Eine nachdenkliche Reise durchs Grenzgebiet von Psychologie und

das Erleben der Ich-Du-Beziehung, wie der Religionsphilosoph Martin Buber sie be- schreibt. Ebenso werden von den Humanistischen Psychologen auch ...
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Reimar Lüngen

Berufung verstehen Eine nachdenkliche Reise durchs Grenzgebiet von Psychologie und Theologie

Lüngen, Reimar: Berufung verstehen: Eine nachdenkliche Reise durchs Grenzgebiet von Psychologie und Theologie, Hamburg, disserta Verlag, 2015 Buch-ISBN: 978-3-95425-818-5 PDF-eBook-ISBN: 978-3-95425-819-2 Druck/Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2015

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Für Dr. Peter Hübner, den ehemaligen, viel zu früh verstorbenen wissenschaftlichen Leiter der IGNIS-Akademie für Christliche Psychologie

hEHUEOLFN Diese Studie stellt die Themen Selbstverwirklichung und Berufung nebeneinander, wobei jeweils das eine im Licht des anderen deutlicher sichtbar wird. Die Gegenüberstellung im fachlichen Grenzgebiet von Psychologie und Bibel zeigt krasse Gegensätze, aber auch erstaunliche Parallelen auf. Der erste Teil beschreibt das Konzept von Selbstverwirklichung aufgrund der Forschungen des Psychologen Abraham Maslow über die menschlichen Bedürfnisse ausführlich beschrieben und auch kritisiert. Maslows Beobachtungen, dass „Selbstverwirklicher“ häufiger als andere Menschen Grenzerfahrungen machen, geben die Richtung zur Erweiterung des Konzepts der Selbstverwirklichung an. Das Erleben von Grenzerfahrungen erinnert an das Erleben der Ich-Du-Beziehung, wie der Religionsphilosoph Martin Buber sie beschreibt. Ebenso werden von den Humanistischen Psychologen auch Aussagen des Psychologen Viktor Frankl über die Sinnsuche in das Selbstverwirklichungskonzept einbezogen, die in dieser Arbeit ebenfalls betrachtet werden. Aus all dem entsteht ein Bild von Selbstverwirklichung, das nicht nur eine Sache des Selbst ist, sondern über das Selbst hinausreicht. Das führt direkt zum Thema Berufung im zweiten Teil. Ausgehend von der Vermutung, dass Menschen, die oft verzweifelt nach ihrer Berufung suchen, unbewusst nach Möglichkeiten suchen, sich selbst zu verwirklichen (z. B. indem sie ihre eigenen Gaben zum Gegenstand ihrer Berufung machen), wird ein Bild von Berufung entworfen, das ein Beziehungsprozess ist, der sich zwischen Gott und Mensch abspielt. Berufung ist einerseits der Ruf Gottes in das Leben von Menschen, mit dem er sie zu sich ruft, und andererseits die Sendung zu den anderen Menschen. In der Sendung spielt zwar das Selbst des Menschen (Begabungen, Persönlichkeit) eine Rolle, ebenso will sie den Menschen über das hinausführen, was er ist. Berufung heißt nicht, dass etwas getan werden muss, sondern dass der Berufene wächst und reift. Ein dritter Teil „Berufensein“ versucht, das theoretische Konzept von Berufung praktisch zugänglich zu machen und die Leser zu ermutigen, sich so, wie sie sind, auf den Ruf Gottes einzulassen. Die Zielgruppe dieser zwar wissenschaftlich gehaltenen, aber dennoch auch für Laien gut lesbaren Studie sind vor allem Menschen, die auf der – vielleicht über lange Zeit vergeblichen – Suche nach Berufung sind. In theologischer Hinsicht will die Studie die auch im christlichen Raum allgegenwärtigen Lügen des Humanismus aufdecken, der das Selbst vergöttert, und die Natur des Alten Menschen in jedem von uns entlarven, die sich selbst vergöttert. Über allem sollen Liebe und Gnade als Zentrum von Berufung aufleuchten. Alle Hervorhebungen in Zitaten sind, wenn nicht anders angegeben, von den jeweiligen Autoren. Die Bibelzitate stammen aus der Luther-Übersetzung 1984. Kursiv geschriebene Absätze am Ende einiger Kapitel sind Fazit-Gedanken. Außerdem gibt es eine Reihe Exkurse, die in kurzer Form Hintergrundwissen behandeln, das nicht direkt zum Thema dieser Ausarbeitung gehören, es aber gut ergänzt.

