Drogenabhängigkeit und Soziale Arbeit: Nutzen und ...

144. 5.2.1.6 Emotionale Unterstützung seitens der Professionellen ....... 145 ..... Untersuchung – fokussiert radikal die Perspektive der NutzerInnnen im Dienst-.
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Jessica Müller

Drogenabhängigkeit und Soziale Arbeit Nutzen und Nutzungsprozesse niedrigschwelliger, akzeptanzorientierter Drogenhilfeangebote

disserta Verlag

Müller, Jessica: Drogenabhängigkeit und Soziale Arbeit: Nutzen und Nutzungsprozesse niedrigschwelliger, akzeptanzorientierter Drogenhilfeangebote, Hamburg, disserta Verlag, 2013 Buch-ISBN: 978-3-95425-176-6 PDF-eBook-ISBN: 978-3-95425-177-3 Druck/Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2013 Covermotiv: © laurine45 – Fotolia.com

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Inhaltsverzeichnis I

Einleitung .................................................................................................. 13

II

Die theoretischen und drogenpolitischen Grundlagen ......................... 19 1. Der drogenpolitische Kontext ................................................................... 19 1.1 Historische Rekonstruktion der Drogenproblematik und Drogenpolitik bis Ende der 1960er Jahre ............................................ 19 1.2 Die Drogenpolitik der Bundesregierung ab 1971 ................................ 23 1.3 Die Drogenmythen und das Krankheitsparadigma als Argumentation und drogenpolitische Legitimation .............................. 25 1.4 Rauschgiftbekämpfung und Abstinenzparadigma ............................... 27 1.5 Die kriminalisierten Substanzen und die gesellschaftliche Abwehrhaltung gegenüber deren GebraucherInnen ........................... 28 1.6 Die Drogenprohibition, ihre ökonomischen Folgen, ihre sozialen und gesundheitlichen Risiken und die Profiteure der Prohibition ........ 30 1.7 Die ‚neue’ Drogenpolitik der Bundesregierung seit 1998 .................... 31 1.7.1 Die Konsumräume ....................................................................... 32 1.7.2 Die Substitution ............................................................................ 34 1.7.3 Die Prävention.............................................................................. 35 1.7.4 Fazit und derzeitiger Stand der Drogenpolitik .............................. 39 1.8 Die Drogenforschung und die Entwicklung von Forschungsperspektiven ..................................................................... 42 1.8.1 Kritik an Drogenhilfepraxis, Drogenforschung und Drogenpolitik . 42 1.8.2 Erste Versuche in eine neue Forschungsrichtung ........................ 46 1.8.3 Die neuere bundesdeutsche Drogenforschung ............................ 47 2. Akzeptanzorientierte Drogenarbeit........................................................... 49 2.1 Die soziopolitischen Bedingungen zur Durchsetzung akzeptanzorientierter Konzepte .......................................................... 50 2.2 Prämissen und Ziele akzeptanzorientierter Drogenarbeit ................... 52 2.3 Der Stellenwert akzeptanzorientierter Drogenarbeit ........................... 56 2.4 Praxis und Methoden akzeptanzorientierter Drogenarbeit .................. 57 2.5 Drogenpolitische Konsequenzen eines Akzeptanzparadigmas .......... 60 2.6 Zusammenfassung ‚Akzeptanzorientierte Drogenarbeit’..................... 61

III Soziale Arbeit als Dienstleistung ............................................................ 65 1. Einleitung ................................................................................................. 65 2. Die erste Dienstleistungsdiskussion in den 70er und 80er Jahren ........... 66 3. Die neuere Dienstleistungsdebatte seit den 1990er Jahren ..................... 68

