Download als PDF - Zeitschrift DEUTSCHLAND & EUROPA

15.03.2013 - (vergriffen), kostenloser download .... Dabei sollte ein Mix aus Online- und Offline-Beteiligung angewandt werden. Das Beteiligungsportal ...... den beiden erstgenannten Bereichen auf das Konto der jungen. Leute (14 bis 30 ...
3MB Größe 19 Downloads 393 Ansichten
Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte,

ISSN 1864-2942

Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft

DEUTSCHLAND & EUROPA Heft 65 – 2013

Bürgerbeteiligung in Deutschland und Europa

2013 Politisch beteiligen!

DuE65_ums.indd U1

15.03.13 07:43

Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft

DEUTSCHLAND & EUROPA

HEFT 65–2013 »Deutschland & Europa« wird von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben. DIREKTOR DER LANDESZENTRALE Lothar Frick REDAKTION Jürgen Kalb, [email protected] REDAKTIONSASSISTENZ Sylvia Rösch, [email protected] BEIRAT Günter Gerstberger, Robert Bosch Stiftung GmbH, Stuttgart Renzo Costantino, Ministerialrat, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Prof. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität Konstanz Dietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., Filderstadt Lothar Schaechterle, Professor am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen/Neckar Dr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und Studienhaus Wiesneck Dr. Georg Weinmann, Studiendirektor, DietrichBonhoeffer-Gymnasium Wertheim Lothar Frick, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Jürgen Kalb, Studiendirektor, Landeszentrale für politische Bildung ANSCHRIFT DER REDAKTION Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon: 0711.16 40 99-45 oder -43; Fax: 0711.16 40 99-77

Die Teilnehmer des »Filderdialogs« am Samstag, den 16.06.2012 in Leinfelden-Echterdingen. Beim Filderdialog berieten Bürgerinnen und Bürger sowie Experten/-innen über mögliche alternative Stuttgart-21-Trassenvarianten rund um den Landesflughafen in Leinfelden-Echterdingen. Während die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg diese Form der Bürgerbeteiligung positiv bewertete, beurteilte z.B. die Bürgerinitiative »Schutzgemeinschaft Filder« oder der »BUND« diese überwiegend kritisch. © Franziska Kraufmann dpa/lsw Kontroverse Diskussion um den »Filderdialog«: Stellungnahme der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeiteiligung der badenwürttembergischen Landesregierung, Gisela Erler: www.stm.baden-wuerttemberg.de/de/ Meldungen/285478.html?referer=225359&template=min_meldung_html&_min=_stm Stellungnahme der »Schutzgemeinschaft Filder« und des »BUND«: www.schutzgemeinschaftfilder.de/presse/presse-anzeige/article/schutzgemeinschaft-und-bund-empoert-ueber-umgangmit-filderdialog-votum-beide-erklaeren-austritt-a/ Weiterführende Informationen auf der Website des »Filderdialogs 21« www.filderdialog-s21.de

SATZ Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit Telefon: 0711.44 06-0, Fax: 0711.44 06-179 DRUCK Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm mbH 89079 Ulm Deutschland & Europa erscheint zweimal im Jahr. Preis der Einzelnummer: 3,– EUR Jahresbezugspreis: 6,– EUR Auflage 17.000 Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion. Mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport sowie der Heidehof Stiftung.

THEMA IM FOLGEHEFT 66 (NOVEMBER 2013)

Erweiterungs- und Austrittsdiskussionen in der Europäischen Union

Inhalt

Inhalt

Bürgerbeteiligung in Deutschland und Europa Vorwort des Herausgebers  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1. Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr­ebenensystem – Chancen und G ­ renzen  Jürgen Kalb 3 2. Auf dem Weg zur Mitmachdemokratie: Gemeinsam gestalten – Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen  Gisela Erler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 3. Entwicklungen der partizipativen Demokratie in Europa  Patrizia Nanz | Jan-Hendrik Kamlage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 4. Bürgerbeteiligung und soziale ­Gleichheit: Zwei Prinzipien im Spannungs­feld von Utopie und Wirklichkeit am Beispiel Deutschland  Oscar W. Gabriel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 5. Die europäische Bürgerinitiative und die Möglichkeiten und Grenzen der Bürgerbeteiligung in der EU  Franz Thedieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 6. Mehr Demokratie? Zivilgesellschaft­liche Bewegungen in Deutschland und Europa von 1945–1990  Andreas Grießinger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 7. Soziale Medien und das Partizipationsparadox  Jan-Hinrik Schmidt. . . . . . . . . . . . . . . . 46 8. Wahlalter 16? »Nichts ist aktivierender als die Aktivität selbst«  D&E-Interview mit Prof. Dr. Klaus Hurrelmann zum »Wahlalter mit 16«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 9. »Wahlalter 16«  – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit?  D&E-Interview mit Dr. Jan Kercher, Universität Stuttgart-Hohenheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 10. »Projekt Grenzen-Los!« ­Trinationale Zusammenarbeit für eine Engagement­kultur ​ Jeannette Behringer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

Deutschland & Europa intern D&E – Autorinnen und Autoren – Heft 65  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

D&E

Heft 65 · 2013

Inhalt

1

2

Vorwort des Herausgebers

Geleitwort des Ministeriums

Unser repräsentativ-demokratisches System befindet sich, so scheint es jedenfalls im Moment, in einem tiefgreifenden Wandel. Auf der einen Seite verlieren insbesondere die politischen Parteien zunehmend an Vertrauen und an Mitgliedern, auf der anderen Seite werden von großen Teilen der Bevölkerung direkte Formen der Demokratie wie z.B. Bürgerbegehren oder Volksentscheide, zumindest aber eine stärkere »Bürgerbeteiligung« eingefordert. Nach einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahre 2011 wünschen sich 81 Prozent der befragten Bürger mehr Beteiligungs- und Mitsprachemöglichkeiten im politischen Prozess. Gefragt nach der grundsätzlichen Bereitschaft, sich über Wahlen hinaus z.B. an Diskussionsforen, Bürgerbegehren oder Anhörungen zu beteiligen, zeigten sich 60 Prozent bereit, sich stärker einzubringen. 85 Prozent der Bürger in Deutschland stimmten der Aussage zu, dass politische Entscheidungen durch mehr Bürgerbeteiligung eine höhere Akzeptanz in der Bevölkerung fänden. Schließlich sagten 76 Prozent der Befragten, Deutschland würde durch mehr Bürgerbeteiligung gerechter. Empirische Untersuchungen zeigen allerdings auch, dass sich bildungsferne Gruppen keineswegs von allen Bürgerbeteiligungsmöglichkeiten über demokratische Wahlen hinaus in gleichem Maße angesprochen fühlen wie etwa die Bürgerinnen und Bürger mit höherer formaler Bildung. Die Forderung nach »mehr Bürgerbeteiligung« könnte deshalb sogar zu Verzerrungen bei der Erhebung des Volkswillens im demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess führen. Gleichzeitig wächst in einer modernen Industriegesellschaft fast täglich die Notwendigkeit, etwa durch die Erneuerung der Infrastruktur im Energie-, Verkehrs- oder Schulwesen, in den Alltag der Menschen einzugreifen. Deshalb reift auch bei den gewählten Repräsentanten die Einsicht: Nur wenn die Bürgerinnen und Bürger merken, dass sie frühzeitig informiert, offen angehört und ihre Argumente verstanden werden, lässt sich eine höhere Identifikation, wenn nicht sogar die Verantwortungsübernahme zumal der jungen Bürgerinnen und Bürger für das Gemeinwohl erreichen. Voraussetzung und Grundlage für eine, wenn man so will, »Partizipationskompetenz« der Bürgerinnen und Bürger ist dabei stets eine sachliche, die kontroversen Standpunkte der Beteiligten berücksichtigende politische Bildung. 15. März 2013

Lediglich 42 % der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind der Meinung, dass ihre Stimme in der Union zählt. Und nur die Hälfte aller EU-Bürgerinnen und -Bürger sind mit der Art und Weise, wie Demokratie auf europäischer Ebene aktuell funktioniert, zufrieden (Eurobarometer 77.4, 2012). Diese Ergebnisse sind bedenklich und signalisieren deutlich Handlungsbedarf, um das Vertrauen der Menschen in die Leistungs- und Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union zu stärken.

Lothar Frick Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg

Vorwort & Geleit wort

Jürgen Kalb, LpB, Chefredakteur von »Deutschland & Europa«

Richtig ist aber auch: Bürgerinnen und Bürger engagieren sich mehr denn je und suchen nach neuen Wegen der Mitwirkung und der politischen Partizipation. Die Europäische Union hat das Jahr 2013 zum »Europäischen Jahr der Bürgerinnen und Bürger« erklärt und trägt damit der Tatsache Rechnung, dass der wichtigste Baustein einer modernen Demokratie die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen ist. Die Bürgerbeteiligung gibt Menschen unterschiedlichster Herkunft und politischer Überzeugung die Möglichkeit, Politik zu erleben und mitzugestalten. Eine lebendige Gesellschaft braucht aktive Bürgerinnen und Bürger, die das Zusammenleben gestalten wollen, das Wort ergreifen, sich verantwortlich zeigen und sich einbringen. Dies gilt auf Ebene der Einzelstaaten, und dies hat auch für das Zusammenleben in Europa Gültigkeit. Die aktuelle Ausgabe von »Deutschland & Europa« gibt einen gelungenen Einblick in die verschiedenen Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung im europäischen System und beleuchtet das Thema aus vielfältigen Blickwinkeln. Die Bandbreite reicht von einer historischen Betrachtung der zivilgesellschaftlichen Bewegungen in Deutschland und Europa bis hin zur aktuellen Diskussion zur Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Damit bietet das Heft eine ideale Grundlage für eine differenzierte Auseinandersetzung mit einem für die Zukunft Europas entscheidend wichtigen Themenkomplex.

Renzo Costantino Ministerium für Kultus, Jugend und Sport in Baden-Württemberg

D&E

Heft 65 · 2013

BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

1. Bürgerbeteiligung im europäischen Mehrebenensystem – Chancen und Grenzen JÜRGEN KALB

D

ie Europäische Union hat das Jahr 2013 zum »Europäischen Jahr der Bürgerinnen und Bürger« erklärt. Verbunden damit ist die Aufforderung, sich über die Zukunft der EU, die »EU 2020«, auf allen exekutiven und legislativen Ebenen, aber auch in der Zivilgesellschaft und in der Geschäftswelt öffentlich auszutauschen. Zudem werden, so heißt es, die Bürgerinnen und Bürger auf den nationalen, regionalen oder lokalen Ebenen aufgefordert, sich zu artikulieren und sich zu beteiligen, sollen neue Wege der Bürgerbeteiligung gesucht, ausprobiert und etabliert werden. Dies geht einher mit Bestrebungen in einzelnen Bundesländern, wie z. B. Baden-Württemberg, und Kommunen, mehr »Bürgerbeteiligung zu wagen«. Doch was ist substantiell an dieser »Wende hin zu den Bürgerinnen und Bürgern«? Sind es gar nur Alibianhörungen in einem zu erstarren drohenden repräsentativ-demokratischen »europäischen Abb. 1 »Ist das nicht das Bürokratie-Monster? …« © Gerhard Mester, 20.1.2013 Mehrebenensystem«, das nicht selten als fernes »bürokratisches Monster Brüssel« reiche Mitgliedstaaten sitzen heute bereits europakritische Parkarikiert wird? Das Ansehen der demokratisch gewählten Verteien in den Parlamenten. Dies sollte auch in Deutschland nicht treterinnen und Vertreter ist jedenfalls, das zeigen nahezu bagatellisiert werden, auch wenn es hierzulande (noch) keine exalle nationalen sowie europaweiten Befragungen, auf einem plizit populistisch-europakritische Partei in den Parlamenten Tiefpunkt angelangt. Ob sich durch mehr Bürgerbeteiligung gibt. Schon in Großbritannien sieht es anders aus. So kündigte zu eine Trendwende einleiten ließe, bleibt bislang sicher eine ofBeginn des Jahres 2013 der britische Premierminister David Cafene Frage. Optimisten sehen in der Etablierung von »formelmeron an, im Jahre 2017 ein Referendum über die weitere Mitlen und informellen Formen der direkten Partizipation« begliedschaft des Vereinigten Königreichs in der EU durchführen zu reits Alternativen bzw. Ergänzungen zum parlamentarischen lassen. Und Meinungsforscher sehen im Moment sogar eine System. Skeptiker warnen dagegen vor allzu viel Euphorie, ja Mehrheit bei jenen Briten, die einen Austritt aus der EU befürworsehen darin sogar die Gefahr, dass formelle und informelle ten. In den Niederlanden, in Finnland, in Österreich, um nur eiAnhörungen der Bürgerinnen und Bürger das parlamentarinige Länder zu nennen, eroberten europakritische Parteien sche System und die Verantwortlichkeit der demokratisch lelängst enorme Prozentpunkte bei Parlamentswahlen. gitimierten Repräsentanten aushöhlen und letzten Endes, Insbesondere nach der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise fänden die Befragungen dann doch wenig Gehör, zu noch sowie in der Folge der Staatsschuldenkrise in den PIIGS-Staaten mehr Frustration und Misstrauen führen könnten. Letztlich (Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien), oft auch absei die Partizipationsbereitschaft auch keineswegs auf alle gekürzt »Euro-Krise« genannt, scheinen jene Recht zu bekomBevölkerungsgruppen gleichmäßig verteilt, was zu extremen men, die schon längst behaupten, dass die ProblemlösungskapaVerzerrungen in der politischen Meinungs- und Willensbilzität der Europäischen Union nicht ausreiche, die aktuellen dung führen müsse. Andererseits sind sich alle Beteiligten Herausforderungen zu bewältigen. Als Krisenbewältiger erscheischnell darin einig, dass ohne die Zustimmung seiner Bürgenen in den Medien und damit auch in den Augen der meisten Bürrinnen und Bürger ein so komplexes System wie das transnatigerinnen und Bürger dabei auch in erster Linie die Staats- und onale Mehrebenensystem der Europäischen Union auf Dauer Regierungschefs der großen EU-Mitgliedstaaten, die in nächtenicht funktionieren kann. Das Anwachsen von Kräften, die langen Konferenzen um Kompromisse ringen. Als weiterer Agent sich für eine Renationalisierung einsetzen, lässt sich heute neben dem Europäischen Rat erscheinen in den Medien höchsbereits in manchen Mitgliedstaaten beobachten. tens noch die Vertreter der Europäischen Kommission. Vom Europaparlament war dagegen in diesen Krisenmonaten wenig zu lesen, zu hören oder zu sehen. Schon ist die Rede vom weiteren Warum ein »Europäisches Jahr »Legitimationsverlust« der EU. Die »Effektivität« der beschlosseder Bürgerinnen und Bürger«? nen Kompromisse wird schon länger angezweifelt. Umstrittene EU-Richtlinien aus den Reihen der EU-Kommission Europakritische Stimmen melden sich nicht nur in den Medien erzeugen zudem den Eindruck einer Regelungswut aus Brüssel, und an den Stammtischen in zunehmendem Ausmaße. In zahldie an den Bedürfnissen der einzelnen Bürgerinnen und Bürger

D&E

Heft 65 · 2013

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenens ystem – Chancen und Grenzen

3

JÜRGEN KALB

4

vor Ort vollkommen vorbei gehe. Als Beispiel sei hier nur die sog. »Wasser-Richtlinie« genannt, die inzwischen durch öffentlichen Druck wieder zurück genommen wurde. Unter der Überschrift des »Europäischen Semesters« sind es dann wiederum der »Rat« und die Kommission, die die Mitgliedstaaten zur Einhaltung der nationalen Haushaltsdisziplin bzw. des Fiskalpaktes drängen. Vor allem in den Krisenstaaten entsteht der Eindruck, aus »Brüssel« oder »Berlin« werde eine Austeritäts- oder Sparpolitik diktiert, die den Bedürfnissen dieser Staaten keineswegs gerecht werde. Und Jugendarbeitslosigkeitsraten in den Krisenstaaten von nahe an oder über 50 % lassen in der Tat europaweit aufhorchen. Andererseits wehren sich zunehmend Menschen in den nördlichen EU-Mitgliedstaaten dagegen, »Zahlmeister der EU« zu werden. Bürgernähe erzeugt beides nicht. Zwar hat der Lissaboner Vertrag, der seit 2009 als Grundlagenvertrag der EU gilt, die Rechte des Europaparlaments deutlich ausgeweitet, dessen Medienpräsenz und damit öffentliche Beachtung erscheint aber nach wie vor zumindest bei der Krisenbewältigung peripher. Selbst dem interessierten Beobachter des Europaparlaments fällt es schwer einzuschätzen, welches Gewicht das Europaparlament im Brüsseler Gesetzgebungsprozess denn nun wirklich spielt. 2014 stehen erneut Europawahlen an. Und Abb. 2 »Wie hoch ist Ihr Vertrauen in folgende Berufsgruppen?« bereits 2009 war die Wahlbeteiligung mit © Change, Das Magazin der Bertelsmann Stiftung, Sonderheft 2009; S. 19 europaweit rund 43 % keineswegs überzeugend. Sein Wunschbild für Europa heißt für ihn, »mehr europäische BürgerMit dem »Europäischen Jahr der Bürgerinnen und Bürger« im Jahr gesellschaft« (S. 12). Darunter versteht Gauck auch »eine europäische 2013 möchten die Europäische Kommission und die EuropaparlaAgora, ein gemeinsamer Diskussionsraum für das demokratische Miteinmentarier deshalb rechtzeitig damit beginnen, Wählerinnen und ander« (S. 11). Direkt an die anwesenden Schülerinnen und Schüler Wähler für die Europawahlen zu mobilisieren. gewandt führt er aus: Die Europäische Kommission hat dazu neben einer Öffentlich»Wir brauchen heute ein erweitertes Modell. Vielleicht könnten ja unsere keitskampagne mit verschiedenen Webportalen (z. B. http://europa. eu/citizens-2013/de/home) zudem »Eurobarometer« damit beauftragt Medienmenschen, könnte unsere Medienlandschaft so eine Art europaförherauszufinden, ob die Bürgerinnen und Bürger in der EU denn dernde Innovation hervorbringen, vielleicht so etwas wie »Arte für alle« genügend über ihre Rechte als Unionsbürger informiert seien (»Arte« ist ein deutsch-französischer TV-Sender mit kulturellem Anspruch: (Flash Eurobarometer 365 vom Februar 2013, Erhebung November 2012). J. K.), ein Multikanal mit Internetanbindung, für mindestens 27 Staaten, Das insgesamt positive Ergebnis kann aber sicher nicht darüber 28 natürlich, für Junge und Erfahrene, Onliner, Offliner, für Pro-Europäer hinweg täuschen, dass die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger und Europa-Skeptiker. Dort müsste mehr gesendet werden als der Eurovimit ihren Mitwirkungsrechten auf der europäischen Ebene keision Song Contest oder ein europäischer Tatort. Es müsste zum Beispiel neswegs zufrieden sind. Reportagen geben über Firmengründer in Polen, junge Arbeitslose in SpaBundespräsident Joachim Gauck hat in seiner Rede vom 22.2.2013 nien oder Familienförderung in Dänemark. Es müsste Diskussionsrunden einige der seit langem zu hörenden Kritikpunkte an der EU aufgegeben, die uns die Befindlichkeiten der Nachbarn vor Augen führten und listet: »den Verdruss über die sogenannten Brüsseler Technokraten und verständlich machten, warum sie dasselbe Ereignis unter Umständen ihre Regelungswut, die Klage über mangelnde Transparenz der Entscheiganz anders beurteilen als wir. Und in der großen Politik würden dann dungen, das Misstrauen gegenüber einem unübersichtlichen Netz von Innach einem Krisengipfel die Türen aufgehen und die Kamera würde nicht stitutionen und nicht zuletzt den Unwillen über die wachsende Bedeutung nur ein Gesicht suchen, sondern die gesamte Runde am Verhandlungstisch des Europäischen Rates und die dominierende Rolle des deutsch-französieinblenden. Ja, ob nun mit oder ohne einen solchen TV-Kanal: Wir brauschen Tandems«. (Joachim Gauck, Europa: Vertrauen erneuern – Verbindchen eine Agora. Sie würde Wissen vermitteln, europäischen Bürgersinn lichkeit stärken, S. 2f., www.bundespraesident.de) entwickeln helfen und auch Korrektiv sein, wenn nationale Medien in naDer Bundespräsident kommt zu dem Schluss, »zu viele Bürger lässt tionalistische Töne verfallen, ohne Sensibilität oder Sachkenntnis, über die Europäische Union in einem Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit den Nachbarn berichten und Vorurteile fördern. Ich weiß, dass viele Medizurück« (S. 2) und weiter unten heißt es: »Die Krise hat mehr als nur enkonzerne die europäische Öffentlichkeit schon zu stimulieren versueine ökonomische Dimension. Sie ist auch eine Krise des Vertrauens in das chen, mit Beilagen aus anderen Ländern, mit Schwerpunktthemen zu Eupolitische Projekt Europas.« ropa und vielen guten Ideen. Ich weiß das. Aber bitte mehr davon – mehr Gleichzeitig betont Gauck aber auch, dass es, anders noch als im Berichterstattung über und mehr Kommunikation mit Europa! 19. Jahrhundert bei der Nationalstaatenbildung, heute »starke ZiWir sprechen gerade über Kommunikation. Kommunikation ist für mich vilgesellschaften« gebe. »Ohne die Zustimmung der Bürger könnte kein Nebenthema des Politischen. Eine ausreichende Erläuterung der Thekeine europäische Nation, kann kein Europa wachsen. Takt und Tiefe der men und Probleme, sie ist vielmehr selbst Politik. Eine Politik, die mit der europäischen Integration, sie werden letztlich von den europäischen BürMündigkeit der Akteure auf der Agora rechnet und sie nicht als untertägerinnen und Bürgern bestimmt« (ebenda, S. 9). nig, desinteressiert und unverständig abtut. Mehr Europa heißt für mich:

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenens ystem – Chancen und Grenzen

D&E

Heft 65 · 2013

mehr europäische Bürgergesellschaft. Ich freue mich daher, dass 2013 das Europäische Jahr der Bürgerinnen und Bürger ist.« (ebenda, S. 12) Gauck weist dabei in seiner Rede aus3. DIE EUROPÄISCHE BÜRGERINITIATIVE (EBI) drücklich auf das von Ulrich Beck und Daniel Cohn-Bendit initiierte ManiUmweltpolik 19% fest »Wir sind Europa! Manifest zur NeuQD8: In welchen Bereichen gründung Europas von unten.« (http://mawürden sie die Europäische Verbraucherschutz 20% nifest-europa.eu/allgemein/ Bürgerinitiative am ehesten nutzen ? / EU wir-sind-europa?lang=de) hin, wenn er Steuerfragen 20% auch nicht allen aufgestellten Forderungen zustimmen möchte. Im ManiGrundrechte der EU-Bürger 22% fest heißt es: »Wir, die Erstunterzeichnenden, möchten Altersversorgung 22% der europäischen Bürgergesellschaft eine Stimme geben. Wir fordern deshalb die Bildungsfragen 24% Europäische Kommission und die nationalen Regierungen, das Europäische ParlaArbeits- und Beschäigungspolik ment und die nationalen Parlamente dazu 38% auf, ein Europa der tätigen Bürger zu Nationaler Bericht - Deutschland schaffen und sowohl die finanziellen wie auch rechtlichen Voraussetzungen für ein Abb. 3 »In welchen Bereichen würden Sie die Europäische Bürgerinitiative am ehesten nutzen?« Freiwilliges Europäisches Jahr für alle be© EU-Kommission: Standard Eurobarometer 78/Herbst 2012 – TNS Opinion & Social reitzustellen – als Gegenmodell zum Europa von oben, dem bisher vorherrschennig durch partizipative Bürgerbeteiligungsformen angezogen den Europa der Eliten und Technokraten. Europa droht zu scheitern an der fühlen: Es sind dies vor allem die weniger Gebildeten und die unausgesprochenen Maxime der Europapolitik, das Glück des europäiMenschen mit Migrationshintergrund, aber auch tendenziell die schen Bürgers notfalls auch gegen seinen Willen zu schmieden. Es geht jungen Menschen. darum, die nationalen Demokratien europäisch zu demokratisieren und Auf europäischer Ebene sieht der Lissaboner Vertrag übrigens auf diese Weise Europa neu zu begründen. Nach dem Motto: Frage nicht, auch ein diesbezügliches Instrument vor, das seit April 2012 auch was Europa für dich tun kann, frage vielmehr, was du für Europa tun aktiv gestartet wurde. Es ist die sogenannte »Europäische Bürgerkannst – Doing Europe!« initiative«, die durch transnationale Unterschriftensammlungen Wenn auch der deutsche Bundespräsident sich nicht gleich der von mehr als einer Million in mindestens sieben EU-Mitgliedstaaten Forderung des Manifests nach einem »von der EU finanzierten eudie EU-Kommission, die bislang allein das Gesetztesinitiativrecht ropäischen Freiwilligendienst« anschließen möchte, so hegt er besitzt, zwingen kann, sich mit der jeweiligen Initiative (erneut) doch Sympathien für die Forderungen nach einer »EU von unten«, zu befassen. nach der Unterstützung und Organisation von mehr BürgerbeteiProf. Dr. Franz Thedieck von der Hochschule Kehl stellt in dieser ligung in Europa, auf allen Ebenen. Ausgabe von D&E dieses transnationale Instrument einer Mitwirkung von Bürgerinnen und Bürger der EU auf den GesetzgeDas Instrument der bungsprozess anhand der konkreten Bestimmungen, anhand der »Europäischen Bürgerinitiative« Interviews und beispielhafter Initiativen vor: »Die Europäische Bürgerinitiative und die Möglichkeiten und Grenzen der Bürgerbeteiligung in Bürgerbeteiligung lässt sich im transnationalen europäischen der EU.« Mehrebenensystem sicher nur sehr unterschiedlich für die politiUnd tatsächlich hat bereits mindestens eine erste Europäische sche Willensbildung nutzbar machen. Am häufigsten werden die Bürgerinitiative, so wurde noch im Februar 2013 in der Presse geunterschiedlichen Modelle der »formellen oder informellen Bürmeldet, das notwendige Quorum erreicht. Es handelt sich dabei gerbeteiligung« sicher auf regionaler oder lokaler Ebene organium die Initiative »Right2Water«, die sich gegen eine EU-Richtlinie siert und praktiziert. Professorin Dr. Patrizia Nanz und Dr. Janzur geplanten Pflicht der öffentlichen Ausschreibung der WasserHendrik Kamlage haben dazu in der vorliegenden Ausgabe von versorgung richtet. Zumindest in Deutschland war der WiderD&E in ihrem Beitrag »Entwicklungen der partizipativen Demokratie in stand dagegen groß, befindet sich hier doch noch immer ein Europa« einige anschauliche Beispiele vorgestellt. Im sich anGroßteil der Wasserversorgung in kommunaler Hand. Kritiker seschließenden Materialteil wird zudem mit Zeitungsberichten zu hen in dieser Initiative der EU-Kommission ein Plädoyer für die Praxisbeispielen aus Süddeutschland das durchaus unterschiedliPrivatisierung eines öffentlichen Gutes. Wenn auch der – in dieser che Presseecho auf solche Bürgerbeteiligungsformen deutlich. Ausgabe von D&E dokumentierte – Weg der Initiative noch nicht Zuvor beschreibt die »Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeendet ist, so hat doch der zuständige EU-Kommissar Michel beteiligung« der baden-württembergischen Landesregierung, Barnier bereits angekündigt, die geplante EU-Richtlinie nicht weiGisela Erler, in ihrem Beitrag: »Auf dem Weg zur Mitmachdemokratie: ter – zumindest im ursprünglich geplanten Umfang – zu verfolGemeinsam gestalten – Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen« die gen. Dabei ist die EU-Bürgerinitiative gegen die Wasserprivatisiediesbezüglichen Vorhaben der grün-roten Landesregierung. Für rung nicht die einzige initiierte Unterschriftensammlung. Ein die Landesregierung soll die verstärkte Bürgerbeteiligung gar zu eigenes Webportal der EU sorgt hier für die nötige Transparenz. einem zentralen Vorgehen in ihrer Regierungsarbeit werden. Professor em. Dr. Oscar W. Gabriel von der Universität Stuttgart Transparenz und Partizipation – sieht die Bürgerbeteiligungsprojekte, wozu er auch z. B. Volksabneue Möglichkeiten mit Hilfe des Internets stimmungen rechnet, in einem Zielkonflikt: »Bürgerbeteiligung und soziale Gleichheit: Zwei Prinzipien im Spannungsfeld von Utopie und Jan-Hinrik Schmidt beschreibt in seinem Beitrag: »Soziale Medien Wirklichkeit.« Am Beispiel Deutschlands zeigt er, auf empirische und das Partizipationsparadox«, welche Möglichkeiten, aber auch Daten gestützt, welche Personengruppen sich bislang noch we-

D&E

Heft 65 · 2013

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenens ystem – Chancen und Grenzen

5

JÜRGEN KALB

6

Gefahren neue Kommunikationstechnologien für die Bürgerbeteiligung bieten. Nicht wenige, vor allem junge Menschen, verstehen sich als sogenannte »Digital Natives«, als nach Transparenz und Beteiligung gierende Staatsbürgerinnen und Bürger. Gleichzeitig gilt vielen von ihnen das tradierte repräsentative System als zu starr, wenn nicht als gänzlich überholt. Unter »politischem Engagement« und »Bürgerbeteiligung« wird in dieser Gruppe unter Umständen etwas anderes verstanden: Diskussionen mit möglichst allen Beteiligten unter »Twitter«, persönliche Portale bei z. B. »Facebook« und individualisierte »Blogs« mit Kommentaren von den jeweiligen »Followern«. Max Winde hat mit seinem Blog »Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen« diesem Milieu eine sprechende Stimme gegeben. Zeitweise schien es auch so, als ob dieses Milieu durch die »Piratenpartei« sich nicht nur politisch organisieren, sondern auch breitere Kreise der vor allem jungen Bevölkerung in ihren Abb. 4 »Nirgendwohin! Aber schnell!« (Die »5-Sterne-Bewegung« von Beppo Grillo hatte bei den italieBann ziehen könnte. Bei regionalen Wahlen nischen Parlamentswahlen in Italien rund 25 % der Stimmen erzielt. Grillos Partei gilt als »netzaffin« und erzielten die »Piraten« Achtungserfolge und kritisch gegenüber dem parlamentarisch-repräsentativen System.) © Gerhard Mester, 27.2.2013 zogen gleich in drei Länderparlamente ein. Die erste Strahlkraft der »Piraten«, so zeigen tikverdrossenheit?« ausführlich auf die unterschiedlichen es jedenfalls die demoskopischen Umfragen, scheint jedoch Argumente pro und contra »Wahlalter 16« ein. Dabei kann er sich inzwischen wieder etwas verblasst. An der radikalen Forderung auch auf eigene Untersuchungen und Befragungen Jugendlicher nach »umfassender Transparenz« scheinen die inhaltlichen Desowie die Wahlergebnisse mit dem Wahlalter 16 beziehen. batten und programmatischen Findungsprozess ebenso wie Bereits seit Mitte der neunziger Jahre führte der international rewichtige personelle Entscheidungen derzeit in Mitleidenschaft zu nommierte Bildungsforscher Professor Dr. Klaus Hurrelmann geraten. Dennoch bleibt spannend zu beobachten, ob die »Digital zahlreiche Jugendstudien, darunter die bekannten Shell-Studien, Natives« politisch eine »Heimat« finden werden und wie sich durch. In seinem Interview mit dem Redakteur von D&E: »Nichts ist solch eine Organisation zum etablierten repräsentativen politiaktivierender als die Aktivität selbst.« bezieht er sich zunächst auch schen System stellen wird (| Abb. 4 |). auf seine Untersuchungen zum Reifeprozess junger Menschen im 21. Jahrhundert. Hurrelmann plädiert dabei für die Vorverlegung »Mobilisierung der Jugendlichen durch ein des Wahlalters, obwohl er in seinen Studien immer wieder festWahlalter mit 16«? stellen konnte, dass eine knappe Mehrheit der Jugendlichen selbst durchaus Skepsis gegenüber dieser Regelung hegt. HurrelNicht erst die Untersuchungen der »Bertelsmann Stiftung« (2011) mann möchte aber nicht nur am Wahlalter ansetzen, sondern die sowie der »Stiftung für Zukunftsfragen« (2012), auch bereits die Bildungspolitik insgesamt zu mehr politischer Bildung, aber auch Shellstudien (2002, 2006, 2010) belegen, dass das Vertrauen in zur Erprobung eines demokratischen Miteinanders im Schulalltag Politiker und insbesondere in die Parteien besorgniserregend ermutigen. Davon, so Hurrelmann, hänge im Wesentlichen die schwindet. Rückläufige Mitgliederzahlen bei den etablierten Stabilität und Akzeptanz des politischen Systems insgesamt auf Volksparteien sprechen hier eine deutliche Sprache. Aber auch Dauer ab. Mehr Partizipation, d. h. mehr Bürgerbeteiligung, die anderen Parteien, vielleicht immer noch mit Ausnahme der müsse früh eingeübt und als selbstverständliche Realität erlernt »Piraten«, klagen über Nachwuchssorgen. werden. In Zeiten horrender Jugendarbeitslosigkeitszahlen in den Insbesondere von Seiten der SPD und den Grünen wird deshalb südlichen Mitgliedstaaten der EU, teilweise nahe an oder bereits versucht, Jugendliche für die Politik dadurch zu interessieren, über 50 % einer Generation, seien die politischen Beteiligungsdass man ihnen ein aktives Wahlrecht bereits ab 16 zugesteht. Bechancen gerade der Jugendlichen essenziell für ein Gemeinwesen. denkenträger dazu äußern sich insbesondere aus den Reihen der Ob nun Spanien oder Griechenland, nicht selten wird heute beUnion. reits von einer »verlorenen Generation« (»Lost Generation«) geD&E hat zu dieser Thematik für die vorliegende Ausgabe zwei resprochen und geschrieben. Landesweite Jugendprotestbewegunnommierte Fachleute befragt: Professor Dr. Klaus Hurrelmann gen wie in Spanien, »Echte Demokratie Jetzt!« (»M-15«), oder in und Dr. Jan Kercher von der Universität Stuttgart-Hohenheim. In Griechenland, Italien oder Frankreich belegen bereits heute einBaden-Württemberg erhält diese Thematik dadurch Brisanz, da drucksvoll, sowie transnationale NGOs wie die »Occupy-Bewedie grün-rote Landesregierung für die anstehenden Kommunalgung«, dass die Gefahr einer vom herrschenden parlamentariwahlen im Mai 2014 ein Wahlrecht ab 16 angekündigt hat. Für die schen System zutiefst frustrierten »Lost Generation« immer 2016 in Baden-Württemberg wieder anstehenden Landtagswahweniger von der Hand zu weisen ist. len wäre allerdings eine Verfassungsänderung notwendig, was ohne die Zustimmung der CDU nicht möglich ist. Die öffentliche Die historische Perspektive: Diskussion über das Thema »Wahlalter 16« steht demnach noch Zivilgesellschaftliche Bewegungen nach dem bevor. In Bremen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen ist II. Weltkrieg eine solche Wahlrechtsreform dagegen bereits beschlossen und umgesetzt worden, ebenso wie z. B. in Österreich. Der KommuniDr. Andreas Grießinger hat in seinem Beitrag: »Mehr Demokratie? kations- und Politikwissenschaftler Dr. Jan Kercher geht in seiZivilgesellschaftliche Bewegungen in Deutschland und Europa von 1945– nem Interview: »Wahlalter 16 – eine Chance zur Überwindung der Poli-

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenens ystem – Chancen und Grenzen

D&E

Heft 65 · 2013

1990« eine Bilanz ganz unterschiedlicher Demokratiebewegungen gezogen. Dabei gelingt ihm nicht nur eine eindrucksvolle Analyse ausgewählter zivilgesellschaftlicher Demokratiebewegungen, sein ausführlicher Materialteil dokumentiert auch die jeweils unterschiedliche Stoß- und Ausrichtung dieser Strömungen. Ein moderner Geschichtsunterricht täte gut daran, diese aktuelle »Geschichte von unten« in Deutschland und Europa in Beziehung zu setzen zu den durch die Regierungen und Parlamente vereinbarten staatlichen Abkommen und Verträgen nach 1945 bis in die Gegenwart. Dabei zeigt sich, dass die zentrale Frage und Forderungen nach »Mehr Demokratie« keiAbb. 5 Bürgerbeteiligung und die Dauer von Präsenzverfahren © Nanz/Fritsche, S. 108 neswegs immer so einfach zu beantworten ist. »Bürgerbeteiligung und soziale Gleichheit« stehen eben in ei»Schwächung der repräsentativen Demokratie« führen sollten. nem Spannungsverhältnis, wie Oscar W. Gabriel in seinem BeiSie sind der Überzeugung, dass diese Verfahren den gewählten trag für das aktuelle Deutschland ja bereits empirisch untersucht Volksvertreterinnen und Volksvertretern allerdings helfen könnhat. ten, eine »verantwortungsbewusste Politik jenseits von ParteidisDr. Jeannette Behringer stellt schließlich ein wesentlich von ihr ziplin und kurzfristigen Wahlkampfinteressen« (S. 133) durchzumit betreutes und von der LpB Baden-Württemberg initiiertes trisetzen. Ihr Handbuch bietet demgemäß neben einer Darstellung nationales Projekt vor. Ihr Beitrag: »Grenzen-Los! Trinationale Zuvielfältiger Bürgerbeteiligungsformate insbesondere auch die sammenarbeit für eine Engagementkultur« beschreibt und dokumengrundsätzliche Reflexion über Chancen und Grenzen von Bürgertiert die durchaus unterschiedlichen Ansätze von freiwilligem beteiligung. bzw. bürgerschaftlichem Engagement in Deutschland, Österreich Bezüglich der Verbindlichkeit der Bürgerbeteiligung werden daund der Schweiz. Mehrere Konferenzen zeigten, dass bürgerbei zwei unterschiedliche Beteiligungsverfahren unterschieden: schaftliches Engagement in allen drei Ländern eine auch volksdie gesetzlich vorgeschriebenen oder »formellen Beteiligungswirtschaftlich beeindruckende Rolle spielt, dass die Rolle staatliverfahren« sowie die »freiwillige Bürgerbeteiligung«, entweder cher Institutionen und Repräsentanten dabei aber durchaus organisiert durch die gewählten Repräsentanten (»Top-downunterschiedlich gesehen wird. Auffallend ist auch, dass Projekte, Verfahren«) oder durch Initiativen der Bürgerinnen und Bürger die sich der politischen Beteiligung oder Bildung im engeren selbst (»Bottom-up-Verfahren«). Im Handbuch zur BürgerbeteiliSinne widmen, in allen untersuchten Ländern eher eine periphere gung werden die zuerst genannten, also die formellen BeteiliRolle spielen. Sollten staatliche Verwaltungen und gewählte Regungsverfahren nicht näher analysiert, also weder Informationspräsentanten nicht doch mehr dazu betragen, Bürgerinnen und veranstaltungen mit partizipativem Anstrich noch Verfahren Bürger die Möglichkeit zu geben, sich politisch zu beteiligen? unter Beteiligung von Interessengruppen, Lobbyistinnen und Lobbyisten oder professionellen Expertinnen und Experten. Im Mittelpunkt der analysierten Formate stehen »deliberative Was bedeutet Bürgerbeteiligung? bzw. dialogorientierte Verfahren«, also der Austausch von Argumenten mit dem Ziel einer gemeinschaftlichen Willensbildung Bürgerbeteiligung kann man in Abgrenzung zu Bürgerentscheiund idealerweise einer anschließenden konsensualen Entscheiden (z. B. »Wahlen« oder »Volksabstimmungen«, vgl. auch GG dungsfindung. In organisierten Diskussionen sollen die BeteiligArt 20) als »Mitsprache« oder »Teilhabe« (»Partizipation«) der Bürten alternative Positionen abwägen unter der Prämisse, andere gerinnen und Bürger an politischen Planungsprozessen sowie Standpunkte zu berücksichtigen. Diese zumeist sehr komplexen Entscheidungen definieren. Verfahren durchlaufen dabei oft mehrere Runden und sind angeDie stärksten Formen der Bürgerbeteiligung sind dabei, wenn wiesen auf die Unterstützung von Moderatorinnen und Moderaman so will, direktdemokratische Verfahren wie z. B. die Bürgertoren sowie Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praentscheide oder Volksabstimmungen, die mit zum Teil recht unxis. Eine erste Unterscheidung könnte dabei die Dauer (| Abb. 5 |), terschiedlichen Quoren auf lokaler, regionaler, (in Deutschland die Anzahl der Teilnehmenden an den Präsenzverfahren, die Rekkaum auf) nationaler und bisher gar nicht auf europäischer Ebene rutierung und Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer praktiziert werden. Einzelheiten, Vor- und Nachteile der direkt(| Abb. 6 |, | Abb. 7 |) sowie die Funktionen der Bürgerbeteilidemokratischen Modelle hat D&E in seiner Ausgabe »Politische gungsverfahren (| Abb. 8 |) betreffen. Partizipation in Europa«, Heft 62, vom November 2011 ausführlich Häufig komme es jedoch vor, so die Erfahrungen der beiden Autountersucht. Insbesondere Dr. Otmar Jung hat umfassend die jerinnen Nanz und Fritsche, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehweils unterschiedlichen Regelungen, ihre Vor- und Nachteile in mer bei Bürgerbeteiligungsformaten mit sehr unterschiedlichen Deutschland und der Schweiz analysiert und bewertet: »ErfahrunErwartungen und Interessen aufeinanderträfen, um sich auch gen mit direkter Demokratie in Deutschland und der Schweiz.« Er plänoch über unklar definierte Themen auszutauschen und zu Erdierte dabei für die Ergänzung der repräsentativen Demokratie gebnissen zu gelangen, deren Gültigkeitsbereich und Reichweite um direktdemokratische Elemente, wie es die Schweiz seit lannicht vorab festgelegt wurden. gem kennt. Demgegenüber betonen z. B. Patrizia Nanz und Miriam Fritsche in ihrem »Handbuch Bürgerbeteiligung. Verfahren und Akteure, Chancen und Grenzen« (Bonn 2012) ausdrücklich, dass die dort sachlich beschriebenen Bürgerbeteiligungsformate keineswegs zu einer