,QKDOWVYHU]HLFKQLV 1

Hinführung

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1.1 Die Menschen mit Leben berühren

9

1.2 Ein persönliches Vorwort

10

1.3 Nach der Berufung suchen?

11

1.4 Überblick über diese Arbeit Fragen und Themen Grenzen und Scheitern

13 13 14

I

Selbstverwirklichung

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2

Was wir suchen

19

2.1 Handlungsanweisungen und Platzanweisung

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2.2 Selbstwert und Identität

22

2.3 Sinn

23

2.4 Meine Begabungen einbringen können

24

Was ist Selbstverwirklichung?

27

3.1 Humanismus

27

3.2 Humanistische Psychologie Philosophische Wurzeln Gestaltpsychologische Wurzeln Menschenbild Weltanschauliche Lasten Kritik des humanistischen Menschenbildes

28 28 29 30 31 33

3.3 Das Selbst Vielfalt der Definitionen Verständnis der Humanistischen Psychologie

35 35 36

3.4 Selbstverwirklichung Das höchste der Bedürfnisse Wachstum

36 37 42

3.5 Über das Selbst hinaus Wie sich Selbstverwirklichung äußert Grenzerfahrungen Begegnung mit der Welt

53 53 54 58

3.6 Beziehungen Martin Buber Die Grundworte Ich-Du und Ich-Es Die Begrenzung der Ich-Du-Beziehung Sich auf das Du einlassen

61 61 61 69 70

3

3.7 Sinnfindung Leiden an der Sinnlosigkeit Die „Vorsehung“ und die Freiheit Leben als Verwirklichung von Möglichkeiten „Ärztliche Seelsorge“ Verantwortung übernehmen

73 73 75 76 80 81

3.8 Zusammenfassung Selbstverwirklichung: Wortbedeutung und -herkunft Erweiterung des Selbstverwirklichungskonzepts Die Grundursache von Selbstverwirklichung Kritik der Humanistischen Psychologie Selbstverwirklichung und die Bibel Alternativen zur Selbstverwirklichung

83 83 83 84 85 87 90

II

Berufung

93

4

Was Gott sucht

95

5

6

4.1 Gott und der Mensch Gott braucht uns nicht Gott will uns Gott ruft uns Braucht Gott uns doch?

95 96 100 101 102

4.2 Hingabe und Schwäche

102

4.3 Gemeinschaft

103

Was ist Berufung?

109

5.1 Wortbedeutungen

109

5.2 Ein säkularer Erklärungsversuch Die „innere Kraft“ Was uns innerlich drängt Vom Wesen des Schicksals

111 112 112 113

5.3 Berufung als Selbstverwirklichung? „Grundtrieb“ Selbstverwirklichung Das Angerufensein erkennen Die größere Entscheidung

114 114 116 118

5.4 Christliche Verständnisse Berufung – nur vollzeitlich? Berufung – nur eine Aufgabe?

119 119 122

Ein detailliertes Bild von Berufung

137

6.1 Der Ruf Wort und Antwort „Komm!“ „Hier bin ich“

138 138 139 142

6.2 Die Sendung „Mit dem Eigenen“ „Ins Andere“ Wozu wir gesandt sind Gegensatz oder Gemeinsamkeit? Wozu wir nicht gesandt sind

145 146 147 149 151 152

6.3 Das Berufungsmodell und die Bibel Berufung in der Bibel

154 154

6.4 Zusammenfassung

170

III

Berufensein

173

7

Berufung empfangen

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7.1 Gottes Wille und unser Wille Voluntarismus Gottes Plan und mein Wille Entscheiden

176 176 180 182

7.2 Berührung mit dem „Eigenen“

185

7.3 Berufen zum Dienen Beruf und Berufung Dienst und Liebe

189 190 193

7.4 Gottes Stimme hören „Mit meinen Augen leiten“ Wenn Gott schweigt Gottes Reden hören

194 194 196 197

Ermutigung

201

8.1 Drei Geschichten Umwege und Irrwege Begabt und berufen Mit Tränen säen – mit Freuden ernten

202 202 204 206

8.2 Ein Kapitel Gnade

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8.3 Entmutigt?