4. Theoretische Konzepte sozialer Dienstleistung ....................................... 71 4.1 Funktionstheoretische Ansätze personenbezogener Dienstleistung ... 72 4.2 Konsumtions- und interaktionstheoretische Dienstleistungskonzeptionen .............................................................. 73 4.2.1 Theoretische Grundelemente Sozialer Arbeit als Dienstleistung.. 74 IV Theoretische Grundlagen und Perspektiven sozialpädagogischer Nutzerforschung ....................................................................................... 83 1. Einleitung ................................................................................................. 83 2. Nutzerforschung als sozialpädagogische Forschung ............................... 84 3. Theoretischen Begründung sozialpädagogischer Nutzerforschung ......... 86 4. Kontexte sozialpädagogischer Nutzerforschung ...................................... 88 5. Methodologie und Methoden sozialpädagogischer Nutzerforschung ...... 95 6. Sozialpädagogische Nutzerforschung – Perspektiven ............................. 97 7. Nutzen und Nutzung sozialpädagogischer Angebote Forschungsstand ..................................................................................... 98 7.1 Der Nutzen Sozialer Arbeit – Inhaltsebene ......................................... 98 7.2 Der Nutzen Sozialer Arbeit – Prozessebene ..................................... 102 8. Nutzenfördernde und nutzenlimitierende Bedingungen bei der Dienstleistungserbringung ..................................................................... 106 V Empirischer Teil ..................................................................................... 109 1. Auswahl des exemplarischen Untersuchungsfeldes .............................. 109 2. Die Institution: niedrigschwellige, akzeptanzorientierte Drogenhilfeeinrichtung ........................................................................... 109 3. Konkretisierung der Forschungsfrage .................................................... 111 4. Forschungsdesign.................................................................................. 112 4.1 Zur Forschungsmethodologie ........................................................... 113 4.2 Methodische Prinzipen qualitativer Forschung ................................. 114 4.3 Zur Wahl der Forschungsmethode ................................................... 116 4.4 Der Feldzugang ................................................................................ 119 4.5 Zur Auswahl der NutzerInnen ........................................................... 120 4.6 Das Interviewsetting.......................................................................... 120 4.7 Zur Datenauswertung ....................................................................... 121 5. Ergebnisse der Untersuchung ............................................................... 122 5.1 Zur Lebenssituation .......................................................................... 124 5.1.1 ‚Oliver’ ........................................................................................ 124 5.1.2 ‚Franko’ ...................................................................................... 127 5.1.3 ‚Olga’ .......................................................................................... 129

5.1.4 ‚Jack’ .......................................................................................... 130 5.1.5 ‚Julia’ .......................................................................................... 131 5.1.6 ‚Vanessa’ ................................................................................... 132 5.1.7 ‚Miriam’ ....................................................................................... 133 5.1.8 ‚Fred’ .......................................................................................... 134 5.1.9 ‚Jens’ .......................................................................................... 137 5.2 Nutzungs- und nutzenfördernde Bedingungen auf der Ebene der direkten Interaktion (Ebene 1) ........................................................... 140 5.2.1 Die Erbringungsdimension ......................................................... 140 5.2.1.1 Aktive und unmittelbare Weise der Hilfeerbringung ............. 140 5.2.1.2 Kontinuierliches und verlässliches Hilfeangebot der Professionellen .................................................................... 141 5.2.1.3 Konkrete Handlungsanweisungen seitens der Professionellen .................................................................... 142 5.2.1.4 Persönliches Engagement der Professionellen ................... 143 5.2.1.5 Persönliche Sorge seitens der Professionellen ................... 144 5.2.1.6 Emotionale Unterstützung seitens der Professionellen ....... 145 5.2.1.7 Durchsetzungsvermögen der Professionellen ..................... 146 5.2.1.8 Kontrolle seitens der Professionellen .................................. 147 5.2.2 Die Beziehungsdimension .......................................................... 147 5.2.2.1 Reziproke Beziehungsstruktur zwischen NutzerInnen und Professionellen ............................................................. 147 5.2.2.2 Ausgeglichenes Nähe- Distanz- Verhältnis zwischen NutzerInnen und Professionellen .................................... 148 5.2.2.3 Authentizität der Professionellen ......................................... 149 5.2.2.4 Angenehme Persönlichkeit und Menschlichkeit der Professionellen .................................................................... 150 5.3 Nutzungs- und nutzenlimitierende Bedingungen auf der Ebene der direkten Interaktion (Ebene 1) .................................................... 151 5.3.1 Die Erbringungsdimension ......................................................... 151 5.3.1.1 Passivität und Gleichgültigkeit seitens der Professionellen . 151 5.3.1.2 Geringe Kompetenz der Professionellen ............................. 152 5.3.2 Die Beziehungsdimension .......................................................... 152 5.3.2.1 Hierarchisches Beziehungsverhältnis zwischen Professionellen und NutzerInnen, sowie mangelnde Akzeptanz der NutzerInnen und Willkür seitens der Professionellen .................................................................... 152 5.4 Nutzungs- und nutzenfördernde Bedingungen des institutionellorganisationellen Erbringungskontextes (Ebene 2) .......................... 153

