Ein Bild der Zerstörung

Siegfried Kracauer. 18. Walter Benjamin. 21. Roland Barthes. 25. Susan Sontag. 27. Neuere Ansätze aus Wahrnehmungstheorie und Wissenschaftsgeschichte.
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Ein Bild der Zerstörung

Erik Straub

Ein Bild der Zerstörung Archäologische Ausgrabungen im Spiegel ihrer Bildmedien

Lukas Verlag

Abbildung auf dem Umschlag: Ausgrabungen am Isistempel von Pompeji, Vedute von Pietro Fabris (1740–92), aus: William Hamilton: Campi Flegrei, Neapel 1776

© by Lukas Verlag Erstausgabe, 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte Kollwitzstraße 57 10405 Berlin www.lukasverlag.com Umschlag: Lukas Verlag Satz: Kathrin Haggenmüller, Susanne Werner Druck und Bindung: Hubert und Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978–3–86732–025–2

Inhalt

Dank

7

Einleitung 9 Theoretische Grundlagen

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Anfänge der Photokritik im 19. Jahrhundert Dominique Francois Arago William Henry Fox Talbot Oliver Wendell Holmes

14 14 15 17

Philosophische Ansätze im 20. Jahrhundert Siegfried Kracauer Walter Benjamin Roland Barthes Susan Sontag

18 18 21 25 27

Neuere Ansätze aus Wahrnehmungstheorie und Wissenschaftsgeschichte Jonathan Crary Lorraine Daston/Peter Galison

29 29 31

Conclusio 36 Archäologische Zeitung

39

Quellenbestand Ergebnisse für einzelne Objektgattungen Architektur Numismatik Porträt Relief Wandmalerei Vasenbilder

40 40 43 46 46 47 47 48

Conclusio 48 Beeinflussung älterer Bildmedien durch die Photographie 50 Objektivierung anhand von Bildmedien 54 Bildmedien und Stilgeschichte 57 Das Beispiel Eduard Gerhard 59

Grabungsphotographie

66

Technische Eigenheiten der Photographie

73

Das Beispiel Haltern

81

Photographie und Zeichnung auf der archäologischen Ausgrabung Medienspezifische Anwendung der Photographie Aufsplittung der Bildmedien Die Ausgrabung Ausgraben als Augenkunst Vergleich von Haltern mit Peter Galisons Begriff des Expertenurteils Methode als Befundsache

81 86 87 92 100 104 104

Grabung als ästhetischer Raum

106

Das Pittoreske Personenschmuck Emotionales Entdeckungsmoment Archäologisches Beispiel Die Bedeutung des Entdeckungsmomentes

111 112 117 121 125

Grabung als wissenschaftlicher Raum

129

Haltung 132 Blick 132 Tachymetrie 134 Stratigraphie 135 Ordnung 138 Profil und Planum 139 Das Beispiel Maglemose 142 Vergleich mit Peter Galisons Begriff der mechanischen Objektivität 146 Resümee

149

Literatur

151

Inhalt

Dank

Für die großzügige Unterstützung meiner Promotion danke ich der Volkswagenstiftung. Für die Betreuung der Arbeit danke ich PD Dr. Stefan Altekamp, für mannigfaltige Anregungen den Teilnehmern des Forschungsprojektes »Archive der Vergangenheit«. Für Unterstützungen unterschiedlicher Art danke ich Prof. Dr. Detlef Rössler, Prof. Dr. Franziska Lang, Dr. Katrin Schade, Julia Hornig M.A., Dr. Silke Nowak, Thilo Kuner M.A., Cornelia Liese M.A., Stefanie Klamm M.A. und nicht zuletzt Antonia Weiße.