210

8.4 Den Blick erweitern

210

8.5 Die Bitte Gottes

211

Anhang

213

9.1 Ein persönliches Nachwort

213

9.2 Literatur

215

9.3 Glossar

219

9.4 Register Sachregister Namensregister

223 223 229

8

9

Verzeichnis der Exkurse Ein biblisches Bedürfniskonzept

40

Kant und die Kategorien

55

Erkennen – was die moderne Wissenschaft sagt

65

Warum Gott eine Person ist

68

Logotherapie – Einbeziehung der geistigen Dimension

73

„Alles Sein ist Bezogensein“

102

Möglichkeiten in die Wirklichkeit hinein verwirklichen

113

Der Nutzen von Gaben- und anderen Tests

121

Tabula rasa

125

Individualismus und Kollektivismus in der Wirtschaft

130

Berufung, Erwählung und Verwerfung

167

Dimensionalontologie – das Sein in den Dimensionen

176

„Entscheidungsexzess“

180

 +LQIKUXQJ  'LH0HQVFKHQPLW/HEHQEHUKUHQ Anita, eine Christin, beging Selbstmord – eine für die Hinterbliebenen unverständliche und schmerzvolle Tat. Auf ihrer Beerdigung predigte der Pfarrer Marcel Dietler über „Gottes wahnsinnigen Schmerz um Anita“: „Wir können nicht verstehen, was geschehen ist. Aber der Apostel Paulus könnte es uns erklären, was in Anita vorgegangen ist. Er ist auch derjenige, der andere davon abhalten kann, denselben Schritt wie Anita zu tun. Paulus hat das, was Anita gefühlt hat, auch gefühlt. Und doch ist da ein großer Unterschied: Paulus hat dasselbe gefühlt, aber er hat es nicht getan! Im Philipperbrief 1,23–24 schreibt er: ,Beides scheint mir verlockend: Manchmal würde ich am liebsten schon jetzt sterben, um bei Christus zu sein. Gibt es etwas Besseres? Andererseits ist mir klar, dass ich bei euch noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen habe.‘ Paulus sagt nicht: ,Ich möchte am liebsten tot sein.‘ Er sagt: ,Ich möchte bei Christus sein.‘ Anita hat in ihren Abschiedsbriefen geschrieben: ,Ich möchte in den Armen des himmlischen Vaters sein.‘ Nicht ihre Tat, sondern die Arme des Vaters sind bei ihr das Faszinierende. Ich habe mir in meiner Phantasie vorgestellt, ich würde Anita in die Ewigkeit folgen und beobachten, was sie dort erlebt. Eine Art Traum: Anita steht vor dem Thron Gottes. Sie will sich in die Arme des himmlischen Vaters stürzen, aber zwischen Gott und ihr steht eine dicke Glaswand. Eine Stimme, mächtig wie tausend Wasserfälle, und doch wohltuend und gut, spricht: ,Noch kannst du nicht in meine Arme, Kind, bis du vier Schmerzen gespürt hast. Bist du dazu bereit? So schließe die Augen für den ersten Schmerz.‘ Eine erste Welle von Schmerz braust über Anita. Sie bleibt gefasst. Sie lässt die Welle abklingen. Dann öffnet sie die Augen. Die Stimme fragt: ,Was hast du gespürt?‘ Darauf Anita: ,Das war derjenige Schmerz, den ich ein Leben lang mit mir herumgetragen habe.‘ Wiederum schließt Anita die Augen. Die zweite Welle braust heran. Es muss ein sehr viel größerer Schmerz sein. Anita zuckt zusammen. Sie sagt: ,Das war ein furchtbarer, völlig unbekannter Schmerz. Was war das?‘ Die Stimme antwortet: ,Das war der Schmerz, den du 9