5.4.1 Fördernde Bedingungen im Kontext des Angebot des Kontaktladens ............................................................................ 153 5.4.1.1 Offene und anforderungsarme Gegebenheit der Infrastruktur ......................................................................... 153 5.4.1.2 Unmittelbare szenenahe Lage............................................. 154 5.4.1.3 Umnutzungsmöglichkeit der baulich- räumlichen Struktur der Einrichtung an spezifische Bedürfnisse ......................... 154 5.4.1.4 ‚Nutzungsfreundliches’ soziales Klima ................................ 155 5.4.1.5 Bereitstellung einer kostenlosen Rechtsberatung ............... 155 5.4.1.6 Räumliche Konzentriertheit einer breiten Angebotspalette .. 156 5.4.1.7 Bereitstellung kostengünstiger bzw. kostenloser Nahrungsmittel .................................................................... 157 5.4.1.8 Sicherung eines angenehmen sozialen Klimas durch Regeln ................................................................................. 158 5.4.1.9 Hilfen bezüglich der Vermittlung einer Arbeitstätigkeit ........ 159 5.4.1.10 Kostenloses Spritzentauschprogramm der Institution ......... 159 5.4.1.11 Bereitstellen einer Postlageradresse ................................... 160 5.4.1.12 Hilfen bezüglich der Vermittlung einer Wohnung................. 161 5.4.2 Fördernde Bedingungen im Kontext des Angebots der Notschlafstellen .......................................................................... 162 5.4.2.1 Flexible Struktur des Hilfeangebotes ................................... 162 5.4.2.2 Vorteilhafte Zimmergröße und reinliche Beschaffenheit der Notschlafstellen ............................................................. 163 5.4.2.3 Kenntnis über das bestehende Hilfeangebot und dessen Mobilisierbarkeit .................................................................. 164 5.4.2.4 Bereitstellung einer kostenlosen Übernachtungsmöglichkeit .................................................. 165 5.4.3 Fördernde Bedingungen im Kontext des Angebots des Konsumraumes .......................................................................... 167 5.4.3.1 Direkte Hilfe in Krisensituationen......................................... 167 5.4.3.2 Bereitstellung von gesundheitsfördernden bzw. stabilisierenden Hilfeangeboten .......................................... 168 5.4.3.3 Legale Konsummöglichkeit innerhalb der Einrichtung ......... 171 5.4.4 Fördernde Bedingungen im Kontext des Angebots der Tagesruhebetten ........................................................................ 173 5.4.4.1 Bereitstellung von kostenlosen Tagesruhebetten ................ 173 5.5 Nutzungs- und nutzenlimitierende Bedingungen des institutionellorganisationellen Erbringungskontextes (Ebene 2) .......................... 174 5.5.1 Limitierende Bedingungen im Kontext des Angebots des Kontaktladens ............................................................................ 174