D&E

Heft 65 · 2013

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenens ystem – Chancen und Grenzen

7

JÜRGEN KALB

8

(4) Alle Informationen zum Thema müssen für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Verfahrens frei und umstandslos zugänglich sein. (5) Zugleich müssen sich auch Außenstehende jederzeit über Ziele, Auftraggeberinnen und Auftraggeber, Teilnehmende, deren Interessen und den Stand des jeweiligen Verfahrens informieren können. Eine solche Transparenz dient einerseits als Möglichkeit zur Kontrolle, sie schafft andererseits auch eine breite Vertrauensbasis. (6) Die Grenzen der Mitwirkung und die Frage, in welchen Händen die Entscheidungshoheit letztendlich liegt, müssen von Anfang an feststehen und deutlich kommuniziert werden. (7) Initiatorinnen und Initiatoren müsAbb. 6 Bürgerbeteiligungsformate und die Rekrutierung und Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sen dafür Sorge tragen, dass die an © Nanz/Fritsche, S. 115 einem Verfahren Teilnehmenden Abb. 7 Ansätze zur Auswahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Bürgerbeteiligungsverfahren ein verlässliches Feedback erhalSelbstselektion: Der Zugang zum Verfahren ist offen für alle. Die Teilnahme ist eine freiwillige Entscheidung. ten, das heißt, es ist öffentlich zu Selbstselektion führt häufig zur Überrepräsentation »beteiligungsaffiner Milieus«: bildungsnahe Angehörige der begründen, welche Ergebnisse des Mittelschicht und Menschen, die über vergleichsweise viel Zeit verfügen wie zum Beispiel Studierende, Seniorinnen Beteiligungsverfahrens im weiteund Senioren. Dieser Ansatz bringt es deshalb häufig mit sich, dass die am stärksten vom Regelungsgegenstand ren Entscheidungsprozess berückbetroffenen Personen sich auch am stärksten beteiligen. Beispiele: Open-Space, Bürgerhaushalt, Zukunftswerkstatt. sichtigt wurden – und welche nicht Zufällige Auswahl: Dieser Ansatz kann – theoretisch – die Repräsentativität erhöhen und damit die Dominanz und warum. von Partikularinteressen senken. Doch auch hier besteht die Gefahr überproportionaler Teilnahme beteiligungsaffi(8) Sowohl innerhalb eines Verfahner Gruppen. Durch eine große Stichprobe und gezielte Nachrekrutierung (z. B. anhand demographischer Merkmale) rens als auch in seiner Außendarkann diesem Effekt begegnet werden. Beispiele: Bürgergutachten, Konsensuskonferenzen, Deliberative Poll. stellung muss Klarheit über die Rollenaufteilung und die ZuGezielte Auswahl: Der Verfahrenszugang ist offen, jedoch wird zum Erreichen möglichst hoher Repräsentativität ständigkeiten aller Beteiligten gezielt versucht, Einzelpersonen oder Vertreterinnen und Vertreter bestimmter Gruppen zu rekrutieren. Dies kann herrschen (so z. B. Auftraggeber/ durch gezielte Ansprache, aber auch durch Anreize (z. B. Aufwandsentschädigung) geschehen. Beispiele: Szenarioinnen, Projektleiter/innen, DienstWorkshops, Zukunftskonferenzen, Mediationsverfahren. © Nanz/Kamlage, D&E, Heft 65, 2013 (Vgl. deren Beitrag in dieser Ausgabe von D&E) leister/innen, wissenschaftliche Berater/innen, Moderator/innen und technische Begleiter/innen). Voraussetzungen erfolgreicher (9) Eine professionelle Durchführung und Moderation des BeBürgerbeteiligung teiligungsprozesses muss gewährleistet sein. (10) Bürgerinnen und Bürger müssen während des gesamten ProNach Nanz/Fritsche ließen sich folgende Voraussetzungen für zesses ernst genommen werden. Die Kommunikation sollte eine erfolgreiche Bürgerbeteiligung formulieren: mit gegenseitiger Wertschätzung und auf Augenhöhe erfol(1) Beteiligungsverfahren sind angewiesen auf die freiwillige und gen. Es ist sicherzustellen, dass alle vorgetragenen Standin der Regel unentgeltliche Mitwirkung von Bürgerinnen und punkte berücksichtigt und in den weiteren EntscheidungsproBürgern. Sie engagieren sich in ihrer Freizeit, aus Überzeuzess einbezogen werden. (nach: Nanz/Fritsche, S. 130f.) gung und mit dem Ziel, einen politischen Entscheidungsprozess zu beeinflussen. Wenn bei den Teilnehmenden der EinUnter diesen Voraussetzungen geht es bei Bürgerbeteiligung um druck entsteht, dass ein Verfahren folgenlos bleibt, werden »(…) Partizipation durch Artikulation und Einmischung und damit letztsie sich rasch enttäuscht abwenden und nicht erneut einbrinlich um Emanzipation. (…) Sie kann einerseits auf die Erzeugung rationagen. Um einer solchen Entwicklung vorzubeugen, müssen ler Politikerzeugnisse zielen, sich aber auf der anderen Seite auch der VerBürgerinnen und Bürger von der Relevanz und Sinnhaftigringerung des Abstands zwischen Herrschern und Beherrschten widmen.« keit der konkreten demokratischen Teilhabe überzeugt (ebenda, S. 126) sein. (2) Echte Bürgerbeteiligung setzt zudem voraus, dass politische »Fallstricke« und »Stolpersteine« Mandatsträgerinnen und -träger sich von einer reinen Topder Bürgerbeteiligung down-Politik verabschieden und die Bereitschaft für einen souveränen Umgang mit offenen Austausch- und MitwirDen Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung bestätigte jüngst auch kungsprozessen aufbringen. eine wissenschaftliche Untersuchung der Universität Leipzig (Vgl (3) Dem Beteiligungsverfahren muss ein klar definiertes Ziel zuLiteraturhinweise), die zeigt, dass von den Bürgerinnen und Bürgrunde liegen: Soll die demokratische Bildung der Bürgeringern eine stärkere Einbindung insbesondere bei Infrastrukturnen und Bürger gestärkt oder die öffentliche Debatte angemaßnahmen wie dem Bau von Straßen, Behörden, Flugplätzen stoßen werden? Geht es um eine Beratung von Politik und oder Stromleitungen gefordert wird. Im Gegensatz zu den ebenVerwaltung oder sollen politische Entscheidungen direkt von falls befragten Vertretern von Kommunen bemängelten die BürBürgerinnen und Bürgern beeinflusst werden?

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenens ystem – Chancen und Grenzen

D&E

Heft 65 · 2013

gerinnen und Bürger insbesondere, dass die bislang gesetzlich geregelten Verfahren der Bürgerbeteiligung (»Bauleitplanungen«) nicht ausreichten. Bürgeranliegen würden in der Regel zu spät erfragt und zu wenig bis gar nicht berücksichtigt. Andererseits ergab die Studie auch, dass die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger die bereits bestehenden Angebote kaum wahrnehme. Ein Großteil der befragten Haushalte gab offen an, meist nur bei direkter persönlicher Betroffenheit aktiv zu werden. Zudem erwiesen sich solche Verfahren allzu oft als enorm zeitaufwändig und kostspielig, klagten insbesondere die Vertreter der Kommunen und der Unternehmen. Bürgerbeteiligungsmodelle drohen somit vor allem dann zu scheitern, Abb. 8 Bürgerbeteiligungsformate und ihre Funktionen © Nanz/Fritsche, S. 121 wenn … (1) … die Unterstützung seitens der Bertelsmann Stiftung (2009): Deutschland 2020 – Blick nach vorn! In: Entscheidungsträgerinnen und -träger fehlt und diese zu Change. Das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Sonderheft. Recht oder Unrecht eine Einschränkung ihrer Entscheidungswww.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-BB97FD61-E8299D21/bst/ macht und Verantwortung fürchten; xcms_bst_dms_29851_29852_2.pdf (2) … kein tatsächlicher Gestaltungsspielraum zur Verfügung steht, die wesentlichen Entscheidungen bereits im Vorfeld des Bertelsmann Stiftung (2012): Politik beleben, Bürger beteiligen, CharakterisVerfahrens feststehen oder Bürgerinnen und Bürger schlichttika neuer Beteiligungsmodelle, Gütersloh, www.bertelsmann-stiftung.de/ weg zu spät eingebunden werden; cps/rde/xbcr/SID-26D3BB55-C9EC3B10/bst/xcms_bst_dms_31298_31299_ (3) … Bürgerinnen und Bürger das Partizipationsangebot 2.pdf nicht annehmen wollen – weil sie z. B. in der Vergangenheit Deutschand&Europa, Heft 62 (2011): Politische Partizipation in Europa. schlechte Erfahrungen gemacht haben oder sich ihnen MögStuttgart. www.deutschlandundeuropa.de lichkeiten eröffnen, ihre Interessen auf anderen Wegen effizienter durchzusetzen; Fritsche, Miriam/Nanz, Patrizia (2012): Handbuch Bürgerbeteiligung: Verfah(4) … soziale Ungleichheiten zwischen den Teilnehmenden eiren und Akteure, Chancen und Grenzen, Schriftenreihe Band 1200, Bundesnes Verfahrens weder in der Zusammensetzung noch in der zentrale für politische Bildung, Bonn. (vergriffen), kostenloser download konkreten Durchführung ausgeglichen, sondern vielmehr zeunter: www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/Handbuch_Buerger mentiert werden. (Vgl. Nanz/Fritsche, S. 107ff.) beteiligung.pdf Zusätzlich sollten angekündigte Bürgerbeteiligungsprojekte mit Jung, Otmar (2011): Erfahrungen mit direkter Demokratie in Deutschland den notwendigen materiellen und personellen Ressourcen, d. h. und der Schweiz. in: D&E, Heft 62, S. 18–27 auch mit dem notwendigen Know-how sowie der Expertise unabhängiger Expertinnen und Experten ausgestattet werden. Das gilt Kompetenzzentrum Öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Daseinsauch und gerade für Online-Formate, die sogenannten Beteilivorsorge der Universität Leipzig, u. a. (2013): »Optionen moderner Bürgergungsportale. Allein schon die notwendigen Feed-Back-Prozesse beteiligung auf Basis von Erfahrungen und Einstellungen von Bürgern, dürften dabei sicherlich ressourcenintensiv werden. Kommunen und Unternehmern«, www.wifa.uni-leipzig.de/fileadmin/ »Bürgerbeteiligungs-Politik« braucht besonders die Bereitschaft user_upload/KOZE/Downloads/Optionen_moderner_ der Verantwortlichen, umfassende Transparenz zu ermöglichen. Bürgerbeteiligungen_bei_Infrastrukturprojekten_.pdf Angesichts der Reaktionen einer kritisch-investigativen Öffentlichkeit und zahlreicher juristischer Widerspruchsmöglichkeiten im Rechtsstaat stellt dies sicher eine große Herausforderung dar. Internethinweise Mit Recht verweisen Nanz/Fritsche zusätzlich noch auf die Notwendigkeit einer sachlichen, auf empirischen Untersuchungen www.buergerbeteiligung.lpb-bw.de (Portal der LpB Ba-Wü) basierenden wissenschaftlichen Begleitung von Bürgerbeteiligung am konkreten Beispiel und Format. www.b-b-e.de (Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement) Sollte dies gelingen, dürfte sich jedoch so nach und nach verloren www.buerger-beteiligung.org (Portal der Bertelsmann Stiftung mit zahlgegangenes Vertrauen in den politischen Prozess wiederherstelreichen Beispielen von Formaten gelungener Bürgerbeteiligung len lassen. Die Einbeziehung junger Menschen scheint dabei von ganz besonderer Bedeutung, exemplarisch etwa bei der gerade www.buergergesellschaft.de dort insbesondere: Modelle und Methoden anstehenden »Bildungsplanreform 2015« in Baden-Württemberg. der Bürgerbeteiligung: www.buergergesellschaft.de/politischeteilhabe/modelle-und-methoden-der-buergerbeteiligung/modelle-undmethoden-von-a-bis-z/106120/ – eine Infoseite der Stiftung Mitarbeit: Literaturhinweise www.mitarbeit.de Bertelsmann Stiftung (2011): Bundesbürger möchten sich politisch beteiligen, vor allem aber mitentscheiden. www.bertelsmann-stiftung.de/cps/ rde/xbcr/SID-CEF28043-B3F7F3BF/bst/xcms_bst_dms_34119_34120_2.pdf

D&E

Heft 65 · 2013

www.politische-bildung.de/buergerbeteiligung_demokratie.html (Umfangreiches Literaturverzeichnis)

Bürgerbeteiligung im europäischen Mehr ebenens ystem – Chancen und Grenzen

9

BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

2. Gemeinsam gestalten – Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen GISELA ERLER

Z

10

ivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung sind in aller Munde: Menschen wollen mitreden. Menschen wollen teilhaben und beteiligt sein. Alle reden davon, meinen aber oft nicht dasselbe: Bürger verbinden damit oft paradiesische Zustände. Politik befürchtet Machtverlust und die Verwaltungen sagen, dass sie auch ohne die Bürger schon sehr beschäftigt seien. Der Wunsch nach einem Mehr an gesellschaftlicher Teilhabe der Menschen liegt im Wesentlichen an den Veränderungen der gesellschaftlichen Milieus. Mit einer Politik des »Gehört werdens« will die baden-württembergische Landesregierung dem wachsenden Mitwirkungsbedürfnis dieser engagierten Zivilgesellschaft gerecht werden und verloren gegangenes Vertrauen in die Politik wieder zurückgewinnen. Unser Ziel ist eine Mitmachdemokratie. Als Landesregierung haben wir aus diesem Grund Strategien und Formate entwickelt, die eine Mitwirkung der Bürgergesellschaft auf Augenhöhe mit der Politik ermöglichen. Wir wollen nicht nur dafür sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger politische Entscheidungen besser nachvollziehen können und Transparenz hergestellt wird, sondern auch, dass das Wissen und die Kompetenz der Zivilgesellschaft künftig besser genutzt werden. Denn wir sind davon überzeugt: Wenn sich die Politik dem Einfluss und den Ideen aus der Bürgergesellschaft öffnet, erhöht das auch die Chancen auf gute politische Ergebnisse und trägt so nicht zuletzt zu einer spürbaren Qualitätsverbesserung von Politik bei. Gerade in Baden-Württemberg sind die Voraussetzungen besonders gut, das Verhältnis von Staat, Markt und Bürgergesellschaft auf zukunftsweisende Art neu zu justieren, denn nirgendwo sonst sind die Menschen stärker bürgerschaftlich engagiert.

Mitmachen – davon lebt Bürgerbeteiligung Damit ist eine wichtige Grundvoraussetzung geschaffen, denn Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen. Eine moderne, eine lebendige und starke Demokratie lebt vom Einspruch und von der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Nicht wo die Menschen sich einmischen ist die Demokratie bedroht, sondern dort, wo sie sich abwenden von den öffentlichen Angelegenheiten, von den res publica. Die Landesregierung möchte deshalb die demokratischen Spielregeln in Baden-Württemberg ändern: Neben der Reform von Bürgerentscheiden und Volksabstimmungen werden ein verbindlicher Planungsleitfaden und neue Fachgesetze mehr Beteiligung in Planungsprozessen ermöglichen. Mit mehr direkter Demokratie schaffen wir einen Hebel, mit dem die Bürgerschaft ihr Veto einlegen kann. Die Politik muss deshalb frühzeitiger beteiligen, um eben dieses Veto zu verhindern. Ich möchte meine Arbeit aber nicht auf rechtliche Veränderungen begrenzt sehen. Es gibt auch »weiche« Strategien, mehr Bürgerbeteiligung zu erreichen, auf die ich hier eingehender erläutern möchte.

Für eine Pädagogik der Beteiligung Ich war schon immer der Überzeugung, dass Bürgerbeteiligung gelernt werden kann. Sie ist viel mehr als Methoden und Formate und bedarf jenseits von gesetzlicher Verankerung einer persönlichen, ermöglichenden Haltung. Solche Haltungen ergeben sich

Abb. 1 Staatsrätin Gisela Erler bei der Eröffnung des Workshops »Europäisches Netzwerk zur Bürgerbeteiligung«, 6.12.2012 © Staatsministerium Baden-Württemberg

nicht von selbst. Sie müssen von Bürgern, Verwaltung und Politik gleichermaßen erarbeitet und erlernt werden. Die Qualifizierung zur Beteiligung voranzubringen ist deshalb für mich ein zentraler Punkt. Was haben wir dafür getan und woran arbeiten wir noch? Gemeinsam mit der Führungsakademie Baden-Württemberg und den Hochschulen für öffentliche Verwaltung in Kehl und Ludwigsburg haben wir ein Curriculum zum Thema Bürgerbeteiligung erarbeitet. Daraus wurde innerhalb kürzester Zeit ein Kontaktstudiengang mit 15 Modulen, die sich vor allem an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Ministerien, Regierungspräsidien und Kommunalverwaltungen richten. Zentrale Inhalte sind die gesellschaftliche Entwicklung von Bürgerbeteiligung, Kommunikation in Beteiligungsprozessen, E-Partizipation, Methoden und Instrumente und der kontinuierlicher Erfahrungsaustausch.

Beteiligungsportal – das Internet nutzen Mit dem Beteiligungsportal (www.baden-wuerttemberg.de/de/beteiligungsportal-info), welches ab dem Frühjahr 2013 online gehen wird, beschreiten wir neue Wege in Sachen Mitwirkung durch die Bürgerschaft. Das Beteiligungsportal umfasst drei Säulen. Auf der Informationssäule werden die Aktivitäten der Landesregierung im Bereich Bürgerbeteiligung präsentiert. Somit werden die in den Ressorts durchgeführten Beteiligungsprojekte an einer zentralen Stelle kommuniziert. In der Kommentierungssäule des Beteiligungsportals werden Gesetzentwürfe, die sich im Anhörungsverfahren befinden, online veröffentlicht und können von Nutzerinnen und Nutzern kommentiert werden. In der Mitmachsäule wird den Ministerien eine Infrastruktur angeboten, die sie für die Durchführung umfassender Online-Beteiligungsverfahren verwenden können. Ich empfehle den Ressorts, wichtige politische Vorhaben mit Bürgerbeteiligung zu realisieren. Dabei sollte ein Mix aus Online- und Offline-Beteiligung angewandt werden. Das Beteiligungsportal ermöglicht es, einen kompletten Beteiligungsprozess darzustellen, und bietet die technischen Möglichkeiten, eine Online-Konsultation durchzuführen.

Gemeins am ge s talten – Bürgerbe teiligung lebt vom Mit machen

D&E

Heft 65 · 2013

Allianz für Beteiligung – im Netzwerk handeln Vor einem Jahr habe ich die Initiative für eine »Allianz für Beteiligung« angestoßen. Im Mai 2012 fand dazu eine Auftaktkonferenz mit über 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit 90 Initiativen aus ganz Baden-Württemberg statt. Zentrale Aufgabe der Allianz ist die Entwicklung einer regionalen Hilfs- und Unterstützungsstruktur im Sinne einer »Peer to Peer Beratung«. Darin soll die Nutzung von Fähigkeiten und Talenten aus der Bürgerschaft zum Thema Bürgerbeteiligung aktiviert und vernetzt werden. Grundvoraussetzung, dass dies gelingt, ist die Entwicklung der Allianz im bottom-up Verfahren, also durch die Menschen und Initiativen selber und nicht von staatlicher Seite. Inzwischen wurde der Verein »Allianz für Beteiligung« zum Aufbau und Stärkung einer Beteiligungskultur in Baden-Württemberg, vor allem aber zur organisatorischen Abwicklung, Abb. 2 Werbung des Staatsministeriums für das »Bürgerbeteiligungsportal« der baden-württembergigegründet. Finanziell erfährt die Allianz eine schen Landesregierung: (www.baden-wuerttemberg.de/de/beteiligungsportal-info) Förderung durch die Baden-Württemberg © Staatsministerium Baden-Württemberg Stiftung, die Robert Bosch Stiftung und die Breuninger Stiftung. Damit kann eine Grundvierzig oder fünfzig Beiträge, so würden wir und vor allem auch ausstattung für eine Geschäftsstelle gewährleistet werden und der Staatsanzeiger völlig überrascht. Die außerordentlich erfreudie Allianz kann starten. Im Laufe dieses Jahres wird die Allianz liche Konsequenz, dass bis in den Sommer hinein, alle Wettbemit einem eigenständigen Veranstaltungsformat in allen vier Rewerbsbeiträge veröffentlicht werden. Danach sind die Leserinnen gierungsbezirken in unserm Land aktiv und sichtbar. und Leser des Staatsanzeiger für eine Vorauswahl gefragt um dann diese schließlich und endlich von einer »Bürgerjury« bewerDemokratietheater, Lernlabor und tet werden.

Demokratie-Monitoring

11

Es ist bekannt, dass komplexe Sachverhalte am einfachsten spielerisch vermittelt werden können. Dieser pädagogischen Erkenntnis tragen wir durch eine Theaterproduktion mit dem Titel »Bürgerbeteiligung – ein Lustspiel« Rechnung. Im Rahmen des Landesjubiläums 2012 habe ich die Produktion in Auftrag gegeben. Das Stück befasst sich fernab von Runden Tischen, Planungswerkstätten und Bürgerhaushalten sehr kreativ mit dem Thema Demokratie und Beteiligung und ist in sich selbst partizipativ und generationsübergreifend mit 20 ganz normalen Bürgern zwischen 7 und 70 Jahren angelegt. Gespielt wird es immer an einschlägigen Demokratieorten in Rathäusern, Landratsämtern und sogar im Plenarsaal des Landtags in Stuttgart. Das Projekt wird textlich, fotografisch und filmisch dokumentiert. Geplant ist eine »Spielkiste« mit methodischen Tipps zu Beteiligungs-Theater-Ideen für interessierte Kommunen und Theatergruppen. Ein weiterer Schwerpunkt, wenn es um eine Pädagogik der Beteiligung geht, sind die Qualifizierungsangebote für junge Bürgerinnen und Bürger. Mit ganz spezifischen Formaten wie Onlinespielen, Planspielen und Programmen wie etwa »Jugend bewegt«, soll ein demokratisches Lernlabor für die junge Generation eröffnet werden. Ob und wie all unsere Bestrebungen in Sachen Beteiligung bei den Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ankommen, wollen wir mit einem regelmäßigen »Demokratie-Monitoring« herausfinden, das erstmalig im Sommer 2013 Ergebnisse zu Tage förder Dass es in Baden-Württemberg schon viele gute Beispiele für die Beteiligung und Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger gibt zeigen wir mit einem gemeinsamen Wettbewerb des Staatsanzeigers und der kommunalen Spitzenverbände. Über 130 Beiträge sind dazu beim Staatsanzeiger eingegangen und zeigen eindrücklich, dass in den Gemeinden und Kommunen schon eine ganz hervorragenden Arbeit geleistet wird. Dachten wir zunächst an

D&E

Heft 65 · 2013

Europäisches Netzwerk zur Bürgerbeteiligung Das Thema Bürgerbeteiligung und die verschiedenen Methoden zur Anwendung beschränken sich aber natürlich nicht nur auf Deutschland. Die Bürgerbeteiligung lebt vom Mitmachen der verschiedenen Akteure und vom Wissensaustausch untereinander. Und da viele Fragen, die die Demokratie bzw. die gelebte politische Praxis betreffend, heute in vielerlei Form mit Europa und der EU zusammenhängen, kommt der europäischen Komponente der Beteiligung eine besondere Bedeutung zu. Genau aus diesem Grunde habe ich im Dezember letzten Jahres in Stuttgart einen internationalen Workshop zur Bürgerbeteiligung organisiert. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen kamen aus den verschiedensten Ländern Europas und der ganzen Welt. Akademische Koryphäen führten in Ihren Vorträgen in den aktuellen Forschungsstand zu Demokratie und Demokratieentwicklung ein. Neben dieser theoretischen Grundlage kamen aber auch in den Vorträgen schon Anwendungsbeispiele aus verschiedenen Ländern, so zum Beispiel zu den verschiedenen Beteiligungsnetzwerken in den USA oder einem speziellen, sogenannten Sunset-Law, Gesetz zur Beteiligung in der Toskana. Neben den Inputs aus Vorträgen wurde danach in verschiedenen Arbeitsgruppen von Vertretern aus den jeweiligen Ländern über Ihre Erfahrungen mit der Beteiligung und den von Ihnen gewählten Methoden ausgetauscht. Am Ende des zweitätigen Workshops stand für alle Beteiligten die Notwendigkeit einer engeren Kooperation zwischen den Ländern und Regionen, vor allem Europas, zum Thema Bürgerbeteiligung fest. Daher haben wir ein europäisches Netzwerk gegründet, dessen Ziel es ist, durch regelmäßig stattfindende Treffen und den Austausch untereinander weiter voneinander zu lernen und die Bürgerbeteiligung im europäischen Kontext zu stärken.

Gemeins am ge s talten – Bürgerbe teiligung lebt vom Mit machen

BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

3. Entwicklungen der partizipativen Demokratie in Europa PATRIZIA NANZ | JAN-HENDRIK KAMLAGE*

D

ie Demokratien in Europa unterliegen einem merklichen Wandel. Zum einen gibt es in Europa eine immer größer werdende Zahl an direktdemokratische Verfahren wie Referenden, Volksbegehren und Bürgerbegehren (vgl. APuZ 2006). Von den weltweit seit 1793 gezählten 1.405 nationalen Referenden entfallen alleine 62 Prozent auf die europäischen Länder. Ungefähr die Hälfte davon fanden seit 1989 statt (Pállinger, Kaufmann, Marxer & Schiller 2007: 9). Zum anderen finden auch die sogenannten deliberativen oder dialogorientierten Verfahren der Bürgerbeteiligung wie Bürgerhaushalte, Bürgerinnenräte, Zukunftskonferenzen und Planungszellen in den letzten zwei Jahrzenten zunehmende Verbreitung in Europa. Durch wissenschaftliche Forschung belegte Zahlen liegen hier allerdings bisher nicht vor, weder zum Umfang dieses Trends insgesamt noch zur Verteilung der verschiedenen dialogorientierten Beteiligungsformate in den europäischen Ländern.

12

Die Bereitschaft zu mehr politischer Beteiligung Angaben in Prozent

Ja

Nein

Wünschen Sie sich mehr politische Beteiligungsmöglichkeiten für die Bürger?

81

Wären Sie bereit, sich über Wahlen hinaus an politischen Prozessen zu beteiligen?

60

Glauben Sie, dass die Politiker grundsätzlich mehr Mitbestimmung durch die Bürger wollen?

Nein

39

22 0

Ja

16

76 20

40

60

80

100

Weiß nicht, keine Angabe

Quelle: Bertelsmann Stiftung / Umfrage TNS-Emnid.

Abb. 1

»Die Bereitschaft zu mehr politischer Beteiligung« © Bertelsmann Stiftung (2011): Bundesbürger möchten sich politisch beteiligen, vor allem aber mitentscheiden, www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-CEF28043-B3F7F3BF/bst/xcms_bst_dms_34119_34120_2.pdf

Die Krise der repräsentativen Demokratie Die direktdemokratischen wie dialogorientierten Formen der Bürgerbeteiligung erfreuen sich vor allem deshalb wachsender Beliebtheit, weil sie im Ruf stehen, die immer größer werdende Kluft zu den gewählten Politikern, die weniger als Volksvertreter und -vertreterinnen denn als politische Klasse wahrgenommen werden, zu verringern. Schwindende Wahlbeteiligung, abnehmende Mitgliederzahlen der Parteien, sinkendes Vertrauen der Menschen in die Handlungsfähigkeit der Regierenden – die Diagnose der Krise der repräsentativen Demokratie ist vielfältig. So stimmen beispielsweise nur fünf Prozent der Deutschen in einer repräsentativen Studie der Stiftung für Zukunftsfragen der Aussage zu: »Die Politiker bereiten mein Heimatland gut auf die Zukunft vor«. In anderen Ländern sieht es nicht viel besser aus: In Frankreich stimmen zwölf Prozent und in Spanien sieben Prozent dieser Aussage zu (Europauntersuchung der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen, 2012). Gleichzeitig ist der Wunsch der Bürgerinnen und Bürger nach unmittelbarer Mitwirkung und Beteiligung an politischen Entscheidungen so groß wie nie. Nach Angaben einer repräsentativen Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2011 wünschen sich 78 Prozent der Deutschen mehr Möglichkeiten über politische Fragen durch Volksentscheide und Bürgerbegehren direkt mitentscheiden zu können. 68 Prozent würden gerne bei großen Infrastrukturprojekten mitentscheiden und 47 Prozent an Bürgerhaushalten mitwirken. Generell sprechen sich 81 Prozent für mehr politische Beteiligungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten aus (Bertelsmann Stiftung, 2011, www.bertelsmann-stiftung. de/cps/rde/xchg/bst/hs.xsl/nachrichten_107591.htm).

* | Hinweis: Der Beitrag ist unter der Zuarbeit von Ivo Gruner entstanden.

Dialogorientierte Formen der Bürgerbeteiligung in Europa Im Folgenden wollen wir augenfällige Entwicklungen der partizipativen Demokratie in Europa in groben Zügen darstellen. Dabei geht es ausschließlich um dialogorientierte Formen der Bürgerbeteiligung. Zunächst: Was bedeutet dialogorientierte Bürgerbeteiligung? In solchen Verfahren werden Bürgerinnen und Bürger, zivilgesellschaftliche Akteure und Entscheidungsträgerinnen und -träger frühzeitig im politischen Prozess zusammengebracht. Im Mittelpunkt der Beratungen steht der Austausch von Argumenten mit dem Ziel einer gemeinschaftlichen Willensbildung und idealerweise einer anschließenden konsensualen Entscheidungsfindung. In Diskussionen wägen die Beteiligten alternative Positionen ab unter der Prämisse, andere Standpunkte zu berücksichtigen (Fung, 2003, S. 340). Diese teilweise komplexen Verfahren durchlaufen oft mehrere Runden und sind angewiesen auf die Unterstützung von Moderatorinnen und Moderatoren sowie Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis. Sie werden oft als »informell« bezeichnet in Abgrenzung zu gesetzlich vorgeschriebenen »formellen« Beteiligungsmöglichkeiten wie zum Beispiel den Anhörungen im Rahmen der deutschen Raumordnungs- und Planfeststellungsverfahren bei öffentlichen Bauvorhaben. Erweiternd und ergänzend stehen bei dialogorientierten Beteiligungsprozessen immer öfter auch internetgestützte Werkzeuge und Technologien zur Verfügung, die einer größeren Menge von Bürgerinnen und Bürger die Mitwirkung ermöglichen. Dialogorientierte Bürgerbeteiligung ist eingebettet in spezifische politische Kulturen und Systeme, die sich je nach Ländern und Regionen, und manchmal auch nach Städten und Gemeinden unterscheiden. Vergleicht man Europa mit den USA, so ist auffällig, dass in den Vereinigten Staaten die Beteiligungsprozesse in aller Regel auf der lokalen Ebene und kaum auf zentralstaatlicher Ebene stattfinden. Durchgeführt und getragen werden Beteiligungsprozesse wie »Citizens Juries« und »National Issue Forums«

Ent wicklungen der partizipativen Demokr atie in Europa

D&E

Heft 65 · 2013

sowie vor allem Großformate wie zum Beispiel »Deliberative Pollings« und »Town Hall Meetings« (500 bzw. bis zu 5000 Teilnehmende) vornehmlich durch zivilgesellschaftliche Organisationen (Bertelsmann Stiftung, im Erscheinen). In Europa findet Bürgerbeteiligung vorwiegend sowohl auf lokaler als auch auf regionaler Ebene statt, und in manchen Ländern auch auf nationaler Ebene. Je nach politischer Kultur lassen sich verschiedene Muster der Beteiligung in den einzelnen Ländern und Regionen finden. In Frankreich zum Beispiel gibt es die »Commission Nationale du Débat Public«, eine unabhängige vom Staat finanzierte Organisation auf der zentralstaatlichen Ebene, die öffentliche Debatten und Beteiligung zu großen Infrastrukturvorhaben wie beispielsweise U-Bahnen, Autobahnen und Abb. 2 Europaweite Befragung: »Die Politiker bereiten mein Heimatland gut auf die Zukunft vor.« Bahnhöfen organisiert. Diese Beteili© Europauntersuchung der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen, gungsformen sind eher »spontan« www.stiftungfuerzukunftsfragen.de/uploads/media/Forschung-Aktuell-241-Politikervertrauen-in-Krisenzeiten_01.pdf und auf die Einflussnahme von Öffentlichkeit und Gesellschaft gerichtet im Vergleich zu deutschen Verfahren, denen meist ein recht schichten beteiligen (Baiocchi, 2005). Der Bürgerhaushalt von klares Regelwerk zugrunde liegt und die oft das Ziel verfolgen, Christchurch hingegen gilt als Vorbild für eine erfolgreiche VerEntscheidungsträgerinnen und – träger zu beraten. In Frankreich waltungsmodernisierung durch bürgerschaftliche Konsultatiowie auch in Deutschland haben Mandatsträger und -trägerinnen nen (Holtkamp, 2012). Er soll vornehmlich die Akzeptanz erhöhen sowie Verwaltungsmitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine domiund Legitimierung fiskalpolitischer Maßnahmen in der Bevölkenante Rolle in der Vorbereitung und Durchführung der Verfahren, rung steigern. Diese beiden Modelle haben in den europäischen während die britische Regierung Bürgerbeteiligung vornehmlich Ländern und Regionen unterschiedliche Verbreitung gefunden auf lokaler Ebene einfordert, aber deren Ausführung dem priva(Herzberg, Sintomer, et al., 2010). ten und Non-Profit-Sektor überlässt. In Großbritannien ist seit In Deutschland beispielsweise werden Bürgerhaushalte wie in 2003 die gemeinnützige Organisation »Involve« aktiv, welche die Berlin-Lichtenberg, Esslingen, Köln und Freiburg überwiegend als Zusammenarbeit vieler an Partizipation beteiligter Akteure optiMittel zur Verwaltungsmodernisierung angewendet, also nach miert, sowohl aus dem öffentlichen, als auch aus dem privaten dem neuseeländischen Vorbild. Sie zielen ab auf eine Verbesseund dem freiwilligen Sektor. In Italien wiederum gibt es zahlreirung der Informationsgrundlage der Stadt- und Gemeinderäte bei che kleine Initiativen auf lokaler und regionaler Ebene. Die Reder Beschlussfassung über den Haushaltsplan. In Spanien und gion Toskana hat im Jahr 2007 ein in Europa bislang einzigartiges anderen Ländern Südeuropas hingegen stehen bei BürgerhausGesetz erlassen, das es Bürgerinnen und Bürgern und dort wohnhalten nach dem brasilianischen Modell eher Fragen der sozialen haften Personen ermöglicht, Beteiligung einzufordern und selber Gerechtigkeit im Mittelpunkt wie zum Beispiel in Cordoba, Sevilla zu initiieren, wenn das geplante Großvorhaben einen signifikanund Albacete (Sintomer, Herzberg, et al., 2008). Mit Blick auf die ten Einfluss auf die Bevölkerung hat. Mit dem Gesetz wurde darüBürgerhaushalte lässt sich festhalten: Die Gestaltung und Umsetber hinaus eine zentrale staatliche Anlauf- und Beratungsstelle zung eines Beteiligungsformats hängt stark von den jeweiligen zur Verbreitung, Förderung und Evaluation der Beteiligungspraxis Beteiligungskulturen und Traditionen sowie den Strukturen des etabliert, die jährlich Berichte über den Verlauf der Praxis veröfpolitischen Systems der jeweiligen Länder und Regionen ab. fentlicht (Regione Toscana, 2007). Neben den Bürgerhaushalten gibt es heute rund 16 weitere gänLänderübergreifende und vergleichende wissenschaftliche Forgige Verfahren und Methoden dialogorientierter Bürgerbeteilischung, die die verschiedenen Partizipationskulturen in Europa gung, die in den europäischen Ländern und Regionen Verbreisowie die unterschiedliche Verbreitung bzw. Ausprägung einzeltung gefunden haben – ergänzt um eine zunehmende Zahl von ner Beteiligungsformate erfasst, gibt es allerdings bislang nicht. online- und internetgestützten Beteiligungsverfahren (siehe im Mit einer Ausnahme: die Erforschung der »Bürgerhaushalte« in Überblick Fritsche & Nanz, 2012). Die verschiedenen Formate unverschiedenen europäischen Ländern. Der Bürgerhaushalt ist das terscheiden sich hinsichtlich ihrer Dauer (ein Tag bis mehrere Moweltweit bekannteste und verbreitetste dialogorientierte Verfahnate), ihrer Teilnehmerzahl (von zehn bis mehreren Tausenden) ren (Cabannes, 2006). Entstanden sind Bürgerhaushalte Ende der sowie der Rekrutierung und Auswahl der beteiligten Bürgerinnen 1980er Jahre in der brasilianischen Millionenstadt Porto Alegre und Bürger (Selbstselektion, zufällige oder gezielte Auswahl, vgl. und im neuseeländischen Christchurch. Das in Porto Alegre ent| Abb. 7 |, S. 8). In Europa dienen Beteiligungsprozesse vornehmwickelte Modell ist als Beispiel einer »Demokratisierung der Delich der Einflussnahme von Öffentlichkeit und Gesellschaft sowie der Beratung von Entscheidungsträgerinnen und -trägern. Unmokratie« bekannt geworden. Die Bürgerinnen und Bürger könmittelbare Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger sind in nen auf kommunaler Ebene an der Gestaltung politischer und den meisten dialogorientierten Verfahren nicht vorgesehen, sobudgetärer Angelegenheiten, deren Konsultation und Prioritädass kollektiv bindende Beschlüsse nach wie vor durch Parlatensetzung mitwirken und sogar mitentscheiden. Die Entstehung mente, Stadträte und Verwaltungen gefällt werden. Allein im Rahdes Beteiligungsverfahrens in Porto Alegre stand unter den Vormen von Bürgerhaushalten sind auch Mit-Entscheidungen von zeichen von sozialer Gerechtigkeit, Bekämpfung von Korruption Bürgerinnen und Bürgern möglich, wobei in Deutschland auch und Ausweitung der Basisdemokratie. Erwähnenswert ist, dass sich hier verstärkt auch ärmere und bildungsferne Bevölkerungs-

D&E

Heft 65 · 2013

Ent wicklungen der partizipativen Demokr atie in Europa

13

PATRIZIA NANZ | JAN-HENDRIK KAMLAGE*

hier das Entscheidungsrecht weiterhin ausschließlich in den Händen von Politik und Verwaltung liegt. In den europäischen Ländern haben sich die verschiedenen Beteiligungsformate nicht nur unterschiedlich ausgeprägt, wie das Beispiel der Bürgerhaushalte zeigt, sondern sie sind auch unterschiedlich weit verbreitet. In Deutschland wird schon seit den 1970er Jahren die »Planungszelle« angewendet. Planungszelle ist ein organisatorisch aufwendiges Kleinformat, das komplexe Fragestellungen von wenigen, zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern erarbeiten lässt und auf dieser Basis Empfehlungen (sogenannte »Bürgergutachten«) erstellt. Diese dienen dann Stadträten, Verwaltungen und Parlamenten als Entscheidungsgrundlage, beispielsweise für die Kommunal- und Verwaltungsreform in Rheinland-Pfalz (vgl. Dienel, 2011) oder für die Entwicklung der Neusser Innenstadt (vgl. Ortwein, 2001).