deinen Angehörigen, Freunden und Freundinnen zugefügt hast. Schließe wieder die Augen, aber halte dich fest. Es ist eine neue Welle im Anzug.‘ Obschon Anita sich festgehalten hatte, wurde sie von der dritten Welle zu Boden geschleudert. Anita sagte: ,Bevor die Welle kam, war es wunderschön. Ich sah ein warmes Meer mit einladenden Inseln: rauschende Palmen, leuchtende Blumen, bunte Schmetterlinge, köstliche Früchte, herrliche Menschen, Männer, Frauen und Kinder. Dann kam die Welle, die Inseln versanken, die Menschen ertranken und ich wurde zu Boden geschleudert. Was war das?‘ Die Stimme sprach: ,Wie diese Inseln mit ihren Palmen und Blumen, Schmetterlingen und Früchten wäre dein Leben geworden mit all den Begabungen, die ich dir geschenkt hatte. Die Menschen, die du gesehen hattest, wären durch dich mit Leben berührt worden. Die Kinder wären deine eigenen Kinder gewesen. Jetzt aber werden sie nie geboren werden. Die Männer und Frauen werden mit deinen Gaben nicht berührt werden. Sie werden deine Blumen und Schmetterlinge nicht sehen, von deinen Früchten nicht essen. Aber jetzt, Anita, leg dich zu Boden, denn jetzt kommt die größte und letzte Welle. Bis jetzt hast du nur den menschlichen Schmerz verspürt. Nun aber wirst du fühlen, was ich, Gott, für einen Schmerz in mir trage. Ich will dir zeigen, was du mir angetan hast.‘ Als Anita nach der vierten und größten Welle die Augen öffnete, lag sie in den Armen des himmlischen Vaters. Sie stammelte: ,Ich habe nichts gespürt. Aber ich weiß, dass ich bereit bin zurückzugehen.‘ ,Ich weiß‘, sprach die Stimme der tausend Wasserfälle. ,Ich weiß, dass du zurückgehen möchtest. Aber das kannst du nicht. Ich weiß auch, dass du selber soeben den größten Schmerz – meinen Schmerz – nicht verspürt hast. Mein Schmerz wäre ein ganzes Meer von Feuer gewesen; du würdest es nicht ausgehalten haben. Aber mein Sohn ist gekommen und hat dich durch das Feuermeer meines Schmerzes hindurchgetragen und in meine Vaterarme gelegt.‘ Anita hat Gott und den Menschen Schreckliches angetan. Wenn sie zurückkommen würde, würde sie es nie wieder tun. Sie würde euch allen sagen: ,Tut es nicht! Um Gottes Willen tut es nicht!‘ Jesus Christus hat gesagt: ,Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.‘ Wenn durch das Beispiel dessen, was Anita getan hat, das Ja zum Leben zur Ehre Gottes erst so richtig erwacht, dann erhält das sinnlose Sterben Anitas durch uns Sinn. Aber diesen Sinn müssen wir ihm verleihen durch ein überzeugtes Ja zum Leben.“ (Dietler 1999, S. 21, Hervorhebung von mir.)

 (LQSHUV|QOLFKHV9RUZRUW Es gab eine Zeit, da kam mir mein Leben sinnlos vor. So sinnlos, dass ich als einzig logischen und folgerichtigen Ausweg aus den alltäglichen Unannehmlichkeiten des Lebens den Selbstmord sah. Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch vor vielen Jahren fand ich zum Glauben an Jesus Christus – und hatte nun den Eindruck, dass mein Leben einen Sinn bekommen hätte, wenn ich auch nicht zu sagen vermochte, worin er bestand. Doch dieses Gefühl der Sinnhaftigkeit war stark genug, mich von nun an durchs Leben zu tragen. Erst Jahre später sind Begriffe wie Berufung und Lebenszielplanung in mein Bewusstsein gerückt. Ich spürte, dass es nicht genug zu sein schien, einfach „vor mich hinzuleben“ und das zu tun, was mir gerade „vor die Füße fiel“. Da musste noch mehr sein. Ich machte mich auf die Suche nach Gottes Plan für mein Leben. Diese Suche führte mich schließlich aus dem alten Beruf in der Informatik heraus und zu einem Studium der Christlichen Psycho10