5.5.1.1 Ungünstiges soziales Milieu ................................................ 174 5.5.1.2 Institutionelle ‚eins-zu-eins’ -Regel erschwert bzw. verhindert Zugang .......................................................... 175 5.5.1.3 Aggressives soziales Klima ................................................. 176 5.5.1.4 Kostenpflichtige Nahrungsmittel .......................................... 177 5.5.1.5 Gesteuerter Zugang in die Institution: Einlasskontrolle ....... 177 5.5.1.6 Nicht existente Arbeits- und Beschäftigungsangebote bzw. Weiterbildungsmaßnahmen und unzureichende Vermittlung .......................................................................... 178 5.5.2 Limitierende Bedingungen im Kontext des Angebots der Notschlafstellen .......................................................................... 179 5.5.2.1 Männerzentrierte Ausrichtung des Übernachtungsangebotes und gemischt geschlechtliche Zimmerbelegung ................................................................. 179 5.5.2.2 Unzureichende Intimsphäre ................................................ 179 5.5.2.3 Unzureichend vorhandene Kapazitäten (speziell hinsichtlich frauenspezifischer Angebote) ........................... 180 5.5.3 Limitierende Bedingungen im Kontext des Angebots des Konsumraumes .......................................................................... 180 5.5.3.1 Lange Wartezeiten hinsichtlich der Konsumraumnutzung ... 180 5.5.3.2 Kontrolle seitens der Professionellen im Kontext der Druckraumnutzung .............................................................. 181 5.5.3.3 Unzureichend vorhandene Kapazitäten bzw. Überlastung derselben............................................................................. 182 5.5.3.4 Unzureichende Erreichbarkeit des Angebotes .................... 183 5.6 Nutzungs- und nutzenlimitierende Bedingungen des gesamtgesellschaftlichen Erbringungskontextes (Ebene 3).............. 184 5.6.1 Politisch induzierte ‚Sparmaßnahmen’ erschweren bzw. verhindern die Realisation von Nutzen ..................................... 184 5.6.2 Gesetzliche Bestimmung (BtMG §10a Erlaubnis für den Betrieb von Drogenkonsumräumen) bildet die Grundlage für die institutionelle Konsumraumbenutzungsordnung ................... 186 5.6.3 Politische Bestimmungen verhindern neue nutzbringende Angebote (exemplarisch ‚Heroinstudie’)..................................... 188 5.6.4 ‚Kooperationsvereinbarungen' zwischen repressiven (Polizei) und helfenden Ansätzen (Drogenhilfe) ....................................... 188 5.6.5 Kriminalisierung des Drogenbesitzes erschwert bzw. verhindert den Zugang zur Institution und die Inanspruchnahme des Konsumraumangebotes ......................... 190 5.6.6 Ineffektive Drogenpolitik erschwert bzw. verhindert ‚Normalisierung’ ......................................................................... 190

5.6.7 Degradierende Kontrollen seitens der Polizei erschweren bzw. verhindern die Nutzung der Institution ............................... 192 5.7 Zusammenfassende Diskussion der nutzungs- und nutzenfördernden sowie nutzungs- und nutzenlimitierenden Bedingungen . 192 5.8 Rekonstruktion von Nutzungsstrategien und Typenbildung .............. 213 5.8.1 Typ I: abwägend- annehmende Nutzungsstrategie in einer ‚alltäglichen’ Situation bei einer periodischen Relevanz des konkreten Angebotes ................................................................. 215 5.8.2 Typ II: direkt- gezielte Nutzungsstrategie in ‚schwierigen’ Situationen bei einer temporären Relevanz des konkreten Angebotes .................................................................................. 220 5.8.2.1 Typ II: direkt- gezielte Nutzungsstrategie in ‚schwierigen’ Situationen bei einer temporären Relevanz der professionellen Hilfen .......................................................... 220 5.8.2.2 Typ II: direkt- gezielte Nutzungsstrategie in ‚schwierigen’ Situationen bei einer temporären Relevanz des konkreten materiellen Angebotes ........................................ 228 5.8.3 Typ III: einfordernde Nutzungsstrategie in ‚Notlagensituationen’ bei einer akuten Relevanz des konkreten Angebotes ................................................................. 231 5.9 Zusammenfassung und Präzisierung der Typenbildung ................... 234 5.9.1 Der Typ I .................................................................................... 234 5.9.2 Der Typ II ................................................................................... 234 5.9.3 Der Typ III .................................................................................. 236 5.10 Diskussion der Typenbildung........................................................... 236 VI Konfrontation und Konklusion .............................................................. 241 VII Literaturverzeichnis ............................................................................... 255