Europaweit: Bürgerbeteiligung im Fokus der Öffentlichkeit

14

Nicht zuletzt als Antwort auf die neue Protestwelle in den letzten Jahren (u. a. Stuttgart 21) und auf die Konflikte im Kontext der Energiewende ist Bürgerbeteiligung in Deutschland (wieder) stark in den Fokus der politischen Öffentlichkeit gerückt. An vielen Orten in der Republik, sei es auf kommunaler, regionaler oder zentralstaatlicher Ebene, werden gegenwärtig verschiedenste Beteiligungsverfahren erprobt. In Österreich, und hier vorwiegend im westösterreichischen Bundesland Vorarlberg, hat das im Vergleich zur Planungszelle einfache Format der Bürgerinnenräte weite Verbreitung gefunden, das in den USA entwickelt wurde und dort »Wisdom Council« genannt wird. Ziel ist es, die Ideen und Vorschläge von rund zehn zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürger an wenigen Tagen zu erarbeiten und auf diesem Weg zu einer kreativen und gemeinschaftlichen Problemlösung zu gelangen. Die daraus entstehenden Empfehlungen dienen als Diskussionsgrundlage sowohl für die lokale Öffentlichkeit als auch für Entscheidungsträgerinnen und -träger, z. B. im Gemeinderat (Strele, Nanz, et al., 2012). Aufgrund der positiven Erfahrungen mit den Bürgerinnenräten wird erstmals in Europa im Jahr 2013 die partizipative Demokratie in der Landesverfassung von Vorarlberg verankert – ein Trend, dem höchstwahrscheinlich auch andere Regionen in Bälde folgen werden. In Großbritannien wird neben vielen anderen häufig das Beteiligungsverfahren »Planning for Real« angewendet, mit dem Ziel, die Lebensqualität an konkreten Orten (Stadtplätze, Quartiere, Stadtparks etc.) zu verbessern. Es ist offen für alle Interessierten. Die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist nicht begrenzt. In Dänemark wiederum werden seit den frühen 1990er Jahren erfolgreich »Konsensuskonferenzen« mit Bürgern durchgeführt, deren Ergebnisse dem Parlament überreicht werden. Die Dänische Behörde für Technikfolgenabschätzung bringt dazu Expertinnen und Experten zusammen mit 10–30 zufällig ausgewählten Laien hinsichtlich eines zu diskutierenden Themas. Das Themenspektrum der Konferenzen reicht von der Strahlenbelastung von Lebensmitteln über die Behandlung von Unfruchtbarkeit bis hin zu Chancen und Schwierigkeiten von Verkehrsmauten. Wie sieht es nun auf der europäischen Ebene mit der Erprobung von »dialogorientierten Verfahren der Bürgerbeteiligung« aus? Die Europäische Kommission hat seit 2001 eine Vielzahl von Projekten unterstützt, um zu testen, welche Verfahren und Methoden für transnationale und mehrsprachige Bürgerbeteiligung geeignet sind (Nanz & Kies, im Erscheinen). Das größte und vielschichtigste Projekt dieser Art waren bislang die »Europäischen Bürgerkonferenzen«, die erstmals zwischen Oktober 2006 und Mai 2007 stattfanden. An diesem grenzüberschreitenden Großverfahren nahmen etwa 1.800 nach demographischen Kriterien zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern aus 27 EUMitgliedstaaten teil und berieten über die Zukunft Europas. Die

Europäischen Bürgerkonferenzen waren nach der Auftaktveranstaltung in Brüssel als ein dreistufiges Verfahren organisiert: Im ersten Schritt wurden zentrale Bürgerkonferenzen mit OnlineElementen in den einzelnen Mitgliedstaaten durchgeführt. Im zweiten Schritt wurden ergänzend in verschiedenen Städten der Mitgliedstaaten »regionale Bürgerforen« veranstaltet, um in einem letzten Schritt die Ergebnisse aus den Mitgliedstaaten auf der europäischen Ebene zusammenzutragen und dort mit Vertretern der Europäischen Kommission auf einer Abschlussveranstaltung zu diskutieren (Baumann, Felten, et al., 2009). Im Anschluss an die ersten Europäischen Bürgerkonferenzen gab es bis heute verschiedene Folgeprozesse, die die Ergebnisse des Verfahrens in die Mitgliedstaaten zurück kommuniziert haben. Im Jahr 2009 wurden erneut Europäische Bürgerkonferenzen veranstaltet, um so eine erste reguläre transnationale Beteiligungspraxis der Bürgerinnen und Bürger in Europa zu etablieren.

Erste Ergebnisse Die vielfältigen Entwicklungen im Feld der dialogorientierten Verfahren in Europa haben dazu geführt, dass sowohl Politik und Verwaltungen einiger Länder, Regionen und Kommunen als auch die wachsende Anzahl an Dienstleistern und Anbietern von Bürgerbeteiligungsverfahren ein gesteigertes Interesse an Qualitätsnormen, Standards und Leitlinien für die Umsetzung der Beteiligungsverfahren entwickelt haben. In den letzten Jahren sind daher in verschiedenen Ländern Europas Qualitätsgrundsätze und Standards der Bürger- und Öffentlichkeitsbeteiligung entstanden. So hat die »Österreichische Gesellschaft für Umwelt und Technik« (ÖGUT), die Mitte der 1980er Jahre als überparteiliche Plattform für Umwelt, Wirtschaft und Verwaltung zur Förderung von Beteiligungsprozessen vor allem im Bereich der Umweltpolitik gegründet wurde, »Standards der Öffentlichkeitsbeteiligung« veröffentlicht. Die Entwicklung der Standards und Praxisleitfäden wurde vom österreichischen Ministerrat am 2. Juli 2008 beschlossen und von einer interministeriellen Arbeitsgruppe unter Federführung des Kanzleramtes und des Lebensministeriums entwickelt. Die Arbeitsgruppe konsultierte darüber hinaus verschiedene Vertreter der Zivilgesellschaft und externe Fachexperten (Lebensministerium & Bundeskanzleramt, 2008, S. 3). Die Qualitätsstandards und Leitfäden sind als Service und Unterstützung für Verwaltungen konzipiert, um eine Orientierung für die gute Praxis der Öffentlichkeitsbeteiligung bereit zu stellen (www.partizipation. at/standards_oeb.html). Neben Österreich hat auch die Landesregierung von Wales begonnen, nationale Prinzipien für öffentliche Beteiligung zu entwickeln. Hierzu wurde im Jahr 2009 die beratende Kommission der Organisation »Participation Cymru« beauftragt. »Participation Cymru« ist eine Kooperation der öffentlichen Verwaltung und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die darauf abzielt, öffentliche Dienstleistungen durch die Stärkung und den innovativen Einsatz von Bürgerbeteiligung zu verbessern. Den Anstoß zur Entwicklung der Prinzipien gab eine vom walisischen Parlament verabschiedete »Vision für öffentliche Dienstleistungen«. Jüngst haben sich auch Städte wie Heidelberg und Leipzig auf den Weg gemacht, Qualitätsnormen zu kodifizieren (vgl. Stadt Heidelberg, 2012; Stadt Leipzig, 2013). Zu diesem Zweck wurden unter anderem Grundsätze und Leitfäden für die Umsetzung von dialogorientierten Verfahren entwickelt. Trotz der mittlerweile zahlreichen Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung hat in Europa bisher kein systematischer Lern- und Erfahrungsaustausch stattgefunden. Im Dezember 2012 hat daher die Stabsstelle der »Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung des Staatsministeriums Baden-Württemberg«, Gisela Erler, und das »European Institute for Public Parcipation« (EIPP) verschiedene europäische Regionen zu einer Konferenz eingeladen, u. a. Rhone-Alpes, Vorarlberg, Katalonien, die dänischen Regionen sowie die Toskana und Emilia-Romagna. Als Ergebnis ist

Ent wicklungen der partizipativen Demokr atie in Europa

D&E

Heft 65 · 2013

das erste »Europäische Netzwerk zur Förderung der Bürgerbeteiligung« gegründet worden. Es wurde bei dem Treffen der europäischen Regionen deutlich, dass Politik und Verwaltung als Initiatoren und Organisatoren von partizipativen Prozessen in den kommenden Jahren dringend Kompetenzen ausbilden müssen, um entscheiden zu können, welches Format am besten für ein Thema, ein Fachgebiet und eine politische Ebene geeignet ist. Was zudem benötigt wird, ist praktisches Wissen über die Stärken und Schwächen der verschiedenen Verfahren und ihre Nützlichkeit für unterschiedliche Situationen. Darüber hinaus suchen Regionen und Kommunen verstärkt nach Wegen, dialogorientierte Verfahren mit den jeweiligen repräAbb. 3 Am 5. und 6.12.2012 kamen im Staatsministerium in Stuttgart Expertinnen und Experten aus sentativ-demokratischen Institutionen und aller Welt zusammen, um sich in einem Workshop über Konzepte der Bürgerbeteiligung in Europa ausGremien zu verzahnen, damit das »Voicing« zutauschen. Dazu eingeladen hatten die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, Gisela der Bürgerinnen und Bürger nachhaltig EinErler, und Professorin Dr. Patrizia Nanz vom »European Institute for Public Participation« (EIPP). fluss nehmen kann. © Staatsministerium Baden-Württemberg Die wachsende Verbreitung neuer und innovativer Formen dialogorientierter BürgerBaiocchi, Gianpaolo (2005): Militants and Citizens: The Politics of Participabeteiligung in Europa macht auch die Notwenigkeit sozialwissentory Democracy in Porto Alegre, Stanford, Kalifornien. schaftlicher Forschung deutlich, die diese Entwicklungen quantitativ sowie qualitativ erfasst und kritisch begleitet. Europa Baumann, Mechthild, Felten, Sandra & Stratenschulte, Eckart D. (2009): braucht ein unabhängiges Kompetenzzentrum, das GrundlagenEmpirische Auswertung der Europäischen Bürgerforen 2008/2009, forschung mit Anwendungsorientierung verbindet und zentraler www.buergerforen.de/fileadmin/medias-buergerforen/presse/Finale_ Bestandteil eines europäischen Netzwerks für Bürgerbeteiligung Auswertung.pdf (letzter Zugriff: 25.01.2013). wird. Aufgabe dieses Zentrums wäre es, länderübergreifend die Bertelsmann Stiftung (im Erscheinen): Public Participation in International Erfahrungen aus einzelnen Beteiligungsinitiativen systematisch Review: A discussion between Archon Fung, Yves Sintomer, Patrizia Nanz zusammenzutragen, die Ursachen für Erfolg und Misserfolg zu and Anna Wohlfarth, in: Inspiring Democracy: New Forms of Public Particianalysieren, unabhängige Handreichungen über intendierte und pation, S. 71–75. nicht-intendierte Wirkungen von Beteiligungsbeispielen zur Verfügung zu stellen und somit einen Raum zur kritischen Reflexion Dienel, Hans-Liudger (2011): Die Planungszelle im Einsatz: Bürgervoten für partizipativer Prozesse zu schaffen. Auf der Grundlage solchen die Kommunal- und Verwaltungsreform in Rheinland-Pfalz, in: Kurt Beck & Wissens könnte eine derartige Institution auch bei der KonzepJan Ziekow (Hrsg.), Mehr Bürgerbeteiligung wagen, S. 169–177. tion von Beteiligungsangeboten behilflich sein, Qualitätsnormen Fritsche, Miriam & Nanz, Patrizia (2012): Handbuch Bürgerbeteiligung: Verfür Verfahren erarbeiten und Evaluationsstandards zur unabhänfahren und Akteure, Chancen und Grenzen, Schriftenreihe Band 1200, Bungigen Bewertung der Praxis entwickeln. Darüber hinaus könnte deszentrale für politische Bildung, Bonn. sie Akteure aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft ebenso wie Dienstleisterinnen und Dienstleister, Moderatorinnen und Fung, Archon (2003): Survey Article: Recipes for Public Spheres: Eight InstiModeratoren sowie technische Entwicklerinnen und Entwickler tutional Design Choices and Their Consequences, Journal of Political Philovernetzen und zum »Capacity Buildings« der Akteursgruppen beisophy, 11(3), S. 338–367. tragen. Ein solches Kompetenzzentrum könnte aber auch die DeHerzberg, Carsten, Sintomer, Yves, et al. (2010): Vom Süden lernen: Bürgerbatte um die Zukunft der Demokratie insgesamt bereichern: haushalte weltweit-eine Einladung zur globalen Kooperation: Studie, – Wie ließen sich dialogorientierte Beteiligungsverfahren mit http://opus.kobv.de/zlb/volltexte/2011/10312/pdf/dg25.pdf (letzter Zugriff: direkt-demokratischen Abstimmungen verbinden (wie etwa 25.01.2013). im Beispiel der Wahlrechtsreform in British Columbia oder des isländischen Verfassungsentwurfs durch die Bürger und BürLey, Astrid & Weitz, Ludwig (Hrsg.) (2009): Praxis Bürgerbeteiligung, Stifgerinnen, für das jüngst eine satte Mehrheit der Wahlbevölketung Mitarbeit, Bonn. rung gestimmt hat)? Nanz, Patrizia & Kies, Raphaël (im Erscheinen): Is Europe Listening to Us? – Wie könnten Verknüpfungen von einzelnen BeteiligungsverSuccesses and Failures of EU Citizen Consultations, Ashgate Publishing. fahren (oder gar einer ständigen Bürgerkammer zum Beispiel für langfristige Fragenstellungen) und parlamentarischen Stadt Heidelberg (2012): Leitlinien für mitgestaltende Bürgerbeteiligung in Entscheidungsprozessen aussehen? der Stadt Heidelberg, online: http://www.heidelberg.de/servlet/PB/ Es ginge am Ende darum, systematische Vorschläge für europäishow/1227274/12_pdf_Buergerbeteiligung_LeitlinienEnd.pdf (letzter sche Demokratiereformen zu machen – Demokratiereformen, die Zugriff: 25.01.2013). institutionelle Rahmenbedingungen entwickeln für eine KombiStiftung für Zukunftsfragen (2012): Forschung aktuell, Hamburg, online: nation aus repräsentativer, direkter und partizipativer Demokrawww.stiftungfuerzukunftsfragen.de/uploads/media/Forschung-Aktuelltie – und dabei die unterschiedlichen Beteiligungskulturen und 241-Politikervertrauen-in-Krisenzeiten_01.pdf (letzter Zugriff: 25.01.2013). politischen Systeme in Europa berücksichtigt.

Literaturhinweise APuZ (2006): Direkte Demokratie, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, www.bpb.de/system/files/pdf/YRK9YG.pdf (letzter Zugriff: 25.01.2013).

D&E

Heft 65 · 2013

Strele, Martin, Nanz, Patrizia & Lüdemann, Martin (2012): BürgerInnen-Räte in Österreich, Gemeinsames Forschungsprojekt des Lebensministeriums und des Büros für Zukunftsfragen, Bregenz, Wien, online: http://www.vorarlberg.at/pdf/endberichtforschungsproje.pdf (letzter Zugriff: 26.01.2013).

Ent wicklungen der partizipativen Demokr atie in Europa

15

PATRIZIA NANZ | JAN-HENDRIK KAMLAGE*

16

MATERIALIEN M 1 Claus Leggewie, Patrizia Nanz: » Mehr Beteiligung für die Energiewende«, Süddeutsche Zeitung Es wird eng: Rund um den Erdball werden Endlager für hoch radioaktive Abfälle aus der Nutzung der Kernenergie durch Industrie, Medizin und Forschung gesucht. Die Europäische Union hat 14 Mitgliedstaaten eine Lösung für die Atommüll-Endlagerung bis 2015 auferlegt, andernfalls wird sie gegen säumige Staaten vorgehen und wegen Vertragsverletzung vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Die Lagerstätten müssen so beschaffen sein, dass die Abfälle von der Biosphäre abgeschieden bleiben, bis keine Gefahr mehr von ihnen ausgeht – nach Festlegung des Bundesamtes für Strahlenschutz von 2005 heißt das: für eine Million Jahre. Bis zum Jahr 1 002 005 also. Die Zahl demonstriert den Hochmut einer hochriskanten TechM 2 »Einstimmig!« nologiewahl, die für Menschen kaum nachvollziehbare Fristen und Risiken einplanen muss. Aber das zu beklagen, reicht nicht: Das jahrelange Schwarze-Peter-Spiel zwischen Energiewirtschaft, Politik und Anti-AKW-Bewegung hat die Übernahme von Verantwortung für das immer dringender werdende Problem verhindert. Nach dem Fiasko von Gorleben, dem Skandal um die Asse und der Untauglichkeit anderer bislang in Aussicht genommener Standorte ist endlich ein annehmbares Endlager auszuweisen, politisch zu vereinbaren und mit maximalen Sicherheitsvorkehrungen zu errichten. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat uns auf den Boden der Tatsachen geholt, als er sagte, irgendwo müsse das Zeugs ja hin. Zunächst aber stößt jeder Vorschlag, Bürgerbeteiligung bei der Endlagersuche auf den Weg zu bringen, auf berechtigte Skepsis. Warum soll das Volk richten, was eine sich selbst blockierende und zur Einigung nicht fähige Allparteienkoalition verbockt hat? Aber wie, wenn nicht unter Einbeziehung der Betroffenen vor Ort und mit der Legitimierung durch den Souverän soll dies sonst gelingen? Gemeint ist erst einmal kein Volksentscheid, sondern eine tiefer gehende Erörterung des bestgeeigneten Endlager-Standortes durch die Öffentlichkeit, die in den Entwürfen für ein Endlagersuchgesetz breiten Raum einnimmt (www.endlagerdialog.de). Die wenigen Erläuterungen und Konkretisierungen des Gesetzesentwurfes lassen allerdings wenig Gutes hoffen; Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) meint wohl, mit ein paar unverbindlichen Bürgerdialogen und Internetplattformen könne man sich die nötige Akzeptanz beschaffen. Das gelingt freilich schon bei weniger dramatischen Anlässen nicht, erst recht nicht in der Endlagerfrage. Und es geht ja um mehr als bloße Akzeptanzbeschaffung: nämlich darum, einer wie auch immer gearteten parlamentarischen Entscheidung durch eine verbindliche Empfehlung aus der Bürgerschaft zusätzliche Legitimation und Tragfähigkeit zu verleihen. Alle Vorzeichen für einen ruhigen und rationalen Meinungsaustausch sind allerdings negativ: Das Vertrauen in die politischen Eliten ist vollständig erschüttert, keine wissenschaftliche Autorität wird mehr anerkannt, Bürgerinitiativen haben sich in einer Wagenburg verschanzt, die Energiekonzerne stehlen sich aus der Verantwortung. Wer sich ernsthaft mit der Organisation von Bürgerbeteiligung befasst hat, möchte vor einer solchen Ausgangsszenerie davonlaufen. Allein die Dringlichkeit des Problems erfordert, im Zuge der Energiewende die Jahrhundertchance auf einen haltbaren politischen Kompromiss für ein durchdachtes Endlagersuchgesetz zu nutzen. Es gilt dabei, einen lokalen, nationalen und am Ende

© Gerhard Mester 2013

auch europäischen Bürgerbeteiligungsprozess sorgfältig vorzubereiten und in Angriff zu nehmen. Bis 2015 muss eine Entscheidung gefällt sein, welche Endlagerstätten erkundet werden sollen, in den folgenden Jahren muss eine konsensfähige und nachhaltige Lösung gefunden werden, die deren schwere Lasten auch noch möglichst gerecht verteilt und den Betroffenen nicht, wie man es mit denen in Gorleben halten wollte, zuruft: Pech gehabt! Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Legitimität – das sind die normativen Leitlinien des im Gesetzentwurf angedeuteten Bürgerbeteiligungsprozesses. Der muss zugleich die nationale Aufgabe der Endlagersuche, deren Organisation einer neuen Behörde übertragen werden soll, an alle in Erwägung gezogenen Standorte dezentralisieren. Er muss zudem lokale Belange, die jeweils nach dem NIMBY-Prinzip (»Not in my Backyard«) wegdelegiert werden können, zum Ausgleich bringen. Was wir dafür brauchen, ist ein nationaler Ausschuss, der mehr ist als die Ethik-Kommission, die im Fall des Atomausstiegs nach Fukushima als Gremium ausgesuchter Persönlichkeiten tätig geworden ist. Wenig geeignet ist sicherlich auch eine vor laufender Kamera agierende Schlichtung, wie im Fall Stuttgart 21, oder die Stakeholder-Mediation am Frankfurter Flughafen, um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen. Ein Patentrezept für die Zusammensetzung und beste Mischung gibt es nicht, persönliche Autorität, wissenschaftliche Kompetenz und gesellschaftliche Repräsentativität müssen fein balanciert werden. Denkbar ist ein Zukunftsrat, der sich gar nicht aus Prominenten rekrutiert, sondern aus einfachen Bürgern, die sich – wie eine parlamentarische Untersuchung – jeden gewünschten Sachverstand per Hearing heranziehen kann, und per Zufallsverfahren und nach soziodemografischen Kriterien wie Alter, Geschlecht und Bildung so zusammensetzen, dass sie den Querschnitt der Bevölkerung möglichst gut abbilden. Anders als amerikanische Geschworenengerichte sollen die »Laienschöffen« kein Urteil fällen, sondern eine Handlungsempfehlung aussprechen, die vom Parlament in der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden muss. Eine große Portion Gemeinsinn scheint bei der Endlagerfrage in jedem Fall unverzichtbar. Infrage kommende Standorte könnten in lokalen Gremien diskutiert werden, während eine Ratsversammlung auf nationaler Ebene die Ergebnisse aller Gremien bündeln und bewerten sollte. Besonders in Regionen, die vielleicht zu den Lastenträgern der

Ent wicklungen der partizipativen Demokr atie in Europa

D&E

Heft 65 · 2013

Endlagerfrage werden, könnte BürWelche Formen von politischer Beteiligung werden von den Bürgern praktiziert gerbeteiligung eine wichtige Rolle und sind für sie erstrebenswert – Welche kommen nicht in Frage? spielen, um Konflikte gemeinschaftAngaben in Prozent lich zu beraten, faire Ausgleichsmöglichkeiten zu entwerfen und die BilHab ich schon einmal dung von Orten des Widerstands zu Form der Kommt für mich gemacht oder käme verhindern. Auch in den lokalen Grenicht in Frage Beteiligung für mich in Frage mien ist das Prinzip der direkten Betroffenheit gering zu halten, denn sie sollen sich schließlich nicht nur um 94 5 Teilnahme an Wahlen den Standort, sondern auch um die 78 21 Volksentscheide-Bürgerbegehren langfristige Zukunft einer Region Gedanken machen. 29 Abstimmung über Infrastrukturprojekte 68 Denn darum geht es ja: wie die Bevöl64 36 Teilnahme an einer Bürgerversammlung kerung sich die Existenzbedingungen 44 55 Mitgliedschaft in einem Interessenverband und Lebensqualität ihrer Kinder, Enkel und Urenkel in einer Gegend vor55 Schreiben eines Leserbriefes 45 stellt, in der – gegebenenfalls – das 45 54 Beschwerde/Eingabe bei Abgeordneten Endlager errichtet wird. Viele 48 51 Online-Umfrage im Internet Perspek tiven – sozialpolitische, demografische und energiepolitische – 52 47 Beratungen über kommunalen Bürgerhaushalt stehen heute unter diesem futuri47 53 Teilnahme an einer Demonstration schen Vorzeichen 2012, 2050, 2100. 45 54 Und ganz offenbar ist unsere Zukunft Abstimmung über bestimmte Fragen im Internet keine lineare Fortschreibung des ge58 39 Elektronische Petition wohnten Lebens. Wegen der zeitlich 39 60 Teilnahme an einem Bürgerforum / Zukunftswerkstatt weitreichenden Folgen ist die atomare Endlagerung eine besondere 65 34 Mitgliedschaft in einer Bürgerinitiative Herausforderung für die Gerechtig33 67 Mitwirken in Partei ohne Mitgliedschaft keit zwischen den Generationen. 32 67 Verfassen von Beiträgen in Internet-Foren/Blogs Der Teufel liegt bei einer öffentlichen Erörterung der Standortfrage mit al30 69 Mitgliedschaft in einer Partei len Nebenerwägungen durch einen 27 72 Einsatz als Sachkundiger Bürger in Rat Zukunftsrat im prozeduralen Detail: 0 20 40 60 80 100 Wie oft und wie lange tagen die nationale Ratsversammlung und lokale Habe ich schon einmal gemacht oder käme für mich in Frage Kommt für mich nicht in Frage Weiß nicht, keine Angabe Gremien, wie viele Mitglieder sollen Quelle: Bertelsmann Stiftung / Umfrage TNS-Emnid. sie haben, sollen Bürger eine Aufwandsentschädigung erhalten? Wie M 3 »Welche Formen von politischer Beteiligung werden von den Bürgern praktiziert und sind für Sie erstrebenskönnen die Interessen künftiger Gewert – Welche kommen nicht in Frage?« www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SIDnerationen systematisch berücksichCE93650F-414B9DD6/bst/xcms_bst_dms_34121_34144_2.pdf tigt werden? Sicher benötigt der © Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahre 2011 Zukunftsrat einen gewissen professionellen Apparat und finanzielle Ressourcen: Informationsmaterial muss bereitgestellt, Debatten moderiert, Experten einbestellt, ErgebGremien auf Bundes- und Länderebene und in den Gemeinden. nisse gesichert und öffentlich zur Diskussion gestellt werden. Er Der Zukunftsrat hat im Sinn der Gewaltenteilung kein imperatives arbeitet nicht fürs Fernsehen, aber eine kontinuierliche DokuMandat, aber er müsste gehört werden, und er sollte, damit polimentation online und möglichst auch eine Berichterstattung in tische Akteure und Konjunkturen ihn nicht ignorieren können, den Medien sind zentral. neben parlamentarischen Debatten über dessen HandlungsempEs lohnt sich ein Blick ins Ausland: In Großbritannien fand 1999 fehlung auch ein verbindliches Feedback von der Regierung beeine Konsensuskonferenz statt, in der 15 Bürger in mehreren Wokommen. chenendworkshops Vorschläge für eine effiziente und öffentlich Wenn man Bundespräsident Gauck als Schirmherrn gewinnen akzeptierte Langzeitlagerung von radioaktivem Abfall entwickelt könnte, wäre das Verfahren zudem mit der nötigen personalen haben. Autorität versehen. Die dänische Behörde für Technikfolgenabschätzung führt seit Der Vorschlag eines solchen Zukunftsrats mag vielen utopisch dem Ende der achtziger Jahre erfolgreich solche Verfahren durch. vorkommen. Das mag er sein, aber man muss ihn abgleichen mit Hier wird der Endbericht immerhin nicht nur der Öffentlichkeit, anderen Entscheidungsmodalitäten, die bisher eben nicht zur sondern auch allen Parlamentsmitgliedern übergeben. Der ZuFindung und Realisierung eines geeigneten Endlagers im Konkunftsrat bräuchte allerdings sicherlich mehrere Monate für seine sens geführt haben. Ein Endlager muss so beschaffen sein, dass Arbeit und insgesamt weit mehr als 15 Mitglieder. Wesentlich ist, eine Million Jahre keine Gefahr von ihm ausgeht dass eine Bürgerbeteiligung über eine so weitreichende EntscheiClaus Leggewie, Patrizia Nanz: » Mehr Beteiligung für die Energiewende. Nach dem Fiasko dung wie das Endlager nach demokratischen Kriterien und auf um Gorleben braucht die Suche nach einem Atom-Endlager endlich mehr demokratische mehreren Ebenen konzipiert wird, damit jedes »Hier nicht!« mit Basis: einen Zukunftsrat. «, Süddeutsche Zeitung 22.11.2012, S. 20 dem »Hier auch nicht!« an anderer Stelle konfrontiert wird und damit gemeinsame Verantwortung entstehen und ein faire Verteilung der Lasten erreicht werden kann. Die weitere Voraussetzung für das Gelingen dieses Experiments ist eine geeignete Anbindung an den Entscheidungsprozess in den parlamentarischen

D&E

Heft 65 · 2013

Ent wicklungen der partizipativen Demokr atie in Europa

17

PATRIZIA NANZ | JAN-HENDRIK KAMLAGE*

18

M 4 Der Filder-Dialog in Kürze »Mit dem Filder-Dialog S 21 wollen die Projektpartner von Stuttgart 21 Transparenz über ihr Vorhaben vor Ort schaffen und mit den Betroffenen und der Bürgerschaft in einen konstruktiven Dialog treten. Sie nehmen dabei den Planfeststellungsabschnitt 1.3 auf den Fildern (beim Stuttgarter Flughafen) unter die Lupe: Sowohl die für diesen Abschnitt beantragte Trasse als auch weitere Trassen und Varianten sollen vorgestellt und diskutiert werden. Dabei geht es auch um die zugrunde liegenden Planungsprämissen und Bewertungskriterien. Zu den Vorgaben des Dialogs gehört unter anderem, dass der vereinbarte Kostendeckel nicht angehoben, der M 6 Der Moderator des »Filderdialogs – S 21«: Ludwig Weitz, Bonn © dpa, picture alliance Terminplan eingehalten und über die sogenannte Null-Variante (die das Projekt Stuttgart 21 grundsätzlich infrage stellt) nicht disden weiteren Verlauf und die Ergebnisse der Machbarkeitsstudien kutiert wird. der Projektpartner informiert zu werden. Eine Art Fortsetzung des Ziel des Dialogverfahrens: Die Teilnehmenden äußern sich zu den Filderdialogs ist zudem auch im Sinne der Staatsrätin Gisela Erler verschiedenen Trassenvarianten und geben Empfehlungen an die und des Moderatos Ludwig Weitz, die das Verfahren erst als beenProjektpartner. Dabei können auch andere Lösungen, als die bisdet sehen, so Weitz, wenn ein konkretes Ergebnis auf dem Papier lang geplante Trasse herauskommen. Die Projektpartner haben steht, das auch umgesetzt wird. Der Verkehrsminister Winfried zugesagt, nach Abschluss der Bürgerbeteiligung die Ergebnisse Hermann (Grüne), der im Filderdialog ein gelungenes Experiment gemeinsam zu bewerten und zu beschließen, welche Empfehlunder Bürgerbeteiligung sieht, hat eine solche Fortführung fest zugen bei der weiteren Planung berücksichtigt werden. Sie wollen gesagt. Drei Monate lang wollen die Projektpartner nun in einer die Machbarkeit dieser Empfehlungen anhand der geltenden PlaMachbarkeitsstudie prüfen lassen, ob der Vorschlag, den Fernnungsprämissen und Bewertungskriterien ernsthaft prüfen. (…) bahnhof auf den Fildern unter der Flughafenstraße und damit näDen ersten Schritt zum Filder-Dialog hat im Herbst 2010 die her an die S-Bahn-Station zu bauen, tragfähig und finanziell reali»Schlichtung« zum Gesamtprojekt Stuttgart 21 gesetzt. Damals sierbar ist. Ein Vorteil dieser Variante wäre, dass zumindest die hatte die Deutsche Bahn AG betont, sie wolle Planungen künftig S-Bahn-Station frei von Mischverkehr wäre, da die Fern- und Regianders angehen und mehr Bürgermitwirkung sowie eine bessere onalzüge direkt in den Flughafenbahnhof einschleifen würden. Informationspolitik gewährleisten Kurz darauf, im Frühjahr 2011, Auf der S-Bahn-Trasse zwischen Rohrer Kurve und Flughafen wechselte bei einem der Projektpartner die für Stuttgart 21 zumüssten die Kommunen dagegen mit dem ungeliebten Mischverständige Spitze: Winfried Hermann, Grüne, der neue Minister für kehr leben, weshalb nun auch die Möglichkeiten des Lärm- und Verkehr und Infrastruktur des Landes Baden-Württemberg, pläErschütterungsschutzes ausgelotet werden sollen. Im Spätdierte dafür, an der noch nicht abgeschlossenen S21-Planung auf herbst, so Hermann, könne das Ministerium die ersten Ergebden Fildern die örtliche Bürgerschaft zu beteiligen. So beschlosnisse vorlegen. sen die Projektpartner am 24. Februar 2012, mit dem Filder-Dialog Prominente Teilnehmer wie Roland Klenk, der OberbürgermeisS21 eine neue Form der Bürgerbeteiligung anzugehen. Und sie ter von Leinfelden-Echterdingen, oder Institutionen wie der Umkamen überein, die Planung und Durchführung des Dialogs in die weltverband BUND und die Schutzgemeinschaft Filder haben Hände einer erfahrenen externen Fachkraft für Moderation zu lederweil ihre Meinung zu dem Verfahren schon während des Diagen. logs mit ihrem Austritt kundgetan. Die Staatsrätin Gisela Erler Um den Filder-Dialog so optimal wie möglich zu gestalten, wurde wertet es trotz dieser Probleme als einen richtungsweisenden ein auf Großgruppenmoderation spezialisierter und von außerSchritt: »Wir haben einen Grundstein gelegt für ein neues Denken halb der Region Stuttgart kommender Experte gesucht. Beste und für ein Verfahren, wie man zukunftsfähige Verkehrslösungen Sachkenntnis bezüglich des Verfahrens bei möglichst großem Abmit den Bürgern erarbeiten kann.« stand zu den verhandelten Inhalten, so lautete die Vorgabe. Die Das große Problem des Dialogs sei gewesen, dass er viel zu spät Wahl fiel auf den Moderator Ludwig Weitz aus Bonn.« im Projektverlauf begonnen und unter enormem Zeitdruck ge© www.filderdialog-s21.de/ueberdenfilderdialog-s21.html standen habe. Gemessen an den schwierigen Bedingungen sei durchaus etwas Zukunftsweisendes herausgekommen, so Erler. Dass nun etwa auch die Sicherung der Gäubahn für den NahverM 5 Markus Heffner, Malte Klein: »Filderdialog zu Stuttkehr mit großer Priorität geprüft werde, könnten die Bürger als gart 21«: Einige Bürger fühlen sich nur als Statisten« Erfolg verbuchen. Sicher sei es für viele Teilnehmer bitter, dass sich ihre Wunschtrasse nicht durchgesetzt hat. »Damit muss man Der Filderdialog, ein demokratisches Verfahren mit ergebnisoffebei einem demokratischen Verfahren, das nur empfehlenden nem Ausgang, bei dem sich Bürger einbringen und echte VerbesCharakter hat, aber rechnen.« Auch von den »unterlegenen« Beserungen bewirken konnten? Darüber gibt es auch nach dem fürwortern der Gäubahnvariante seien jedoch überwiegend posiAbschluss der Veranstaltung unterschiedliche Meinungen. Zutive Rückmeldungen bezüglich des Verfahrens gekommen. mindest die Mehrheit der Teilnehmer selbst, so die Bilanz der Die Erfahrungen der vergangenen Wochen sollen nun in geplante Schlussrunde, ist mit einem guten Gefühl nach Hause gegangen. Bürgerverfahren bei vergleichbaren Infrastrukturprojekten in Etliche Bürger klagten in ihrem Abschlusswort aber auch darüber, Schwäbisch Gmünd und Tübingen einfließen, und auch bei der dass sie sich von den Projektpartnern nicht ernst genommen gePlanung des Rosensteinquartiers hält die Staatsrätin eine sehr fühlt hätten, nur Statisten gewesen seien und der Ausgang von frühe Beteiligung der Bürger für höchst hilfreich. »Wir alle haben vorneherein festgestanden hätte, so eine der Zufallsbürgerinnen. im Filderdialog viel gelernt«, sagt Erler: »Was man tun sollte – und Einig waren sich die Teilnehmer dagegen in dem Wunsch, über was besser nicht.«

Ent wicklungen der partizipativen Demokr atie in Europa

D&E

Heft 65 · 2013

Am Montag sprachen die Mitglieder der »Arbeitsgruppe S 21« derweil über die Stellungnahmen der Projektpartner zu den Empfehlungen des Filderdialogs. »Es ist erschreckend, dass wir in Leinfelden-Echterdingen mehr Lärmschutz entlang der S-Bahn-Trasse als gesetzlich nötig selbst zahlen sollen«, sagte Uwe Janssen (Grüne). © Markus Heffner, Malte Klein: »Filderdialog« zu Stuttgart 21: Einige Bürger fühlen sich nur als Statisten, Stuttgarter Zeitung vom 17.7.2012

M 7 Jan-Hendrik Kamlage: »Tunneldialog und Bürgerbeteiligung in Schwäbisch Gmünd«

M 9 Kleingruppenarbeit beim »Filderdialog 21«

In Schwäbisch Gmünd soll mit dem EinhornTunnel die Innenstadt vom Straßenverkehr entlastet werden. Geplant ist, dass die mit Staub und Schadgasen belastete Luft des 2,2 Kilometer langen Tunnels über einen zentralen Kamin ausgeblasen wird. Anwohner befürchten gesundheitliche und ökologische Folgen steigender Immissionsbelastungen im Bereich des Kamins und schlugen den Einbau eines Tunnelfilters vor. Dies wurde von dem Regierungspräsidium Stuttgart (RP) sowie dem Ministerium für Verkehr und Infrastruktur Baden-Württemberg (MVI) und dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) jedoch abgelehnt, da die gesetzlichen Grenzwerte für Luftschadstoffe nicht überschritten würden. Im September 2007 gründete sich die Bürgerinitiative »Pro Tunnelfilter«. Kurz danach wurde in Schwäbisch Gmünd die Umweltzone eingeführt, die in der Bevölkerung über wenig Akzeptanz verfügt. Um den Konflikt zu schlichten und die Sachfrage zu klären, wurde im Februar 2011 durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) eine Machbarkeitsstudie in Aussicht gestellt. Die Studie sollte klären, ob und unter welchen Bedingungen ein Tunnelfilter für den Einhorn-Tunnel einsetzbar sei. Daraufhin erarbeiteten im März 2011 Vertreterinnen und Vertreter aus den Bürgerinitiativen, der Wirtschaft, der Stadtverwaltung und der Lokalpolitik gemeinsam einen Fragenkatalog, der innerhalb des Verfahrens bearbeitet werden sollte. Im Anschluss wählte die Gruppe das Konsortium zur Umsetzung der Studie aus. Der Tunneldialog in Schwäbisch Gmünd ist ein Anwendungsfall für Verfahren der Präsenzbeteiligung. Vertreter aus Zivilgesellschaft, Unternehmen, Verwaltung und Politik beraten innerhalb eines speziell für diesen Fall entwickelten Beteiligungsformates die strittige Frage, ob und inwieweit ein Tunnelfilter für den dortigen Einhorn-Tunnel von Nutzen sein kann. © Jan-Hendrik Kamlage: Tunneldialog und Bürgerbeteiligung in Schwäbisch Gmünd. Originalbeitrag.