logie an der IGNIS-Akademie für Christliche Psychologie. Hier erlebte ich erstmals die Erfahrung des Berufenseins: Ich wusste, dass ich hier am richtigen Platz war. Ich traute mir mehr zu und bekam mehr Rückmeldungen, die mir wiederum Mut machten, mehr zu wagen. Sicher ist immer noch viel mehr drin, denn Gott ist ein großer Gott und hat große Möglichkeiten… Fasziniert vom Berufungsthema und angeregt von diversen Diplomarbeiten rund um Berufung an der IGNIS-Akademie versuchte ich nun auch selbst, herauszufinden, was es denn mit der Berufung auf sich hat. Das war nicht einfach. Ich brauchte mehrere Anläufe, bis ich einen Weg fand, der schließlich zur vorliegenden Studie geführt hat. Das Faszinierende an der Berufung ist ja, dass sie zwar rein psychologisch beobachtbar, aber nicht erklärbar ist. Wer richtig in das Thema einsteigen möchte, kommt um die geistliche, biblische Dimension nicht herum. Doch auch die Bibel liefert nicht einfach eine Definition von Berufung, so wie sie etwa den Glauben in Hebr. 11,1 definiert. So entstand eine ungewöhnliche Arbeit, die den Bogen von der Psychologie hin zur Bibel spannt und sich im Grenzgebiet zwischen Psychologie und Glauben bewegt. Und da ist noch ein anderer Spannungsbogen: Obwohl mit wissenschaftlichem Anspruch geschrieben, sollte diese Arbeit nicht einfach in irgendwelchen Fachbibliotheken verstauben, sondern den Fragenden und Suchenden praktische Antworten geben. Den Leser erwartet eine zwar anspruchsvolle, aber dennoch verständliche und lebendige Lektüre. Ich hoffe, dass trotz des fachlichen Tiefgangs meine Begeisterung am Berufungsthema spürbar wird und sich auf den Leser überträgt. Mein durchgängiges Anliegen beim Schreiben war es, all die Menschen zu ermutigen und zu begleiten, die teils ganz verzweifelt nach ihrem Platz im Leben suchen – und dabei nicht wissen, wie sie das anstellen sollen. Die Studie ist schon im Jahr 2000 entstanden. Seitdem hat mich das Berufungsthema nicht losgelassen. Im Gegenteil: Heute, viele Jahre später, unterstütze ich als Berufungscoach suchende Menschen dabei, ihre Berufung zu finden und in sie einzutreten – insbesondere wenn es darum geht, beruflichen Wandel in einer sich immer schneller wandelnden Arbeitswelt zu meistern. Zeit also, diese Arbeit endlich auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

 1DFKGHU%HUXIXQJVXFKHQ" Das Suchen nach unserer Berufung ist eine der wichtigsten Aufgaben in unserem Leben. Wo wir sie finden, werden wir Fülle und Erfüllung erleben. Wo wir an unserer Berufung vorbeileben, zahlen wir einen hohen Preis. Diese Gedanken finden sich immer wieder in Büchern, Artikeln und Abhandlungen über das Berufungsthema – nicht nur in christlichen. Ist die Suche nach der Berufung wirklich so wichtig? In früheren Jahrhunderten war das doch für die meisten Menschen kein Thema; Handwerker, Bauern oder auch Herrscher haben ihre Lebensaufgaben innerhalb der Familie von einer Generation auf die andere übertragen. Nur wenige Menschen empfingen Berufung zu einem klösterlichen Leben oder zu einem kirchlichen Amt. (Waren die anderen demzufolge nicht berufen?) Die Gesellschaft, Traditionen und Werte boten den Menschen einen geordneten Lebensrahmen. Sie wussten, was sie zu tun hatten, wohin sie gehörten, wer sie waren und wer nicht. Waren die Menschen damals glücklich damit? Sie hatten gewiss ihre Sorgen und Nöte. Aber sie kannten 11