I

Einleitung

In der Drogen- und Suchthilfe dominiert immer noch die ‚berufliche Fürsorglichkeit’ gestützt auf der Annahme, dass KlientInnen zu KlientInnen werden, weil sie „Träger von Defiziten, Problemen, Pathologien und Krankheiten sind, daß sie – in kritischem Maße – beschädigt oder schwach sind“ (Herriger 1997: 68). Inzwischen hat zudem das Krankheitsparadigma drogenpolitisch eine Renaissance erfahren: ‚Drogenabhängigkeit’ wird als Krankheit festgeschrieben, Drogengebrauch als krankhaftes Verhalten angesehen, wodurch DrogengebraucherInnen per se als behandlungsbedürftig betrachtet, entsprechenden ‚ExpertInnen’ zugeführt und zu unmündigen Behandlungsobjekten gemacht werden. Die modernde Sucht- und Drogenforschung hat jedoch nachdrücklich gezeigt, dass ‚Drogenabhängigkeit’ kein statischer Zustand ist, welcher – wenn einmal erreicht – nur durch spezifische sozialpädagogische oder therapeutische Betreuungsaktivitäten ‚lösbar’ ist. Die Forschungsergebnisse zeigen auf, dass Drogenabhängigkeit nicht als eine rein pharmakologisch und psychisch bedingte, generell behandlungsbedürftige Krankheit angesehen werden kann. Ferner widersprechen die Forschungsergebnisse einer Opfertheorie, die kein aktives Subjekt kennt, das selbstbestimmend und selbsttätig kooperierend im Hilfeprozess agiert. Insofern sind drogengebrauchende Menschen weder an sich behandlungsbedürftig noch generell krank, folglich nicht per se KlientInnen, sondern werden durch das Diagnosesystem dazu gemacht, zu ‚Objekten’ der medizinischen, drogenhilfepraktischen, psychiatrischen und repressiven ‚Fürsorglichkeit’, die aufgrund ihrer ‚Defizite’ nicht als gleichberechtigte Verhandlungs- und KooperationspartnerInnen im Hilfeprozess angesehen werden. Die praktischen Konsequenzen für die Drogenhilfe – gestützt auf den Erkenntnissen der modernen Sucht- und Drogenforschung – erscheinen jedoch evident: Modelle der freiwilligen Selbstbindung qua vermittelter Einsicht sind zum Scheitern verurteilt. „Der Drogenabhängige bedient sich, bezogen auf seine Biographie, bestimmter bereitgestellter Dienstleistungen. Er wird eben nicht gegriffen und dann therapiert. Dieses Konzept ist gescheitert“ (Degwitz 1996: 72). 13

