Einer trage des anderen Last

die Katalanen abgeschafft. Ihre eigenen Traditionen, wie der ku- riose Bau der Menschentürme,. erlebenimmermehrZulauf.Auch die Unesco hat die Einmaligkeit.
744KB Größe 6 Downloads 338 Ansichten
12

Panorama

Der Landbote Dienstag, 5. Mai 2015

Einer trage des anderen Last Katalonien Mit Nationalstolz bauen Katalanen wahnwitzige Menschentürme. Männer, Frauen und kleine Kinder bilden eine soziale Skulptur, die den Zusammenhalt des Ortes verkörpert. Alle zwei Jahre kommen sie zur Meisterschaft zusammen. Wenn man das Stadion von Tarragona betritt, schlägt einem schon am Morgen des Oktobertages warme Luft entgegen. Man meint, Schalmeienklänge zu hören. Die amtierenden Weltmeister bauen gerade einen neunstöckigen Turm auf. Auf der Basis von dreihundert Menschen in grünen TShirts, die sich gegenseitig abstützen, steht eine Gruppe von rund zwanzig Leuten. Sie nehmen einen Kreis von vier Personen auf ihre Schultern und so baut sich der Menschenturm Stück für Stück auf. Zuletzt werden Kinder hochgehoben und klettern an den Körpern der Erwachsenen hinauf. Als Abschluss kauert ein Mädchen, «das Kissen», auf den Köpfen des 7. Stocks. Dann klettert eine Vierjährige, die «Enxaneta», auf das «Kissen-Kind», hebt für den Bruchteil einer Sekunde den Arm und bildet auf rund 15 Metern Höhe das neunte Niveau. Der Turm, oder katalanisch das «Castell», ist vollendet. «Wenn ich oben bin, sehe ich die bunten Farben», erzählt die sechsjährige Marieta. «Wir sind alle eine Castellers-Familie.» Schon fangen die Darunterstehenden an, herabzuklettern. Stock für Stock bleibt nur eine Person auf den Schultern einer anderen stehen. Die Gruppe bildet eine «Nadel», einen besonderen Schwierigkeitsgrad. Die Muskeln zittern. Nicht auszudenken, wenn bei einem jetzt die Kraft nachlässt. Doch die Menge der gut sechstausend Zuschauer trägt das Team der «Castellers de Vilafranca». Applaus braust auf, Adrenalin schiesst den Teilnehmern

durch die Venen. Die Fankurve rollt eine riesige Fahne aus. 1800 Punkte leuchten auf der Anzeigetafel auf. Damit liegt die Mannschaft vorn und nochmals braust Jubel auf – gefolgt von einem Buhchor der gröbsten Mitbewerber. Die Emotionen kochen hoch. Spanische Stierkämpfe haben die Katalanen abgeschafft. Ihre eigenen Traditionen, wie der kuriose Bau der Menschentürme, erleben immer mehr Zulauf. Auch die Unesco hat die Einmaligkeit dieses Brauchs erkannt und ihm 2010 den Status eines Weltkulturerbes verliehen. Aus 76 Mannschaften haben sich die 12 Gruppen qualifiziert, die am Abschlusssonntag der alle zwei Jahre stattfindenden Meisterschaft ihre Fertigkeiten vorführen. Nun zeigen die Herausforderer Colla Vella dels Xiquets de Valls (Die alte Gruppe der Jungen von Valls) eine 3de10fm-Formation. Mit diesem Castell könnten sie 2420 Punkte erringen. Der zehnstöckige Turm steht, doch beim Abstieg bricht er zusammen. Es geht ganz schnell: Arme, Beine, Köpfe wirbeln durcheinander. Trotzdem wirkt es kontrolliert. Diszipliniert entwirrt sich der Knäuel, jeder findet am Boden wieder seinen Platz. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Team keine Punkte bekommen würde. Für einen vollendeten, aber zusammengebrochenen Turm erhält man nur circa 15 Prozent Punktabzug. Sich ein hohes Ziel zu setzen, wird also belohnt. «Es geht um das Zusammenhaltsgefühl eines Dorfes», hatte der Technikstratege der Castellers, Roger Montala, beim Trainingsbesuch erzählt. Vom Bürgermeister bis zum Strassenkehrer ist jeder dabei. Bis zu 700 Menschen erscheinen, um die Mannschaft beim Wettbewerb abzustützen. Der Verein übt mehrmals wöchentlich in der eigenen Turnhalle, veranstaltet aber auch gesellige Anlässe, Feste

Mehrere Hundert Menschen unterstützen ein Team. Die Standfestigkeit der Basis ist entscheidend für die Stabilität des Turms.

und Auftrittsreisen für seine Mitglieder. «Wenn ich einen Rechtsanwalt brauche, einen Automechaniker oder eine Freundin, so finde ich sie im Verein», lacht der 45-jährige Jeroen Titulaer. Er ist vor Jahren aus den Niederlanden eingewandert und fand Anschluss und Sprachunterricht bei den Castellers seines Ortes. «Wir können aufeinander bauen», heisst es, aber auch «man muss den anderen aushalten können». Bis zu 300 Kilo können das für einen Moment auf dem Rücken eines Trägers sein. Jeder der drei bis vier Abschnitte eines Turms hat einen eigenen Strategen, der sich die Aufstellung seiner Leute überlegt und ihnen während des Aufbaus Kommandos gibt. Auch die Musik spielt eine grosse Rolle: Ist der 4. Stock vollendet, fängt die eigene Band an, zu trommeln und auf katalanischen Oboen zu spielen. Es ist eine quäkende, leicht variierende Melodie,

die den Teilnehmern signalisiert, wie hoch ihr Turm schon ist. Denn wenn sie erst einmal stabil stehen, darf sich keiner mehr bewegen und hinauf- oder hinabschauen.