M 8 Wolfgang Fischer: » Bessere Wege als der Filter zu sauberer Luft«. Tunneldialog und Bürgerbeteiligung in Schwäbisch Gmünd Schwäbisch Gmünd. Die Abluft des Tunnels muss gefiltert werden, davon waren viele Bürger überzeugt. Doch seit April hat es vier Dialogrunden von Bürgern und Experten zu diesem Thema gegeben, und am Ende fasste zum Beispiel Schönblick-Geschäftsführer Martin Scheuermann, bisher überzeugter Filter- Befürworter, zusammen: »Wir sind uns einig, dass die gesundheitlichen Probleme, die wir befürchtet haben, nicht eintreten.« Prof. Dr. Erich Wichmann, Physiker und Mediziner an der Uni München, hatte den Zuhörern im Stadtgarten zuvor nochmals dargelegt, dass der Tunnel die Luftsituation in Gmünd deutlich verbessere.

D&E

Heft 65 · 2013

© dpa, picture alliance

Die zusätzliche Wirkung des Filters wäre dagegen verschwindend gering. Es gebe bessere Wege, die Luftqualität zu verbessern, folgerte auch Martin Scheuermann. Welche, das hatten die DialogTeilnehmer zuvor in einer Arbeitsgruppe diskutiert. GrünenStadträtin Brigitte Abele, die die Ergebnisse vortrug, nannte als ersten Punkt die Umweltzone: Rascher als vorgesehen müsse auch Fahrzeugen mit gelber Plakette die Zufahrt verboten werden, zudem solle die Einhaltung schärfer kontrolliert werden. (…) Auch Oberbürgermeister Richard Arnold räumte im Gespräch mit der Gmünder Tagespost ein, dass der Tunneldialog anders als erwartet verlaufen sei. »Die Hoffnung auf Argumente für den Filter hat sich nicht erfüllt.« Dafür hätten sich andere Perspektiven eröffnet. Zum Beispiel könnte er sich vorstellen, in Gmünd modellhaft an einer Stelle Moose oder andere Pflanzen, die Feinstaub binden, anzubauen – vielleicht schon zur Landesgartenschau. Außerdem gefällt ihm die Idee eines Clusters »Saubere Luft für den Raum Gmünd« (…). Diese Idee hatte Dr.-Ing. Hartmut Pflaum vom Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik eingebracht. Er definierte »Cluster« als Zusammenschluss von Akteuren mit gleichen Interessen in einer Region. (…) Ebenfalls Thema war der Verlauf des Dialogs: Martin Scheuermann anerkannte, dass die Experten auch »sehr, sehr kritische Fragen« der Bürger beantwortet hätten. Im Gegenzug lobte Moderator Lars Eggert die außergewöhnliche Offenheit der Bürger in diesen Dialogrunden. Auch Claus Leggewie vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, der den Dialog begleitet hatte, lobte die Form der Diskussionen. Allerdings hätte er sich mehr Politiker – auch überregionale – als Teilnehmer gewünscht. Eine Zuhörerin kritisierte, dass nur wenige Bürger gekommen waren. Andere hätten sich gewünscht, dass dieser Dialog früher gekommen wäre. Filter-Ingenieur Bernd Müller verteidigte in einem persönlichen Fazit die Forderung nach einem Filter. Doch die Teilnehmer des Dialogs diskutierten bereits, wie man die neue Erkenntnis, dass der Filter eben doch nicht das Optimum für Gmünd wäre, den Bürgern mitteilt, die man zuvor um Unterschriften für den Filter gebeten hatte. Wie es weitergeht, legte auch Lars Eggert dar: Voraussichtlich Ende September 2013 wird ein Abschlussbericht des Gmünder Tunneldialogs vorliegen, der an den Auftraggeber, das Bundesministerium für Bildung und Forschung, übergeben werden muss. Diese Aufgabe, schlug er vor, könnte eine Gmünder Delegation übernehmen. © Wolfgang Fischer: Bessere Wege als der Filter zu sauberer Luft. Einhelliges Fazit bei der Abschlusssitzung des Tunneldialogs/Umweltzone ausweiten und »verschärfen«?. Gmünder Tagespost vom 20.07.2012

Ent wicklungen der partizipativen Demokr atie in Europa

19

BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

4. Bürgerbeteiligung und soziale Gleichheit: Zwei Prinzipien im Spannungsfeld von Utopie und Wirklichkeit am Beispiel Deutschland OSCAR W. GABRIEL

E

20

in Ausbau der politischen Beteiligung erscheint derzeit vielen als Königsweg zu einer besseren Demokratie. Eine breite Bürgerbeteiligung soll dazu dienen, die politische Agenda zu öffnen und zu erweitern, die Inhalte der politischen Entscheidungen an den Präferenzen der Bürger auszurichten, die Distanz zwischen den Regierenden und den Regierten zu verringern, die Transparenz politischer Prozesse zu verbessern, die Qualität der politischen Auseinandersetzung zu erhöhen, die Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen zu fördern und die demokratische Kompetenz der Bürger zu stärken (Dahl 1998: 37–41; Parry/Moyser/Day 1993: 6–16). Im Prinzip sind diese Erwartungen normativ gerechtfertigt, denn nur ein Staat, in dem alle Bürger über gleiche Beteiligungsrechte verfügen und von ihnen Gebrauch machen, darf das Attribut »demokratisch« beanspruchen. In einem politischen System, in dem das Recht, im Namen der politischen Gemeinschaft allgemein verbindliche Entscheidungen zu treffen und diese durchsetzen, sich aus dem Grundsatz der Volkssouveränität ableitet, bilden Demokratie und Bürgerbeteiligung notwendigerweise eine Einheit (Dahl 1971; van Deth 2009: 141; Verba/ Schlozman/Brady 1995: 1). Doch im Gegensatz zu dem breiten Konsens über die Zusammengehörigkeit der Prinzipien »Bürgerbeteiligung« und »Demokratie« sind einzelne Aspekte dieser Beziehung umstritten. Es existieren unterschiedliche Auffassungen darüber, wie viel Beteiligung eine funktionsfähige Demokratie benötigt, in welchen Formen sie sich vollziehen sollte, welchen konkreten Zwecken bürgerschaftliche Beteiligung dient und welche demokratischen Prinzipien sie fördert, ob sich alle diese Ziele gleichzeitig erreichen lassen und welchen von ihnen im Konfliktfall der Vorzug zu geben ist.

Bürgerbeteiligung, Demokratie und Gleichheit: eine problematische Beziehung? Nicht weniger kompliziert stellt sich die Beziehung zwischen den Prinzipien »Bürgerbeteiligung« und »Demokratie« bei einem Blick auf die Ergebnisse der empirischen Forschung dar. Wie zahlreiche Studien belegen, beteiligt sich jenseits der Stimmabgabe bei nationalen Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen nur eine Minderheit der Bürger aktiv am politischen Leben, und auch die Wahlbeteiligung ist in den letzten Jahrzehnten in fast allen Demokratien zurückgegangen (z. B. Norris 2002; Blais 2010). Darüber hinaus nehmen nicht alle Mitglieder der politischen Gemeinschaft ihre Beteiligungsrechte in gleichem Ausmaß wahr (so schon: Nie/Powell/Prewitt 1969; Verba/Nie/Kim 1978; neuestens: Hooghe/Quintelier 2013). Nicht nur die Breite der bürgerschaftlichen Beteiligung, auch die soziale Zusammensetzung der politisch Aktiven bleibt in den modernen Gesellschaften hinter den demokratischen Idealen zurück. Es gibt sogar Indizien dafür, dass sich diese Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit in den letzten Jahrzehnten nicht verringert hat, sondern gewachsen ist.

Bürgerbe teiligung und soziale Gleichheit

Abb. 1 »Die Zeit ist reif für Volksabstimmungen …« © Heiko Sakurai, 26.6.2012 Dieser Beitrag untersucht, wie sich die wichtigsten Merkmale der Sozialstruktur auf die politische Aktivität der Bürger auswirken. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die politisch bedeutsamsten Merkmale der Sozialstruktur, der sozioökonomische Status, das Geschlecht, das Alter und der Migrationshintergrund der Bürger. Zunächst gebe ich einen Überblick über das Niveau und die Entwicklung der politischen Beteiligung im Zeitraum 1998 bis 2008 und stelle dann den sozialen Hintergrund der politischen Beteiligung dar. Im Schlussteil erfolgt eine Diskussion der Bedeutung der dargestellten Sachverhalte für die Qualität der Demokratie in Deutschland.

Bürgerbeteiligung: Struktur und Entwicklung Als politische Beteiligung bezeichnet man in Anlehnung an Kaase (1997: 167) alle freiwillig ausgeübten Aktivitäten, mittels derer Privatpersonen versuchen, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen oder direkt an diesen mitzuwirken. Seit dem Beginn der Demokratisierung der modernen Staaten hat die politische Beteiligung der Bürger zugenommen und an Vielfalt gewonnen. Zwar ist die Stimmabgabe bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen noch immer die am weitesten verbreitete Form aktiver politischer Teilnahme, daneben existieren jedoch zahlreiche weitere Beteiligungsmöglichkeiten, die sich in ihren strukturellen Eigenschaften und ihren Zielen voneinander unterscheiden und von der Bevölkerung unterschiedlich breit genutzt werden. Hierzu zählen Aktivitäten im Rahmen der Strukturen und Prozesse der repräsentativen Demokratie, wie die Mitarbeit in Parteien oder die Versuche, durch Politiker- oder Verwaltungskontakte politischen Einfluss auszuüben. Darüber hinausgehend, greift die Bevölkerung seit der Mitte der 1970er Jahre in allen modernen Gesellschaften zur Durchsetzung ihrer Ziele vermehrt auf Protestaktionen wie Unterschriftensammlungen, Demonstrationen, Verkehrsblockaden und Produktboykotte zurück. Schließlich wurden

D&E

Heft 65 · 2013

in den letzten Jahrzehnten wurden in 100 Deutschland und anderen Demokratien vermehrt Möglichkeiten geschaffen, durch Volksbegehren und -entscheide politischen Einfluss auszuüben. Zu guter Letzt nutzt eine Wählen 80 wachsende, wenn auch immer noch relativ Petition/ Unterschrift kleine, Gruppe von Bürgern das Internet als Mittel der politischen Beteiligung (vgl. ausAn Diskussion führlich dazu: Gabriel/Völkl 2005; Gabriel/ teilnehmen 60 Völkl 2008; van Deth 2009). Angemeldete Auch wenn die Beteiligung an der Wahl der Demonstration politischen Führung für die meisten Bürger In Bürgerinitiative die wichtigste Form politischer Einflussmitarbeiten 40 nahme geblieben ist, zeigt die empirische In einer Partei Forschung mit großer Deutlichkeit, dass die mitarbeiten vielfältigen Möglichkeiten zum politischen Nicht angemeldete Engagement von einer wachsenden Zahl von Demonstration 20 Bürgern genutzt werden. Zwar ist die Wahlbeteiligung in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland stärker gesunken als es die Daten in Abbildung 2 erkennen lassen, jedoch handelt es sich dabei eher um eine Ausnahme 0 1988 1998 2008 als um die Regel im politischen Engagement: Entweder ist das politische Engagement geAbb. 2 Die Entwicklung ausgewählter Formen politischer Beteiligung in Deutschland, 1988–2008 stiegen – wie im Fall der legalen Protestakti(Angaben: Prozentanteile). © Oscar W. Gabriel, Quelle: Allbus, eigene Auswertung. 1988 wurden nur in onen – oder es ist zumindest stabil geblieWestdeutschland Daten erhoben, für 1998 und 2008 sind die Daten für Ost- und ben. Außer der Wahlbeteiligung hat sich in Westdeutschland entsprechend Bevölkerungsverteilung repräsentativ gewichtet. Deutschland keine andere Form der politischen Partizipation rückläufig entwickelt. Sozioökonomischer Status und Partizipation Insgesamt ist somit die Inklusivität des politischen Systems gewachsen. Dies bestätigen auch weitere empirische Studien (HinAn erster Stelle ist in diesem Zusammenhang die sozioökonomische weise bei: Gabriel 2011: 24–29). Stellung von Individuen zu nennen, die sich aus ihrem Bildungsniveau, ihrem Einkommen, der Art ihrer Berufstätigkeit und ihrer Welche Gruppen betätigen sich politisch und subjektiven Schichteinstufung ergibt. Die empirische Politikwiswelche bleiben inaktiv? senschaft interessiert sich seit ihren Anfängen für die politische Bedeutung der soziökonomischen Schichtung und konnte zeigen, Ungeachtet des relativ breiten bürgerschaftlichen Engagements dass die gesellschaftliche Stellung von Individuen ihr politisches beteiligt sich jeder zweite Deutsche nicht aktiv am gesellschaftliVerhalten und damit das politische Leben in modernen Gesellchen bzw. politischen Leben, jedenfalls soweit das Engagement schaften in vielfältiger Weise prägt. In der Sozialstruktur angeüber die Stimmabgabe bei Wahlen hinausgeht. Solange man legte Interessen und Wertvorstellungen führten in der Mitte des nicht die unrealistische Erwartung hegt, dass alle Bürger jeder19. Jahrhunderts zur Bildung politischer Parteien, die sich der Verzeit ihre Partizipationsrechte wahrnehmen, ist dieser Sachverhalt tretung der politischen Interessen bestimmter sozioökonomifür sich genommen nicht problematisch. Er kann aber dann zu scher Gruppen widmeten und bei diesen bis zum heutigen Tage einer Herausforderung für die Demokratie werden, wenn sich die überdurchschnittlich starke Unterstützung finden (Lipset/Rokaktiven und die inaktiven Bevölkerungsgruppen systematisch in kan 1967; neuere empirische Daten hierzu bei Elff/Roßteutscher ihrer sozialen Herkunft und in ihren politischen Wünschen und 2009). Auch das aktive politische Engagement der Menschen Ideen voneinander unterscheiden. Wie die empirische Forschung hängt stark von ihrer sozio-ökonomischen Position ab. Wie vielfach belegte, sind ressourcenstarke, sozial gut integrierte Schattschneider schon vor einem halben Jahrhundert anmerkte, Menschen politisch aktiver als Personen, denen diese Merkmale singt der Chor im Himmel der pluralistischen Demokratien mit fehlen (Burstein 1972; Marsh/Kaase1979; Nie/Powell/Prewitt 1969; einem starken Oberschichtakzent (Schattschneider 1960). Verba 2003; Verba/Nie/Kim 1978; Verba/Schlozman/Brady 1995). Unter den sozioökonomischen Charakteristika wird dem BilDies stellt eine Herausforderung an ein demokratisches Regime dungsniveau traditionell eine besonders wichtige Rolle als Andar, weil die politisch aktiven Teile der Öffentlichkeit die polititriebskraft politischen Engagements zugeschrieben. Im Laufe sche Führung möglicherweise mit Forderungen konfrontieren, ihrer Bildungskarriere erwerben die Menschen diejenigen Wisdie sich von denen der inaktiven Bevölkerung unterscheiden. Unsensbestände, Kompetenzen, Wertorientierungen und Einstelter diesen Bedingungen kann die ungleiche Wahrnehmung von lungen, die sie zu einem sozialen und politischen Engagement Partizipationsrechten in Konflikt mit den Forderungen nach polibefähigen oder motivieren. Zugleich öffnet eine qualifizierte Biltischer Gleichheit und nach einem gegenüber allen Gruppen verdung den Zugang zu sozialen Netzwerken, was ebenfalls das poliantwortlichen Handeln der politischen Führung geraten. tische Engagement erleichtert. Aus diesen Gründen erwies sich Bevor man dieser Frage im Einzelnen nachgeht, ist es sinnvoll, die das Bildungsniveau in zahlreichen Studien als der wichtigste Befür das politische Engagement maßgeblichen sozialen Merkmale stimmungsfaktor der politischen Beteiligung. Je höher ihr formazu bestimmen, die dazu führen können, dass die politische Fühles Bildungsniveau ist, desto stärker engagieren sich Bürger in rung durch die Beschäftigung mit den von den Aktivisten artikuder Politik. lierten Forderungen einseitige oder verzerrte Informationen über Diese Annahme bestätigt sich auch für Deutschland. Wie | Abb. 3 | die in einer Gesellschaft vorherrschenden Bedürfnisse und Probzeigt, steigt die Beteiligung an sämtlichen hier untersuchten politischen Aktivitäten mit dem formalen Bildungsabschluss. Allerleme erhält. dings stellt sich dieser Zusammenhang bei einzelnen Arten der Beteiligung unterschiedlich dar. Am schwächsten beeinflusst das

D&E

Heft 65 · 2013

Bürgerbe teiligung und soziale Gleichheit

21

22

Bürgerbe teiligung und soziale Gleichheit

fe

ch

Ho

sc

ch

Fa c

hh o

sc

hu lre i

hu lre i

fe

e

eR ei f

l er

Mi tt

sc

Vo lk

oh ne

Ab

s-/ Ha up t

sc

hlu s

s

hu le

Anteil Aktiver

OSCAR W. GABRIEL

Bildungsniveau die Stimmabgabe bei Wah100 len. Die Beteiligung an dieser Aktivität fällt bei Personen ohne abgeschlossene Schulbildung mit 67 Prozent wesentlich geringer aus 80 Wahlbeteiligung als in den übrigen Bildungsgruppen. Diese unterscheiden sich im Niveau der WahlbeteiTraditionell ligung aber kaum voneinander. Selbst PersoProtest 60 nen mit Hochschulreife beteiligen sich nur Online geringfügig stärker an Wahlen als die anderen Gruppen mit einer abgeschlossenen, 40 aber weniger qualifizierten Schulbildung. In allen diesen Gruppen liegt die berichtete Wahlbeteiligung über 80 Prozent. 20 Einen wesentlich größeren Unterschied macht das Bildungsniveau für die übrigen Arten politischer Beteiligung. In den für reprä0 sentative Demokratien typischen Formen engagieren sich nur 13 Prozent der Befragten ohne Schulabschluss, aber fast jeder zweite Bürger mit Hochschulreife (44 %). Noch stärker wirkt sich das Bildungsniveau auf die Beteiligung an Protestaktivitäten aus. Nicht Bildungsabschluss einmal jeder vierte Befragte ohne Schulabschluss (23 %) nimmt an Protestaktionen teil, Abb. 3 Bildungsabschluss und politische Beteiligung in Deutschland, 2008. dies tun aber fast drei Viertel der Bürger mit © Oscar W. Gabriel, Daten: Allbus 2008 Hochschulreife (73 %). Für die meisten Personen mit mittleren oder höheren BildungsabLeben Gehör zu verschaffen. Das Zusammenwirken von Einkomschlüssen sind Protestaktivitäten ein typimenssituation, Berufstätigkeit und Bildungsniveau verschärft die sches Mittel zur politischen Einflussnahme. Dagegen setzt nur ungleiche Wahrnehmung der Beteiligungschancen durch eineine Minderheit der Befragten mit niedrigem Bildungsniveau auf zelne gesellschaftliche Gruppen. diese Aktionen. Online-Proteste konnten sich in keiner Bildungsschicht als bedeutsame Beteiligungsform etablieren, aber auch hier gilt: Anders als bei den gut gebildeten gesellschaftlichen Der Gender-Aspekt Gruppen spielen sie für Personen mit einem niedrigen formalen Bildungsniveau praktisch keine Rolle. Neben der sozioökonomischen Stellung von Individuen gehört Neben dem Bildungsniveau gelten die Merkmale Einkommen, die Geschlechtszugehörigkeit zu den besonders häufig untersubjektiv wahrgenommene Schichtzugehörigkeit und berufliche suchten, seit einige Jahren politisch am stärksten diskutierten Stellung als weitere Indikatoren des sozialen Status von IndiviBestimmungsfaktoren politischer Beteiligung. Der in den 1960er duen. Ihre Bedeutung für das politische Engagement wurde in Jahren in den modernen Gesellschaften einsetzende Wertewanzahlreichen Studien empirisch belegt und zeigt sich auch in unseren Daten (Vgl. | Abb. 4 |). Angehörige Akademischer Freier Berufe und Beamte, Personen die sich selbst der oberen Mittelschicht Tradi- Protest Online Wahloder der Oberschicht zurechnen und die Bezieher hoher Einkombeteili- tionell men weisen das höchste Niveau politischer Beteiligung auf, und gung zwar unabhängig von der gewählten Form des Engagements. DaOhne Beruf 83,8 24,9 45,9 5,0 gegen sind Personen ohne Beruf, Arbeiter, UnterschichtangehöArbeiter 78,9 27,5 37,5 5,8 rige und die Bezieher kleiner Einkommen am wenigsten aktiv bei der Artikulation und Durchsetzung ihrer politischen ForderunSelbständige/Landwirte 85,9 39,0 57,0 7,9 gen. Um dies an einigen Beispielen zu illustrieren: Während nur Angestellte 87,9 40,3 66,9 13,1 knapp 80 Prozent der Arbeiter angaben, sich an BundestagswahBeamte 93,6 59,5 81,7 17,6 len zu beteiligen, waren dies bei den Angehörigen der Freien BeAkad. Freie Berufe 95,5 62,2 80,0 31,1 rufe über 95 Prozent. Über Aktivitäten im Rahmen der repräsentativ-demokratischen Strukturen berichtete jeder vierte Befragte, Ungleichheit min–max 1,21 2,50 2,18 6,22 der keinem Beruf nachgeht, aber fast zwei von drei Angehörigen Unterschicht 68,4 22,0 41,4 6,8 der Freien Berufe. Im Vergleich mit Arbeitern haben sich nach eiArbeiterschicht 80,1 21,5 38,8 5,1 genen Angaben doppelt so viele Beamte und Freiberufler an ProMittelschicht 87,5 35,5 57,5 9,0 testaktivitäten beteiligt. Bei den Onlineprotesten beträgt die Obere Mittelschicht/OS 90,5 46,5 73,3 15,1 Relation zwischen der inaktivsten (ohne Beruf) und der aktivsten Gruppe (Freiberufler) sogar eins zu sechs. Ähnliche Strukturen Ungleichheit min–max 1,32 2,16 1,89 2,96 zeigen sich beim Vergleich der Einkommensgruppen und der subErstes Einkommensviertel 79,7 22,6 45,6 6,4 jektiven Schichtkategorien. Auch wenn alle diese Faktoren eine Zweites Einkommensviertel 83,7 24,0 49,2 7,5 wichtige Rolle für die Entscheidung von Individuen spielen, poliDrittes Einkommensviertel 88,9 35,8 54,3 8,2 tisch aktiv zu werden oder passiv zu bleiben, ist keine dieser GröViertes Einkommensviertel 88,0 49,8 64,9 13,0 ßen für sich betrachtet für das politische Engagement so bedeutsam wie der formale Bildungsabschluss. Insofern hat die in Ungleichheit min–max 1,10 2,20 1,42 2,03 Deutschland häufig kritisierte soziale Schieflage im BildungssysUngleichheit Bildung min–max 1,32 3,42 3,21 13,07 tem eine unmittelbare Konsequenz für den Zugang bildungsferAbb. 4 Sozioökonomische Merkmale und politische Beteiligung in Deutschner Schichten zum politischen System. Angehörige dieser Grupland, 2008 (Angaben: Prozentanteile). pen nutzen weniger als andere ihre Chance, sich im politischen

D&E

Heft 65 · 2013

Anteil Aktiver

Anteil Aktiver

del stellte die traditionelle Rollenverteilung 100 zwischen Männern und Frauen in Frage, nach 85,9 der das öffentliche Engagement als Aufgabe 83,1 von Männern und die Regelung privater An80 gelegenheiten, insbesondere in der Familie und bei der Kindererziehung, als Domäne der Frauen galt. Der verbesserte Zugang von 60 Mädchen zu Einrichtungen der tertiären Bil52,4 51,6 dung (Gymnasium und Hochschulen) sowie Mann die zunehmende Integration von Frauen ins Frau 37,0 40 Berufsleben verstärkten die mit dem Wertewandel verbundene Angleichung der Ge25,7 schlechterrollen. Daraus ergibt sich die Er20 wartung, dass sich insbesondere junge, gut 10,3 gebildete und berufstätige Frauen in ihrem 6,3 politischen Engagement kaum noch von den 0 Männern unterscheiden. Wahlbeteiligung Traditionell Protest Online Wie | Abb. 5 | zeigt, hängt der Einfluss der Beteiligungsform und Geschlecht Geschlechtszugehörigkeit auf das politische Engagement von der Beteiligungsform ab. Bei bei der Wahlbeteiligung und der MitwirAbb. 5 Genderrolle und politische Beteiligung in Deutschland © Oscar W. Gabriel, Daten: Allbus 2008 kung an Protestaktionen hat sich das politische Verhalten der Frauen dem der Männer angeglichen. Anders verhält es sich bei den ders aktiv, weil ihre privaten Lebensumstände dies möglich und traditionellen, repräsentativ-demokratischen Beteiligungsformen erforderlich machen. Sie haben sich in dieser Lebensphase ihre und der Teilnahme an Online-Protestaktionen. In diesen beiden berufliche und familiale Existenz geschaffen, sodass Raum für Bereichen betätigen sich Männer nach wie vor stärker als Frauen. politisches Engagement bleibt. Auf der anderen Seite sind sie als Dies ist insofern ein interessantes Ergebnis, als sich Muster von Arbeitnehmer und Steuerzahler, Eltern von Kindern in der AusbilGeschlechterungleichheit sowohl bei einer traditionellen als auch dungsphase und Nutzer der öffentlichen Infrastruktur besonders bei einer modernen Beteiligungsform erkennen lassen. Moderne stark von politischen Entscheidungen betroffen und beziehen Partizipationsformen führen demnach nicht unbedingt zu mehr von daher überdurchschnittlich starke Partizipationsanreize. Gendergleichheit. Allerdings unterliegen die traditionellen, reJenseits dieser traditionellen Erklärungsansätze haben altersspepräsentativ-demokratischen Aktivitäten wesentlich stärker dem zifische Muster politischer Beteiligung eine zusätzliche BedeuEinfluss von Genderrollen als die Teilnahme an Online Protesten. tung durch die Alterung der deutschen Gesellschaft gewonnen. Dieser Prozess löste eine Diskussion über die Generationengerechtigkeit und die Anpassung der Infrastruktur an die BedingunLebensalter gen des demographischen Wandels aus. Die sinkenden Geburtenraten und die steigende Lebenserwartung bewirken eine Mit dem demografischen Wandel ist ein Sozialstrukturmerkmal Zunahme des Anteils älterer Menschen, die ihre spezifischen Fornoch stärker als früher in den Fokus der Partizipationsforschung derungen an die Politik richten und diese durchzusetzen versugerückt, nämlich das Lebensalter. Ein Einfluss des Alters auf die chen. Die bessere gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung politische Beteiligung lässt sich aus zwei theoretischen Perspekführt zudem zu einem längeren Erhalt der Gesundheit, was wiedetiven heraus begründen. Nach dem Generationenansatz erhalten rum soziale Integration und politische Aktivität ermöglicht und Menschen durch die gesellschaftlichen und politischen Rahmenfördert. Ältere Menschen sind heute wesentlich besser als in frübedingungen, unter denen sich ihre politischen Wertorientierungen und Einstellungen 100 herausbilden, Anreize zur politischen Beteiligung oder diese wird ihnen erschwert. Dem entsprechend unterstellt der Generationen80 ansatz bei den ausschließlich in der Bundesrepublik sozialisierten Altersgruppen ein Wahlbeteiligung stärkeres politisches Engagement als bei Traditionell Personen, die ihre politische Sozialisation in 60 den autoritären Regimen der Vorkriegszeit Protest durchliefen. Ostdeutschland nimmt in dieser Online Hinsicht eine besondere Position ein. Einerseits herrschten in diesem Teil des Landes bis 40 zum Zusammenbruch des SED-Regimes autoritäre politische Verhältnisse, auf der anderen Seite enthielt das zu DDR-Zeiten propagierte Leitbild des sozialistischen Bürgers 20 eine partizipative Komponente. Der zweite zur Interpretation der Bedeutung des Lebensalters für die politische Beteili0 gung herangezogene Ansatz, das Lebenszyk18–29 J. 30–44 J. 45–59 J. 60–74 J. 75 u.ä. luskonzept, bindet die Beteiligungsanreize Alter an den von den Menschen typischerweise durchlaufenen Lebenszyklus. Demnach sind Abb. 6 Lebensalter und politische Beteiligung in Deutschland, 2008. Menschen in der Mitte ihres Lebens beson© Oscar W. Gabriel, Daten: Allbus 2008

D&E

Heft 65 · 2013

Bürgerbe teiligung und soziale Gleichheit

23

Anteil Aktiver

OSCAR W. GABRIEL

heren Phasen der gesellschaftlichen Ent100 wicklung dazu in der Lage, eine aktive Rolle 87,5 im gesellschaftlichen und politischen Leben zu spielen. Kein Zuwanderer 80 In | Abb. 6 | zeigen sich sowohl generationsZuwanderer 68,5 spezifische und lebenszyklische Einflüsse auf das politische Engagement der Bundesbür56,6 60 ger. Anders als früher steigt die Wahlbeteiligung mit dem Lebensalter. Möglicherweise haben ältere Menschen die Vorstellung, die 40 Stimmabgabe gehöre zu den staatsbürgerli34,4 chen Pflichten, stärker verinnerlicht als jün29,8 gere und neigen deshalb stärker dazu, diese Pflicht zu erfüllen. Auf der anderen Seite ha20 16,3 ben sich in den letzten Jahrzehnten die Betei8,8 5,5 ligungsmöglichkeiten stark ausdifferenziert. Anders als ältere Menschen, für die aktives 0 Wahlbeteiligung Traditionell Protest Online politisches Engagement lange Zeit gleichbedeutend mit der Stimmabgabe bei Wahlen Migrationshintergrund und Beteiligung war, verfügen jüngere Personen über Erfahrungen mit dem breiten BeteiligungsanAbb. 7 Migrationshintergrund und politische Beteiligung in Deutschland, 2008 gebot moderner Demokratien. Sie kennen es © Oscar W. Gabriel, Daten: Allbus 2008 besser als ältere und sind eher dazu bereit und in der Lage, es zu nutzen. Auf Grund der rechtlich zugänglich. Das bedeutet aber nicht, dass sie von diesen vorhandenen Alternativen büßen Wahlen für jüngere ihre expotatsächlich Gebrauch machen. nierte Stellung im Beteiligungssystem ein und werden von jüngeDie rechtliche Gleichstellung der Migranten mit den Deutschen ren weniger genutzt. Das Gegenstück hierzu bildet die Beteiliist für ihr Beteiligungsverhalten weitgehend unerheblich. Bei der gung an Onlineprotesten. Diese Verhaltensform ist in der Stimmabgabe bei Wahlen, die als einzige Beteiligungsform mit jüngsten Altersgruppe relativ weit verbreitet, tritt bei den 45- bis dem Staatsbürgerstatus verknüpft ist, besteht zwischen 59-Jährigen relativ selten auf und kommt bei den über 60-JähriMigranten und Einheimischen keine größere Lücke als bei andegen praktisch nicht mehr vor. Dies reflektiert die unterschiedliren Beteiligungsformen, die allen Einwohnern offen stehen. Unchen Gewohnheiten der verschiedenen Altersgruppen bei der Inabhängig von der Partizipationsform liegt das Niveau der politiformationsbeschaffung und Kommunikation. Je stärker das schen Aktivität bei den Migranten um etwa zwanzig Prozentpunkte Internet generell zu diesen Zwecken genutzt wird, desto wahrniedriger als bei den Einheimischen. Ob es sich dabei um verscheinlicher ist sein Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele. fasste oder nicht verfasste, mit dem Staatsbürgerstatus verEinem lebenszyklischen Muster folgt dagegen die Beteiligung an knüpfte oder von ihm unabhängige Beteiligungsformen handelt, traditionellen, in die Strukturen der repräsentativen Demokratie spielt keine Rolle. Nur bei den Onlineprotesten unterscheiden eingebetteten Aktivitäten. Aus den genannten Gründen sind sich Einheimische und Migranten weniger voneinander. Dies lässt diese Aktivitäten in den mittleren Altersgruppen besonders weit sich in erster Linie auf die Charakteristika der Onliner zurückfühverbreitet. Im Vergleich damit sind junge Menschen noch nicht so ren. Wenn Personen jung und formal gut gebildet sind, dann nutgut in die politische Gemeinschaft integriert und politisch inaktizen sie unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit überver, während die politische Integration und Aktivität bei Mendurchschnittlich stark das Internet, offenbar auch zu politischen schen über 75 Jahren nachlässt. Andererseits verdeutlicht das Zwecken. Nach dem Bildungsniveau ist der Migrationshinterpolitische Verhalten der zweitältesten Gruppe (60 bis 74 Jahre) grund der wichtigste Faktor für die Entscheidung darüber, eine den Wandel der Altersrolle in der deutschen Gesellschaft, denn aktive politische Rolle zu übernehmen oder passiv zu bleiben. sie weist das gleiche Aktivitätsniveau auf wie Personen in der Altersgruppe von 30 bis 44 Jahren. Dies unterstreicht auch die Beteiligung an Protestaktivitäten. Sie ist in vier der fünf AltersZusammenfassung und Folgerungen gruppen annähernd gleich weit verbreitet. Erst mit dem Erreichen des 75. Lebensjahres geht diese Form des Engagements stark Wie in anderen Demokratien beeinflusst die soziale Herkunft in zurück, liegt aber immer noch leicht über dem Niveau der traditiDeutschland die politische Aktivität von Menschen. Nach den Eronellen politischen Aktivitäten. Neben der Genderrolle haben gebnissen zahlreicher empirischer Studien beteiligen sich formal sich auch die mit dem Lebensalter verbundenen politischen gut gebildete, einkommensstarke, in Berufen mit einer selbstbeRollen stark verändert. Der Rückgang des politischen Engagestimmten Arbeit tätige Personen sowie im Inland Geborene stärments scheint sich in die Phase der Hochaltrigkeit verschoben zu ker am politischen und gesellschaftlichen Leben als Angehörige haben. der unteren Einkommens- und Bildungsschichten, abhängig Beschäftigte und Personen mit Migrationshintergrund. Keine große Migration Rolle für die Wahrnehmung von Beteiligungsrechten spielen dagegen die Geschlechtszugehörigkeit und die damit verbundenen Neben dem demografischen Wandel hat die internationale MigRollenerwartungen. Die meisten Zusammenhänge zwischen der ration die Struktur der deutschen Gesellschaft stark verändert. sozialen Herkunft und dem politischen Verhalten sind nicht sehr Mittlerweile weist nahe jeder fünfte Einwohner Deutschlands eistark ausgeprägt, gleichwohl sind sie erkennbar und konfrontienen Migrationshintergrund auf. Dies wirft die Frage auf, wie gut ren die Wissenschaft und die politische Praxis mit der Frage, ob diese große Bevölkerungsgruppe ins politische Leben integriert sich die sozialen Charakteristika der Aktiven und der Inaktiven in ist. Da insbesondere eingebürgerte Zuwanderer und EU-Ausländen öffentlich artikulierten Präferenzen der Bürger und in der der über die gleichen oder nahezu die gleichen BeteiligungsAufnahme der artikulierten Forderungen durch die politischen rechte verfügen wie deutsche Staatsangehörige sind einem groEntscheidungsträger niederschlagen. Da diese Frage bislang emßen Teil der Zuwanderer die meisten Beteiligungsmöglichkeiten pirisch noch nicht hinlänglich breit und detailliert untersucht ist,

24

Bürgerbe teiligung und soziale Gleichheit

D&E

Heft 65 · 2013

sollte man aus den Zusammenhängen zwischen der sozialen Herkunft von Individuen und ihrer Beteiligung an der Politik keine voreiligen Folgerungen in Bezug auf die Offenheit des politischen Systems für gruppenspezifische Interessen und Wertvorstellungen ableiten. Eines der wichtigsten Argumente für repräsentative Demokratien besteht ja gerade darin, dass repräsentative Institutionen nicht als Durchlauferhitzer für Gruppeninteressen funktionieren, sondern sich um einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen verschiedener Gruppen bemühen. Auch wenn dieser nicht immer gelingt, sind die repräsentativen Verfahren auf das Erreichen dieses Zieles ausgerichtet. Doch unabhängig vom Problem der Interessenberücksichtigung und der politischen Responsivität stellt der Einfluss der gesellschaftlichen Stellung und Rolle von Individuen eine Herausforderung des Ideals politischer Gleichheit dar. Zudem beeinträchtigen diese Strukturen möglicherweise die Repräsentationsleistung politischer Institutionen, um die es am besten bestellt sein dürfte, wenn alle sozialen Gruppen gleichermaßen versuchen, ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Insofern stellt eine Ausweitung der Beteiligungsmöglichkeiten nur eine unbefriedigende Lösung des Problems dar, wenn sie vornehmlich dazu führt, dass die ohnehin Aktiven zusätzliche Einflussmöglichkeiten erhalten, sich für die Inaktiven aber nichts ändert. Partizipative Reformen müssen der Mobilisierung der politikfernen Gruppen mehr Aufmerksamkeit widmen und diese über niedrigschwellige Beteiligungsangebote in lebensnahen Bereichen an den politischen Prozess heranführen. Nur unter dieser Bedingung bedeutet mehr Partizipation mehr Gleichheit.

Literaturhinweise Blais, Andre (2010): Political Participation. In: LeDuc, Lawrence/Niemi, Richard G./Norris, Pippa, (Hrsg.): Comparing Democracies 3. Elections and Voting in the 21st Century. Los Angeles u. a.: Sage, 165–183.

Gabriel, Oscar W. (2011): Bürgerbeteiligung. Stärkung der Demokratie Verbesserung der Politikergebnisse? Unveröffentlichtes Gutachten für die Robert Bosch Stiftung. Stuttgart. Gabriel, Oscar W./Völkl, Kerstin, (2005): Politische und soziale Partizipation. In: Gabriel, Oscar W./Holtmann, Everhard, (Hrsg.): Handbuch Politisches System der Bundesrepublik Deutschland. 3. Aufl. München/Wien: Oldenbourg, 523–573. Gabriel, Oscar W./Völkl, Kerstin, (2008): Politische und soziale Partizipation. In: Gabriel, Oscar W./Kropp, Sabine, (Hrsg.): Die EU-Staaten im Vergleich. Strukturen, Prozesse, Politikinhalte. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 268–298. Hooghe, Marc/Quintelier, Ellen, (2013): Political Participation in Europe. In: Keil, Silke I./Gabriel, Oscar W., (Hrsg.): Society and Democracy in Europe. London/New York: Routledge, 220–243. Kaase, Max, (1997): Vergleichende Politische Partizipationsforschung. In: Berg-Schlosser, Dirk/Müller-Rommel, Ferdinand, (Hrsg.): Vergleichende Politikwissenschaft. Ein einführendes Handbuch. 3. Aufl. Opladen: Leske + Budrich, 159–174. Lipset, Seymour M./Rokkan, Stein, (1967): Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments. In: Rokkan, Stein/Lipset, Seymour Martin, (Hrsg.): Party Systems and Voter Alignments. New York: The Free Press, 1–64. Marsh, Alan/Kaase, Max, (1979): Background of Political Action. In: Barnes, Samuel H./Kaase, Max u. a.: Political Action. Mass Participation in Five Western Democracies. Beverly Hills/London: Sage, 97–136. Nie, Norman H./Powell, G. Bingham/ Prewitt, Kenneth (1969): Social Structure and Political Participation. Developmental Relationships. Teil I. In: American Political Science Review 63, 361–376, Teil II. In: American Political Science Review 63, 808–832. Norris, Pippa, (2002): Democratic Phoenix. Reinventing Political Activism. Cambridge: Cambrigde University Press.

Burstein, Paul (1972): Social Structure and Individual Political Participation in Five Countries. In: American Journal of Sociology 77, 1087–1110.

Parry, Gerraint/Moyser, George/Day, Neil, (1992): Political Participation and Democracy in Britain. Cambridge u. a.: Cambridge University Press.

Dahl, Robert A. (1971): Polyarchy. Participation and Opposition. New Haven: Yale University Press.