Insofern kann Drogenhilfe auch nichts produzieren – weder Therapiemotivation noch Abstinenz etc. – sondern lediglich Unterstützung zur Selbstproduktion der Subjekte anbieten. Mithin können DrogenhilfeexpertInnen – mit ihrem funktional- normierenden Auftrag – eben keine bestimmten pädagogischen Methoden als ‚Werkzeuge’ einsetzen, um erwünschtes Verhalten herzustellen und somit auch nichts produzieren, denn das können nur die Subjekte selbst. Die vorliegende Studie verfolgt die Rekonstruktion von Nutzen und Nutzungsprozessen sozialer Dienstleistungen anhand qualitativer Interviews mit NutzerInnen von niedrigschwelligen, akzeptanzorientierten Drogenhilfeangeboten. Sozialpädagogische Nutzerforschung – als Forschungsansatz der vorliegenden Untersuchung – fokussiert radikal die Perspektive der NutzerInnnen im Dienstleistungsprozess. Ausgangspunkt sozialpädagogischer Nutzerforschung ist das Aneignungshandeln der NutzerInnen im Prozess der Dienstleistungsproduktion. Die NutzerInnen nehmen, aus dienstleistungstheoretischer Perspektive hergeleitet, den ProduzentInnenstatus bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen ein. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht der ‚Gebrauchswert’ sozialer Dienstleistungen für die Lebensführung der NutzerInnen. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatten um Effektivität und Effizienz in der Sozialen Arbeit gewinnt der ‚subjektive’ Faktor resp. die NutzerInnnenperspektive an Bedeutung. Werden die Subjekte als die ProduzentInnen ihres Lebens verstanden, ist die ‚Effektivität’ von sozialen Dienstleistung im besonderen Maße von den ProduzentInnen der Dienstleistung, den NutzerInnen, abhängig. Insbesondere muss die angebotene Dienstleistung für die ProduzentInnen resp. NutzerInnen eine Wertigkeit besitzen, dementsprechend die soziale Dienstleistung aus NutzerInnperspektive hinsichtlich der Bearbeitung der individuellen Lebenssituation als nützlich beurteilt werden. Die Frage nach dem Nutzen Sozialer Arbeit und der Prozesse der Nutzung ergibt sich nicht zuletzt aus den Anfragen an die gesellschaftliche Leistungsfähigkeit Sozialer Arbeit und gewinnt daher eine besondere Relevanz. In der vorliegenden Studie wird im Hinblick auf die Steigerung des ‚Gebrauchwertes’ anhand qualitativer Interviews mit NutzerInnen von niedrigschwelligen, akzeptanzorientierten Drogenhilfeangeboten rekonstruiert, ob die NutzerInnen als die eigentlichen ProduzentInnen im Dienstleistungsprozess auftreten und 14

agieren (können), wie die NutzerInnen mit den Angeboten umgehen, welche Strategien sie in der Auseinandersetzung mit den Angeboten entwickeln, unter welchen Rahmenbedingungen eine Nutzung stattfindet und was die NutzerInnen hinsichtlich der Bewältigung ihrer jeweiligen Problemlage als tauglich beurteilen? Damit ist das spezifische Erkenntnisinteresse der Untersuchung umschrieben und lässt sich in folgende Forschungsfrage übersetzen: „Wie nutzen die Nutzerinnen und Nutzer die Angebote der niedrigschwelligen, akzeptanzorientierten Drogenhilfe und was ist dabei nützlich für sie im Hinblick auf die Bearbeitung der sich ihnen stellenden Lebensaufgaben“? Entsprechend richtet sich das analytische Erkenntnisinteresse auf das Erbringungsverhältnis der Dienstleistungsproduktion. Das Erbringungsverhältnis ist eingebettet in konkrete institutionell- organisationelle und gesamtgesellschaftliche Erbringungskontexte, wodurch zugleich Bedingungen fokussiert und der kritischen Analyse zugänglich gemacht werden, die das Aneignungshandeln und die Nutzung der NutzerInnen befördern, erschweren oder gar verhindern. Folglich richtet sich der Fokus der Analyse – neben dem auf Nutzungsstrategien der NutzerInnen – sowohl auf Faktoren auf der Interaktionsebene zwischen NutzerInnen und Professionellen als auch auf institutionell- organisationelle und gesamtgesellschaftliche Bedingungen der Dienstleistungsproduktion. Die Studie gliedert sich in zwei Hauptteile, einen Theorieteil (Kapitel II, III und IV) und einen empirischen Teil (Kapitel V und VI). Zu Beginn der Arbeit wird ein ausführlicher Überblick über die deutsche Drogenpolitik und das ‚Abstinenzparadigma’ gegeben, weil es notwendig erscheint die politischen Rahmenbedingungen aufzuzeigen, die den ‚Alltag’ und die Lebensbedingungen von drogengebrauchenden Menschen bestimmen und einen bedeutenden Einfluss auf Form und Inhalt der Drogenhilfeangebote sowie deren Realisierung haben, mithin die Rahmenbedingungen der sozialen Dienstleistung ‚Drogenhilfe’ markieren (Kapitel II 1. - 1.7.4). Dementsprechend können die Dienstleistungsangebote von Drogenarbeit nicht isoliert von den gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen betrachtet und analysiert werden. Um die grundsätzliche Andersartigkeit von akzeptanzorientierten Konzepten im Vergleich zu traditionellen zu verdeutlichen und nachvollziehbar zu machen, 15