Einleitung

Das vorliegende Buch reagiert auf den Umstand innerhalb der Archäologie, dass seit jeher die gesamte Kommunikation der Disziplin auf den Gebrauch von Bildern angewiesen ist, sich jedoch niemand genötigt sieht, dem Umgang mit Bildern oder der Bildproduktion eine entsprechende Theorie zur Seite zu stellen.1 Das Bildmaterial wird unreflektiert übernommen und verwendet. Fragen, die sich nach der Entstehung oder der Absicht der Bilder richten, finden sich in der archäologischen Forschung vereinzelt, beziehen sich aber in der Regel nicht auf Grabungsphotographien. Gerade Grabungsphotographien gelten als neutrale Photodokumente, die in einem reinen Funktionszusammenhang mit ihren Befunden und der Archäologie stehen. Durch den Umstand, dass der originale Befund während der Ausgrabung zerstört wird, kommt ihnen sogar das Verdienst zu, noch Jahre nach der Ausgrabung objektive Dienste zu leisten, wenn sie wieder einer Betrachtung unterzogen werden. Dabei spielt es offenbar weder eine Rolle, ob der verantwortliche Archäologe noch ob seine Forschungen, damals oder heute, in Misskredit geraten sind. Obwohl die Zeitgenossen von John Henry Parker urteilten, sein Werk sei »mit ebensoviel Ignoranz wie Arroganz geschrieben, […] wie denn überhaupt diese beiden seit einiger Zeit verbündeten Reformatoren der römischen Topographie in Paradoxien und Unwissenheit das Unglaubliche leisten«2, gilt die Photosammlung Parkers heute zu Recht als archäologisches Gut von höchstem Wert.3 Die Photographie als Aufzeichnungsverfahren bleibt von der Kritik unberührt, diese bezieht sich nur auf die von den beiden Archäologen gezogenen Schlüsse. Daraus lässt sich folgern, dass das Vertrauen in die Objektivität der photographischen Darstellung, vor allem im archäologischen Bereich, nahezu ungebrochen fortbesteht. Dieser Nimbus, den die Photographie innerhalb der archäologischen Wissenschaft genießt, findet sich nicht nur bei der Grabungsphotographie. Er scheint sich auch auf alle anderen archäologischen Aufgabenbereiche übertragen zu haben. 1

Untersuchungen zur Rolle der Photographie in der Archäologie sind eher rar. Einzeluntersuchungen gibt es meist zur Skulpturphotographie. Zu nennen wären: Vinzenz Brinkmann (2001) untersucht den Wandel in der Darstellung von Skulpturen und damit verbundene Fragestellungen. Ruth Lindner (2001) beschreibt, ebenfalls anhand von Skulpturphotographien, die Mediatisierung der Skulptur als Entsinnlichung, die mit dem Text einsetzt und beim Computer endet. In einem Artikel von 1999 arbeitet sie Bildstrategien anhand unterschiedlicher Verwendungsweisen von Photographien seitens der Archäologen heraus. Überblickscharakter bieten Detlev Sommer (1983), Franz Schubert und Susanne Grunauer von Hoerschelmann (1978) und Annetta Alexandridis und Wolf-Dieter Heilmeyer (2004). Wissenschaftsgeschichtliche Ansätze zur aktuellen Frage der Bildmedien finden sich bei Michael Shanks (1997), eine »archäologische« Photokritik, die sich dem Umgang der Archäologen mit Photographien widmet. Darüber hinaus ist eine Magisterarbeit von Stefanie Klamm (2005) am Winckelmann Institut der HU-Berlin nicht publiziert. 2 Die Kritik bezieht sich auf das Buch »Sugli edifizi palatini« von 1867, das er zusammen mit dem Architekten Fabio Gori herausbrachte; vgl. Engelmann 1868, S. 149. 3 Vgl. Evers 2000.