Schattschneider, Elmer E. (1960): The Semisovereign People: A Realist›s View of Democracy in America. Holt, Rinehart and Winston.

Dahl, Robert A. (1998): On Democracy. New Haven/London: Yale University Press.

Verba, Sidney (2003): Would the Dream of Political Equality Turn out to Be a Nightmare? In: Perspectives on Politics, 1, 663–679.

van Deth, Jan W. (2009): Politische Partizipation. In: Kaina, Viktoria/Römmele, Andrea, (Hrsg.): Politische Soziologie. Ein Studienbuch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 141–161.

Verba, Sidney/Nie, Norman H./Kim, Jae-On, (1978): Participation and Political Equality: A Seven-Nation Comparison. Cambridge u. a.: Cambridge University Press.

Elff, Martin/Roßteutscher, Sigrid, (2009): Die Entwicklung sozialer Konfliktlinien in den Wahlen von 1994 bis 2005. In: Gabriel, Oscar W./Weßels, Bernhard/Falter, Jürgen W., (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2005. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 307– 327.

Verba, Sidney/Schlozman, Kay Lehman/Brady, Henry, (1995): Voice and Equality. Civic Voluntarism in American Politics. Cambridge, Mass./London: Harvard University Press.

D&E

Heft 65 · 2013

Bürgerbe teiligung und soziale Gleichheit

25

BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

5. Die europäische Bürgerinitiative und die Möglichkeiten und Grenzen der Bürgerbeteiligung in der EU FRANZ THEDIECK

A

26

lle Gewalt geht vom Volke aus.« Das Grundgesetz formuliert in Art. 20 Abs. 2 das Prinzip der Volkssouveränität anschaulich, nämlich wie man Demokratie, das griechische Lehnwort für Volksherrschaft, begreifen kann. Das Volk ist danach alleiniger Träger der Staatsgewalt, nur das Volk kann legitimerweise Macht auf die Staatsorgane übertragen (BVerfGE 89, 155, 171ff.). Die politische Willensbildung soll sich von unten nach oben vollziehen (Alfred KATZ, Staatsrecht, 18. Aufl. Heidelberg 2012, Rdn. 139). Manchem Kommentator der Verfas139) sung ist dieses Bild zu anschaulich, der daraus abzuleitende demokratische Anspruch für die Bürger zu weitgehend, sodass er die Formulierung in den Bereich der Fiktion verweist oder doch die Herrschaft des Volkes als lediglich indirekt oder mittelbar darstellt. Die damit verbundene Verkürzung des Prinzips der Volkssouveränität besitzt im Grundgesetztext selbst Abb. 1 »Sollten wir vielleicht den da hinten mal befragen? « © Klaus Stuttmann, 26.6.2012 keine Grundlage, sie wird »aus der Natur der Sache« abgeleitet. Aber das GrundgeBehauptung fällt in den Bereich der geschichtlichen Legendenbilsetz wiederholt nur die klassische Formulierung aus der frandung. Die während der Nazidiktatur mehrfach angewendeten zösischen Erklärung der Bürger- und Menschenrechte von Fälle von Volksbefragungen fanden unter völlig irregulären Be1789, die indes ernsthaft gemeint war: Das Volk sollte anstelle dingungen statt und können nicht als Gegenargument gegen Fordes Königs herrschen. Und diesen Prinzipien weiß sich auch men unmittelbarer Demokratie gelten. Leider leben wir in die Europäische Union verpflichtet. Deutschland mit diesem Mythos, der zu Unrecht die unmittelbare Demokratie klein macht. Wer die Frage nach dem Inhalt der Demokratie an einen Mitbürger stellt, wird regelmäßig eine Antwort erhalten, die uns fast selbstverständlich vorkommt: Demokratie bedeutet die AbhalDas Demokratiedefizit der EU tung von freien Wahlen, so wie es der zweite Satz in Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz auszudrücken scheint: »Sie (die Demokratie) wird Wenn die regelmäßige Abhaltung von freien Wahlen dem demovom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Orkratischen Anspruch der Bürger genügen würde, wäre an der pogane … ausgeübt«. Der Wortlaut lässt keinen Zweifel daran, dass litischen Organisation der Europäischen Union gar nichts auszuInstrumente zur Ausübung der Volkssouveränität, Wahlen und setzen, demokratischer Anspruch und Wirklichkeit würden Abstimmungen, gleichgewichtig neben einander gestellt sind. identisch zusammenfallen. Mit einer solchen Meinung stände Dennoch wird aus dem Gesamtzusammenhang des Grundgesetman aber allein unter den Fachleuten aus Juristen, Politologen zes abgeleitet, dass Abstimmungen nur dann zulässig seien, wenn und Europawissenschaftlern und würde nicht ernst genommen. sie ausdrücklich vom Grundgesetz zugelassen sind (A. KATZ, Zu tief hat sich die Diagnose des Demokratiedefizits in der EU in Staatsrecht, Rdn. 145). Diese Interpretation ist keineswegs zwinunser Bewusstsein eingeprägt. Das Urteil Gerald HÄFNERs, Abgegend, noch viel weniger überzeugt seine Begründung, die ordneter im Europäischen Parlament und »Vater« der EU-Bürgerschlechten Erfahrungen während der Weimarer Republik hätten initiative, wird deshalb allgemein geteilt: »Die Aufgabe, die EU zu den Verfassungsgeber zu einer restriktiven Linie in Bezug auf dieiner Union der Bürger zu machen, ist noch unerfüllt. Wir haben rektdemokratische Elemente veranlasst. Entgegen dieser gebetsbis heute noch keine ausreichenden demokratischen Organe und mühlenartig wiederholten Behauptung und ohne hier eine proVerfahren entwickelt.« (In einem Vortrag am 21.04. 2010 im Kehler Fofunde historische Untersuchung zu versuchen, beruht die rum Zukunftsfragen, bestätigt am 10.01. 2013) nationalsozialistische Machtergreifung weder auf einer WahlentDieses Urteil wird von Martin SCHULZ, dem Präsidenten des EU scheidung der Bürger, noch auf einer Abstimmung zugunsten der Parlaments geteilt, der die Machtkonzentration beim Ministerrat Nazis, sondern auf einer grundlegenden Fehlentscheidung des und das Fehlen einer parlamentarischen Kontrolle seiner Mitgliegreisen Reichspräsidenten Hindenburg, der Adolf Hitler mittels der beklagt (Interview mit Martin SCHULZ, Contre la Dé-Démocratisaseiner nichtdemokratischen Sondervollmacht nach Art. 48 der tion de l’UE, in: Paris, Berlin – Magazin für Europa, November 2012, S. 14f.). Weimarer Reichsverfassung mit der Kanzlerschaft betraut hat. Es Die Defizite der Europäischen Demokratie beginnen bereits mit kann also keine Rede davon sein, dass die Weimarer Demokratie dem geltenden Wahlsystem zum Europäischen Parlament. Jedes durch direktdemokratische Elemente zerstört worden sei, diese

Die europäische Bürgerinitiative

D&E

Heft 65 · 2013

Mitgliedsland besitzt sein eigenes Wahlgesetz mit unterschiedlichen Regelungen, wodurch das Prinzip der Wahlgleichheit verletzt wird. Aber auch das Gewicht einer Stimme, die der EU-Bürger in den einzelnen Mitgliedsländern bei der Europawahl abgibt, ist höchst ungleichgewichtig. Ursache hierfür ist die zwischen den Mitgliedstaaten vereinbarte Sitzverteilung im Europäischen Parlament. Im Ergebnis wird dadurch in Malta jede einzelne Stimme zur Europawahl zwölfmal höher bewertet als es in Deutschland der Fall ist: Der Repräsentant der maltesischen Bürger vertritt 67.000 Europäer, sein deutscher Kollege dagegen 854.000 EU-Bürger. (Melanie PIEPENSCHNEIDER: Vertragsgrundlagen und Entscheidungsverfahren, in: Informationen zur politischen Bildung (Heft 279), bpb, 2005, S. 23.) Beschönigend spricht man von dem »Prinzip fallender Proportionalität«, in Wahrheit handelt es sich um eine eklatante Verletzung des Abb. 2 »Europa gestalten …« © Thomas Plaßmann, 24.8.2012 Gleichheitsprinzips. Die Tatsache, dass jedem in Deutschland gefür Politiker, die sich nicht einmal zutrauen, die Grundsätze ihrer wählten EU-Abgeordneten mehr als 800.000 repräsentierte BürPolitik den Bürgern so verständlich zu erklären, dass diese den ger gegenüber stehen, impliziert die Frage nach seiner ÜberforPrinzipien zustimmen und die erforderliche Legitimation vermitderung. Zieht man einen Vergleich mit dem Bundestag, dann wird teln? Demokraten sind es sicher nicht, eher Vertreter eines elitädem Europäischen Abgeordneten bei der Repräsentation des ren Politikverständnisses, welches Mahatma Gandhi treffend als Wahlvolks eine um den Faktor 8-mal so intensive Aufgabe abverdemokratisch unwürdig bewertete: »Was du für mich tust, aber langt. Natürlich verlangt die Arbeitsfähigkeit der Parlamente, ohne mich, tust du gegen mich!«. dass die Anzahl der Abgeordneten nicht beliebig ausgeweitet werden kann. Würde man denselben Maßstab wie beim Deutschen Bundestag anlegen, dass ein Abgeordneter also etwa Lösungsvorschläge 100.000 Bürger repräsentiert, so müsste das EU-Parlament auf etwa 4.000 Abgeordnete aufgebläht werden, was sicherlich auch Das in den Lissaboner Vertrag aufgenommene Bekenntnis der EU keine gute Lösung wäre. Aber die Idee demokratischer Repräsenzum Subsidiaritätsprinzip sehen die meisten Kritikern als unzutation wird bezüglich der deutschen EU-Abgeordneten ad absurreichend an, um die demokratische Ordnung durch größere Bürdum geführt. gernähe zu stärken. Zwar können Verstöße gegen das SubsidiariWeitere demokratiekritische Argumente richten sich gegen die tätsprinzip von den Mitgliedstaaten und deren Parlamenten etatistische Konstruktion der Unionsorgane, welche die Macht gerügt werden, entscheidend ist jedoch, welche Institution über beim Ministerrat bzw. beim Europäischen Rat und bei der Komdie Begründetheit der Rüge entscheidet. Die Forderung nach eimission konzentriert. Der Ministerrat besteht aus den Mitglienem vom EuGH gesonderten Kompetenzgerichtshof fand keinen dern der jeweiligen nationalen Regierungen, der Europäische Rat Eingang in den Lissaboner Vertrag; somit bleibt es bei der Zustänaus den Staatschefs der Mitgliedsländer; diese Organe treffen die digkeit des Europäischen Gerichtshofs, dem nach den bisherigen politischen Entscheidungen, die Kommission bereitet sie vor und Erfahrungen eine überzeugende Verteidigung der Kompetenzen bringt die Gesetzesinitiativen ein, wodurch sich die Gewaltenbader EU-Mitgliedstaaten kaum zugetraut wird. lance zur Exekutive verschoben hat. Das EU-Parlament, als einziMit der Forderung nach einem klaren Katalog der Gesetzgeges Organ durch direkte Wahl legitimiert, besitzt nicht einmal die bungskompetenzen, der ausreichend Entscheidungsmasse bei Kompetenz, Gesetzesinitiativen einzubringen, es ist im Vergleich den Mitgliedstaaten belässt, haben sich die Kritiker der überbormit den nationalen Parlamenten schwächer entwickelt. Wenn denden Europäischen Kompetenzen nur scheinbar durchgesetzt. auch durch den Ausbau des Mitentscheidungsverfahrens und die Zwar sind in den Art. 3 – 6 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Einbeziehung des Agrarhaushalts in das parlamentarische BudEuropäischen Union, kurz: Lissaboner Vertrag) nunmehr tatsächgetrecht eine spürbare Verbesserung eingetreten ist, so ist doch lich die Gesetzgebungskompetenzen der EU geregelt. Jedoch ist mit dem Bundesverfassungsgericht weiterhin von einer unzureider Katalog der gemeinsamen Zuständigkeiten nach Art. 4 AEUV chenden Repräsentation des Volkswillens auf europäischer Ebene wiederum so weit gefasst, dass zwischen den Zuständigkeiten der auszugehen. EU und denjenigen der Mitgliedstaaten nicht effektiv unterschieEin weiterer Kritikpunkt aus unionsfreundlicher Sicht besteht daden werden kann. Der Versuch, durch eine Beschneidung der rin, dass bis auf Ausnahmen, wie in Irland, sich der EinigungsproEU-Kompetenzen die Demokratien auf der Ebene der Mitgliedzess als bürokratische Initiative ohne bürgerschaftliche Begleistaaten vor Aushöhlung zu schützen, muss als fehlgeschlagen betung vollzieht. War es kein Gebot der Volkssouveränität, die trachtet werden. Bürger zu beteiligen und ihren Willen zu den grundlegenden VerWas zur Lösung des Demokratiedefizits bleibt, wäre der Ausbau änderungen ihrer politischen Wirklichkeit zu erfragen? Wenn nur des EU-Parlaments zu einem vollwertigen Gesetzgebungsorgan. das Volk öffentlichen Organen demokratisch legitimierte Macht Die oben dargestellten Verbesserungen ändern aber nichts daübertragen kann, wieso wurde es in Deutschland und anderen ran, dass das strukturelle Demokratiedefizit insoweit fortbeMitgliedsländern systematisch davon abgehalten, über die einsteht, als das Parlament nicht die Europäischen Völker insgesamt zelnen Etappen der Europäischen Einigung zu entscheiden? Und repräsentiert, sondern immer noch auf die nationalen Teilmenwenn die verantwortlichen Politiker so handelten, um Schaden gen bezogen ist. von Europa abzuwenden, so macht es das nicht besser: Denn welDer deutsche Bundesfinanzminister Wolfgang SCHÄUBLE fordert ches Demokratieverständnis spricht aus dieser Haltung, die die seit langem die Direktwahl des Präsidenten des Europäischen Ra»richtige« Politik am Volk vorbei realisieren möchte? Was sind das

D&E

Heft 65 · 2013

Die europäische Bürgerinitiative

27

FRANZ THEDIECK

tes durch die Unionsbürger. Dies wäre eine effektive Kompensation des bemängelten Demokratiedefizits, weil dadurch die Bürger direkt an der Machtausübung beteiligt würden. Doch bislang ist das nur Zukunftsmusik. Die demokratische Ordnung der EU muss auch weiterhin als deren wesentlicher Mangel gelten, sodass vor allem der »Europäischen Bürgerinitiative« (EBI) die Funktion zukommt, das Demokratiedefizit abzumildern. Könnte der Bürger sich direkt an den politischen Entscheidungen der EU beteiligen, so würde das die demokratischen Mängel der EU-Institutionen kompensieren und das Gefühl des Bürgers mildern, der Europäischen Bürokratie ohnmächtig ausgeliefert zu sein. (Hans H. von ARNIM, Staat ohne Diener, München 1993, S. 336 und Das Europa-Komplott: wie EUFunktionäre unsere Demokratie verscherbeln, München, Wien 2006)

stammen müssen. Die Sammlung kann schriftlich oder online erfolgen. (5.) Sind 1 Million Unterschriften gesammelt worden, so legt die Initiative diese der Kommission vor. Nachdem die Unterschriften eingereicht wurden, prüfen die Mitgliedstaaten die Gültigkeit der Unterstützungsbekundungen ihrer Staatsbürger, wofür ihnen eine Frist von drei Monaten zur Verfügung steht. Je nach Mitgliedstaat gelten dabei andere Anforderungen, welche Informationen für die Gültigkeitsprüfung notwendig sind. So müssen Österreicher zur Unterzeichnung einer EBI die Nummer ihres Reisepasses oder Personalausweises angeben, während in Deutschland nach anfänglichen Überlegungen darauf verzichtet wurde. (6.) Binnen drei Monaten entscheidet die Kommission, wie sie mit der erfolgreichen Initiative verfährt. (Ronald Pabst, Europäische Bürgerinitiative im Praxistest, in: md-magazin, Zeitschrift für direkte Demokratie, Heft 2/2012, S. 29ff.)

Die EU-Bürgerinitiative Nach Art. 11 Abs. 4 EUV können 1 Million EU Bürger aus mindestens 7 Mitgliedstaaten die Möglichkeiten der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) nutzen, um von der EU Kommission ein neues Gesetz zu verlangen. Im Falle eines Erfolges ist die Kommission gehalten, darauf angemessen zu reagieren. Seitdem die Regelung im April 2011 in Kraft getreten ist, sind 23 EBIs gestartet worden, zu Themen wie Umweltschutz, Gesundheit oder öffentliche Moral (Stand Februar 2013).

28

a) Rechtsgrundlage Auf der Grundlage von Art 11 Abs. 4 EUV hat die EU-Verordnung Nr. 211/2011 vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative den Bürgern die Möglichkeit gegeben, sich direkt mit der Aufforderung an die Europäische Kommission zu wenden, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union zur Umsetzung der Verträge zu unterbreiten. Das deutsche Bundesgesetz zur Durchsetzung Europäischer Bürgerinitiativen hat Zuständigkeiten und Verfahren festgelegt und ist am 1.4.2012 in Kraft getreten ist. b) Regelungsinhalt Eine Bürgerinitiative ist zu jeder Frage zulässig, in dem die Kommission befugt ist, einen Rechtsakt vorzuschlagen, etwa Umwelt, Landwirtschaft, Verkehr oder öffentliche Gesundheit (http:// ec.europa.eu/citizens-initiative/public/competences, abgerufen am 10.01.2013). c) Verfahren (1.) Um eine EBI zu starten, muss ein »Bürgerausschuss« gebildet werden. Dieser muss aus mindestens sieben EU-Bürgerinnen und -Bürgern bestehen, die in mindestens sieben verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig sind. Die Mitglieder müssen das Wahlrecht zu den Europäischen Parlamentswahlen besitzen. Eine EBI kann nicht von einer Organisation in Gang gesetzt werden, Organisationen dürfen die Initiative jedoch unterstützen. (2.) Der Bürgerausschuss muss seine Initiative auf einem von der EU hierfür eingerichteten Internetportal registrieren, bevor er mit der Sammlung von Unterstützungsbekundungen von Bürgerinnen und Bürgern beginnt. Die Kommission prüft binnen zwei Monaten, ob die Initiative zulässig ist, insbesondere ob sich ein Gesetzesvorschlag innerhalb der Gesetzgebungskompetenzen der EU bewegt. (3.) Will die Initiative auch online Unterschriften sammeln, so beantragt sie bei der Kommission die dafür bestimmte OpenSource-Software. Dafür ist eine Behörde aus dem Land verantwortlich, in dem der Server steht. Sie antwortet innerhalb eines Monats. (4.) Sobald die Registrierung bestätigt wurde, haben die Organisatoren ein Jahr Zeit für die Sammlung der erforderlichen 1 Million Unterschriften, die aus mindestens 7 Mitgliedstaaten

Die europäische Bürgerinitiative

Konsequenzen einer erfolgreichen EBI Eine erfolgreiche EBI stellt zunächst lediglich eine Aufforderung an die Kommission dar, einen Rechtsakt zu einem Thema vorzuschlagen, zu dem es nach Ansicht der Initiatoren einer Regelung bedarf. Die Unionsbürger werden damit in Bezug auf das Aufforderungsrecht auf dieselbe Stufe gestellt wie das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union, die dieses Recht nach Art. 225 bzw. Art. 241 AEUV genießen. Die Kommission prüft die Initiative innerhalb einer Dreimonatsfrist, während derer die Initiatoren von Vertretern der Kommission empfangen werden, um die Initiative zu erläutern. Sie erhalten ferner die Möglichkeit, das Anliegen der Initiative bei einer öffentlichen Anhörung im Europäischen Parlament vorzustellen. Die Kommission wiederum veröffentlich während dieser Frist eine formelle Antwort, in der sie erläutert, ob und welche Maßnahmen sie als Antwort auf die EBI vorschlägt und ebenso die Gründe für ihre – möglicherweise auch negative – Entscheidung. Die Europäische Kommission behält aber in jedem Fall weiterhin das alleinige Initiativrecht. Selbst wenn eine Bürgerinitiative alle Kriterien erfüllt, ist die Kommission nicht verpflichtet, eine Gesetzesinitiative auf der Grundlage der EBI vorzuschlagen.

Die EBI in der Praxis Seit April 2012 wurden 23 Initiativen gestartet. Im Januar 2013 laufen 14 Initiativen, 8 Initiativen wurden abgelehnt, eine wurde zurück gezogen. Wegen der Anlaufschwierigkeiten bei der praktischen Umsetzeng der EBI, insbesondere weil die von der Kommission zur Verfügung gestellte Software für die Online-Registrierung und -Sammlung nicht termingerecht funktionierte, wurde die Laufzeit der registrierten EBIs bis November 2013 verlängert. Die EBI wurde in Deutschland durchweg positiv aufgenommen. »Mehr Demokratie e. V.« begrüßt »das erste transnationale Instrument direkter Demokratie«. Die Europa-Union Deutschland bezeichnet die Europäische Bürgerinitiative als eine große Chance für das europäische Einigungsprojekt und setzt darauf, »dass das gemeinsame grenzüberschreitende Agieren der Bürgerinnen und Bürger längerfristig dazu beitragen wird, die Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit zu befördern«. Abgeordnete aller Fraktionen im Europäischen Parlament begrüßten die Einführung der Bürgerinitiative. Der Thüringische Justizminister Holger Poppenhäger erhofft sich durch die EBI eine höhere Wahlbeteiligung bei den Europawahlen. Mehr direkte Demokratie stärke »auch die Unionsbürgerschaft und damit die Europäische Identität.«

D&E

Heft 65 · 2013

Bewertung und Schluss Interviews mit MdEP Häfner (| M 4 |) und mit Tatjana Saranka (| M 2 |) vermitteln eine valide Einschätzung der EBI. Die Stärke der EBI liegt zweifelsohne in dem Potential, das sie für die Bildung einer Europäischen Zivilgesellschaft besitzt, und der Chance, dass sich der EU-Bürger aus seiner Zuschauerrolle lösen kann. Es ist andererseits auch richtig, dass die Konsequenzen einer erfolgreichen EBI formal noch deutlich zu gering sind. Das Bild vom »zahnlosen Tiger« scheint zu stimmen. Aber leicht wird es den EU-Institutionen nicht fallen, das Votum von 1 Million Bürgern zu ignorieren. Das EU-Parlament hört die Vertreter der erfolgreichen Initiative an und es liegt in seinem Ermessen und seiner politischen Klugheit, das Anliegen der EBI zu stärken. Auch besitzen die EU-Institutionen ein eigenes Interesse, die wachsende Europäische Lethargie zu durchbrechen und das bürgerschaftliche Engagement für Europäische Abb. 3 »Bloß nicht anrufen!« © Horst Haitzinger, 27.7.2012 Themen zu fördern. Das sieht Elmar BROK, Vorsitzender des AusHeussner, Herrmann K./Jung,Otmar (2009): Mehr direkte Demokratie schusses für Auswärtige Angelegenheiten im EU Parlament, ähnwagen – Volksbegehren und Volksentscheid: Geschichte, Praxis, Vorschläge, lich: »Gerade in Zeiten der Staatsschuldenkrise, in der die EU – München. überwiegend negativ – in aller Munde ist, muss dem drohenden Vertrauensverlust der Bürger in die EU entgegengewirkt werden. Hornung, Ulrike (2011): Die Verordnung über die Europäische BürgerinitiaDies können wir nur schaffen, indem wir unseren Bürgern mehr tive – mit Vollgas und angezogener Handbremse zu mehr Demokratie in Mitspracherecht geben und damit die Demokratie in Europa stärEuropa?. In: Recht und Politik. Nr. 2, Berliner Wissenschafts-Verlag, 2011, ken …Die Europäische Bürgerinitiative könnte zu einem echten S. 94–102. Bindeglied zwischen den Bürgern und den EU-Institutionen werPabst,Roland (2012): Europäische Bürgerinitiative im Praxistest, in: mdmaden. Eine Million von 500 Millionen EU-Bürgern zu überzeugen ist gazin – Zeitschrift für direkte Demokratie, Heft 2/2012, S. 29ff. eine Herausforderung, aber machbar – entscheidend ist dabei das richtige Projekt.« Piepenschneider, Melanie (2005): Vertragsgrundlagen und EntscheidungsDie EBI ist damit ein Anfang, der in eine positive Richtung zur Stärverfahren, in: Informationen zur politischen Bildung (Heft 279), bpb, 2005, kung der Zivilgesellschaft weist, ein Anfang, der Hoffnung macht. S. 23 Literaturhinweise Arnim, Hans Herbert von (2006): Das Europa-Komplott: Wie EU-Funktionäre unsere Demokratie verscherbeln, München, Wien. Efler, Michael/Häfner, Gerald/Huber, Roman/Vogel, Percy (2009): Europa: Nicht ohne uns! Abwege und Auswege der Demokratie in der Europäischen Union, Hamburg.

D&E

Heft 65 · 2013

Schiller, Theo/ Mittendorf, Volker (2002): Direkte Demokratie – Forschung und Perspektiven, Wiesbaden 2002 Veil, Winfried (2007): Volkssouveränität und Völkersouveränität in der EU – Mit direkter Demokratie gegen das Demokratiedefizit? Baden-Baden. Weidenfeld, Werner: Geistige Ordnung auf der Baustelle Europa, Neue Zürcher Zeitung, 21.2.2013, S. 23 Online-Leitfaden zur Europäischen Bürgerinitiative – Europa: ec.europa. eu/citizens-initiative/files/guide-eci-de.pdf

Die europäische Bürgerinitiative

29

FRANZ THEDIECK

MATERIALIEN

Bezeichnung

M 1 Das Bundesverfassungsgericht zur Rolle des EU-Parlaments nach dem Lissabon-Vertrag: »Gemessen an verfassungsstaatlichen Erfordernissen fehlt es der Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon an einem durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenen politischen Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen Repräsentation des Volkswillens. Es fehlt, damit zusammenhängend, zudem an einem System der Herrschaftsorganisation, in dem ein europäischer Mehrheitswille die Regierungsbildung so trägt, dass er auf freie und gleiche Wahlentscheidungen zurückreicht und ein echter und für die Bürger transparenter Wettstreit zwischen Regierung und Opposition entstehen kann. Das Europäische Parlament ist auch nach der Neuformulierung in Art. 14 Abs. 2 EUV-Lissabon und entgegen dem Anspruch, den Art. 10 Abs. 1 EUV-Lissabon nach seinem Wortlaut zu erheben scheint, kein Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes. Dies spiegelt sich darin, dass es als Vertretung der Völker in den jeweils zugewiesenen nationalen Kontingenten von Abgeordneten nicht als Vertretung der Unionsbürger als ununterschiedene Einheit nach dem Prinzip der Wahlgleichheit angelegt ist.«

30

M 3 Die Europäische Bürgerinitiative – laufende Initiativen verfügbare Sprachen

03/12/2012

03/12/2013

Single Communication Tariff Act

03/12/2012 EN* BG CS DA NL ET FI FR DE HU GA IT LV LT PL RO SK SL ES SV MT PT EL

03/12/2013

Kündigung Personenfreizügigkeit Schweiz

DE*

19/11/2012

19/11/2013

30 km/h – macht die Straßen lebenswert!

EN* DE ES FI 13/11/2012 FR IT NL SV SL PL EL CS HU

13/11/2013

BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009, Az: 2 BvE 2/08 u. a., Rn. 284ff.

European Initiative for Media Pluralism

EN* FR IT RO 05/10/2012 NL HU ES

01/11/2013 **

01/10/2012

01/11/2013 **

M 2 Interview mit Tatjana Saranka

Stoppen wir den Ökozid in EN* NL DE Europa: Eine Bürgerinitia- ET tive, um der Erde Rechte zu verleihen Central public online coll- EN* ection platform for the European Citizen Initiative

16/07/2012

01/11/2013 **

Aussetzung des Energieund Klimapakets der EU

EN* CS PL HU IT DE DA LV BG ES FI FR LT NL PT SK SL RO

08/08/2012

01/11/2013 **

Pour une gestion responsable des déchets, contre les incinérateurs

FR*

16/07/2012

01/11/2013 **

Qualitativ hochwertige europäische Schulbildung für alle

EN* FR IT PL 16/07/2012 ES DE HU GA EL ET SV RO LT PT NL BG DA MT FI LV CS SK

01/11/2013 **

Stop Vivisection

EN* IT FR DE 22/06/2012 ES NL DA ET FI GA SK SL SV BG RO EL

01/11/2013 **

Let me vote

FR* EN NL DE ES IT LV LT SV EL PT

11/05/2012

01/11/2013 **

EINER VON UNS

IT* EN FR DE 11/05/2012 ES RO PT LT HU SL PL EL DA LV SK FI SV ET NL

01/11/2013 **

Wasser und sanitäre Grundversorgung sind ein Menschenrecht! Wasser ist ein öffentliches Gut und keine Handelsware!

EN* NL FR DE ES IT SV RO CS BG DA EL ET FI GA HU LT LV MT PL PT SK SL

10/05/2012

01/11/2013 **

Thedieck: Was war Ihre Motivation für die Themenwahl Ihrer Bachelorarbeit? Saranka: Abgesehen von meinem großen Interesse für europäische Themen fiel meine Wahl auf die Europäische Bürgerinitiative (EBI), da die Diskussion über direktdemokratische Beteiligung der Bürger insbesondere auf europäischer Ebene immer relevanter wird. Das ist einerseits den immer lauter werdenden Stimmen über das Demokratiedefizit der EU und – damit zusammenhängend – der Abkehr der Bürger von der EU und ihrem mangelnden Vertrauen in die Politik geschuldet. EU Bürger haben das Gefühl, keine Stimme im europäischen Entscheidungsfindungsprozess zu haben und empfinden die Geschehnisse »in Brüssel« als bürgerund realitätsfern. Ein Indiz hierfür sind die sinkende Wahlbeteiligung bei den EU-Wahlen sowie diverse Eurobarometer-Umfragen. Thedieck: Wo sehen Sie die größte Schwachstelle bei der EBI? Saranka: Eine Schwäche der EBI ist ihre geringe verbindliche Wirkung bei der EU-Kommission. Eine Initiative, welche alle Voraussetzungen der Zustimmung bei den Bürgern findet, landet noch lange nicht auf der Agenda der EU-Kommission, auch wenn eine Ablehnung ausführlich begründet werden muss. Das macht die EBI zu einem »zahnlosen Tiger«. Thedieck: Worin besteht ihre Stärke? Saranka: Eine Stärke des Instruments sehe ich in der verhältnismäßig liberalen Ausgestaltung der Zugangsvoraussetzungen. Die Zustimmenden müssen aus 7 Mitgliedstaaten kommen, in denen sie wiederum eine bestimmte Anzahl an Unterstützern finden müssen. Angesichts des ursprünglichen Vorschlags der Kommission (9 Länder) halte ich die beschlossene Zugangsschranke für einen guten Mittelweg, welcher es den Bürgern einerseits nicht unmöglich macht, die vorgegebene Mindestanzahl an Stimmen zu sammeln und andererseits nicht die Gefahr birgt, die Initiative zu missbrauchen. Tatjana Saranka schrieb 2011 ihre Bachelorarbeit an der Hochschule Kehl über »Direkte Demokratie auf Europäischer Ebene« und war dafür mit dem Zukunftspreis der Hochschule ausgezeichnet worden. Frau Saranka arbeitet derzeit im Europäischen Parlament als Assistentin des MdEP Elmar Brok. Datum der Befragung: 8. Januar 2013.

Die europäische Bürgerinitiative

EN* Unconditional Basic Income (UBI) – Exploring a pathway towards emancipatory welfare conditions in the EU

RegistrieFrist für die rungsdatum Sammlung von Unterstützungsbekundungen

D&E

Heft 65 · 2013

Bezeichnung

verfügbare Sprachen

RegistrieFrist für die rungsdatum Sammlung von Unterstützungsbekundungen

Fraternité 2020 – Mobilität. Fortschritt. Europa.

EN* FR DE CS IT BG DA ES LT HU NL PL PT RO SK SL FI SV MT EL GA ET LV

09/05/2012

01/11/2013 **

*Bei der Registrierung verwendete Sprache **Aufgrund von Problemen während der Anlaufphase der Bürgerinitiative wurde eine neue Frist festgesetzt. Weitere Informationen und weiterführende Links zu den EBI unter: http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public/initiatives/ongoing?lg=de

M 4 EU-Kommission: Abgelehnte Registrierungsanträge Nur die geplanten Initiativen, die den in Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung über die Bürgerinitiative festgelegten Bedingungen entsprechen, werden registriert und mithin auf diesem Internetportal veröffentlicht. Hier (Link vgl unten) finden Sie den Text der geplanten Initiativen, die diese Bedingungen nicht erfüllen, und die abschlägigen Bescheide der Kommission an die betreffenden Bürgerausschüsse. Die Kommission begründet in ihrer Antwort, warum die Registrierung aufgrund der in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen abgelehnt wurde, und weist die Organisatoren auf die ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe hin. – Unconditional Basic Income – ONE MILLION SIGNATURES FOR “A EUROPE OF SOLIDARITY” – Création d›une Banque publique européenne axée sur le développement social, écologique et solidaire – Abolición en Europa de la tauromaquia y la utilización de toros en fiestas de crueldad y tortura por diversión. – Fortalecimiento de la participación ciudadana en la toma de decisiones sobre la soberanía colectiva – Recommend singing the European Anthem in Esperanto – My voice against nuclear power

Initiative Beiträge zur politischen Entwicklung leisten. Die EBI fördert das Entstehen einer europäischen Zivilgesellschaft und einer öffentlichen Debatte über EU-Themen, weil die Bürgerinnen und Bürger Europas ihre Anliegen benennen und sich für ihr Zustandekommen miteinander vernetzen. So kommen sie miteinander und mit den Institutionen ins Gespräch. Letztendlich führt die EBI auch dazu, dass die Bürgerinnen und Bürger der EU über ihren nationalen Tellerrand gucken, aktiv werden und voneinander lernen. Thedieck: Was sollte an der gegenwärtigen Regelung unbedingt verändert werden? Häfner: Die Europäische Bürgerinitiative ist das erste existierende transnationale Instrument direkter Demokratie in der Praxis. Damit ist die EBI bereits ein Erfolg. Jedoch muss die EBI dringend verbessert werden. Sie ist noch zu bürokratisch ausgestaltet und hinsichtlich der möglichen Themen sowie ihrer voraussehbaren Wirkung zu begrenzt. Die Tatsache, dass es allein im Ermessen der Europäischen Kommission liegt, ob sie einen Vorschlag für eine Gesetzesinitiative annimmt, schränkt die Wirkung dieses Instruments erheblich ein. Dass eine Million Bürgerinnen und Bürger aus sieben verschiedenen EU-Ländern den Vorschlag unterschreiben müssen, ist eine sehr hohe Hürde. Wer sie überwunden hat, sollte damit mehr bewirken können als nur eine völlig unverbindliche Anhörung. Wir müssen die EBI bürger- und praxisfreundlicher machen. Dabei setze ich auf die Lobbyarbeit von »Democracy International« und »Mehr Demokratie«, die die EBI maßgeblich mit ins Leben gerufen haben. Gerald HÄFNER war Vorsitzenden des Vereins »Mehr Demokratie« und den Gründungsvorsitzenden von »Democracy International«. Gerald Häfner engagiert sich seit über 20 Jahren für den Ausbau der direkten Demokratie. Er wurde dreimal in den Deutschen Bundestag gewählt und ist seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments, wo er die Initiative für die EBI lanciert hat. Datum der Befragung: 10. Januar 2013.

31

© Europäische Kommission: http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public/initiatives/non-registered (Stand: 18.1.2013)

M 5 Interview mit Gerald Häfner, MdEP Thedieck: Inwieweit erweitert nach Ihrer Auffassung die EU-Bürgerinitiative den Spielraum demokratischer Willensbildung? Häfner: Mit der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) können die Bürgerinnen und Bürger Europas Themen auf die europäische Tagesordnung setzen und damit selbst aus eigener

D&E

Heft 65 · 2013

M 6 Website der europäischen Bürgerinitiative »30 km/h – macht die Straßen lebenswert!«, Stand 29.1.2013 © http://de.30kmh.eu

Die europäische Bürgerinitiative

FRANZ THEDIECK

32

M 7 EU-Pläne zur Wasserversorgung: Sturm im Wasserglas oder Privatisierungswelle? In Deutschland wird derzeit kontrovers darüber diskutiert, ob EUPläne dazu führen, dass Kommunen die Versorgung ihrer Bürger mit Trinkwasser an private Unternehmen abgeben müssen und somit die Kontrolle über Preis und Qualität verlieren. Stimmt nicht, beharrt der zuständige EU-Kommissar Michel Barnier. Doch Kritiker halten dem entgegen, die Details der Brüsseler Pläne könnten sehr wohl dazu führen, dass die Wasserversorgung in bestimmten Fällen öffentlich ausgeschrieben werden muss. Auslöser der Debatte ist das Vorhaben von Binnenmarktkommissar Barnier, in der gesamten EU einheitliche Regeln zur Vergabe von Konzessionen für Dienstleistungen wie die Wasserversorgung zu schaffen. Ziel sind der Kommission zufolge Wettbewerb und Chancengleichheit zwischen Unternehmen, aber in Zeiten leerer öffentlicher Kassen auch eine bessere Kontrolle über die Verwendung von Steuergeldern, »die in einer beunruhigenden Reihe von Fällen ohne Transparenz oder Rechenschaftspflicht ausgegeben werden«, wodurch sich »die Risiken der Günstlingswirtschaft, des Betrugs und sogar der Korruption erhöhen«. Inzwischen ist das EU-Gesetzgebungsverfahren der vor mehr als einem Jahr vorgestellten Pläne auf der Zielgeraden – und Barnier schlägt immer heftigerer Widerstand aus Deutschland entgegen. Der Vizechef der Unionsbundestagsfraktion, Johannes Singhammer, warnt davor, dass durch die neue EU-Regelung die Kommunen nicht mehr frei entscheiden könnten, wie sie die öffentliche Wasserversorgung organisieren und letzten Endes die Qualität leide: »Es besteht zu Recht die Befürchtung, dass nach einer Privatisierung nur noch die Erzielung von möglichst hohen Renditen im Vordergrund steht.« Die EU-Kommission weist Vorwürfe eines Zwangs zur Privatisierung der Trinkwasserversorgung entschieden zurück und spricht von »einer bewussten Fehlinterpretation« des Vorschlags. (…) Die Kritiker der Pläne sehen darin aber aufgrund von Sonderregeln nur die halbe Wahrheit. Denn etwa bei großen Stadtwerken, die zum Beispiel auch Strom und Gas anbieten und weniger als 80 Prozent ihres Geschäfts vor Ort machen, müsste nach einer im Jahr 2020 endenden Übergangsfrist die Vergabe von Dienstleistungen ausgeschrieben werden. Zwar könnten sich städtische Unternehmen um den Auftrag bemühen, »bewerben können sich allerdings auch große, europa- und weltweit tätige private Konzerne mit all ihren Möglichkeiten «, gibt der EU-Abgeordnete Thomas Händel von der Linken zu Bedenken. Städtetagspräsident Christian Ude mahnt, dass es für eine qualitativ hochwertige Wasserversorgung »riesige Investitionen« brauche, die »ein auf kurzfristigen Gewinn orientiertes Privatunternehmen keineswegs« schätze. Barnier wolle tief in die kommunalen Strukturen einer »sehr gut organisierten und funktionierenden Wasserwirtschaft« eingreifen, warnt der Hauptgeschäftsführer des Verbandes kommunaler Unternehmen, Hans-Joachim Reck. »Die Bundesregierung muss jetzt die kommunale Wasserwirtschaft in den weiteren Beratungen der Richtlinie schützen, ansonsten kommt sie unter die Räder der Gleichmacher aus Brüssel.« Auch wenn Barnier sein Vorhaben durchbringt, dürfte die mögliche Privatisierung von Trinkwasser weiter Thema bleiben. Auf der Internetseite »www.right2water.eu« werden Unterschriften für ein EU-Volksbegehren gesammelt mit dem Ziel: »Die Versorgung mit Trinkwasser und die Bewirtschaftung der Wasserressourcen darf nicht den Binnenmarktregeln unterworfen werden.« Finden sich bis September eine Million Unterzeichner, können sie die EUKommission auffordern, sich mit dem Thema zu befassen – mehr als 600.000 Unterstützer gibt es bereits. © Jan Dörner, afp, Sturm im Wasserglas oder Privatisierungswelle?, Handelsblatt vom 26.1.2013. Anmerkung: Ende Februar 2013 zog EU-Kommissar Barnier große Teile der bisher geplanten EU-Wasser-Richtlinie zurück.