wird die Entwicklung bundesdeutscher Drogenhilfepraxis nachgezeichnet und Kritikpunkte zur traditionellen Drogenhilfepraxis, zu Drogenforschung und Drogenpolitik aufgeführt sowie der Stand der modernen Sucht- und Drogenforschung umrissen (Kapitel II 1.8 - 1.8.3). Im Anschluss daran wird dem Abstinenzparadigma das Akzeptanzparadigma gegenübergestellt, das auf akzeptanzorientierter Drogenarbeit beruht. Es werden sowohl die Bedingungen zur Durchsetzung akzeptanzorientierter Konzepte in der Drogenhilfepraxis als auch die Begriffe, Prämissen und Ziele akzeptanzorientierter Drogenhilfe expliziert. Des Weiteren werden Funktion und Stellenwert sowie Methoden und Effektivität akzeptanzorientierter Drogenarbeit erörtert und drogenpolitische Konsequenzen dieses Handlungsmodells diskutiert (Kapitel II 2.- 2.6). In Kapitel III wird Soziale Arbeit als Dienstleistung theoretisch begründet, da der vorliegende Forschungsansatz auf dieses kategorial neu konzipierte Konzept von Dienstleistung rekurriert (Kapitel III 4.2.1). Dazu wird zunächst die ‚alte’ Dienstleistungsdiskussion nachgezeichnet (Kapitel III 2.) und in einem nächsten Schritt die ‚neue’ Dienstleistungsdebatte, die sich wiederum in zwei Diskussionsstränge aufteilt, rekonstruiert (Kapitel III 3.). Anschließend werden theoretische Konzepte, die eine Bestimmung der Dienstleistungskategorie vornehmen, gegenübergestellt (Kapitel III 4. - 4.2). Schließlich wird die grundsätzlich systematisch und kategorial neue Konzeptualisierung von Sozialer Arbeit als Dienstleistung rekonstruiert (Kapitel III 4.2.1). Im Hinblick auf den vorliegenden Forschungsansatz werden in Kapitel IV die theoretischen Grundlagen sozialpädagogischer Nutzerforschung aufgeführt. Expliziert werden die spezifische Fokussierung, theoretische Begründung und Kontexte sozialpädagogischer Nutzerforschung. Ebenso werden Methodologie und Methoden sowie Perspektiven sozialpädagogischer Nutzerforschung beleuchtet. Weiter wird auf die grundlegende Differenzierung von Nutzen und Nutzung sowie auf Bedingungen bei der Dienstleistungserbringung verwiesen (Kapitel IV). Im zweiten Hauptteil der Studie – dem empirischen Teil – werden die Institution der Untersuchung und die Forschungsfrage vorgestellt sowie das Ziel der Untersuchung formuliert. Des Weiteren wird das Forschungsdesign erläutert, 16