vermutlich keine Alternativen. Sich gegen Autoritäten oder Traditionen aufzulehnen, war für die meisten Menschen undenkbar. Doch die Zeiten haben sich geändert. Werte und Traditionen wurden nach und nach aufgegeben. Gesellschaftsstrukturen und Autoritäten gelten kaum noch etwas. Politische und industrielle Revolutionen veränderten die Welt. Der Fortschritt von Wissenschaft und Technik hat dem Menschen mehr Freizeit und unzählige Gestaltungsmöglichkeiten gegeben. Mittlerweile steht uns durch Internet und Jets buchstäblich die ganze Welt offen. Wir haben heute mehr Freiheiten als jede Generation vor uns. Sind wir heute glücklicher als die Menschen in den engen Gesellschaftsstrukturen früherer Jahrhunderte? Offensichtlich nicht. Denn wählen dürfen bedeutet auch wählen müssen. Und das ist das, was uns heute Not macht. Unsere heutige Zeit wird Postmoderne genannt. Dieser Begriff (der bemerkenswerterweise nichts Neues bezeichnet, sondern eben nur die Nach-Moderne) bezeichnet ursprünglich eine Stilrichtung in der Architektur, die nichts eigenes, Neues mehr schuf, sondern sich dem Spiel mit Stilmitteln früherer Epochen hinwandte (vgl. LexiROM 1995). Seit den 1960er Jahren wird er nach und nach auf alle Bereiche von Kunst, Kultur, Wissenschaft und des ganzen Lebens angewandt. Heute drückt er ein Lebensgefühl aus, das von Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit bestimmt ist. „Nunmehr sagen ihm [dem Menschen] die Instinkte nicht mehr, was er muss, und die Traditionen nicht mehr, was er soll“ (Frankl 1971, S. 7). Immer mehr erleben wir Unsicherheit und Haltlosigkeit. Sinnlosigkeitsgefühle erfassen immer mehr Menschen. Die einen beginnen nach neuen Werten, nach Halt und Geborgenheit zu suchen (oftmals in der Esoterik oder in Sekten), die anderen lassen sich treiben und hoffen auf maximalen Genuss. Auch als Christen können wir uns dem Lebensgefühl der Postmoderne nicht völlig entziehen. Wir leben immerhin in der Welt, und unser Leben ist vielfältig mit ihr verflochten. Wir haben gewöhnlich Anteil am Arbeitsleben der Welt und an den Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Und zumindest wer sein Christsein in einer freikirchlichen Gemeinde oder einer erneuerten Kirche lebt, kennt auch hier unzählige Auswahlmöglichkeiten von der Gemeinde selbst bis zur konkreten Mitarbeit. Wir kommen um das Wählen, das Auswählen aus Möglichkeiten, um das Entscheiden nicht herum, und wir wünschen uns dabei, gerufen – berufen – zu sein. Übrigens gibt es nicht nur in der postmodernen Welt, sondern auch unter Christen ein Getriebensein. Wo wir eigene, und damit vielleicht auch beliebige Werte und Motive als Antrieb haben, werden wir zu Getriebenen. Das ist nicht erst ein Problem unserer Zeit. Schon in der Bibel finden wir Beispiele für solche Menschen. Beispielsweise war Paulus auf seiner Jagd nach den Christen getrieben, bis ihn Jesus – berief. „Welch eine Umkehr von dem Trieb, der ihn nach Damaskus hetzte, in dem Versuch, das Christentum auszulöschen, bis zu dem dramatischen Augenblick, wo er Jesus völlig ergeben fragte: ,Herr, was soll ich tun?‘ Ein getriebener Mann wurde zu einem berufenen Mann bekehrt“ (MacDonald 1992, S. 50).

Wer vor Entscheidungen steht, wer das Getriebensein durch eigene Antriebe satt hat, wer den Plan Gottes erkennen und seinen Willen erfüllen will, wer als Christ leben will, braucht Berufung. Wir haben also genügend Grund, unsere Berufung zu suchen. Aber warum ist das so schwierig?

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 hEHUEOLFNEHUGLHVH$UEHLW Ich weiß von vielen Christen, die auf der Suche nach ihrer Berufung sind, und die geradezu verzweifeln angesichts der Tatsache, dass sie sie nicht finden. Ich weiß von Christen, die gerne Jesus dienen möchten, die in der Gemeinde mitarbeiten möchten, und nicht wissen, wie und wo. Ich weiß von Christen, die etwas tun wollen, sich aber nicht trauen, zu beginnen. Ich weiß von Christen, die vor Lebensentscheidungen stehen, die sie im Einklang mit Gottes Willen treffen wollen, aber sie sehen keine Lösung. Dieses Suchen nach der eigenen Berufung, nach dem Weg mit Jesus durch das Leben scheint mir vor allem im Leib Christi sehr weit verbreitet zu sein. Dafür spricht nicht zuletzt die Beliebtheit von Hilfsmitteln im Raum christlicher Gemeinden wie Gabentests und Dienstprofile. Auch ich kenne diese Suche, und ich bin dankbar, nach und nach Antwort auf mein Fragen bekommen zu haben. Das Erlebnis, geführt und gebraucht zu werden, hat mein Leben und meinen Glauben verändert. Zugleich frage ich immer noch: „Jetzt stehe ich hier, aber wie geht es nun weiter?“ Ständig sind neue Entscheidungen zu treffen. Das Berufungsthema bleibt für mich nach wie vor aktuell.