Die europäische Bürgerinitiative

M 8 »Der Kommerz im Wasserwerk …«

© Luis Murschetz, 2013

M 9 Teresa Fries (jetzt.de – Das Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung): »Privates Wasser« Brüssel will die Wasserversorgung künftig ausschreiben lassen. Seit Tagen werden wir deshalb auf Facebook mit Wasser-Videos und Einladungen zu einer Bürgerinitiative gegen die Privatisierung bombardiert. Wir haben die Debatte in sechs Antworten zusammengefasst. Wasser in privater Hand? Das lässt einen schon misstrauisch werden. Denn was die private Hand hält, kann sie auch nach ihrer privaten Laune verschenken oder eben teuer verkaufen. Wasser braucht jeder, doch was, wenn man es sich nicht mehr leisten kann? Es geht definitiv um ein wichtiges Thema, doch keiner versteht so genau, was da in der EU gerade passiert: Die EU-Kommission hat einen Vorschlag zur Änderung der Richtlinien zur Vergabe der Dienstleistungskonzessionen unter anderem für den Bereich der Trinkwasserversorgung gemacht. Der Binnenmarktausschuss hat diesem zugestimmt. Demnach wird er dem Parlament vorgelegt, das im April (2013) endgültig darüber entscheidet. Doch was heißt das denn nun bitteschön? »jetzt.de« hat mit ver.di-Mitarbeiter Mathias Ladstätter, dem deutschen Vertreter der Europäischen Bürgerinitiative »right2water«, gesprochen und beantwortet die wichtigsten Fragen zum Thema Wasserprivatisierung. 1. Was würde eine Privatisierung der Wasserversorgung bedeuten? In Deutschland sind Städte und Kommunen für die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung zuständig. Die Wasserversorgung liegt deshalb zum größten Teil in öffentlicher Hand. Privatisierung würde bedeuten, dass Wasserbetriebe von privaten Unternehmen übernommen werden würden. Bürger müssten dann diese für die Wasserversorgung bezahlen. Für Mathias Ladstätter ist die Gefahr ganz offensichtlich: Die Kommunen und Städte bestimmen den Preis nach dem Kostendeckungsprinzip. Sie verlangen nur so wiel, wie sie brauchen, um Qualität und Versorgung auch zukünftig sicher zu stellen. Anders ist das bei privaten Unternehmen, deren Zweck es ist, Gewinn zu erwirtschaften. 2. Worum genau geht es bei dem Vorschlag der EU Kommission? Die Möglichkeit der Privatisierung beziehungsweise der Teilprivatisierung besteht bereits – auch in Deutschland. »Zwischen fünf und zehn Prozent der Wasserver- und Abwasserentsorgung sind bei uns privat«, erklärt Mathias Ladstätter. Im Vergleich zu anderen Ländern sei das allerdings sehr wenig. Auch gebe es Stadtwerke mit privaten Teilhabern. Solange deren Anteil unter 49 Prozent liegt, handele es sich immer noch um öffentlich-rechtliche Institutionen. Es sei also möglich, dass Stadtwerke neben Wasser auch zum Beispiel Strom anbieten und über die Grenzen des Versorgungsgebiets verkaufen würden. Damit wären sie zumindest in diesem Bereich auch gewinnorientierte Unternehmen.

D&E

Heft 65 · 2013

Mathias Ladstätter erklärt das Prinzip folgendermaßen: Die Städte und Gemeinden können mit solchen Stadtwerken Verträge abschließen. Sie vergeben sogenannte Dienstleistungskonzessionen. Damit übertragen sie ihre kommunale Aufgabe der Wasserversorgung ganz oder nur teilweise zum Beispiel an ein Stadtwerk. Diese Konzessionen sind an Bedingungen geknüpft. So kann die Stadt noch immer bestimmen, wie viel die Wasserversorgung den Bürger kosten darf, welche Qualitätsstandards eingehalten werden, wie viel die Mitarbeiter des Stadtwerks verdienen, welche Nachhaltigkeitsmaßnahmen getroffen werden müssen und so weiter. Im Moment können Städte und Kommunen entscheiden, an wen sie die Konzessionen vergeben. Ist ein Vertrag ausgelaufen, können sie ihn entweder verlängern, anderweitig vergeben oder kommunalisieren die Wasserversorgung wieder. Die EU-Kommission will die Richtlinien zur Vergabe dieser Dienstleistungskonzessionen ändern. Sie will, dass nicht mehr die Kommunen selbst einfach entscheiden können, sondern dass alle Konzessionen EU-weit für private Unternehmer ausgeschrieben werden. Das beste Angebot gewinnt. Das hätte zur Folge: Es könnte nicht mehr nur teilweise privatisiert werden und die Vergabe der Konzessionen wären nicht mehr an besondere Bedingungen – was Preis oder Qualität betrifft – geknüpft. 3. Wie rechtfertigt die Kommission das? M 10 Website der europäischen Bürgerinitiative »www.right2water.eu/de«, Stand 29.1.2013 Laut einem Artikel in »Der Standard« weist der EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, Michel Barnier, die Kritik zurück. Es gehe nur um eine transparente Vergabe der Konzessiopen, Rohre, Qualitätstests und Mitarbeiter gemeint. Das Wasser nen. Er spricht von einer »bewussten Fehlinterpretation« durch an sich zahlen wir nicht. Das sei Allgemeingut. Doch mit den PriPrivatisierungsgegner. Der Richtlinienvorschlag enthalte keine vatisierungsvorhaben ginge das Menschenrecht auf Wasser noch Verpflichtung zur Vergabe der Leistungen am Markt. Was bedeuviel weniger einher. Die UNO deklarierte 2012 zwar den Zugang zu ten würde, eine Privatisierung sei nach wie vor freiwillig. Mathias Wasser als Menschenrecht, doch eine solche Deklaration hat Ladstätter nennt die Rechtfertigung des Kommissars »eine falkeine rechtlichen Folgen. Die Europäische Bürgerinitiative »rightsche Beruhigungspille. Natürlich könnten die Kommunen sich 2water« fordert schon lange ein entsprechendes Gesetz der EUauch innerhalb der EU-Ausschreibung bewerben, aber gegen die Kommission, allerdings ohne Erfolg. Gäbe es ein Gesetz, das das großen internationalen Konzerne könnten sie nicht ankommen. Menschenrecht auf Wasser und sanitäre Grundversorgung geDenen stünde dann nichts mehr im Weg.« währleisten würde, hätte die Privatisierung weit weniger Chan4. Was würde sich durch die neue Richtlinie für uns ändern? cen. Für uns Verbraucher würde das bedeuten, dass immer mehr Be6. Was kann eine Bürgerinitiative ausrichten? triebe der Wasserver- und Abwasserentsorgung in privaten Besitz Die Europäische Bürgerinitiative »right2water« wird hauptsächübergehen würden. Damit wären die Preise nicht mehr gesichert lich von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes organisiert. und wir müssten mit Erhöhungen rechnen. Zudem könnte die Alle Bürgerinnen und Bürger, die in einem der 27 EU-MitgliedWasserqualität abnehmen, da die privaten Unternehmer nicht staaten aktives Wahlrecht haben, können die Initiative mit ihrer mehr allen heutigen Standards entsprechen müssten. Auch dazu, Unterschrift unterstützen. Kommen eine Million Unterschriften mit dem Wasser nachhaltig zu wirtschaften, wären die Unternehaus mindestens sieben Staaten zusammen, muss das Parlament mer nicht verpflichtet. Ein Youtube-Video, in dem Nestle Konsich mit den Vertretern auseinandersetzen und das Anliegen polizernchef Peter Brabeck-Letmathe seine Ansichten über die Trinktisch behandeln. Im Klartext heißt das: Das Parlament muss zwar wasserversorgung darlegt, lässt nichts Gutes ahnen: Wasser als darüber reden und die Bürgerstimmen zur Kenntnis nehmen, ihr öffentliches Recht wäre die eine Extremlösung, die andere – für Vorhaben zur Privatisierung können sie trotzdem umsetzen. die er sich natürlich ausspricht – wäre, dass Wasser einen Wert »Selbst wenn das Parlament dem Vorschlag zustimmt, werden wir bekommt. Für den Teil der Bevölkerung, der dadurch keinen Zudie Bürgerinitiative weiterführen«, sagt Mathias Ladstätter. Er gang mehr zu Wasser hätte, für den gäbe es ja spezifische Mögund seine Mitstreiter würden dann dafür kämpfen, dass die Richtlichkeiten. linien überdacht und geändert werden. »Es wäre in diesem Fall 5. In der Diskussion hört man immer wieder, dass der Zugang noch wichtiger als zuvor.« zu Wasser ein Menschenrecht sein soll. Da wir für das Wasser © Teresa Fries, Privates Wasser, 24.1.2013, http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/ zahlen, ist das doch im Moment auch nicht der Fall? anzeigen/564942/Privates-Wasser »Wir zahlen nicht für das Wasser, sondern nur für die Bereitstellung «, erklärt Mathias Ladstätter. Damit sind zum Beispiel Pum-

D&E

Heft 65 · 2013

Die europäische Bürgerinitiative

33

BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

6. Mehr Demokratie? Zivilgesellschaftliche Bewegungen in Deutschland und Europa von 1945–1990 ANDREAS GRIESSINGER

B

34

ürgerbeteiligung und Bürgerprotest – ein Thema, das kaum aktueller sein könnte. Wer auf die vergangenen Jahre zurückblickt, dem fallen spontan vielfältige Bilder von Menschen ein, die ihren Anspruch auf mehr politische Selbstbestimmung auf Straßen und Plätzen mutig und kompromisslos eingeklagt haben. Erst in jüngster Zeit zeigte der »arabische Frühling« die unbändige Kraft empörter Bürgerbewegungen gegenüber hochgerüsteten autoritären Regimen wie beispielsweise dem Gaddafis in Libyen. Aber nicht nur Diktaturen erfuhren den Zorn ihrer Bürger, die globale Finanzkrise generierte Bürgerproteste auch in den demokratischen Staaten Nordamerikas und Westeuropas: Die »Occupy«-Bewegung trug den Ruf nach demokratischer Kontrolle der Börsen und Finanzmärkte sowie nach mehr Bürgerbeteiligung bei den finanzpolitischen Entscheidungen der Regierungen direkt vor unsere Haustür. Sie steht damit in der Tradition der global agierenden Bürgerproteste von NGOs wie »Amnesty International«, »Greenpeace«, »Attac« oder »Transparency International«. Auch im deutschen Südwesten haben »Wutbürger« im Zusammenhang mit »Stuttgart 21« ihre Kritik an bürgerfernen verkehrspolitischen Planungs- und Entscheidungsprozessen lautstark artikuliert, genauso wie regionale Initiativen wenig später gegen den umstrittenen FluglärmStaatsvertrag zwischen der Bundesregierung und der Schweiz sowie gegen Pläne der Landesregierung zur Einrichtung eines »Nationalparks Nordschwarzwald« protestiert haben. Und schließlich war die Unzufriedenheit überwiegend junger Wählerinnen und Wähler mit unzureichenden Mitbestimmungsmöglichkeiten in den etablierten demokratischen Parteien eine Ursache für das Entstehen der »Piraten«-Partei und ihrer Forderung nach internetgestützter Direktbeteiligung an parteiinternen Meinungsbildungsprozessen, z. B. über elektronische »liquid feedback«-Methoden. »Liquid democracy« wurde zum provokanten Schlagwort der neuen Partei, die z. B. über ständige Mitgliederversammlungen unmittelbare Beteiligungsformen – ohne den Umweg über Delegierten-Parteitage – zu garantieren verspricht. All das sind spektakuläre Formen zivilgesellschaftlichen Engagements, die von den Medien gern aufgegriffen und in der politischen Öffentlichkeit breit diskutiert werden. Seit vielen Jahren gibt es aber auch »stillere« Formen von Bürgerbeteiligung, die Teil der politisch-administrativen Normalität geworden sind: Eltern engagieren sich in Schulkonferenzen, die mit erweiterten Kompetenzen ausgestattet werden, Anwohner beteiligen sich an der Stadtentwicklungsplanung, insgesamt gilt: Bürgerinnen und Bürger engagieren sich aktiv und selbstbewusst bei der Gestaltung ihres unmittelbaren Lebensumfeldes in der Nachbarschaft, dem Stadtviertel, der Kommune oder dem Landkreis. Sie nutzen Angebote der deliberativen Bürgerbeteiligung, die sich mittlerweile stark ausgeweitet haben: Bürgerkonferenzen, Zukunftswerkstätten, Szenario-Workshops usw. In diesem Zusammenhang hat sich im Verlauf der vergangenen 10 Jahre die Anzahl der Bürgerentscheide auf der Ebene der kommunalen Gebietskörperschaften verdreifacht. Weder Gemeinderäte noch Stadtverwaltungen können sich diesen Ansprüchen ihrer Bürger mehr entziehen, im Gegenteil: Sie haben die vielfältigen Vorteile einer

Abb. 1. Die Pnyx in Athen war seit den Reformen des Kleisthenes der Tagungsort, wo bis 330 v. Chr. die Volksversammlungen der Athener abgehalten wurde. Im Vordergrund die Rednertribühne, die Bema, im Hintergrund die Akropolis. © John Hios,picture-alliance, akg

kontinuierlichen Kooperation mit der interessierten Öffentlichkeit mittlerweile erkannt und in ihre Entscheidungsabläufe integriert.

Die historischen Wurzeln des Anspruchs auf Bürgerbeteiligung Das Thema »Bürgerbeteiligung und Bürgerprotest« hat aber keineswegs nur tagesaktuelle Aspekte, von denen einige kurz skizziert wurden. Wichtiger ist im Folgenden seine historische Tiefendimension, liegen die Wurzeln des Anspruchs auf politische Teilhabe doch in der europäischen Geschichte selbst. Mit grundsätzlich neuem Anspruch – deshalb sprach der Althistoriker Christian Meier mit Recht von einem »Neubeginn der Weltgeschichte« – wurde Bürgerpartizipation erstmals im Modell der attischen Demokratie praktiziert und in ein Verfahren überführt, das Politik als die »Kunst, Entscheidungen durch öffentliche Diskussion herbeizuführen« (Moses Finley) verstand, und zwar vor allem über die direkte Beteiligung der Bürger in der Institution der Volksversammlung. Aber auch im europäischen Mittelalter galt Herrschaft nur dann als legitim, wenn sie auf dem Konsens mit den zur politischen Teilhabe berechtigten Untertanen beruhte. So erkämpfte sich das mittelalterliche Stadtbürgertum von den vormaligen adligen oder geistlichen Stadtherren Formen politischer Selbstverwaltung und Bürgerfreiheit, die es sich durch verbriefte Privilegien garantieren ließ. »Stadtluft macht frei« stammt als Schlagwort zwar aus dem 19. Jahrhundert, trifft aber den Kern des städtischen Selbstbestimmungsanspruchs. Auch auf dem Land entstand im Spätmittelalter ein selbstbewusster partizipativer »Kommunalismus« (Peter Blickle), der immerhin der bäuerlichen Oberschicht gemeindliche Autonomie und Selbstbestimmung gegenüber grundherrlicher und obrigkeitlicher Bevormundung garantierte. Dieser bildete die Basis nicht nur für den Widerstand

Zivilgesell schaf tliche Be wegungen in Deutschl and und Europa

D&E

Heft 65 · 2013

der Schweizer Eidgenossen seit 1291 gegen die habsburgischen Territorialisierungsabsichten, sondern auch für die kollektive Widerständigkeit des »gemeinen Mannes« im Bauernkrieg 1525. Die Wirkmächtigkeit solch kollektiver Beteiligungstraditionen in Europa zeigt sich übrigens in dem nur auf den ersten Blick paradoxen Sachverhalt, dass später selbst absolutistische und totalitäre Regimes ständische bzw. parlamentarische Mitbestimmungsgremien bezeichnenderweise auch dann nicht abgeschafft haben, wenn sie sie faktisch bereits entmachtet hatten. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die langen Traditionen direkter politischer Teilhaberechte in der Geschichte Europas nachzuzeichnen – gleichwohl sollten sie nicht in Vergessenheit geraten, weil diese phasenweise auch immer wieder verschütteten Traditionslinien eine normative Wirkung entfaltet haben, die bis in die Gegenwart reicht. Europa war und ist ein Raum zwar stets umkämpfter, aber gerade in diesen Kämpfen sich unaufhaltsam entfaltender Partizipationsformen. Sie mündeten im späten 18. Jahrhundert ins Programm einer »bürgerlichen Gesellschaft«: In ihrem Zentrum stand »das Ziel einer modernen, säkularisierten Gesellschaft freier, mündiger Bürger (citoyens), die ihre Verhältnisse friedlich, vernünftig und selbstständig regelten, ohne allzu viel soziale Ungleichheit, ohne obrigkeitsstaatliche Gängelung, individuell und gemeinsam zugleich.« (Jürgen Kocka, vgl. | M 1 |). Dieser epochal neue Lebensentwurf artikulierte sich in den Revolutionen von 1776 in Amerika, 1789 in Frankreich und 1848 in Deutschland und Europa. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich aus dem sozial begrenzten Programm der »bürgerlichen Gesellschaft« das universale Konzept einer »Zivilgesellschaft« bzw. »civil society«, die sich insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Nordamerika und Europa, schließlich zusehends auch global entfaltete. Diese zivilgesellschaftliche Ausweitungsbewegung soll im Folgenden für die Zeit zwischen 1945 und 1990 nachgezeichnet werden.

Bürgerbeteiligung und Bürgerprotest seit 1945 Beginnen wir mit einem Tatbestand, der auf den ersten Blick vielleicht überraschend erscheinen mag: Der »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) der Jahre 1933–45 und der 1947 einsetzende »Kalte Krieg« etablierten mit der pluralistisch-repräsentativen Demokratie im Westen und der »Volksdemokratie« im Osten zwei einander diametral entgegengesetzte Demokratiemodelle, die direkte Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger gleichermaßen bewusst einhegten und in ihrer Entfaltung begrenzten, wenn auch aus gänzlich unterschiedlichen Begründungszusammenhängen heraus. Waren die Beweggründe im Westen einerseits die zuerst in den »Federalist Papers« der us-amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung systematisch begründeten repräsentativen Traditionen der US-Verfassung, andererseits die vermeintlich schlechten Erfahrungen in Deutschland mit den plebiszitären Elementen der Weimarer Verfassung angesichts ihrer Instrumentalisierbarkeit für antidemokratische Bewegungen, so wirkten im Osten die auf Rousseau (»volonté générale«) zurückgehenden identitätstheoretischen Grundannahmen des sozialistischen Demokratiebegriffs (z. B. »Einheitslisten«) und Lenins Parteitheorie (»Avantgarde des Proletariats«) restriktiv auf die ideologisch eigentlich propagierte »Entfaltung einer breiten Massenbewegung als der breitesten Zusammenfassung aller fortschrittlichen demokratischen, antinazistischen Kräfte« (Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Anton Ackermann am 17.2.1945). Beginnen wir mit der jungen Bundesrepublik: Entgegen seiner dezidiert repräsentativ angelegten Grundtendenz entfaltete das Grundgesetz in der »Kanzlerdemokratie« Konrad Adenauers seine partizipationsbegrenzende Wirkung nur teilweise, was prima facie überraschen mag. Zum Katalysator der eigentlich systemfremden Selbstorganisation der oppositionellen Staatsbürger wurde die Verteidigungspolitik: Eine breite pazifistische Bewegung, die sich bereits in der ersten Hälfte der 50er Jahre unter der

D&E

Heft 65 · 2013

Abb. 2 Tausende von Demonstranten auf dem Trafalgar Square in London. 1958 wurde der erste viertägige Marsch von London nach Aldermaston in Berkshire von der »Kampagne für nukleare Abrüstung« organisiert. Dieser »Alderston March« gilt als Beginn der europäischen Ostermärsche gegen atomare Bewaffnung. © Mary Evans Picture Library, 4.4.1958, picture alliance

Parole »Ohne mich!« gegen Adenauers Wiederbewaffnungspolitik formiert hatte, schwoll weiter an, als 1956 Pläne zur Ausrüstung der eben erst gegründeten Bundeswehr mit Atomwaffen bekannt wurden. Der Protest wurde außer von der SPD auch von Kirchen, Gewerkschaften, Hochschulen, Studentenvertretungen, Künstlern und Schriftstellern getragen. Große Resonanz fand 1957 die »Göttinger Erklärung« (| M 2 |), in der 18 namhafte deutsche Atomforscher die Nuklearpläne Adenauers scharf kritisierten. Der 1958 gegründete Arbeitsausschuss »Kampf dem Atomtod« organisierte zahlreiche Massendemonstrationen in deutschen Städten, an denen Hunderttausende von Menschen teilnahmen, die Adenauers Pläne schließlich erfolgreich zu Fall brachten, nachdem auch bei den Westalliierten, insbesondere den USA, Bedenken laut geworden waren. Das war der erste spektakuläre Erfolg einer regierungskritischen Bürgerbewegung, die ihren Anspruch auf politische Mitbestimmung in autonom organisierten Formen öffentlichen Protests artikulierte. Bereits diese erste zivilgesellschaftliche Bewegung der jungen Bundesrepublik war vernetzt mit pazifistischen Gruppen in Europa, insbesondere in Großbritannien: mit den »War Resisters› International«, dem »Direct Action Committee Against Nuclear War« und der »Campaign for Nuclear Disarmament«. Diese organisierte, unabhängig von den deutschen Protesten, an Ostern 1958 den »Aldermaston March« von London zum Atomforschungszentrum Aldermaston mit 10.000 Teilnehmern, aus dem sich in den Folgejahren in ganz Westeuropa die Ostermarsch-Bewegung entwickelte. Der erste deutsche Ostermarsch fand 1960 statt, nachdem Gerüchte über eine geplante Erprobung von Atomraketen in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers BergenBelsen laut geworden waren. Er war als Sternmarsch organisiert und endete am Ostermontag 1960 beim Truppenübungsplatz Bergen-Hohne mit mehr als 1000 Teilnehmern. In diesen Aktivitäten kann man mit guten Gründen die Anfänge der neuen sozialen Bewegungen der 70er Jahre, insbesondere der europaweiten Friedensbewegung sehen, auf die später noch zurückzukommen ist. Auf eine weitere transnationale Vernetzung ist hinzuweisen: Träger des ersten deutschen Ostermarschs war der Hamburger »Aktionskreis für Gewaltlosigkeit«, dessen Name bereits auf den

Zivilgesell schaf tliche Be wegungen in Deutschl and und Europa

35

ANDREAS GRIESSINGER

36

festgenommen, es folgten weitere 13 000 Verhaftungen durch die zuständigen Organe der DDR. Nur das gewaltsame Vorgehen der »Roten Armee« hatte die SED vor dem Sturz durch die Volksbewegung gerettet. Die erste Massenerhebung gegen ein kommunistisches Regime nach 1945 war von Panzern niedergewalzt worden, der Westen war den Aufständischen nicht zu Hilfe gekommen. Drei Jahre später, im Jahr 1956, erfuhren die Aufständischen in Budapest dann dasselbe Schicksal, und auch der zu Unrecht weitgehend vergessene Posener Aufstand im selben Jahr wurde von der polnischen Armee blutig niedergeschlagen, diesmal allerdings ohne Abb. 3 Nach vorangegangenen Streiks in Ost-Berliner Betrieben versammelten sich am 17. Juni 1953 sowjetische Beteiligung – auch das sind Demonstranten in den Straßen von Berlin und in der ganzen DDR, um gegen das SED-Regime zu protestiedeutliche Hinweise auf transnationale Zuren – hier wird ein sowjetischer Panzer am Potsdamer Platz mit Steinen beworfen. Sowjetische Truppen sammenhänge und Wechselwirkungen. und die Nationale Volksarmee der DDR warfen den Volksaufstand in der DDR mit Waffengewalt nieder. Zurück zum Westen: Nach den ersten Erfol© zb-archiv, picture alliance, 17.6.1953 gen der bundesrepublikanischen Bürgerbewegung in der Mitte der 50er Jahre musste gewaltlosen Widerstand Mahatma Gandhis in der indischen UnAdenauer weitere Niederlagen gegen eine abhängigkeitsbewegung der 40er Jahre verweist, der gleichzeitig zusehends kritischer werdende Öffentlichkeit hinnehmen, und weltweit Vorbild und Katalysator für antikoloniale Proteste zwar einerseits während der »Präsidentschaftskrise« 1959, in der wurde. Er beeinflusste auch die Bürgerrechtsbewegung in den er das Amt des Bundespräsidenten anstrebte, um die Politik seiUSA gegen Rassentrennung und -diskriminierung, die 1954 mit nes designierten Nachfolgers Erhard kontrollieren zu können, andem berühmten Urteil des Supreme Court im Fall »Brown v. Board dererseits beim »Fernsehstreit« 1960, während dem Adenauer ein of Education of Topeka, Kansas« zur Massenbewegung heranzweites Fernsehprogramm unter Einfluss und Aufsicht der Bunwuchs. Den Anstoß zu der Bewegung gaben fortbestehende Fordesregierung schaffen wollte. Die wachsende öffentliche Kritik men von Rassentrennung, obwohl der Oberste Gerichtshof der an seiner paternal-autoritären »Kanzlerdemokratie« führte bei USA entschieden hatte, dass die Integration von Minderheiten für der Bundestagswahl 1961 schließlich zum Verlust der absoluten die öffentlichen Schulen eine Pflicht darstelle und die RassenMehrheit für CDU und CSU. Das unwiderrufliche Ende der »Ära trennung an Schulen verfassungswidrig sei. Aus der amerikaniAdenauer« wurde dann 1962 durch die »SPIEGEL-Affäre« und die schen Bürgerrechtsbewegung gingen nicht nur Martin Luther durch sie ausgelöste Regierungskrise eingeleitet: Ein in dem King als charismatischer Führer hervor, der 1968 ermordet wurde, Hamburger Nachrichtenmagazin abgedruckter kritischer Artikel sondern auch Stokely Carmichael und Malcolm X mit ihrer radikazur Verteidigungspolitik der CDU führte zur Verhaftung des Herlen »Black Power«-Bewegung, die in die ebenfalls von den USA ausgebers Rudolf Augstein, mehrerer leitender Redakteure und ausgehende 68er-Bewegung einmündete. Über sie ist später zu des verantwortlichen Journalisten Conrad Ahlers, die Verteidiberichten, bleiben wir zunächst in der Frühphase der zivilgesellgungsminister Franz-Josef Strauß persönlich veranlasst hatte. Die schaftlichen Bewegungen. folgende Durchsuchung der »SPIEGEL«-Redaktionsräume beDenn bürgerschaftlicher Protest war keineswegs ein Monopol des gründete Adenauer angesichts heftiger öffentlicher Proteste mit Westens: Auch in der DDR meldeten Bürger, ermutigt durch Staeinem »Abgrund von Landesverrat«, der sich aufgetan habe. Maslins Tod, bereits in den 50er Jahren ihre Partizipationsforderunsenkundgebungen von Studierenden und Gewerkschaften waren gen unüberhörbar an, wenn auch – hier liegt der Unterschied zur die Folge, bei denen von massiven Eingriffen in die Presse- und Bundesrepublik – ohne Erfolg: Nach ersten Arbeiterstreiks am 11. Meinungsfreiheit gesprochen wurde. Als selbst der Koalitionsund 12. Juni 1953 zogen Bauarbeiter der Ostberliner Stalinallee, partner FDP den Rücktritt von Franz-Josef Strauß forderte, war des Vorzeigeprojekts sozialistischen Wohnungsbaus, am Morgen Adenauer am Ende: Er gab nach, bildete ein neues Kabinett, dem des 16. Juni vor das Haus der Ministerien: Forderungen nach RückStrauß nicht mehr angehörte, und kündigte seinen Rücktritt für nahme der kurz zuvor verordneten Normerhöhungen und einem den Herbst 1963 an. Erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik Generalstreik wurden laut. Wir wissen heute, dass die Wortführer war aus einer politischen Krise die kritische Öffentlichkeit als Sieund Organisatoren der Streikbewegung überwiegend ältere Argerin hervorgegangen. Das sollte in den kommenden Jahren beiter waren, die bereits in der Zeit der Weimarer Republik geSchule machen. werkschaftlich organisiert waren und auf Erfahrungen mit der Planung und Durchführung von Streiks zurückgreifen konnten – Wendejahr 1968 hier zeigt sich überdeutlich die Bedeutung bürgerschaftlicher Teilhabetraditionen als Voraussetzung für politische HandlungsDie nächste Etappe in der Verbreiterung politischer Bürgerbeteifähigkeit. Am 17. Juni verbreitete sich die Protestbewegung fläliung bildete das Jahr 1968 in der Bundesrepublik, dessen Wurzeln chenbrandartig und dehnte sich in den folgenden Tagen auf über wiederum in den USA lagen. Die 68er-Bewegung begann mit Pro560 Orte der DDR aus, wobei städtische Mittelschichten, Bauern testen amerikanischer Studenten gegen den Vietnam-Krieg, die und Intellektuelle hinzustießen. Allein am 17. Juni beteiligten sich von dem 1960 gegründeten »Student Nonviolent Coordinating über 500 000 Menschen an Streiks und über 400.000 an DemonsCommittee« und den »Students for a Democratic Society« getratrationen. Dabei waren neben wirtschaftlichen und sozialpolitigen wurden. Ihr Wortführer Tom Hayden formulierte schon 1962 schen Forderungen auch Rufe nach freien Wahlen, deutscher Eindie Forderung nach einer »participatory democracy«. Diese Paheit und Rücktritt der Regierung zu hören (| M 5 |). Nachdem role fiel in der Bundesrepublik rasch auf fruchtbaren Boden, wo Volkspolizei und Stasi die Kontrolle über die Situation verloren hatten, wurde der Volksaufstand von sowjetischen Panzern niedie »Außerparlamentarische Opposition« angesichts der Großen dergeschlagen, wobei mehr als 50 Protestierende erschossen und Koalition eine »Transformation der Demokratie« (Johannes 40 sowjetische Soldaten wegen Befehlsverweigerung hingerichAgnoli) in Richtung eines technokratisch-autoritären Staats diagtet wurden. 3 000 Demonstranten wurden von der Sowjetarmee nostizierte. Als Indikatoren sah sie die auf die winzige FDP ge-

Zivilgesell schaf tliche Be wegungen in Deutschl and und Europa

D&E

Heft 65 · 2013

schrumpfte und damit zur Bedeutungslosigkeit verurteilte parlamentarische Opposition sowie die von der Großen Koalition geplanten Notstandsgesetze. Ganz im Sinne Haydens forderte auch der deutsche SDS eine partizipativ erweiterte »soziale Demokratie«, so Hans-Jürgen Krahl in seiner Römerbergrede am 27.5.1968, auf der Grundlage einer »aufgeklärten Selbsttätigkeit der mündigen Massen« (| M 9 |). Auch in anderen westeuropäischen Ländern begannen zeitgleich Studentenproteste, insbesondere in Frankreich und Italien, wo der Studentenbewegung – anders als in der Bundesrepublik – Aktionsbündnisse mit der organisierten Industriearbeiterschaft z. B. bei Renault und Fiat gelangen. In Frankreich musste Präsident de Gaulle sogar das Land verlassen, weil im »Mai 1968« die Zeichen auf Abb. 4 Streikende Arbeiter der Renault-Werke in Boulogne-Billancourt schauen vom Dach aus auf die Revolution zu stehen schienen. Allerdings Studenten, die am 17. Mai 1968 mit einem Marsch zum Werk des Automobilherstellers ihre Solidarität gingen nach seiner Rückkehr die Konservatimit den streikenden Arbeitern bekunden wollen. Die Regierung de Gaulle unterschätzte die soziale ven aus den Juni-Wahlen durch einen klaren Unzufriedenheit breiter Schichten der französischen Bevölkerung. 1968 führten die Maiunruhen zu Wahlsieg gestärkt hervor, der die revolutiobürgerkriegsähnlichen Zuständen, in Paris lieferten sich die Studenten Straßenschlachten mit der Polizei. nären Träume der Mai-Bewegung wie SeifenDie Gewerkschaften riefen am 13. Mai zum Generalstreik auf. Am 30. Mai löste Staatspräsident de Gaulle die Nationalversammlung auf und rief Neuwahlen aus. Diese wurden von den Gaullisten gewonnen, die blasen platzen ließ. Ära de Gaulle fand trotzdem ihr Ende: Am 28. April 1969 trat Charles de Gaulle nach einem verlorenen In der Bundesrepublik hingegen folgte auf Referendum zurück. © upi, picture alliance, 13.5.1968 das rebellische Jahr 1968 ein Wahlsieg der sozialliberalen Koalition, die CDU wurde erstderte angesichts der liberalisierten Lebensformen im Westen mals seit Bestehen der Bundesrepublik auf die Oppositionsbank eine »saubere Leinwand«, um die DDR als »sauberen Staat« von verdrängt. In Reaktion auf die Partizipationsforderungen der 68er der Bundesrepublik abzugrenzen, und in der jugendlichen »Unkündigte der neu gewählte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner kultur« von »Gammlern« und »Langhaarigen« sah er »ErscheinunRegierungserklärung im Oktober 1969 programmatisch an, die gen der amerikanischen Unmoral und Dekadenz«. Erweiterte Parsozialliberale Koalition wolle »mehr Demokratie wagen«: »Die Retizipationsmöglichkeiten waren in dieser Stimmung von Intoleranz gierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie und Engstirnigkeit auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger[…] Anders in der Bundesrepublik: Die breite Politisierung, die sich wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden seit 1968 vollzogen hatte, mobilisierte nach den Studenten und und mitverantworten.« (| M 11 |) Schülern immer neue Gruppen, die sich innerhalb der politischen Es folgte in den Jahren danach ein breit ausgefächertes Reformprogramm in der Innen-, Außen- und Deutschlandpolitik, das die Öffentlichkeit nicht vertreten fühlten und deshalb ihre TeilhabeBundesrepublik nicht zuletzt durch eine verstärkte Bürgerbeteilirechte lautstark einklagten. Schon 1968 artikulierten SDS-Stugung liberalisierte und modernisierte. Bezeichnenderweise erdentinnen ihren Protest gegen die männliche Hegemonie in den reichte die Wahlbeteiligung nach Ablauf der ersten sozialliberalen Führungsgremien der antiautoritären Organisationen und bildeLegislaturperiode im Jahr 1972 mit 91,1 % den bislang höchsten ten zunächst in Berlin einen »Aktionsrat zur Befreiung der Frau« Wert in der Geschichte der Bundesrepublik – ein Rekordwert, von (| M 15 |), später »Weiberräte« in mehreren Städten. Ihre Isoliedem wir heute nur noch träumen können. SPD-Wahlkampfparorung innerhalb des akademischen Sozialmilieus durchbrach die »neue Frauenbewegung« allerdings erst mit der 1971 begonnenen len wie »Wir schaffen das moderne Deutschland« und »Modell Kampagne gegen den § 218 des Strafgesetzbuchs, der Abtreibung Deutschland« brachten den innovativen Zeitgeist einer »partizimit einer Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren bedrohte. Selbstbepativen Demokratie«, die Tom Hayden 1962 und der SDS 1968 gezichtigungen (»Ich habe abgetrieben!«) von 374 Frauen, darunter fordert hatten, auf den Begriff. viele Prominente, in der Illustrierten »Stern« lösten 1971 eine La1968 wurde aber nicht nur in Westeuropa zum »Wendejahr«, auch wine von Fraueninitiativen, Unterschriftensammlungen und Deim Ostblock hofften Menschen angesichts des Aufbruchs im Wesmonstrationen unter der provokativen Parole »Mein Bauch geten auf die Chance einer Demokratisierung innerhalb der poststahört mir!« aus. Sie führten 1974 zu der von der sozialliberalen linistischen Strukturen. Ein »Sozialismus mit menschlichem AntKoalition verabschiedeten »Fristenlösung« für Abtreibungen, die litz«, der – wie im Westen – auf einer breiteren Beteiligung der allerdings ein Jahr später vom Bundesverfassungsgericht für nichMenschen beruhen sollte (| M 12 |), wurde im Jahr 1968 in der CSSR tig erklärt und deshalb 1976 durch eine Indikationslösung mit vervon Alexander Dubcek, dem Ersten Sekretär der KPC, ausgerufen. Der folgende Reformprozess ist unter dem Namen »Prager Frühpflichtenden Beratungen vor einem Schwangerschaftsabbruch ling« in die Geschichte der europäischen Demokratiebewegunersetzt wurde. gen eingegangen und wurde, wie die Juni-Revolution 1953 in der Seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre dominierten weniger spekDDR und der Budapester Aufstand 1956, von Panzern der Sowjettakuläre, aber umso wirkungsvollere Frauenförderungs- und union und anderer Staaten des Warschauer Pakts gewaltsam beSelbsthilfeprojekte (»Frauen helfen Frauen«, »pro familia« usw.), endet. Während mit dem Jahr 1968 in der Bundesrepublik eine die die Einrichtung von Frauenhäusern, die Einführung von Frau»Fundamentalliberalisierung« (Jürgen Habermas) begonnen enquoten (z. B. in Parteien) und Gleichstellungsbeauftragten (im hatte, endete 1968 für die Menschen des Ostblocks mit einer weiöffentlichen Dienst), die Schaffung von universitären Projekten teren bitteren Enttäuschung ihrer Hoffnungen auf Liberalisierung und Lehrstühlen zur Frauen- und Geschlechterforschung sowie und Demokratisierung. In der DDR zählten zu den Enttäuschten eine Teilreform des koedukativen Schulunterrichts zur Folge hatso prominente Oppositionelle wie der Physiker Robert Havemann ten. Die »pragmatische Wende« der Frauenpolitik spiegelte einen und der Song-Schreiber Wolf Biermann, über die ein Lehr- bzw. allgemeinen Stimmungswandel wider, der schon seit der ersten Auftrittsverbot verhängt wurde. SED-Chef Walter Ulbricht forHälfte der 70er Jahre begonnen hatte und sich seit Willy Brandts