Einleitung

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Dabei gab es nur im Bereich der Skulpturphotographie bereits im 19. Jahrhundert von archäologischer Seite Diskussionen zu den medialen Eigenheiten der Photographie.4 In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts fand diese Auseinandersetzung aber nicht mehr statt, weil sie von der Integration der bildgebenden Verfahren verdeckt wird. Diese werden jedoch ebenso wenig wie die Photographie ehedem kritisch hinterfragt. Woher kommt das Vertrauen der Archäologie in ihre Bildmedien? Dies lässt sich aus der Bedeutung erklären, welche die Bilder für die Archäologie besitzen. Der archäologische Diskurs ist im Gegensatz zu schriftbezogenen Disziplinen wie der Philologie auf Bildmedien angewiesen.5 In dem Maße, wie sich die Archäologie von der Philologie entfernte, verstärkte sich der Bezug zum Bild. Seit sich die Archäologie mit der Prähistorie ein Aufgabengebiet erschlossen hatte, für das keine schriftlichen Quellen mehr vorlagen, rückte der optische Beweis immer mehr in den Vorder­ grund. Für die deutsche Klassische Archäologie kommt erschwerend hinzu, dass sie selbst zeitweilig nur eingeschränkten Zugang zu Neuentdeckungen hatte.6 Die Kommunikation der deutschen Archäologen beruhte deshalb immer auf Stichen und Zeichnungen. Dabei hat der Stich der Zeichnung gegenüber den Vorteil, dass die von ihm vermittelte Ansicht, an der ein entsprechender Diskurs ansetzt, eine gewisse Verbreitung besitzt und so die Argumentation von anderen nachvollzogen werden kann. Entgegen heutiger Erwartung wurde der Zugang zu den Originalen über Stiche keineswegs als negativ empfunden.7 Er wurde im Gegenteil sogar mit positiven Werten belegt, wie die Kunsthistorikerin Barbara M. Stafford dies für den Begründer der Kunstarchäologie, Johann Joachim Winckelmann8, zeigen konnte. Bereits der Vater von Goethe schrieb auf seiner Italienreise am 22. April aus Rom über Berninis Cathedra Petri: »Diese Cattedra hängt gleichsam in der Luft und ist derart mit Bronze verkleidet, daß man von ihr gar nichts mehr zu sehen bekommt. Zudem ist sie von so vielen Marmorfiguren und anderen Zierat umgeben, daß man sie sich auf den Drucken ansehen muss, um sich eine angemessene Vorstellung von der Pracht machen zu können.«9 Diese Haltung im Umgang mit Originalen ist mitunter von der Zugänglichkeit der Monumente abhängig. Für den archäologischen Bereich ist sie jedenfalls keine singuläre Erscheinung. Der Umstand, dass sich die Archäologen ihren Gegenständen vorwiegend über Reproduktionen näherten, kann als Versuch einer Objektivierung angesehen werden. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert beginnt mit dem medialen Zugang nicht nur eine Abwehr gegen die emotionale Wirkung der 4 Hierzu: Arndt 1893. – Brunn 1905. – Rodenwaldt 1935a. – Rodenwaldt 1935b. – Fittschen 1974. – Langlotz 1979. – Wiegand 1991. 5 Die Archäologie wird schon vor 1800 mehrfach durch ihren Denkmälerbestand und ihre Aufgaben von der Philologie und der Geschichtswissenschaft abgegrenzt; vgl. Christ 1776, S. 86. – Bernhardy 1832, S. 52. – Gerhard 1850, S. 203, 205. – Stark 1880, S. 4f. 6 Vgl. Gerhard 1844, S. 210. 7 Vgl. Gerhard 1851, S. 2. 8 Johann Joachim Winckelmann (1717–68) ist die erste Einteilung der Antike in kunstgeschichtliche Epochen aufgrund philologischer Quellenarbeit zuzuschreiben. Er gilt damit als Begründer der modernen Archäologie im Unterschied zum antiquarischen Studium. – Stafford 1998, S. 41. 9 Vgl. Chapeaurouge 1986, S. 116.