Sicherheit geht vor Ein weiterer Versuch in der Arena: Bei der 8. Etage ruft der Chefstratege seine Leute zurück. «Nicht weiter!» Ihm ist die Konstruktion zu wackelig. Die «Enxaneta» wird weinend auf den Schultern ihrer Mutter hinausgetragen. Sie hält die Hände vor das Gesicht geschlagen, der spektakuläre Aufstieg blieb ihr verwehrt. Gerade das Scheitern ist Teil des siebenstündigen Wettkampfs. «Carreget» steht auf der Anzeigetafel, wieder ist ein Turm zusammengebrochen. Ein grosser, schwerer Mann wird auf acht Paar Schultern hinaustransportiert. Von allen Seiten strömen Sanitäter herbei. Später heisst es, einer der Träger sei bewusstlos geworden. Die Sicher-

heitsvorkehrungen sind hoch; vor der Arena warten 20 Krankenwagen. Seit fünf Jahren sind Sturzhelme für die kleinen Kinder obligatorisch. Viele tragen auch Beissschienen. Und ja – es hat schon tödliche Unfälle gegeben. «Einer für alle, alle für einen», kommt dem Zuschauer in den

Bilder Gabriele Spiller

Sinn, wenn er die eng beieinanderstehenden Basisgruppen in ihren Vereinsfarben sieht, die sich mit ausgestreckten Armen festhalten. Es bedeutet aber auch, dass man sich riechen können muss. Ein Casteller zu sein, schweisst im wahrsten Sinne des Wortes zusammen. Gabriele Spiller

Wenn der Turm zusammenkracht, ist der Schrecken gross.

CASTELLERS – MENSCHENTüRME

Das «Enxaneta»-Kind, «die kleine Höhe», krönt den Menschenturm.

Erstmals erwähnt wurde eine Menschenturmgruppe 1801. Der Brauch soll sich aus der kunst­ vollen Abschlussfigur eines valencianischen Bauerntanzes entwickelt haben, bei dem sich konkurrierende Dörfer jeweils übertreffen wollten. Heute kann man die Wiege der Castellers in Valls besuchen. Die Vizemeister Colla Vella dels Xiquets de Valls

betreiben ein kleines Museum und ermöglichen Interessenten auch die Teilnahme an Trainings. Ausserdem treten sie – wie an­ dere Gruppen auch – an Feier­ tagen auf dem Rathausplatz ihres Ortes auf: 23. Juni, 22.30 Uhr, und 24. Juni, 13 Uhr, zum Fest des Stadtheiligen St. Jordi

1. Dienstag im August zum «Firagost» (einem katalanischen Landfest) 10. September abends (katala­ nischer Nationalfeiertag) 21. Oktober oder am folgenden Sonntag, 13 Uhr (Fest der Heiligen Ursula) Die Meisterschaft wird Anfang Oktober 2016 wieder in Tarragona ausgetragen. gsp

Unesco-Welterbe. Dazu gehören neben dem Amphitheater ein Circus für Pferdewagenrennen, Mosaike, verstreute Säulen, die Funde einer frühchristlichen Begräb-

nisstätte sowie ein Aquädukt. In der zweiten Maihälfte lebt das römische Erbe mit Handwerk, Essen und Spielen für Touristen wieder auf (Festival Tárraco Viva).

Ein Träger lässt sich in seine stabilisierende Bauchbinde einwickeln.

Welterbe Tarragona tarragona Schon die alten Römer wussten, was gut ist. Ihre Stadtgründung überzeugt noch heute mit kulturellem Reichtum und herrlicher Lage.

ter lange Via Augusta durch die Stadt bis nach Cádiz; ideal, um internationalen Handel zu betreiben. Der Fülle der römischen Relikte verdankt Tarragona den Titel

Wer Barcelona mag, dem wird Tarragona gefallen. Denn die 92 Kilometer entfernte Stadt hat alles, was ihre grosse Schwester auszeichnet: eine mittelalterliche Altstadt, eine Jugendstil-Markthalle, Ramblas mit Strassencafés und Boutiquen. Vor 2000 Jahren jedoch war Tarragona «die Grosse», nämlich die stolze Hauptstadt der römischen Provinz Hispania Citerior. Die bevorzugte Lage mit einem natürlichen Hafen machte Tárraco für 40 000 Einwohner attraktiv. Von Rom führte die 3000 Kilome-

Die Römer bauten ihr Amphitheater um 200 n. Chr. direkt ans Mittelmeer.

Die goldenen Strände der Costa Daurada verbreiten Ferienstimmung. In Tarragona kann man baden gehen oder am Fischerhafen mit seinen Lokalen entlangspa-

Die Kathedrale entstand 1000 Jahre später auf den römischen Ruinen.

zieren. Viel bequemer geht das mit einem E-Bike, das die Steigungen der auf einem Hügel gelegenen Altstadt elegant meistert.

Eisen berühren bringt Glück «Ich gehe mal Eisen berühren», sagen die Tarragoneser, wenn sie einen Sonntagsspaziergang zum Balkon der Stadt, Balcó del Mediterrani, machen. Der überwältigende Aussichtspunkt bildet den Endpunkt der Ramblas und überrascht mit einem 180-Grad-Blick aufs Mittelmeer. Sein schmiedeeisernes Geländer zu berühren, soll Glück bringen, und nicht wenige Besucher werden sich hier schon gewünscht haben, bald wiegsp der zurückzukehren. www.tarragonaturisme.cat