D&E

Heft 65 · 2013

Zivilgesell schaf tliche Be wegungen in Deutschl and und Europa

37

ANDREAS GRIESSINGER

38

men zuwandten: Im Mittelpunkt standen Probleme des Verkehrs (Lärm und Luftverschmutzung durch Straßen- und Flughafenausbau, Fahrpreiserhöhungen bei öffentlichen Verkehrsmitteln), der Stadtentwicklung (Hausbesetzungen gegen Sanierung, Bodenund Wohnraumspekulation), des Lebensraums von Kindern (Spielplätze, Kinderläden) und Jugendlichen (selbstverwaltete Jugendzentren) sowie der Bildung (alternative Pädagogik, Elternmitbestimmung). Nach einer Anfangsphase, in der lokale »EinPunkt-Aktionen« dominiert hatten, strebten in der zweiten Hälfte der 70er Jahre »grüne Listen« den Einzug in Kommunalvertretungen und Landtage an: Ihr zunächst nur punktueller Protest gegen Formen friedlicher und militärischer Nutzung von Kernenergie erweiterte sich zusehends zu einem programmatischen Widerstand gegen industriegesellschaftliche Wachstumsideologien, gegen Abb. 5 Frauenbewegung: Demonstration aus Anlass des Internationalen Frauentags am 8. März 1982. die Bürokratisierung und Bürgerferne der © Klaus Rose, picture alliance Parteien und Parlamente sowie – ab 1979 – gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluss, Rücktritt und dem Ende seiner Reformpolitik 1974 verstärkte. was angesichts ihrer Unterstützung durch die Friedensbewegung Sein Nachfolger Helmut Schmidt verkörperte auch als Person das (| M 16 |) schnell zu ersten Erfolgen bei Kommunal- und LandtagsEnde der seit 1968 verbreiteten Aufbruchsstimmung, zumal seine wahlen seit 1979 führte. Die 1980 als Bundespartei gegründeten »GRÜNEN« zogen mit ihrer Wahlkampfparole »ökologisch – soAmtszeit im Zeichen von Ölkrisen, weltwirtschaftlicher Talfahrt zial – basisdemokratisch – gewaltfrei« dann 1983 in den Bundesund einer »neuen Eiszeit« in den internationalen Beziehungen tag ein und wurden von da an endgültig zu einem wesentlichen stand. Faktor innerhalb der bundesrepublikanischen Demokratie (| M 17 |). Auch in den anderen westeuropäischen Ländern spielPolitik des pragmatischen Krisenmanagements ten die neuen sozialen Bewegungen eine wachsende Rolle, wenn und neues Krisenbewusstsein auch der Einzug ökologisch-pazifistischer Protestparteien in die Parlamente länger dauerte als in der Bundesrepublik. An die Stelle kühner Zukunftsentwürfe trat seit Mitte der 70er Jahre eine Politik des pragmatischen Krisenmanagements, dem Neue soziale Bewegungen in Mittel- und es angesichts der heraufziehenden globalen Gefahren und der Osteuropa bis zur Wende 1989 schrumpfenden Verteilungsspielräume schon hinreichend, zunehmend sogar erstrebenswert erschien, den Status quo zu konEine ganz neue Dynamik entstand hingegen in Osteuropa, wo in solidieren, um drohende Katastrophen zu vermeiden. Bücher mit den 70er Jahren die zivilgesellschaftlichen Bürgerbewegungen in hohen Verkaufszahlen trugen nun Titel wie »Ende oder Wende?«, erstaunlichem Tempo erstarkten, allerdings erkannte man im »Ein Planet wird geplündert« oder »Vom Fortschritt in die UnWesten nur langsam, welch grundlegende Veränderungen sich menschlichkeit« – unübersehbar spiegelten sie den Übergang widamit im Übergang zu den 80er Jahren vollzogen. So bedeuteten der von der Reform-Euphorie zu einem umfassenden Krisenbedie u. a. von Vaclav Havel verfasste »Charta 77« (| M 18 |) in der wusstsein, wenn nicht gar zu kollektiven Ängsten, die sich nach CSSR sowie die Arbeiterunruhen auf polnischen Werften seit dem den apokalyptischen Warnungen des »Club of Rome« vor den Sommer 1980, aus denen die unabhängige Gewerkschaft »Soli»Grenzen des Wachstums« (1972) vor allem auf die Bedrohung der darnosc« hervorging, eine direkte Gefahr für die innere Stabilität natürlichen Lebensgrundlagen durch den industriewirtschaftlides Ostblocks insgesamt und der DDR im Besonderen. Während chen Raubbau an der Umwelt und die durch ihn bedingte Verin den folgenden Jahren verschiedene Ostblock-Staaten den Weg knappung der natürlichen Ressourcen richteten. der Reform beschritten, so etwa Ungarn ab 1982 und die SowjetDas sich damit andeutende Ende des »Goldenen Zeitalters« (Eric union mit Gorbatschow ab 1985, reagierte die SED mit einer strikHobsbawm) der Nachkriegszeit entmutigte bürgerschaftliches ten Abgrenzungspolitik und betrat damit den Weg in die SelbstEngagement aber keineswegs, im Gegenteil: Mit der Gründung isolierung, der sie wenige Jahre später in den Abgrund führen des »Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz« (BBU) sollte. 1972 schufen sich ökologische Bürgerinitiativen, die sich bislang Denn mit der Kombination von wachsenden Wirtschafts- und Vereher lokaler oder regionaler Umweltprobleme angenommen hatsorgungsproblemen einerseits und Liberalisierungstendenzen im ten, erstmals bundesweit eine Dachorganisation. HervorgeganUmfeld der verbündeten Ostblock-Staaten andererseits nahm der gen aus der Idee Willy Brandts, durch eine breitere Partizipation innenpolitische Druck auf die SED von Jahr zu Jahr weiter zu. Die der Bürger an politischen Entscheidungen »mehr Demokratie zu Zahl oppositioneller Gruppen, die sich vor allem im Schutz der wagen«, wuchsen Bürgerinitiativen in den folgenden Jahren konKirchen formierten, wuchs weiter an (| M 19 |). Sie verstanden sich tinuierlich an und erreichten Ende der 70er Jahre ca. 1,8 Millionen einerseits als Teil der gesamteuropäischen Friedensbewegung Mitglieder, was etwa der Mitgliederzahl in politischen Parteien und protestierten gegen das neue Wettrüsten in Ost und West: entsprach. Schon 1981 trugen 100.000 DDR-Jugendliche den von dem JugendIhr durch Demonstrationen und Bauplatzbesetzungen artikulierpfarrer Harald Brettschneider entworfenen Aufnäher »Schwerter ter Protest richtete sich zunächst gegen großtechnische Atomzu Pflugscharen«. Andererseits wuchs – wie im Westen – auch die energiekonzepte, insbesondere gegen die geplanten KernkraftÖkologie-Bewegung in der DDR, insbesondere nach der Reaktorwerke in Wyhl 1975, Brokdorf 1976 sowie Gorleben, Grohnde und katastrophe im ukrainischen Tschernobyl 1986 und der auf sie Kalkar 1977. Hinzu traten Bürgerinitiativen, die sich anderen The-

Zivilgesell schaf tliche Be wegungen in Deutschl and und Europa

D&E

Heft 65 · 2013

folgenden Desinformationspolitik der SED. Die Friedens-, Ökologie- und Menschenrechtsgruppen agierten allerdings – isoliert und ständig von Stasi-Schikanen bedroht – eher an der Peripherie der DDR-Gesellschaft, zumal sie, abgesehen von einigen westlichen »GRÜNEN«-Politikern, aus der Bundesrepublik kaum unterstützt wurden. Stärker als die Minderheit der oppositionellen Gruppen trat bereits seit 1975, als die DDR-Führung die KSZE-Schlussakte unterzeichnet hatte, die wachsende Zahl von Ausreiseanträgen ins öffentliche Bewusstsein, deren Zahl sich trotz Schikanen und Diskriminierungen von 21.500 im Jahr 1980 auf 125.000 im Jahr 1989 steigerte. Auch das muss im europäischen Kontext als Teil der wachsenden Menschenrechtsbewegungen Abb. 6 Nahezu eine Million Bürger versammelten sich am 4.11.1989 auf dem Berliner Alexanderplatz seit den 70er Jahren gesehen werden. Diese und demonstrierten friedlich für Veränderungen in der DDR. Die Demonstranten forderten auf einem Massenbewegung führte zu ersten KonzessiTransparent »Die Jugend geht, das Land wird kahl – wir fordern endlich Freie Wahl». Als im Frühjahr 1989 onen der SED: 1984 wurde erstmals 30.000 bekannt wurde, dass die SED für die Fälschungen bei der Kommunalwahl verantwortlich war, gingen Antragstellern die Übersiedelung genehimmer mehr Menschen auf die Straße. Vom September an bildeten sich immer neue zivilgesellschaftliche migt, obwohl ihre Anträge als rechtswidrig Gruppen, wie z. B. das »Neue Forum«, der »Demokratische Aufbruch«, die »SDP« und andere Oppositionsgruppen. © Reinhard Kaufhold dpa, picture alliance eingestuft worden waren. Die Hoffnung des Regimes auf eine Ventilfunktion trog allerArbeitsmigration und der Menschen- und Bürgerrechtsthematik dings: Das Zurückweichen des Regimes ermutigte im Gegenteil insgesamt. Auch wenn die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure in weitere DDR-Bürger, Ausreiseanträge zu stellen, sodass 1988 erdiesen und anderen Globalisierungsprozessen der Zukunft neut mehr als 25.000 Genehmigungen erteilt werden mussten. schwer einschätzbar ist, so kann eine historisch reflektierte Außerdem bildeten sich unter Berufung auf den KSZE-Prozess zuRückbesinnung auf die langen Traditionen und wechselnden Konsehends mehr Selbsthilfegruppen; ab 1983 gab es erste Demonsjunkturen zivilgesellschaftlichen Engagements und Protests in trationen Ausreisewilliger sowie Versuche, über Botschaften die Deutschland und Europa bei der Suche nach einem demokratiAusreise zu erwirken. Der Zusammenbruch der DDR wurde schen Weg ins 21. Jahrhundert doch mit Sicherheit eine wichtige schließlich durch das Zusammenwirken der anschwellenden AusOrientierung bieten. reisebewegung einerseits und der in den folgenden Jahren erstarkenden Oppositionsbewegung andererseits erzwungen. Ihr gemeinsam erkämpftes Ergebnis war die »friedliche Revolution« des Literaturhinweise Jahres 1989, der – abgesehen von Rumänien – weitere gewaltlose Revolutionen im Ostblock folgen sollten. Pars-pro-toto sei die Bauerkämper, Arnd (Hrsg.) (2003): Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, »samtene Revolution« in Prag im Dezember 1989 genannt, die von Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich. Frankfurt/Main, New Vaclav Havel angeführt wurde. Das Jahr 1989 steht somit für den York. Erfolg vielfältiger zivilgesellschaftlicher Bürgerbewegungen, die sich aus sehr unterschiedlichen Quellen speisen und auf eine Blickle, Peter (2000): Kommunalismus. 2 Bände (Band 1: Oberdeutschland, lange Tradition in der Geschichte Deutschlands und Europas zuBand 2: Europa). München. rückblicken können. Diner, Dan (Hrsg.) (1988): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt/Main.

Neue Herausforderungen

Finley, Moses (1980): Antike und moderne Demokratie. Stuttgart.

Im Gegensatz zu dieser Erfolgsgeschichte haben die zivilgesellschaftlichen Bürgerbewegungen in der »Berliner Republik« seit 1990 und im Europa des 21. Jahrhunderts ihre Bewährungsprobe noch nicht bestanden. Im Zeichen sich beschleunigender Globalisierungsprozesse einerseits und sich gegenläufig verengender Handlungsspielräume auf nationalstaatlicher Ebene andererseits stehen sie vor besonders großen Herausforderungen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Da die sich unaufhaltsam beschleunigende, ressourcenintensive Expansion der Weltwirtschaft die Biosphäre und damit die natürlichen Lebensgrundlagen der kommenden Generationen offenkundig zusehends weiter gefährdet, könnte es eine immer wichtigere zivilgesellschaftliche Zukunftsaufgabe werden, die nicht-intendierten Folgen eines tendenziell unbegrenzten, von globalen Märkten gesteuerten Wirtschaftswachstums zu kontrollieren. Ob partizipative Bewegungen in der Lage sein werden, eine solche am Gemeinwohl orientierte Kontrolle von global organisierter Marktmacht angesichts oft anonymer, jedenfalls schwer greifbarer Akteure (»global players«) zu gewährleisten, kann aus historischer Perspektive nicht beantwortet werden. Ähnliche Fragen stellen sich bei weiteren globalen Zukunftsthemen, wie z. B. der Flüchtlings- und Asylproblematik, der

D&E

Heft 65 · 2013

Gilcher-Holtey, Ingrid (2001): Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA. München. Gransow, Volker/Jarausch, Konrad H.(Hrsg.) (1991), Die deutsche Vereinigung. Dokumente zu Bürgerbewegung, Annäherung und Beitritt. Köln. Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.) (2009): Revolution und Wiedervereinigung 1989/90. München. Hildermeier, Manfred/Kocka, Jürgen/Conrad, Christoph (Hrsg.) (2000): Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Frankfurt/Main, New York. Meier, Christian (1993): Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte. Berlin. Nolte, Paul (2012): Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart. München. Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hrsg.) (2010): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Frankfurt.

Zivilgesell schaf tliche Be wegungen in Deutschl and und Europa

39

ANDREAS GRIESSINGER

40

Materialien M 1 Der Historiker Jürgen Kocka: Das »Programm der bürgerlichen Gesellschaft« (2008) Es wurde in den bürgerlich geprägten Logen und Lesegesellschaften, den Vereinen und Zeitschriften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts diskutiert, bald auch auf öffentlichen Versammlungen und Festen der sich ausbreitenden liberalen Bewegung. Es war ein zukunftsgerichteter Entwurf, zu dem sehr verschiedene Autoren beigetragen hatten – von John Locke und Adam Smith über Montesquieu und die Enzyklopädisten bis zu ImmaM 3 Eine Gruppe von Demonstranten führt ein Transparent mit der Parole »Kampf dem Atomtod« mit. nuel Kant und den liberalen Denkern des Unter diesem Motto stand die Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes am 1. Mai 1958 19. Jahrhunderts. Im Zentrum dieses Entin Frankfurt am Main gegen Wiederaufrüstung und atomare Bewaffnung. © picture alliance, 1958 wurfs stand das Ziel einer modernen, säkularisierten Gesellschaft freier, mündiger Bürger (»citoyens«), die ihre Verhältnisse friedlich, shima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in vernünftig und selbstständig regelten, ohne allzu viel soziale Ungroßer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung gleichheit, ohne obrigkeitsstaatliche Gängelung, individuell und im ganzen sehr viel größer sein. Als »klein« bezeichnet man gemeinsam zugleich. Dazu bedurfte es bestimmter Institutionen: diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen des Marktes, einer kritischen Öffentlichkeit, des Rechtsstaates entwickelten »strategischen« Bomben, vor allem der Wassermit Verfassung und Parlament. In dieser gesellschaftlich-politistoffbomben. schen Zielsetzung steckte ein neuer Daseinsentwurf, der auf Ar2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wirbeit, Leistung und Bildung (nicht auf Geburt), auf Vernunft und kung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche ihrem öffentlichen Gebrauch (statt auf Tradition), auf individuelGrenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine ler Konkurrenz wie auf genossenschaftlicher Gemeinsamkeit kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe oder einen fußte und sich kritisch gegen zentrale Elemente des Alten RegiLandstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbemes wandte: gegen Absolutismus, gegen Geburtsprivilegien und wohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität gegen ständische Ungleichheit, auch gegen kirchlich-religiöse könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Orthodoxie. Dieses Programm hatte, wie gesagt, zwar seine Basis Bundesrepublik wahrscheinlich schon heute ausrotten. Wir im sich neu formierenden Bürgertum (und in angrenzenden kennen keine technische Möglichkeit, große BevölkerungsSchichten des niederen Adels und des Kleinbürgertums), aber der mengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen. Tendenz nach war es ein Programm für alle, ein universales MoWir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen dell, das auf Freiheit, Gleichheit und Teilnahme aller Bürger – im Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die Sinne aller Staatsbürger – hindrängte und zugleich auf die VerallBerechtigung dazu abstreiten wollen; unsere Tätigkeit, die der gemeinerung der bürgerlichen Kultur und Lebensweise über das reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir Bürgertum hinaus abzielte. Durch Schulbildung, Literatur, Theaviele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns aber ter, Erziehung, Disziplin, Umgestaltung des öffentlichen Lebens mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigsollte es alle prägen: der Bürger auf dem Weg vom bourgeois zum keit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweicitoyen. Dies war ein imponierender Entwurf, durchaus utopisch gen. Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die westliche und besonders zu Beginn des 19. Jahrhunderts weit von der WirkWelt gegen den Kommunismus vertritt. Wir leugnen nicht, dass lichkeit entfernt. die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen © Jürgen Kocka, Das Programm der bürgerlichen Gesellschaft in: Aus Politik und Zeitgewesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen schichte 9–10/2008, S. 3–9, hier: S. 4f. Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des VersaM 2 »Göttinger Erklärung« der 18 Atomwissenschaftler vom gens für tödlich. Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vor12.4.1957 schläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, dass es sich heute noch Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, die unterzeichnenden Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomihnen haben den zuständigen Bundesministern ihre Bedenken waffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichschon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine Debatte nenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichnenden fühEinsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen. len sich daher verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuGleichzeitig betonen wir, dass es äußerst wichtig ist, die friedliweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch che Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen. und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken. 1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaFritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, u. a., www.hdg.de/lemo/html/dokumente/ ler Atombomben. Als »taktisch« bezeichnet man sie, um ausJahreDesAufbausInOstUndWest_erklaerungGoettingerErklaerung/index.html zudrücken, dass sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiro-

Zivilgesell schaf tliche Be wegungen in Deutschl and und Europa

D&E

Heft 65 · 2013

M 4 Volksaufstand in Ostberlin am 17. Juni 1953 in Ostberlin. Bauarbeiter riefen auf ihrem Marsch zum Haus der Ministerien den Generalstreik aus und forderten den Rücktritt der SED-Regierung. Der Volksaufstand in der DDR wurde von sowjetischen Panzern und der Nationalen Volksarmee der DDR niedergeschlagen. © picture alliance, 1953

M 5 Telegramm des Streikkomitees Bitterfeld an die DDRRegierung vom 16.6.1953 An die sogenannte Deutsche Demokratische Regierung in BerlinPankow: Wir Werktätigen des Kreises Bitterfeld fordern von Ihnen: 1. Sofortigen Rücktritt der sogenannten Deutschen Demokratischen Regierung, die sich durch Wahlmanöver an die Macht gebracht hat. 2. Bildung einer provisorischen Regierung aus den fortschrittlichen Werktätigen. 3. Zulassung sämtlicher großer demokratischer Parteien Westdeutschlands. 4. Freie und geheime direkte Wahlen spätestens in vier Wochen. 5. Freilassung sämtlicher politischer Gefangener (direkt politischer, sogenannter »Wirtschaftsverbrecher« und konfessionell Verfolgter) 6. Sofortige Abschaffung der Zonengrenzen und Zurückziehung der Volkspolizei. 7. Sofortige Normalisierung des sozialen Lebensstandards. 8. Sofortige Auflösung der sogenannten »National-Armee«. 9. Keine Repressalien gegen auch nur einen Streikenden. © Der Morgen, Beilage vom 16./17.6.1953; zit. nach T. Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR. Berlin 1991, S. 227f.

M 6 Lorant Rácz über die Diskussionen im Petöfi-Klub, Budapest 1956, Die vom Parteiführer Rákosi gegen die aufmüpfigen Schriftsteller geführten öffentlichen Angriffe, verbunden mit Drohungen und Repressalien, wurden von allen als Rückschlag in der politischen Entwicklung des Landes empfunden. In dieser gespannten Situation wirkte die aus Moskau eingelangte Nachricht über den im Februar 1956 abgehaltenen XX. Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wie ein Paukenschlag. Die gefassten Kongress-Beschlüsse, so schien es, bestätigten das Juniprogramm 1953 von Imre Nagy und das im Herbst 1955 veröffentlichte Memorandum der ungarischen Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler. Aufhorchen ließ der Beschluss des Kongresses, demzufolge aus dem Kapitalismus nicht nur ein Weg, der sowjetische, zum Sozialismus führen kann. Da kam auch schon die noch größeres Aufsehen verursachende Meldung über die am 25. Februar von Nikita Chruschtschow in einer geheimen Sitzung des Kon-

D&E

Heft 65 · 2013

M 7 Teilnehmer einer Massendemonstration in Budapest (Ungarn) passieren in der Innenstadt einen sowjetischen Panzer. Im Hintergrund liegt der Torso des von der Menge gestürzten Stalindenkmals auf der Straße. Am 23.10.1956 fielen bei einer zunächst friedlichen Kundgebung in Budapest erste Schüsse. Arbeiter, Studenten und Jugendliche bewaffneten sich in der Folge und nahmen den Kampf gegen die einrückenden sowjetischen Truppen auf. Grund für die Unruhen war die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem Dogmatismus der Parteiführung, die in der Hand von Alt-Stalinisten lag. Mit dem Ausbruch der Revolution schien sich der Traum von der Unabhängigkeit zu erfüllen, der neu ernannte Regierungschef Imre Nagy kündigte sogar den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt an. Am 4. November 1956 griffen jedoch rund 1.000 sowjetische Panzer und Bomber die Stadt von allen Seiten an – der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. © picture alliance

gresses gehaltene sog. »Geheimrede«. In dieser Rede gab er unumwunden Stalin und dem mit seiner Person verbundenen Personenkult die Schuld für die blutigen Verbrechen der 30er und 40er Jahre. Trotz Geheimhaltung sickerte diese Rede durch und das ganze Land sprach nur noch vom XX. Kongress und der Rede Chruschtschows. Der seit dem Memorandum in der Presse geführte lockere Ton wurde immer schärfer und die von Imre Nagy angeführte Opposition fühlte sich bestätigt und bekam immer mehr Zulauf aus der Bevölkerung. In diesem Stadium rückten die Probleme aus Politik und Wirtschaft immer stärker in den Mittelpunkt der Diskussionen. Die Parteijugend erfasste am schnellsten die Situation und rief Anfang März 1956, unter der Schirmherrschaft ihrer eigenen Jugendorganisation (DISZ), eine anfangs lose Runde ins Leben, die sich einerseits aus aktiven Parteimitgliedern aus Politik, Wissenschaft und Kunst, anderseits aus der seit 1948 verstoßenen Elite und aus Interessenten der Universitäten bildete. Zweck dieser ins Leben gerufenen Runde war, einem größeren Publikum die Gelegenheit zu bieten, außerhalb der Parteigremien die Thesen des XX. Kongresses auf breiterer Basis zu diskutieren. Der Kreis entwickelte sich unter dem Namen »Petöfi Kör«, das heißt »Petöfi Kreis«, zu einer Institution der vorrevolutionären Jugend, so wie seinerzeit anno 1848. Auch seitens der Bevölkerung fand der Kreis große Zustimmung und wurde von der Presse kommentiert und begeistert begrüßt. Er wurde zur Plattform für die sich um Imre Nagy versammelte Opposition aus Wissenschaftlern, Künstlern und den vom ZK der Partei geächteten Schriftstellern. © Lorant Rácz, Ein Requiem auf den Sozialismus. Ungarn 1953 bis 1956, Norderstedt 2003, S. 32–39, www.ungarn1956.de/site/40208613/default.aspx

Zivilgesell schaf tliche Be wegungen in Deutschl and und Europa

41

ANDREAS GRIESSINGER

M 8 In München demonstrierten 1962 Studenten gegen die Polizei-Maßnahmen in der Hamburger »SPIEGEL«-Redaktion. Etwa 300 Teilnehmer marschierten mit Spruchtafeln von der Universität zum Königsplatz, wo ein Sprecher die Forderung der Studenten nach Pressefreiheit unterstrich. Im Zuge der »SPIEGEL«-Affäre mussten sich Mitarbeiter des Nachrichtenmagazins »Spiegel« wegen eines kritischen Artikels gegen eine Anklage wegen Landesverrats zur Wehr setzen, zeitweise waren der Herausgeber Rudolf Augstein und mehrere Redakteure inhaftiert. Am Ende musste der damalige Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß, CSU, der die Verhaftungen veranlasst hatte, zurücktreten. © Klaus-Dieter Heirler, picture alliance

M 9 »Römerbergrede« des SDS-Bundesvorstandsmitglieds Hans-Jürgen Krahl am 27.5.1968 in Frankfurt am Main vor 12.000 Menschen angesichts der bevorstehenden Bundestagsdebatte zu den Notstandsgesetzen 42

Wir haben nur eine einzige Antwort auf die Notstandsgesetze zu geben: wenn Staat und Bundestag die Demokratie vernichten, dann hat das Volk das Recht und die Pflicht, auf die Straße zu gehen und für die Demokratie zu kämpfen. Wenn die Volksvertreter die Interessen des Volkes nicht mehr vertreten, dann wird das Volk seine Interessen selbst vertreten. […] Eine soziale Demokratie lebt nur durch die aufgeklärte Selbsttätigkeit der mündigen Massen. Daraus haben die Studentenbewegung und die außerparlamentarische Opposition die politische Konsequenz gezogen: auf die Bürokratien der Parteien und der Gewerkschaften können wir uns nicht verlassen, wenn wir nicht selbst anfangen zu handeln. Erst die oft herausfordernden Demonstrationen der Studenten haben viele Themen, welche die Herrschenden lieber verschwiegen hätten, zur öffentlichen Diskussion gestellt; so den Krieg in Vietnam […]. Unsere Aufklärungs- und Machtmittel sind geradezu lächerlich gering, gemessen an den gewaltigen Funk- und Fernseheinrichtungen sowie den mächtigen Staats- und Parteiverwaltungen. Aber mit den Mitteln des Flugblatts, der ständigen Diskussion und unseren Demonstrationen haben wir erreicht, dass immer mehr Menschen lernten, wie notwendig es ist, für seine Interessen selbst und aktiv einzutreten. Entgegen der Manipulation von Presse und Regierung, die uns von der Bevölkerung mit aller Gewalt isolieren wollen, hat die außerparlamentarische Opposition ihre Basis ständig erweitert: zunächst waren es die Studenten, dann die Schüler, jetzt sind es junge Arbeiter und auch immer mehr ältere Kollegen. Unsere Demokratie ist direkt und unmittelbar. Es gibt keine Sprecher und keine Gruppen, die sich nicht den Entscheidungen der Anwesenden unterwerfen müssten; es gibt keine Funktionäre, die einen Posten auf Lebenszeit einnehmen; alle unmittelbar Beteiligten entscheiden in direkter Abstimmung über die politischen Aktionen und Ziele. […] Mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze steht die Uhr auf fünf Minuten vor 12. […] Die Losung für die nächsten Tage kann

M 10 Eine der Initialzündungen der 68er-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland war der »Internationale Vietnamkongress« des SDS 1968 in Berlin, bei dem u.a. Herbert Marcuse, Peter Weiss und Erich Fried als Referenten auftraten. Am Rednerpult der SDS-Vorsitzende Rudi Dutschke. © Klaus Rose, picture alliance, 17.2.1968

nur sein: Politischer Streik! Nur eine Welle von Streiks ermöglicht schließlich den Generalstreik. Politischer Streik am Dienstag, politischer Streik am Mittwoch, politischer Streik in den Betrieben, an der Universität und in den Schulen. Es lebe die praktische Solidarität der Arbeiter, Studenten und Schüler! © D. Claussen/R. Dermitzel (Hg.), Universität und Widerstand. Frankfurt/Main (Europäische Verlagsanstalt) 1968, S. 34–41

M 11

Regierungserklärung des Bundeskanzlers Willy Brandt, SPD, 28.10.1969

I. Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass durch Anhörungen im Bundestag, durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform vom Staat und Gesellschaft mitzuwirken. Wir wenden uns an die im Frieden nachgewachsenen Generationen, die nicht mit den Hypotheken der Älteren belastet sind und belastet werden dürfen; jene jungen Menschen, die uns beim Wort nehmen wollen – und sollen. Diese jungen Menschen müssen aber verstehen, dass auch sie gegenüber Staat und Gesellschaft Verpflichtungen haben. Wir werden dem Hohen Hause ein Gesetz unterbreiten, wodurch das aktive Wahlalter von 21 auf 18, das passive von 25 auf 21 herabgesetzt wird. Wir werden auch die Volljährigkeitsgrenze überprüfen. Mitbestimmung, Mitverantwortung in den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft wird eine bewegende Kraft der kommenden Jahre sein. Wir können nicht die perfekte Demokratie schaffen. Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert. Diese Regierung sucht das Gespräch, sie sucht kritische Partnerschaft mit allen, die Verantwortung tragen, sei es in den Kirchen, der Kunst, der Wissenschaft und der Wirtschaft oder in anderen Bereichen der Gesellschaft. Dies gilt nicht zuletzt für die Gewerkschaften, um deren vertrauensvolle Zusammenarbeit wir uns bemühen. Wir brauchen ihnen ihre überragende Bedeutung für diesen Staat, für seinen weiteren Ausbau zum sozialen Rechtsstaat nicht zu bescheinigen. Wenn wir leisten wollen, was geleistet werden muss, brauchen wir

Zivilgesell schaf tliche Be wegungen in Deutschl and und Europa

D&E

Heft 65 · 2013

alle aktiven Kräfte unserer Gesellschaft. […] Wir werden uns ständig darum bemühen, dass sich die begründeten Wünsche der gesellschaftlichen Kräfte und der politische Wille der Regierung vereinen lassen. […] XV. Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger. Wir haben so wenig Bedarf an blinder Zustimmung, wie unser Volk Bedarf hat an gespreizter Würde und hoheitsvoller Distanz. Wir suchen keine Bewunderer; wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten. M 13 Demonstranten mit tschechoslowakischen Flaggen versuchen am 21. August 1968, russische Panzer und Das Selbstbewusstsein dieser RegieFahrzeugkolonnen an der Weiterfahrt durch Prag zu hindern. Reformpolitiker innerhalb der Kommunistirung wird sich als Toleranz zu erkenschen Partei unter der Führung Alexander Dubceks hatten seit dem Frühjahr 1968 versucht, in der Tschechonen geben. Sie wird daher auch jene slowakei einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu schaffen. Die Truppen des Warschauer Pakts Solidarität zu schätzen wissen, die marschierten unter Führung der UdSSR in der Tschechoslowakei ein und beendeten den »Prager Frühling« sich in Kritik äußert. Wir sind keine schließlich mit Waffengewalt. © picture alliance, 21.8.1968 Erwählten; wir sind Gewählte. Deshalb suchen wir das Gespräch mit allen, die sich um diese Demokratie mühen. In den letzten Jahren haben manche in diesem Lande beGrundlage der Aktionsfähigkeit der Partei unter den neuen Befürchtet, die zweite deutsche Demokratie werden den Weg der dingungen ist die ideelle und organisatorische Einheit, die auf der ersten gehen. Ich habe dies nie geglaubt. Ich glaube dies heute Basis breiter innerparteilicher Demokratie entsteht. Die wirkweniger denn je. Nein: Wir stehen nicht am Ende unserer Demosamste Waffe gegen das Eindringen von Methoden des bürokratikratie, wir fangen erst richtig an.« schen Zentralismus in die Partei ist die Stärkung des Einflusses der Parteimitglieder auf die politische Linie, die Stärkung der © Rainer A. Müller (Hg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Band 11. StuttRolle aller wirklich demokratischen Organe. Die gewählten Orgart (Reclam) 1996, S. 35–37, 41, 43f., 45f., 50f. gane der Partei sind vor allem dafür verantwortlich, dass alle Rechte der Mitglieder gewährleistet, dass Entscheidungen kollektiv getroffen werden und die Macht nicht in einer Hand konM 12 »Aktionsprogramm der Kommunistischen Partei der zentriert wird. […] Die Partei ist sich dessen bewusst, dass es in Tschechoslowakei« (KPC), angenommen auf der unserer Gesellschaft keine tiefgreifendere Entwicklung der DePlenar tagung der ZK der KPC am 5.4.1968: mokratie geben kann, wenn nicht demokratische Grundsätze konsequent im inneren Leben und der Arbeit der Partei selbst unIhre Fähigkeit, die Gesellschaft zu leiten, hat die [Kommunistiter Kommunisten zur Anwendung kommen. Die Entscheidungen sche] Partei besonders in der gegenwärtigen Zeit bewiesen, als über alle wichtigen Fragen und die Kaderbesetzung von Funktiosie aus eigener Initiative den Demokratisierungsprozess ausgenen muss nach demokratischen Regeln der Behandlung und löst und seinen sozialistischen Charakter gesichert hat. […] Sie durch geheime Abstimmung erfolgen. […] Dennoch aber haben verwirklicht ihre führende Rolle nicht dadurch, dass sie die Gesich bis zur heutigen Zeit in unserem ganzen politischen System sellschaft beherrscht, sondern dadurch, dass sie der freien, fortdie schädlichen Einflüsse der zentralistischen Entscheidung und schrittlichen und sozialistischen Entwicklung am treuesten dient. Leitung erhalten. In den Beziehungen zwischen Partei, Staat und Sie kann sich ihre Autorität nicht erzwingen, sondern muss sie gesellschaftlichen Organisationen, in den inneren Beziehungen immer aufs Neue durch ihre Taten gewinnen. Ihre Linie kann sich und Methoden dieser Komponenten, in den Beziehungen staatlinicht durch Verordnungen durchsetzen, sondern nur durch die cher und anderer Institutionen zu den Bürgern, in der Auffassung Arbeit ihrer Mitglieder und die Wahrhaftigkeit ihrer Ideale. der Bedeutung der öffentlichen Meinung und der Informiertheit Die führende Rolle der Partei wurde in der Vergangenheit oft als aller, in der Praxis der Kaderpolitik – überall dort kommen viele Monopol, als Konzentration der Macht in der Hand der ParteiorDinge zum Ausdruck, die den Menschen das Leben vergällen […]. gane aufgefasst. Das entsprach der falschen These, dass die ParDie Politik der Partei geht von der Forderung aus, dass es im gantei das Instrument der Diktatur des Proletariats sei. Diese schädzen Staatsmechanismus zu keiner allzu großen Konzentration der liche Auffassung schwächte die Initiative und Verantwortung der Macht innerhalb eines Gliedes, eines Apparates oder bei einer staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen Einzelperson kommen darf. Man muss eine derartige Aufteilung […]. Die Partei will und wird die gesellschaftlichen Organisatioder Machtbefugnisse und ein System gegenseitiger Kontrolle zwinen nicht ersetzen, sie muss im Gegenteil dafür sorgen, dass sich schen den einzelnen Gliedern festsetzen, dass die Fehler und deren Initiative und politische Verantwortung für die Einheit unÜbergriffe des einen Gliedes beizeiten durch die Tätigkeit eines serer Gesellschaft erneuert und weiter entfaltet. Aufgabe der Paranderen korrigiert werden können. Dem müssen nicht nur die Betei ist es, einen solchen Weg der Befriedigung verschiedener Inteziehungen zwischen den gewählten und ausführenden Organen ressen zu suchen, der die gesamtstaatlichen Interessen nicht entsprechen, sondern auch die Beziehungen innerhalb des Megefährdet, sondern ihnen im Gegenteil nützt und neue progreschanismus der staatlichen Exekutivmacht und Verwaltung und sive Interessen schafft. Die Politik der Partei darf nicht dazu fühebenso die Stellung und Funktion der Gerichte. ren, dass die nicht-kommunistischen Bürger das Gefühl haben, in © Zdenek Mlynar, Nachtfrost. Erfahrungen auf dem Weg vom realen zum menschlichen Soihren Rechten und Freiheiten durch die Partei eingeschränkt zu zialismus. Köln (EVA) 1978, S. 325–327, 329, 340 werden, sondern dass sie vielmehr in der Tätigkeit der Partei die Garantie ihrer Rechte, Freiheiten und Interessen sehen. […]

D&E

Heft 65 · 2013

Zivilgesell schaf tliche Be wegungen in Deutschl and und Europa

43

ANDREAS GRIESSINGER

seits den Machtanspruch des Mannes, andererseits wird er durch ihre unerschöpflichen Zärtlichkeits- und Sinnlichkeitsansprüche stark belastet. […] Er ist außenorientiert, arbeitet an sachlichen Problemen, kann sich weiterentwickeln und lernen, während die Frau noch in eine Empfindungsdifferenzierung bis zur Schmerzhaftigkeit verstrickt ist. […] Lassen wir uns zudem nicht vormachen, Emanzipation bedeute: dem Mann entsprechend zu werden. Würden wir der vermeintlichen Emanzipation des Mannes in einer autoritären Gesellschaft nacheifern, so wäre das Resultat gesteigerter Konkurrenzkampf, Aggressivität, Brutalität, Selbstunterdrückung. Denken wir daran, dass sich der Mann ebenso wie die Frau aus seiner Rollenfixierung emanzipieren muss. M 14 Menschenkette der »Friedensbewegung« am 22.10.1983 in Neu-Ulm. Über 200.000 Menschen demonstrierten an diesem Tag mit ihrer Menschenkette von Neu-Ulm bis Stuttgart gegen die Stationierung von atomaren US-Mittelstreckenraketen in Europa als Antwort der NATO auf die vorhergegangene Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen des Typs SS 20 durch die Sowjetunion. Europa und besonders das geteilte Deutschland, so die Kritiker, drohten zum Schauplatz eines atomaren Schlagabtauschs der Supermächte zu werden. © Karin Hill, picture alliance

M 15

44

Aktionsrat zur Befreiung der Frau (1968): Emotionale Probleme der Frau – Politische Probleme

Die Emanzipation der Frau ist ein Gradmesser der gesamtgesellschaftlichen Emanzipation. Es gibt keine Befreiung der Menschheit ohne die soziale, emotionale sowie ökonomische Unabhängigkeit und Gleichstellung von Mann und Frau. […] Kleine Mädchen werden rosa gekleidet, kleine Jungen hellblau. Kleine Mädchen werden zu haushaltsorientiertem Spiel angehalten, kleine Jungen wegen der Puppe ausgelacht. Die Jungen sollen das Haus verlassen, sollen selbstständig werden und Erfahrungen machen. Sich ruhig austoben, auch sexuell. Mädchen lernen bald, die Männer zu erwarten, wenn Vater und Brüder abends heimkommen und wenn das Essen vorbereitet sein muss. Sie identifizieren sich bald mit der Mutter, die über Lob des Vaters glücklich, über seine Unzufriedenheit schuldbewusst ist. […] In ihrer Vorbereitung auf die nie zu erreichende Illusion wird die Frau vorwiegend partnerorientiert. Die kapitalistische Gesellschaft unterstützt sie dabei mit Werbung und Entertainment. Von einer aufkommenden Bewusstheit ihrer Situation wird die Frau systematisch abgelenkt. Kleidung, Gehabe, Emotionen der Frau sind schließlich Ausdruck ihrer hochgradigen Partner-Erwartung. Für den Mann zeigt sich diese erregte Frau als erregendes Lustobjekt. In Filmen und Illustrierten wird ihm diese angeboten. Da er in seiner Erziehung und Beeinflussung zur überwiegenden Sachorientierung gebracht wurde, entspricht das Auswählen, Begutachten, Verbrauchen und Ablegen vom Konsumgut Frau durchaus seiner Art. Unsere Gesellschaft erzieht zwei Geschlechter, die durch unterschiedliche Lernprozesse voneinander im Sinne einer Arbeitsteilung materiell abhängig sind: Das Mädchen lernt vieles, was mit Haushalt zu tun hat. Der Junge wird davon ferngehalten. Er wird sich später in Haushaltsdingen so dumm anstellen, dass er eine Frau braucht. Das Mädchen wird umgekehrt in allem dumm gehalten, was nicht mit Haushalt zu tun hat. Deswegen braucht sie später einen Mann, der für sie sorgt. Emotional jedoch sind beide einander entgegengesetzt geworden: der Mann der kapitalistischen Gesellschaft ist ein emotionsloses Arbeitstier, die Frau ein gefühlshaftes Objekt. Ihre gegenseitigen Rollenerwartungen sind kaum vereinbar: […] Die starke Fixierung der Frau an den Mann bestätigt und befriedigt einer-

© Lutz Schulenburg (Hg.), Das Leben ändern, die Welt verändern. 1968 – Dokumente und Berichte. Hamburg (Edition Nautilus) 1998, S. 303 – 307

M 16

Krefelder Appell: »Der Atomtod bedroht uns alle – Keine Atomraketen in Europa« (16.11.1980)

Immer offensichtlicher erweist sich der Nachrüstungsbeschluss der NATO vom 12. Dezember 1979 als verhängnisvolle Fehlentscheidung. Die Erwartung, wonach Vereinbarungen zwischen den USA und der Sowjetunion zur Begrenzung der eurostrategischen Waffensysteme noch vor der Stationierung einer neuen Generation amerikanischer nuklearer Mittelstreckenwaffen in Westeuropa erreicht werden könnten, scheint sich nicht zu erfüllen. Ein Jahr nach Brüssel ist noch nicht einmal der Beginn solcher Verhandlungen in Sicht. […] Die Teilnehmer am Krefelder Gespräch vom 15. und 16. November 1980 appellieren daher gemeinsam an die Bundesregierung, – die Zustimmung zur Stationierung von Pershing II-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen; – im Bündnis künftig eine Haltung einzunehmen, die unser Land nicht länger dem Verdacht aussetzt, Wegbereiter eines neuen, vor allem die Europäer gefährdenden nuklearen Wettrüstens sein zu wollen. © Blätter für deutsche und internationale Politik 12/1980, S. 1513; zit. nach Georg Fülberth, Geschichte der Bundesrepublik in Quellen und Dokumenten. Köln (Pahl-Rugenstein) 1983, S. 388f.