)UDJHQXQG7KHPHQ Warum erleben wir so oft ein Schweigen Gottes auf unser Fragen nach unserer Berufung? Haben wir vielleicht ein falsches Verständnis von Berufung? Was suchen wir eigentlich, wenn wir Berufung suchen? Was sollten wir statt dessen suchen? Wo könnten wir Gottes Antworten finden? Was ist Berufung eigentlich, und wozu dient sie? Und: Was sucht Gott eigentlich, wenn er beruft? Hat Gott einen Plan für uns, den es zu ergründen und zu befolgen gilt? Welche Rolle spielen die Begabungen, die Gott in unser Leben hineingelegt hat, für unsere Berufung? Hinzu kommt, dass der Berufungsbegriff im allgemeinen Sprachgebrauch sehr unscharf ist. Wir mischen einerseits vieles hinein und verengen den Begriff andererseits. In der psychologischen Literatur taucht der Begriff entweder überhaupt nicht auf, oder er wird in der Regel undefiniert benutzt. Es gibt kaum Erklärungsversuche oder Modelle zum Thema Berufung. Deshalb gehe ich in dieser Arbeit zunächst vom Alltagsverständnis und der Erlebnisqualität von Berufung aus. Unser Wunsch, das, was in uns liegt, einzubringen – oder zu verwirklichen –, führt geradewegs zum Begriff Selbstverwirklichung. Dieses faszinierende Konzept der Humanistischen Psychologie werde ich genauer betrachten und zeigen, wie weit das humanistische Gedankengut im Leib Christi verbreitet ist – und ihn beraubt. Wenn wir auf der Suche nach Berufung Selbstverwirklichung suchen, dann wird uns Gott nicht darauf antworten. Hier mag ein Grund liegen, warum wir so oft keine Antwort auf unser Fragen erhalten. Die gegensätzlichen Konzepte von Selbstverwirklichung und Berufung sollen in dieser Arbeit nebeneinandergestellt werden, so dass das eine im Licht des anderen jeweils deutlicher werden kann. Damit hoffe ich, dass ich angesichts der Faszination der Selbstverwirklichung einen Wegweiser zum so viel schöneren, aber schwierigeren Weg der Berufung aufzeigen kann. Schließlich betrachte ich die Berufung an sich genauer: Berufung gliedert sich in den Ruf zu Jesus (Berufung zu einem Sein, zu einer neuen Identität) und den Ruf zum Nächsten hin

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(Sendung, Auftrag – das, was wir am ehesten als Berufung bezeichnen). Der Ruf zu Jesus ist beständig und unveränderlich, der Ruf zum Nächsten hin ist dynamisch und wechselnd. Es scheint, dass die beiden Komponenten der Berufung die beiden Teile des Doppelgebotes der Liebe widerspiegeln: Ruf zu Jesus – „Liebe Gott“ und Ruf zum Nächsten – „Liebe den Nächsten“. Wie das Doppelgebot der Liebe, so lassen auch die beiden Teile der Berufung nicht trennen. Dennoch werde ich sie getrennt betrachten müssen, da eine Verwechslung der beiden zu Problemen für den Berufenen führen wird. Der Ruf zum Nächsten gliedert sich wiederum in zwei Teile, den Ruf „ins Eigene“ und den Ruf „ins Andere“ (nach Greshake 1991). Der Ruf ins Eigene nimmt das in Dienst, was wir bereits haben (Begabungen, Interessen, Wünsche unsere Persönlichkeit). Der Ruf ins Andere führt uns über das Eigene hinaus, erweitert Grenzen und lässt uns wachsen. Hier zeigt sich, dass die Antwort auf die Frage, ob Gott die Begabten beruft oder die Berufenen begabt, kein Entweder-Oder ist, sondern dass beides wechselseitig zutrifft. Es scheint, dass uns Gott mit dem Ruf ins Eigene zunächst in Bewegung setzen, mit unserem Potential und unseren Begabungen in Berührung bringen, Mut machen will, loszugehen. Begabungen werden so gesehen zu einer „Starthilfe“. Der Ruf ins Andere dagegen ist schöpferisch, er formt Neues, noch nicht Existierendes in uns. Er dient uns zum Wachstum und ist eine Herausforderung, glaubend in das Unbekannte zu treten. Was bisher noch nicht angeklungen ist, ist der Nutzen, den der Berufene dem Reich Gottes bzw. der Gemeinde bringt. Er scheint tatsächlich nur untergeordnete Bedeutung zu haben. Dass etwas im Reich Gottes getan wird, ist wichtig, aber in diesem Zusammenhang scheint es wie ein nützliches Nebenprodukt. Zuerst geht es um uns selbst. Gott möchte Gemeinschaft mit uns haben, und er möchte, dass wir wachsen und reifen. Es geht Gott nicht zuerst um die Arbeit, sondern um uns!