die Wahl der Forschungsmethode begründet und der Feldzugang, die Auswahl der NutzerInnen, das Interviewsetting und die Datenauswertung beschrieben (Kapitel V 1. - 4.7). Die Darstellung der Ergebnisse der Untersuchung beginnt mit der Kategorie der Lebenssituation der NutzerInnnen (Kapitel IV 5.1 - 5.1.9). Im Anschluss daran werden die Ergebnisse – die nutzungs- und nutzenfördernde und nutzungs- und nutzenlimitierende Bedingungen im Prozess der Dienstleistungserbringung thematisieren – zusammenfassend, in zuvor differenzierte Kontexte, systematisiert aufgeführt (Kapitel IV 5.2 - 5.6.7). Eine erste Diskussion der empirischen Ergebnisse erfolgt in Kapitel IV 5.7. Die Ergebnisse, die hinsichtlich der Rekonstruktion von Nutzungsstrategien mit anschließender Typenbildung gewonnen werden konnten, werden in Kapitel IV 5.8 - 5.8.3 dargestellt. Anschließend erfolgt die Zusammenfassung und Präzisierung der Typenbildung (Kapitel IV 5.9- 5.9.3) sowie die Diskussion der Typenbildung (Kapitel IV 5.10). Abschließend werden Schlussfolgerungen anhand der empirischen Ergebnisse unternommen und mögliche Modifikationen der Dienstleistungserbringung aufgezeigt sowie – nach angeführter Kritik – Perspektiven für die notwendige Neugestaltung in Drogenhilfepraxis und Drogenpolitik eröffnet (Kapitel VI).

17

II Die theoretischen und drogenpolitischen Grundlagen 1

Der drogenpolitische Kontext

In diesem Kapitel werden die drogenpolitischen Rahmenbedingungen aufgeführt, die das Problem der Drogenproblematik erst entstehen lassen – obwohl gerade diese Bedingungen das Drogenproblem ‚lösen’ sollen – und gleichzeitig auf die staatlich vorgegebenen Bedingungen hingewiesen unter denen Soziale Arbeit und insbesondere Drogenhilfe stattfinden muss und letztlich die Folgen der ‚Problematik’ – der Drogenverbotspolitik – zu bearbeiten hat. Weiter wird aufgezeigt, wie die repressive staatliche Drogenverbotspolitik den ‚Alltag’ und die Lebensbedingungen von DrogenkonsumentInnen bestimmt und welche Konsequenzen aus den drogenpolitischen Rahmenbedingungen für drogengebrauchende Menschen – existentielle Bedrohungen wie Stigmatisierung und Kriminalisierung – resultieren.

1.1 Historische Rekonstruktion der Drogenproblematik und Drogenpolitik bis Ende der 1960er Jahre Zunächst wird ein historischer Überblick über die Genese der Problematik illegalisierter Drogen in Deutschland vermittelt. Bereits anhand der Betrachtung der historischen Entwicklungen im Drogensektor ergeben sich konkrete Anhaltspunkte, welche die erforderliche Umgestaltung von Drogenhilfepraxis und Drogenpolitik notwendig machten und machen. Opiate zählen, medizinhistorisch betrachtet, zu den ältesten pharmakologisch genutzten Substanzen. Zu Beginn des Mittelalters gewannen in Deutschland opiumhaltige Tinkturen an medizinischer Bedeutung. Spätestens ab dem 16. Jahrhundert fanden sie als wichtigste Analgetika und Sedativa Verwendung. Das kommerziell hergestellte Opiumalkaloid Morphium, von der Firma Merck & Co in den 1820er Jahren auf den Markt gebracht, fand große medizinische Verbreitung, da es mittels Injektion direkt in den Blutkreislauf gelang und somit die angestrebte pharmakologische Wirkung schneller entfalten konnte als oral angewendete Opiate. Bereits im Preußisch- Österreichischen Krieg von 1866 und im Deutsch- Französischen Krieg von 1870/71 kam es zu einer massenhaf19