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Einleitung

Werke auf den Betrachter, sondern auch eine Vereinheitlichung der Repräsentation von Gegenständen. Im Sinne eines wissenschaftlichen Zugriffs versuchte die Archäo­ logie, eine Distanz zwischen sich und ihren Untersuchungsobjekten zu schaffen. Das Kunsturteil sollte ungetrübt von den eigenen Reaktionen oder dem eigenen Geschmack erfolgen und vollzog sich daher gerade nicht am Original, sondern an der Reproduktion. Zumindest was die Koppelung von individuellem Sehakt und resultierender Forschungsmeinung angeht, ergibt die Verbindung von Reproduktion und Archäologie einen Sinn. In dieses Spannungsfeld tritt im 19. Jahrhundert die Photographie, als sie für die Abbildung von Skulpturen herangezogen wird, um sich dann sukzessive andere archäologische Aufgabenbereiche zu erschließen. Betrachtet man die Sitzungsberichte des Deutschen Archäologischen Instituts, so fällt auf, dass sowohl Objekte, als auch Nach- und Abbildungen in den unterschiedlichsten Medien zu den Sitzungen mit­ gebracht werden. Innerhalb des medialen Variantenreichtums gibt es eine Hierarchie, die einem Streben nach Authentizität gleichkommt. Authentizität ist am leichtesten durch die Verwendung der Originalobjekte selbst zu erreichen. Darüber hinaus be­ dient man sich aber auch Verfahren, die in der Lage sind, Informationen wie Form und Größe zu übertragen und dafür oft in physischen Kontakt mit einem Original gestanden haben müssen.10 Hinsichtlich dieser Anforderungen besitzt die Photographie gegenüber der Zeichnung den Vorteil, dass sie als ein gleichsam taktiles Abbildungs­ verfahren mittels Lichtwellen angesehen wurde, das die originalen Proportionen erhält.11 Was man im 19. Jahrhundert an der Photographie schätzte, war ihre auf Strahlensätzen beruhende mathematische Genauigkeit. Diese lässt die photographische Aufnahme zu einer objektiven Wahrheit avancieren.12 Kein anderes Medium kann diese Neutralität in der Abbildung so für sich in Anspruch nehmen wie die Photo­ graphie. Darin ist ein Wandel der Archäologen im Bezug zum Original zu bemerken. Während der Stich noch als Objektivierung gesehen wurde und Eindeutigkeit als Grundlage für die Ikonographie verlangte, tritt mit der Photographie ein anders ge­ artetes Interesse am Original in den Vordergrund. Die Photographie setzte sich vor allem infolge der Stilgeschichte als dominierendes Bildmedium durch. Für diese Art der Forschung ist eine genaue Wiedergabe der Objektoberfläche unerlässlich – und dies ist auf »objektive« Weise nur mit Hilfe der Photographie möglich. Solange die technischen Grundlagen der Photographie zur Reife gebracht wurden, wurde sie auch von einer Medienkritik begleitet. Aufgrund ihrer raschen Ausbreitung verschwanden die kritischen Stimmen aus dem archäologischen Bereich und wurden von da an im künstlerischen oder gesellschaftlichen Kontext verankert. Erst der Archäologe Gerhart Rodenwaldt wies in den 1930er Jahren anhand von Skulpturphotographien wieder 10 Vgl. Hübner 1981. 11 Entsprechend lautet der Titel des ersten Buches von William Henry Fox Talbot »The Pencil of Nature«. Es enthält eine Serie von vierzehn Aufnahmen, davon zwei einer Patroklosbüste, um Beleuchtungsstudien durchzuführen. 12 Brunn 1905, S. 232. – »L’objectif a toujours été fidèle, mais la nature a changé.« Le Bon 1884, S. XII.

Einleitung

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auf den immanenten Zusammenhang von Bild und Argumentation hin.13 Für die archäologische Ausgrabung wurden diese Fragen von der deutschen Archäologie bis heute allerdings nie gestellt. Darüber hinaus ist die Einführung der Photographie als ein langsamer Verdrängungsprozess gegenüber anderen Bildmedien zu sehen, der jedoch keinesfalls so linear verlief, wie es heute vielleicht den Anschein hat.14 Im Unterschied zu anderen Gattungen geschah die Integration der Photographie auf der archäologischen Ausgrabung aber ohne Rückschläge.15 Die mit ihr konkurrierende Zeichnung wurde auf das Anfertigen von Plänen und Profilen zurückgedrängt. Zwar war dieser Prozess unproblematisch für die Grabungsphotographie, wurde aber genauso wenig wahrgenommen, geschweige denn genauer untersucht. An diesem Punkt setzt das Buch an und versucht eine genauere Betrachtung der Ereignisse.