*UHQ]HQXQG6FKHLWHUQ Bei der Arbeit an dem Thema, das mich sehr bewegt, bin ich an unvermutete Grenzen gestoßen. Berufung ist ein sehr persönliches und konkretes Geschehen. Es vollzieht sich in der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Es ist lebendig. Jeder Versuch, es darzustellen, Thesen zu belegen oder Prinzipien daraus abzuleiten, nimmt dem Berufungsgeschehen das Lebendige und damit sein eigentliches Wesen. Ich kann unmöglich behaupten, Gott mache etwas so oder so. Gott ist ein souveräner Gott und begegnet jedem Menschen ganz individuell. Jede Vermittlung von Prinzipien könnte manch einen Leser dazu verleiten, durch bestimmte Methoden ein Gerufensein Gottes erlangen zu wollen. Enttäuschungen und Entmutigung wären vorprogrammiert; ich würde das Gegenteil von dem erreichen, was ich mir für meine Leser wünsche. Meine Aufgabe kann lediglich darin bestehen, allgemeines Verständnis für die Zusammenhänge zu wecken und die Leser zu ermutigen, sich auf die Beziehung mit Gott einzulassen und dann zu erleben, wie Gott sie ruft. Das Berufungsthema ist ganz zentral in das Leben der Christen und der Gemeinde eingebunden. Daraus ergeben sich notwendigerweise Zusammenhänge zu anderen Themen wie Identität, Führung, Heiligung, Wachstum und anderen, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden. Auch zur Berufung selbst ließe sich so viel mehr sagen, was ich in dieser Arbeit nur andeuten kann oder ganz auslassen muss. Die vorliegende Arbeit ist der zweite Versuch. Der erste Versuch blieb stecken. Nach Wochen mühsamen Schreibens ging es irgendwann einfach nicht mehr weiter. Es war eine sehr 14

entmutigende Erfahrung. Das Thema wollte sich einfach nicht „greifen“ lassen. Ich nahm mir nun Zeit, statt eines besseren Themas erst einmal Gott selbst zu suchen. Und nun entwickelte sich eine neue Sicht auf das Berufungsthema, die nun auch der Gliederung dieser Arbeit zugrunde liegt. All diese Erfahrungen haben mir gezeigt, wieviel mehr das Leben als die Theorie ist. Ich habe vermutlich das erlebt, was Paulus und Silas in Kleinasien erlebten: Der Heilige Geist verwehrte… (Apg. 16,6–7). Auch das scheinbare Scheitern, das Durchschreiten solch tiefer Täler ist offensichtlich ein Teil von Berufung. Zugleich wurde mir deutlich, wieviel größer die Gnade Gottes ist als all unser egoistisches Streben nach Selbstverwirklichung. Unfassbar: Gott weiß, dass wir doch lieber unsere eigene Ehre suchen – und ruft uns trotzdem! Deshalb gehört auch das Thema Gnade in diese Arbeit – ein Thema, das ich in meinem ersten Ansatz nicht gesehen habe und mir jetzt unverzichtbar erscheint.

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