]

H. Hinrichsen, “Nonequilibrium Critical Phenomena and Phase Transitions into Absorbing States”, arXiv:cond-mat/0001070 v2, 22. May 2000

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