13 Vgl. Rodenwaldt 1935. 14 Vgl. Klamm 2005. 15 Einzig das – technisch gesprochen – zu frühe Experiment des Atlas Trojanischer Altertümer von Heinrich Schliemann wäre hier zu nennen. Die Kritik bezieht sich allerdings nicht auf die Dokumentation der Ausgrabung in Photographien, sondern lediglich auf Schliemanns Versuch die Publikation in photografischen Originalabzügen zu besorgen; vgl. Schliemann 1874.

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Einleitung

Theoretische Grundlagen

Auffällig am Verhältnis von Archäologie und Photographie ist, dass die Antike und ihre Hinterlassenschaften zwar früh in Zusammenhang mit der Photographie genannt wurden, es aber lange dauerte, bis die Photographie als archäologisches Verfahren eingeführt wurde. Ein Anspruch dieser Arbeit ist es, Gründe für diese Verzögerung zu finden. Im Hinblick auf die Phototheorie zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Auch hier sind archäologische Objekte von Anfang an Bild- und Untersuchungsgegenstand der Photographen. Zur Jahrhundertwende wandelt sich das allerdings in eine Photokritik frei von jeglichen Antikenbezügen. Entsprechend dieses Befundes wurden Texte von Dominique Francois Arago, William Henry Fox Talbot und Oliver Wendell Holmes ausgewählt, die das 19. Jahrhundert vertreten. Zu konstatieren ist dabei, dass die Antike als photographischer Aufgabenbereich zu dieser Zeit durchaus eine Rolle spielte, während dies bei den nächsten beiden Autoren des 20. Jahrhunderts, Siegfried Kracauer und Walter Benjamin, nicht mehr der Fall ist. Stehen Kracauers und Benjamins Texte für die Entwicklung bis in die 1930er Jahre, so werden mit Susan Sontag und Roland Barthes zwei alternative Positionen der 1970er bzw. 1980er Jahre eingeführt, die in der archäologischen Forschung durchaus Beachtung fanden.16 Daran schließen sich zwei Beiträge von Peter Galison und Jonathan Crary an17, welche nicht mehr als eigentliche Phototheorie bezeichnet werden können. Hier wird der Fokus auf die veränderte Wahrnehmung des 19. Jahrhunderts durch Wissenschaft und Technik gesetzt und auf ein damit verbundenes Bild von »mechanischer Objektivität«18, wie es idealtypisch von der Photographie verkörpert wurde. Der spärliche Bestand an Publikationen zur Rolle der Photographie in der archäologischen Wissenschaft weist auf einen Mangel an Reflexion im Umgang mit allen Arten von Bildmaterial in der Archäologie. Die Texte von Dominique Francois Arago (1839)19, Henry Talbot (1844)20 und Oliver Wendell Holmes (1859)21 kann man weder als Phototheorie noch als Photokritik im strengen Sinn bezeichnen.22 Sie stehen vielmehr in der Tradition eines Techniklobes 16 Vgl. Shanks 1997. 17 Crary 1996. 18 Daston/Galison 2002. 19 Arago 1980 (1839), S. 51–55. Französischer Physiker (1786–1853) und Freund von Louis Jacques Mandé Daguerre, dem Erfinder der Daguerreotypie. Seinem Engagement ist es zu verdanken, dass das Verfahren vom französischen Staat angekauft und der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt wurde. 20 Talbot 1980 (1844), S. 60–63. Englischer Physiker und Chemiker (1800–77) der das negativpositiv Verfahren mittels Papierabzügen erfand. Sein Buch »The Pencil of Nature« gilt als die erste Publikation mit Photographien. 21 Holmes 1980 (1851), S.  114–121. Amerikanischer Arzt und Schriftsteller (1809–94). Berichtet unter anderem über das Stereoskop und die damit verbundenen Veränderungen in der Wahrnehmung. 22 Zwar lassen sich einzelne theoretische Ansätze aus den Texten heraus destillieren, sie sind in den Fällen von Arago und Talbot aber nicht auf das Medium bezogen: »Praxis und Theorie […] stehen am Nullpunkt der Mediengeschichte: das Medium ist die Botschaft, es geht um seine vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten.« Talbot 1980 (1844), S. 60.

Theoretische Grundlagen

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auf die Möglichkeiten und Leistungen der Photographie, wie es erstmals von Arago in einer Rede vor der französischen Deputiertenkammer vorgetragen wurde.23 Dem neuen Medium der Photographie wird darin eine Summe möglicher, aber nicht fest umrissener Aufgabengebiete in Aussicht gestellt. Da es diesen Texten in erster Linie darum geht, durch die Suggestion einer photographischen Zukunft ein besonderes Wohlwollen dem Medium gegenüber zu erzeugen, entsprechen ihre Ausführungen nicht unbedingt der technischen Realität. Anfänge der Photokritik im 19. Jahrhundert

Dominique Francois Arago Ihren ersten öffentlichen Auftritt hatte die Photographie im Jahr ihrer Erfindung 1839. Der Physiker Dominique Francois Arago übernahm es, die Erfindung von Louis Jacques Mandé Daguerre der Öffentlichkeit vorzustellen. Diese Präsentation verstand sich nicht nur als theoretische Erklärung der photographischen Technik. Vielmehr wurden den Deputierten verschiedene Beispiele von Daguerreotypien gezeigt24, um sie der neuen Technik gewogen zu machen. Unter anderem erwähnte Arago dabei die Altertumswissenschaften als eines von mehreren Gebieten, auf denen die Photographie mit Vorteil eingesetzt werden könne. Seine Rede beginnt: »Nachdem Sie mehrere Bilder gesehen haben, wird wohl jeder daran denken, welch ungeheuren Nutzen die ägyptische Expedition aus einem so genauen und so schnellen Reproduktionsmittel hätte ziehen können25; […] die Millionen und Aber-Millionen Hieroglyphen zu kopieren. […] Mit dem Daguerreotyp könnte ein Mann diese Aufgabe bewältigen.«26 Interessant ist, dass bereits bei der ersten öffentlichen Vorstellung der Photographie auf ihren mathematisch-geometrischen Ursprung verwiesen wird und die darin enthaltene Möglichkeit, Maße von den Photographien zu entnehmen, so »daß man mit Hilfe einer gegebenen Größe die genauen Abmessungen der höchsten und unzugänglichsten Gebäudeteile rekonstruieren kann.«27 Bereits hier wird das wenige Jahre später, ebenfalls in Frankreich erfundene photogrammetrische Verfahren angedacht.28 Die Erwartungen, welche man im Allgemeinen in die neue Erfindung setzte, lassen sich kurz mit einer Kosten- und Personalreduzierung bei wachsender Genauigkeit umschreiben. In dieser Hinsicht bedient das neue photographische Verfahren den Wunsch nach vollständiger Erfassung aller Altertümer. Die Hieroglyphen sind hier als ein besonderes Beispiel zu betrachten. Sie sind kleinteilig genug, um die Genauigkeit 23 Gehalten am 3. Juli 1839 und in die Akten der Académie des Sciences aufgenommen, stimmten die Deputierten dem staatlichen Erwerb der Erfindung zu. 24 Daguerreotypie ist ein nach ihrem Erfinder, dem Maler Louis Jacques Mandé Daguerre, benanntes, unikates photografisches Verfahren auf beschichteten Metallplatten. 25 Somit wird von Anfang an auf die Suggestion gesetzt, die die gezeigten Bilder beim Publikum hervorrufen, bevor Aragon die Gedanken seiner Zuhörer ordnet. 26 Arago 1980 (1839), S. 51f. 27 Arago 1980 (1839), S. 52. 28 Es wird seit den 1850er Jahren von dem französischen Offizier Emile Laussedat entwickelt.

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Theoretische Grundlagen