M 17

Der Soziologe Jörg Bopp 1983 über die »Grünen«

Ohne Zweifel hat die Bundesrepublik seit dem Ende der 60er Jahre trotz aller Rückschläge einen kräftigen Demokratisierungsschub erlebt, der vor allem von Jugendlichen in Gang gesetzt wurde. […] Im Moment erleben wir einen neuen Versuch vorwiegend engagierter Jugendlicher, die bundesrepublikanische Gesellschaft zu demokratisieren. Waren 1968 vor allem die Sozialdemokraten mit Willy Brandt der politische »Hoffnungsträger«, so sind es heute die Grünen […]. Um nun der Abschottung von neuen gesellschaftlichen Entwicklungen vorzubeugen, haben sich die Grünen auf einige Grundsätze des alltäglichen politischen Handelns festgelegt. Die damit anvisierten Handlungsstile sind zugleich politisches Programm: Rotation der Abgeordneten, imperatives Mandat, knappe Diäten, paritätische Aufteilung der Ämter zwischen den Geschlechtern, größtmögliche Veröffentlichung der parlamentarischen Arbeit,

Zivilgesell schaf tliche Be wegungen in Deutschl and und Europa

D&E

Heft 65 · 2013

Unterstützung außerparlamentarischer Oppositions- und Protestbewegungen, Relativierung des Legalitätsprinzips, legere Umgangsformen, Respektlosigkeit gegenüber den Ritualen des politischen Betriebs. Gegen die Versteinerung der politischen Parteien soll Basisdemokratie gestellt werden. © Christian Graf von Krockow (Hg.), Brauchen wir ein neues Parteiensystem? Frankfurt/Main (Fischer) 1983, S. 57f.

M 18

Die »Charta 77«, verfasst von Vaclav Havel u. a. (1977)

Charta 77 ist eine freie informelle und offene Gemeinschaft von Menschen verschiedener Überzeugungen, verschiedener Religionen und verschiedener Berufe, verbunden durch den Willen, sich einzeln und gemeinsam für die Respektierung von Bürger- und MenM 20 Etwa zehntausend Demonstranten nahmen bereits am 4. November 1989 in Potsdam an einer bis schenrechten in unserem Land und in der dahin einmaligen, weil nicht vom Staat und seinen Massenorganisationen angeordneten GroßdeWelt einzusetzen – jener Rechte, die den monstration in der Innenstadt Potsdams teil und zeigten Transparente mit weitreichenden demoMenschen von beiden kodifizierten internatikratischen Forderungen. Nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung und dem onalen Pakten, von der Abschlussakte der Besuch des sowjetischen Parteichefs Michael Gorbatschow entluden sich die Proteste schließlich Konferenz in Helsinki, von zahlreichen weiteam 9. November 1989, an dem Tag, als die Maueröffnung das Ende der DDR einleitete. © Bernd Blumrich, picture alliance ren internationalen Dokumenten gegen Krieg, Gewaltanwendung und soziale und geistige Unterdrückung zugestanden werden Sie gliedern sich in knapp 150 sog. Kirchliche Basisgruppen, die und die zusammenfassend von der »Allgemeinen Erklärung der sich selbst […] bezeichnen als »Friedenskreise« (35), »ÖkoloMenschenrechte« der UN zum Ausdruck gebracht werden. giegruppen« (39), gemischte »Friedens- und Umweltgruppen« Charta 77 fußt auf dem Boden der Solidarität und Freundschaft (23), »Frauengruppen« (7), »Ärztekreise« (3); »Menschenrechtsvon Menschen, die von der gemeinsamen Sorge um das Geschick gruppen« (10) bzw. »2/3-Welt-Gruppen« (39) und sogen. Regionalder Ideale bewegt werden, mit denen sie ihr Leben und ihre Arbeit gruppen von Wehrdienstverweigerern. […] verbunden haben und verbinden. (…) Ableitend aus sog. Gründungserklärungen und Strategiepapieren Charta 77 ist keine Basis für oppositionelle politische Tätigkeit. […] bilden besonders folgende antisozialistische Inhalte/StoßSie will dem Gemeininteresse dienen wie viele Bürgerinitiativen in richtungen die Schwerpunkte im Wirksamwerden feindlicher, opverschiedenen Ländern des Westens und des Ostens. Sie will also positioneller Kräfte: nicht eigene Programme politischer oder gesellschaftlicher Re1. Gegen die Grundlagen und Gesetzmäßigkeiten des Sozialisformen oder Veränderungen aufstellen, sondern in ihrem Wirmus gerichtete Angriffe finden ihren konzentrierten Ausdruck kungsbereich einen konstruktiven Dialog mit der politischen und in Forderungen nach Änderung der sozialistischen Staats- und staatlichen Macht führen, insbesondere dadurch, dass sie auf verGesellschaftsordnung und nach »Erneuerung des Sozialisschiedene konkrete Fälle von Verletzung der Menschen- und Bürmus«. Dabei berufen sich diese Kräfte immer stärker auf die gerrechte hinweist, deren Dokumentation verbreitet, Lösungen Umgestaltungsprozesse und die damit verbundenen Entwickvorschlägt, die auf Vertiefung dieser Rechte und ihrer Garantien lungen in der UdSSR und anderen sozialistischen Ländern. Deabzielen, und als Vermittler in anfallenden Konfliktsituationen magogisch werden Begriffe wie Glasnost, Demokratisierung, wirken, die durch Widerrechtlichkeit verursacht werden können. Dialog, Bürgerrechte, Freiheit für »Andersdenkende« oder Durch ihren symbolischen Namen betont Charta 77, dass sie an Meinungspluralismus missbraucht […]. der Schwelle eines Jahres entsteht, das zum Jahr der Rechte poli2. Gegen die Sicherheits- und Verteidigungspolitik gerichtete tisch Gefangener erklärt wurde und in dessen Verlauf die BelgraAngriffe konzentrierten sich unter dem Deckmantel der »Entder Konferenz die Erfüllung der Verpflichtungen von Helsinki prümilitarisierung« der Gesellschaft auf Forderungen nach Beseifen soll. (…) Wir glauben daran, dass Charta 77 dazu beitragen tigung der vormilitärischen Erziehung und Ausbildung der Juwird, dass in der Tschechoslowakei alle Bürger als freie Menschen gend (u. a. Unterrichtsfach Wehrerziehung), Abschaffung der arbeiten und leben können. Wehrpflicht, Einrichtung des sozialen bzw. zivilen »Friedens© FAZ vom 7.1.1977, offizielle deutsche Veröffentlichung des Gründungstextes dienstes« als gleichwertiger Ersatz für den Wehrdienst und auf Gewährung des Rechtes auf Wehrdiensttotalverweigerung aus Gewissensgründen. M 19 Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit vom 3. Gegen die kommunistische Erziehung der Jugend gerichtete 1.6.1989 über oppositionelle Gruppen in der DDR in den Angriffe beinhalten u. a. Forderungen nach Aufgabe des »To80er Jahren talitätsanspruches« der marxistisch-leninistischen Weltanschauung (…). Seit Beginn der 80er Jahre anhaltende Sammlungs- und Formie4. Probleme des Umweltschutzes bilden ein breites Feld zur Disrungsbestrebungen […] führten zur Bildung entsprechender kreditierung der Politik der Partei in Umweltfragen […]. Gruppierungen und Gruppen. Diese sind fast ausschließlich in © Volker Gransow/Konrad H. Jarausch (Hg.), Die deutsche Vereinigung. Dokumente zu BürStrukturen der evangelischen Kirchen in der DDR eingebunden gerbewegung, Annäherung und Beitritt. Köln (Verlag Wissenschaft und Politik) 1991, S. 54 bzw. können für ihre Aktivitäten die materiellen und technischen Möglichkeiten dieser Kirchen umfassend nutzen. […] Gegenwärtig bestehen in der DDR ca. 160 derartige Zusammenschlüsse. […]

D&E

Heft 65 · 2013

Zivilgesell schaf tliche Be wegungen in Deutschl and und Europa

45

BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

7. Soziale Medien und das Partizipationsparadox JAN-HINRIK SCHMIDT

I

46

n der öffentlichen Wahrnehmung werden mit dem Internet zahlreiche Hoffnungen und Befürchtungen verbunden. Ganz wesentlich sind in diesem Zusammenhang Vorstellungen darüber, welche Auswirkung die wachsende Verbreitung der digitalen vernetzten Medien auf gesellschaftliche Teilhabe und politische Partizipation hat. Positive Stimmen prophezeien, dass sie politische Prozesse transparenter machen, Macht- und Medienmonopole brechen und marginalisierten Gruppen Gehör verschaffen können. Kritiker warnen hingegen vor Vereinzelung und Desinformation, aber auch vor der bloßen Simulation von Teilhabe und Fehlformen wie dem »Clicktivism«, bei denen sich Partizipation im Anklicken eines Buttons erschöpfe, ohne wirkliche gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Ein Blick in die Mediengeschichte zeigt, dass wohl alle neuen Medien jeweils in ihrer Zeit solche widerstreitenden Diagnosen und Annahmen über ihre Folgen hervorriefen (vgl. Schrape 2012). Hoffnung und Sorge sind gewissermaßen Ausdruck der Unsicherheit, auf welchen gesellschaftlichen Boden die neuen Informations- und Medientechnologien fallen: Welche Praktiken und Normen werden sich neu herausbilden, welche etablierten Verhaltensweisen und Routinen werden bestehen bleiben und welche verschwinden, wie greifen diese Veränderungen in Machtverhältnisse ein – wer gewinnt, wer verliert? Das Internet macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme, ist dennoch aber etwas Besonderes: Es ist ein Universalmedium, das Funktionen der klassischen Massenmedien wie Rundfunk oder Presse genauso erfüllen kann wie den direkten oder zeitverzögerten Austausch, den wir vorher beispielsweise über Telefongespräche und Briefe geführt haben. Dadurch greift das Internet in nahezu alle Lebensbereiche ein – und es entwickelt sich zudem in einer bisher ungekannten Geschwindigkeit weiter, sodass sich beim Einzelnen wie auch gesellschaftlich das Gefühl verfestigen kann, mit den technischen Innovationen und Weiterentwicklungen nicht mehr Schritt halten zu können.

Soziale Medien (»social media«) Als jüngste (aber sicher nicht letzte) Stufe dieser Entwicklung lässt sich das Aufkommen der »sozialen Medien« begreifen, also von Plattformen wie Facebook oder YouTube, von Wikipedia, Twitter oder Blogs (vgl. zum Folgenden u. a. Münker 2009; Schmidt 2011). Sie sind überwiegend in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre entstanden und haben sich inzwischen – wenn auch auf unterschiedlichem Niveau – unter den Internetnutzern etabliert. Ein verbreiteter Sammelbegriff für die verschiedenen Angebotsgattungen ist das »Mitmachnetz«, in der sich bereits das Versprechen von gesteigerter Teilhabe und Partizipation ausdrückt. So böten Blogs und Twitter den Dissidenten in China oder Kuba die Möglichkeit, eine Gegenöffentlichkeit zu den staatlich gelenkten Medien aufzubauen. Über Video- und Fotoplattformen wie YouTube oder Flickr könnten Demonstrationen oder staatliche Übergriffe in autoritären Regimen dokumentiert und für ein weltweites Publikum zugänglich gemacht werden können. Beim arabischen Frühling 2011 oder den Demonstrationen im Iran 2009 dienten Internetplattformen sogar als Namensgeber für politische Proteste und sozialen Wandel, wenn von »Facebookrevolution« oder »Twitterrevolution« gesprochen wurde.

Abb. 1

Social Media – Apps auf einem Smart-Phone

© Jürgen Kalb, 2013

Aber auch innerhalb von Deutschland haben die sozialen Medien in den letzten Jahren die politische Kommunikation beeinflusst. Im Jahr 2009 mündete der Protest gegen ein Vorhaben der Bundesministerin Ursula von der Leyen, kinderpornographische Inhalte durch ein Stoppschild zu kennzeichnen, in der bis dato größten Online-Petition, die mehr als 130.000 Personen unterzeichneten. Getragen und koordiniert wurde dieser Widerstand maßgeblich über netzpolitische Blogs und Twitter-Accounts, wo der Ministerin auch der Beiname »Zensursula« verpasst wurde. Jedoch beschränkte er sich nicht auf die sozialen Medien, sondern wurde auch in journalistisch-publizistischen Medien debattiert sowie auf Demonstrationen vertreten. Ähnliche Muster der Verschränkung unterschiedlicher medialer Öffentlichkeiten mit dem politischen Handeln »auf der Straße« zeigten sich auch bei den heftigen Debatten um den Bahnhofsumbau in Stuttgart. Auf Facebook entstanden zahlreiche Diskussionsgruppen für wie auch wider »S21«, auf denen über Protestaktionen informiert und – nicht immer zivilisiert – gestritten wurde. Über Demonstrationen vor Ort wurde wiederum in den journalistischen Medien berichtet, während man auf YouTube auch heute noch zahlreiche Amateuraufnahmen von den Blockaden im Schlossgarten findet, neben Werbevideos der Deutschen Bahn zum gleichen Projekt.

S o zi a l e Med ie n und d a s Pa r t i zipat i onspa r a d o x

D&E

Heft 65 · 2013

Persönliche Öffentlichkeiten Diese Ereignisse und Entwicklungen sind Anzeichen eines grundlegenden Strukturwandels von Öffentlichkeit. Er wird durch technische Innovationen angetrieben, wenngleich nicht vorherbestimmt: Digitale vernetzte Medien, mit dem Internet als Basistechnologie für den Datenaustausch zwischen Rechnern, senken die Hürden, Informationen aller Art zugänglich zu machen und in Echtzeit zu verbreiten. Auf Grundlage dieser Infrastruktur entstehen zahlreiche Plattformen und Dienste, die spezifische Funktionen bieten oder sich an bestimmte Zielgruppen wenden. Für ihre Nutzerinnen und Nutzer dienen diese Werkzeuge dazu, alltägliche Kommunikations- und Informationsbedürfnisse zu befriedigen, wobei eine zentrale neue Entwicklung darin liegt, dass ein eigener Typ von Öffentlichkeit entsteht: Die persönliche Öffentlichkeit, in der Menschen Informationen von persönlicher Relevanz auswählen und Abb. 2 »Das alles wird einmal dir gehören …« © Gerhard Mester, 2012 mitteilen (also sich nicht unbedingt an Objektivität oder gesellschaftlicher Relevanz Teilhabe »in«, »mit Hilfe der« und »an« orientieren müssen, wie es der Journalismus tut) und sich damit den sozialen Medien an ein Publikum wenden, das aus Freunden, Bekannten, beruflichen Kontakten o. ä. besteht, also nicht völlig Unbekannte umDieser Wandel von Öffentlichkeit, den die sozialen Medien mit fasst. Über Verlinkungen oder das Weiterleiten und Empfehlen sich bringen, ist für politische Partizipation aber auch deswegen von interessanten Inhalten können sich Informationen schneerelevant, weil er Bürgerinnen und Bürgern neue Modi der gesellballartig verbreiten und große Aufmerksamkeit bekommen. Doch schaftlichen Teilhabe eröffnet. in der Regel haben die persönlichen Öffentlichkeiten keine MasErstens praktizieren Menschen Teilhabe in den sozialen Medien, senreichweite, sondern liegen zwischen der Reichweite von Gewenn sie sich auf den entsprechenden Plattformen aufhalten und sprächen am Stammtisch oder auf dem Schulhof einerseits und informieren, mit ihrer Hilfe ihre persönlichen Interessen ausdrüden Massenmedien andererseits. In ihnen herrscht daher ein ancken und Beziehungen pflegen – also Erfahrungen von sozialer derer Kommunikationsmodus: Nicht das »Publizieren«, das jourEinbindung und Austausch machen (vgl. Wagner/Brüggen/Gebel nalistische Medien auszeichnet, sondern die »Konversation« 2009). Diese Teilhabe umfasst das »Sich-Positionieren« zu besteht im Mittelpunkt. Der Austausch und Dialog, möglicherweise stimmten Themen im Sinne eines Signals an die eigene persönliaber auch Kritik und Beleidigungen, werden über Kommentare che Öffentlichkeit, was einem wichtig ist oder worüber man nachoder den »Gefällt mir«-Knopf von Facebook technisch unterdenkt. Zur Teilhabe in den sozialen Medien gehört aber auch das stützt. Kommunikation in den persönlichen Öffentlichkeiten ist »Sich-Einbringen« in Debatten und Gespräche, die die eigene Ledadurch vor allem eine Form von Selbstpräsentation und Beziebenswelt berühren, zum Beispiel indem man sich in den Komhungspflege – es handelt sich also auch im wörtlichen Sinn um mentaren zu einem Weblogeintrag über seine eigenen Erfahrun»soziale Medien«. gen zu einem politischen Thema austauscht. Politische Themen – hier breit verstanden als Fragen von gesellDie Grenzen zum zweiten Modus von Teilhabe sind dabei flieschaftlichem Belang – werden in persönlichen Öffentlichkeiten ßend: Teilhabe mit Hilfe der sozialen Medien geschieht dann, durchaus auch angesprochen und diskutiert, insoweit sie von den wenn die sozialen Medien als Werkzeug oder Kanal genutzt werNutzerinnen und Nutzern als persönlich relevant und (mit-)teiden, um auf politische Entscheidungen und gesellschaftliche lenswert angesehen werden. Aus diesem Grund zeigen in den Debat ten außerhalb des Internets Einfluss zu nehmen. Zudem letzten Jahren politische Akteure, von den Parteien und Abgeordlassen sich gerade aufgrund der geschilderten einfachen Mögneten über staatliche Einrichtungen und Behörden bis hin zu Bürlichkeiten, Information zu verbreiten und zu multiplizieren, auch gerinitiativen oder gemeinnützigen Organisationen, so ein grovergleichsweise leicht andere Menschen aktivieren, beispielsßes Interesse, sich in den sozialen Medien zu positionieren: Sie weise durch das Verbreiten von Veranstaltungsinformationen, wollen dort präsent sein, für ihre politischen Ansichten und Ziele Demonstrationsaufrufen oder Hinweisen auf Unterschriftenwerben und Unterstützung gewinnen, wo sich eine wachsende sammlungen. Digitale Medientechnologien spielen daher inzwiZahl der Bürgerinnen und Bürger aufhält – alleine auf Facebook schen eine wichtige Rolle für die Mobilisierung, den Wissensaussind inzwischen wohl mehr als zwanzig Millionen Deutsche aktiv. tausch und die Koordination politischen Handelns, in Deutschland Sie sind nicht nur Empfänger, sondern können auch zu Multiplikaund weltweit. toren für Informationen und politische Botschaften werden, wenn Den genannten Erfolgsbeispielen stehen aber auch Beobachtunsie diese in ihrem eigenen Kontaktnetzwerk verbreiten und empgen gegenüber, dass der Schritt von der »Teilhabe im Netz« zur fehlen. Und weil auch publizistische Medienangebote in den sozi»Teilhabe mit Hilfe des Netzes« nicht immer gelingt. Vielfach alen Medien präsent sind, kann es zu regelrechten Informationsbleibt es bei Ansätzen oder Artikulationen von politischen Interkaskaden kommen – zur positiven Mundpropanda genauso wie essen innerhalb onlinebasierter Räume, die aber nicht an Debatzum negativ-kritischen »Shitstorm«, bei dem sich Kritik oder ten und Entscheidungen im politischen System angebunden sind. Häme über eine Person oder Organisation ergießt. Unter dem Stichwort des »Slacktivism« (Morozov 2009) wird beispielsweise kritisch diskutiert, dass sich für viele Nutzer politisches Engagement bereits im Klicken des »Gefällt mir«-Buttons auf Facebook oder dem Weiterleiten eines Links zu einer Online-

D&E

Heft 65 · 2013

S o zi a l e Med ie n und d a s Pa r t i zipat i onspa r a d o x

47

JAN-HINRIK SCHMIDT

Abb. 3

48

Gefangen im (Google-)Netz

Petition erschöpfe, ohne dass es es zu weiterführenden (und letztlich politisch folgenreichen) Formen von Teilhabe käme. Der dritte Modus schließlich ist die Teilhabe an den sozialen Medien im Sinne einer möglichst selbstbestimmten Technikgestaltung. Sie artikuliert sich unter anderem in der Netzpolitik, einem Politikfeld, das sich in den vergangenen Jahren auch in Deutschland konturiert und etabliert hat. Dafür stehen beispielsweise die Wahlerfolge (und damit einhergehende große mediale Aufmerksamkeit) für die Piratenpartei oder die Einrichtung der EnqueteKommission »Internet und digitale Gesellschaft« des Deutschen Bundestags. Politische Debatten um Datenschutz, Netzneutralität oder das Leistungsschutzrecht für Presseverleger drehen sich zwar auf den ersten Blick um spezifische Details der medien- oder technologiepolitischen Regulierung des Internets, berühren bei näherem Hinsehen aber wesentliche Fragen der Gestaltung von bürgerlichen Freiheiten oder des Mediensystems unter Bedingungen einer rasanten technischen Konvergenz von Medien- und Kommunikations-technologien (vgl. Stöcker 2012).

ßert, das eigene Profil anzupassen und zu personalisieren. Zum anderen werden Nutzerinnen und Nutzer aber auch zur Mithilfe aufgefordert, zum Beispiel wenn es um die Moderation oder Kontrolle von Inhalten geht. Auf Plattformen wie YouTube oder Facebook kann aufgrund der schieren Menge der nutzergenerierten Inhalte keine vollständige redaktionelle (Vor-)Prüfung stattfinden. Zu den Moderationsteams sowie den immer wichtiger werdenden technischen Filtersystemen tritt daher die »community«, die Betreiber auf extremistische, gewaltverherrlichende oder anderweitig problematische Inhalte hinweisen soll. Die Teilhabe der Nutzerschaft wird als Form der unentgeltlichen Arbeit im Geschäftsmodell einkalkuliert und steigert letztlich den Wert einer Plattform. Doch echte Selbstbestimmung, also das eigenverantwortliche Gestalten von Strukturen und Regeln, ist bei den großen SocialMedia-Plattformen nicht vorgesehen. Mit dem Registrieren bei einem Angebot akzep© Gerhard Mester, 2012 tiert man zugleich die Allgemeinen Geschäftsbedingungen und begibt sich dadurch in ein Vertragsverhältnis zu den Anbietern, wird also zum Kunden. Für den Einzelnen ist dies möglicherweise auf den ersten Blick gar nicht ersichtlich: Man kann in der Regel die Plattformen ja kostenlos nutzen, und die genauen Bedingungen und Pflichten, die man eingeht, sind für den juristischen Laien aus den umfangreichen und komplexen Dokumenten kaum zu erschließen. Dennoch findet ein Tausch von Leistung und Gegenleistung statt, denn man zahlt mit seinen persönlichen Daten und seiner Aufmerksamkeit, die wiederum vor allem gegenüber Werbetreibenden vermarktet werden. Zynisch formuliert ist man also noch

Das Partizipationsparadox Das Internet und speziell die sozialen Medien stellen also Kommunikationsräume für gesellschaftliche Öffentlichkeit zur Verfügung und unterstützen verschiedene Modi von Teilhabe. Allerdings wirft diese Entwicklung Widersprüche auf, die sich als »Partizipationsparadox« beschreiben lassen. Die Infrastruktur und die Regeln dieser neuen Kommunikationsräume werden derzeit von einigen wenigen global agierenden Unternehmen bereitgestellt und gestaltet. Diese haben letztlich kommerzielle Interessen, wodurch der Grad an Teilhabe, den Nutzerinnen und Nutzer an den Infrastrukturen der sozialen Medien ausüben können, in aller Regel eingeschränkt ist (vgl. Wagner/ Gerlicher/Brüggen 2011). Die Plattformbetreiber ermutigen zu »Mitwirkung«, weil erst die Aktivitäten der Nutzerinnen und Nutzer – das Teilen von persönlichen Informationen und Neuigkeiten, von Fotos und Videos – den Wert einer Plattform ausmachen. Auf den ersten Blick nehmen sie dabei eine reine Mittlerrolle zwischen den Nutzern ein, doch faktisch lassen sie sich meist weit reichende Rechte an den Daten und Inhalten einräumen und behalten sich auch vor, bestimmte Inhalte oder Profile zu sperren, die nicht den Allgemeinen Geschäftsbedingungen entsprechen. Hierbei kommt eine zweite Facette von Partizipation ins Spiel: Die »Mitbestimmung«, die sich zum einen in den Möglichkeiten äu-

Abb. 4

S o zi a l e Med ie n und d a s Pa r t i zipat i onspa r a d o x

»Schalt jetzt endlich die verfluchte Spielkonsole aus!« © Ritsch-Renn.com, 2013

D&E

Heft 65 · 2013

nicht einmal Kunde von Facebook und anderen Plattformen, sondern selbst das Produkt. Das Verhältnis zwischen Nutzerschaft und Betreibern der Plattformen ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Erstens hat man als Nutzer kaum Möglichkeiten, etwaigen Änderungen in der Gestaltung, im Funktionsumfang oder in den Geschäftsbedingungen einer Plattform zu widersprechen oder sie im Vorfeld zu beeinflussen, weil es keine oder nur rudimentäre Prozeduren der Nutzeranhörung oder der Abstimmung zwischen unterschiedlichen Varianten gibt. Und selbst, wenn man sich zum Verlassen einer Plattform entscheiden sollte, bauen sich Hürden auf. Diese können sozialer Art sein, weil zumindest in bestimmten Altersgruppen oder Szenen die Präsenz auf einer Netzwerkplattform wie Facebook derzeit unerlässlich ist, um sich nicht sozial zu isolieren. Aber auch technische Hürden bestehen, denn man kann die aufwändig eingestellten und zusammengetragenen Informationen zum eigenen Kontaktnetzwerk nicht einfach zu einem anderen Abb. 5 Schule der Zukunft: 20 Jahre nach dem Kruzifix-Urteil © Gerhard Mester, 2012 Konkurrenznetzwerk transferieren. Diese Interoperabilität, die zum Beispiel auf dem TeAusmaß und unter Mitwirken von uns Nutzerinnen und Nutzern – lefonmarkt ermöglicht, auch zwischen zwei unterschiedlichen Informationen über unseren Alltag erhoben und verarbeitet werBetreibern telefonieren oder seine Nummer mitnehmen zu könden. Teilhabe in, mit Hilfe der und an den sozialen Medien muss nen, ist im Bereich der sozialen Medien noch nicht etabliert. sich diesem Paradox stellen und letztlich darauf hinarbeiten, alDies wiederum ist eng mit einem zweiten Problem verbundenen: ternative Modelle für digitale vernetzte Öffentlichkeiten zu förDie Anbieter von Social-Media-Plattformen sammeln immense dern, die auf dezentralen Infrastrukturen, offenen Standards für Datenmengen, die von den personenbezogenen Informationen den Datenaustausch und frei verfügbaren Softwaretechnologien im engeren Sinne (wie Geschlecht, Geburtsdatum oder Kontaktberuhen. adresse) bis zu eher beiläufig bei der Nutzung anfallenden Informationen über Vorlieben, Interessen, Aktivitäten und räumliche Bewegung reichen. Zudem erfassen sie die soziale Verortung eiLiteraturhinweise ner Person im Geflecht einander überlappender Beziehungs- und Interaktionsnetzwerke. Aus diesen Informationen lassen sich wieMorozov, Evgeny (2009): From slacktivism to activism. Hg. v. Foreign Policy. derum, eine genügend große Datenmenge vorausgesetzt, relativ Online verfügbar unter: http://neteffect.foreignpolicy.com/ treffsichere Vorhersagen über Präferenzen oder Verhalten des posts/2009/09/05/from_slacktivism_to_activism. einzelnen Nutzers machen. Aus der Sicht der Betreiber entstehen hier neue Möglichkeiten für Münker, Stefan (2009): Emergenz digitaler Öffentlichkeiten: Die sozialen zielgerichtete, personalisierte Ansprache und Werbung, die für Medien im Web 2.0. Frankfurt am Main. den Einzelnen relevanter und damit wertvoller sein kann. Aus Schrape, Jan-Felix (2012): Wiederkehrende Erwartungen: Visionen, PrognoSicht des Datenschutzes hingegen ist dies eher ein Albtraum, weil sen und Mythen um neue Medien seit 1970. Hülsbusch. sich die sozialen Medien eben auch für überwachende oder kontrollierende Zwecke nutzen lassen, und weil die auf ihnen basieSchmidt, Jan (2011): Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des renden Öffentlichkeiten gefiltert, zensiert oder automatisch und Web 2.0. 2. überarbeitete Auflage. Konstanz. verdeckt durchsucht werden können. Vorschläge zu einer stärkeStöcker, Christian (2012): Governance des digitalen Raumes: aktuelle netzren Regulierung, zum Beispiel zur Novellierung der EU-Datenpolitische Brennpunkte. In: APuZ 62 (7), S. 9–14. schutzrichtlinie, sind daher auch als Versuch zu sehen, diesen potenziell freiheitsgefährdenden Datensammlungen Grenzen zu Wagner, Ulrike/ Brüggen, Niels/Gebel, Christa (2009): Web 2.0 als Rahmen setzen. für Selbstdarstellung und Vernetzung Jugendlicher. München. Online verZusammengefasst besteht das Partizipationsparadox der soziafügbar: http://www.jff.de/dateien/Bericht_Web_2.0_ len Medien also darin, dass sie einerseits bisher ungekannte MögSelbstdarstellungen_JFF_2009.pdf lichkeiten eröffnen, sich an gesellschaftlicher Öffentlichkeit zu Wagner, Ulrike/Gerlicher, Peter /Brüggen, Niels (2011): Partizipation in und beteiligen, was wiederum bestehende Machtstrukturen des promit dem Social Web – Herausforderungen für die politische Bildung. Münfessionell-publizistischen Systems tiefgreifend verändert. Andechen. rerseits verschließen sie sich selbst aber der Teilhabe und etablieren neue machtvolle Strukturen, in denen in beispiellosem

D&E

Heft 65 · 2013

S o zi a l e Med ie n und d a s Pa r t i zipat i onspa r a d o x

49

JAN-HINRIK SCHMIDT

MATERIALIEN M 1 Bloggerkolumne von Johnny Haeusler: »Die Jugendverdrossenen« Vor etwa zwei Jahren twitterte Max Winde alias »@343max«: »Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen.« Er erntete damit jede Menge Applaus und Weiterverbreitung. Zu Recht, denn die Aussage kehrt den ewigen Vorwurf des politischen Desinteresses der Jugend in eine mittlerweile sehr wahr gewordene Prognose um. Als jüngste Umfragen der größtenteils von jungen Menschen geprägten Piratenpartei bessere Ergebnisse vorhersagten als der FDP, vor allem aber einen möglichen Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus, da reagierte das politische Establishment mit Warnungen durch Klaus Wowereit und einem mäßig gelungenen Witzchen von Renate Künast. Die grüne Spitzenkandidatin sagte, sie wolle die Piraten »resozialisieren«. Und auch, dass in dieser Woche ein kleines Wunder in Sachen politischer Bürgerbeteiligung geschehen ist, als innerhalb weniger Tage die noch fehlenden 25.000 Mitzeichner einer Petition gegen die Vorratsdatenspeicherung im Internet mobilisiert werden konnten, ruft bei der Politik keine hörbare Begeisterung hervor, sondern allenfalls betretenes Schweigen. Da wird der Bürger also aktiv, und dann ist es anscheinend auch wieder nicht richtig. Stattdessen: Debatten über Facebook-Buttons und Rufe nach mehr Kontrolle im Netz. Wenn sich beachtenswerte Teile einer Generation mithilfe ihres wichtigsten Mediums, dem Internet, politisch äußern und engagieren, dann sollte das für die Etablierten jedoch kein Anlass zur Sorge, sondern zur Begeisterung sein. Es braucht Unterstützung statt Restriktion. Man könnte fast meinen, die Politik sei jugendverdrossen.

50

© Johnny Haeusler, 16.9.2011, Die Jugendverdrossenen, www.tagesspiegel.de/medien/ bloggerkolumne-die-jugendverdrossenen/v_print/4617572.html?p= Der Autor betreibt das Weblog www.spreeblick.com und ist Mitveranstalter der jährlichen Konferenz re:publica.

M 2 Macmagazin: » Wer ist eigentlich Max Winde?« Max Winde ist in der Blogszene kein Unbekannter, mischt er doch beim Spreeblick mit und ist Mitbegründer von AdNation. Im Interview erzählt er, wie Twitter frischen Wind in die Szene weht und wie die Welt zum Twitter-Stoff wird. macmagazin.de: Welches aktuelle Tagesereignis hat Sie in letzter Zeit besonders bewegt? Max Winde: Ich glaube und hoffe, dass das Jahr 2009 als die Geburtsstunde einer neuen Bürgerbewegung gelten wird, die die Chancen des Übermediums Internet auch nutzt. Die Verabschiedung des »Zugangserschwerungsgesetzes« im Bundestag, aber auch Begriffe wie »Killerspiele« und der Kampf gegen die vermeintlichen »Kostenloskultur des Internet« zeigen, wie wenig die politische und wirtschaftliche Führungsschicht das Internet und die digitale Kultur bisher verstanden haben. Und es zeigt, wie dringend es nötig ist, dass netzaffine Menschen sich stärker in die aktuellen Diskussionen einmischen, um für Verständnis zu werben und für die eigenen Ziele zu kämpfen. Wenn ich zum Beispiel im Wahlprogramm der CDU das Internet nur als Gefahr und nie als Chance erwähnt finde, dann ist dies ein Zeichen für mich, dass wir uns dringend einmischen müssen. macmagazin.de: Gezwitscher auf allen Kanälen – Hand auf’s Herz, wie viel Zeit verbringen Sie mit Twitter und Blogs? Max Winde: Twitter ist für mich der Kommunikationskanal Nummer Eins. Ich habe meinen Job über Twitter gefunden und meine Freundin über Twitter kennengelernt. Sogar eine von meinen beiden Katzen habe ich über Twitter adoptiert. Gerade an diesem Wochende habe ich ein paar Freunde auf eine Geburtstagssause

M 3 Twitter-Profil von Max Winde, Pionier der »Social media« © Max Winde,@343max, 2013

in Brandenburg eingeladen: Gerade mal 3 von 17 Leuten habe ich nicht direkt oder indirekt über Blogs und Twitter kennengelernt. Wenn ich also betrachte, wie mein gesamtes Leben von Blogs und Twitter zusammengehalten wird, dann muss ich sagen: Ja, ich verbringe immer noch viel zu wenig Zeit mit Twitter und Blogs. macmagazin.de: Sie haben die technische Leitung beim Spreeblick, eines der großen Blogs im deutschen Sprachraum. Vor einigen Jahren konnte man von Blogprominenz sprechen, der Begriff A-Blogger geisterte umher. Wie ist die Situation heute, hat sie sich – vielleicht durch Twitter – entspannt? Max Winde: Und ob sich die Lage entspannt hat! Bis vor wenigen Jahren gab es eine handvoll A-Blogger, die die gesamte Aufmerksamkeit absorbierten wie ein schwarzes Loch das Licht. Dank Rivva und Twitter finden nun auch viele der kleineren Blogs endlich die Beachtung, die sie verdienen. Endlich können wir sehen, dass der ganze Himmel voll mit kleinen Sternen ist und nicht nur von einigen wenigen großen Sonnen dominiert wird. Die deutsche Blogosphäre hat sich viel zu lange nur als Gegenpol der klassischen Medien gesehen und konnte ihr wirkliches Potential nicht entfalten – dies wird jetzt nachgeholt. macmagazin.de: Verändert das Bloggen und Twittern die Sicht auf die Welt, wird sie zum Stoff für (Micro-)Blogging? Max Winde: Oh ja! Es gibt diese Tage, an denen ich alles auf Twitterbarkeit abscanne. Kleine Banalitäten des Alltags werden zu kleinen Geschichten im Netz. macmagazin.de: Mit AdNation habt Ihr die Werbung in Blogs professionalisiert und bildet auch Rücklagen für Rechtsstreitigkeiten. Davon haben auch einige Blogger Gebrauch gemacht, wie ist die Tendenz? Wie gefährlich ist es, derzeit ein Blog zu führen? Und wann können sich Blogs wieder bei Euch bewerben? Max Winde: Nach meinem Gefühl hat die Zahl der Abmahnungen in letzter Zeit etwas abgenommen. Zum einen hat sich vielleicht bei vielen Unternehmen langsam mal herumgesprochen, dass ein

S o zi a l e Med ie n und d a s Pa r t i zipat i onspa r a d o x

D&E

Heft 65 · 2013

kritischer Blogbeitrag nicht gleich das Ende der Welt bedeutet. Vermutlich sind viele Blogger auch etwas vorsichtiger geworden. Solange man Augenmaß bewahrt und im Zweifelsfall noch mal eine Nacht vor dem Veröffentlichen über einen kritischen oder polemischen Artikel schläft, ist die Gefahr, vor Gericht zu landen, sicherlich recht gering. Dennoch halte ich es für ratsam, eine Rechtsschutzversicherung abgeschlossen zu haben: (…) macmagazin.de: Wann sind Sie glücklich? Max Winde: Glück ist für mich, mein Leben selbst gestalten zu können. So ist es für mich als leidenschaftlicher Langschläfer ein großes Glück, nicht um 9 Uhr morgens produktiv sein zu müssen, nur weil mir eine Uhr dies befohlen hat. Ich liebe es, statt in einem muffigen Büro in meinem Garten arbeiten zu können. Diese flexible Arbeitsweise ist durch das Internet überhaupt erst möglich geworden, worüber ich mich jeden Tag auf’s Neue freue. Den Rest überlasse ich gern dem Zufall.

M 5 »Seht Ihr denn auch irgendwelche Gefahren, ….«

© Thomas Plaßmann, 17.6.2012

© Macmagazin. de (13.6.2012): Wer ist eigentlich Max Winde?, www.giga.de/webapps/twitter/tipps/wer-ist-eigentlichmax-winde

M 4 Johannes Weyrosta: »Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen!« Im Grunde mangelt es den heutigen Jugendgenerationen nicht an Feindbildern und Problemstellungen, dennoch haftet an den jungen Menschen ein apolitisches und unkritisches Image. Nur selten überraschen wir unsere wutbürgerliche Elterngenerationen durch politisches Aufbegehren und zivilgesellschaftliche Partizipation. Während unsere Eltern auf der Straße gegen überdimensionierte Tiefgaragen der Deutschen Bahn zu demonstrieren versuchen, einverleiben wir uns Billigflüge, technologische Neuheiten und kostengünstige Kleidung im Dauerlauf. Vor wenigen Monaten kollabierte das Atomkraftwerk in Fukushima, dessen Folgen bis heute nicht geklärt sind, den dramatischen Auswirkungen von Tschernobyl jedoch in nichts nachstehen werden. Vor den Küsten Europas sterben zu Tausenden junge Afrikaner, die den Diktaturen ihrer Heimatländer entfliehen möchten, im reichen Westen jedoch nicht geduldet werden. In Libyen fliegt die westliche Staatengemeinschaft Luftangriffe gegen einen Führer, der lange Zeit als gern gesehener Gast durch Europa reiste, um an unserem Wohlstand mitzuwirken und selbst daran zu verdienen. Schon der Irak-Einsatz der US-Regierung stand unter fragwürdigen Vorzeichen und ist nicht erst heute als völkerrechtswidrig einzustufen. In vielen Teilen Europas wird der Tonfall gegenüber Migranten und Andersgläubigen rauer und feindseliger, Dänemark denkt bereits öffentlich über Grenzschließungen nach. Doch wo bleibt der Widerstand unserer Generation? Wir schauen ohnmächtig zu, die Ereignisse schnellen an uns vorbei und ersticken fundierte Gegenwehr schon im Keim. taz und der Freitag überschlagen sich in Berichterstattungen und Reportagen über die Energiewende, nachhaltiges Wirtschaften und alternative Lebensformen. Wer Peter Unfried, Chefreporter der taz, auf seinem Streifzug durch das französische Viertel in Tübingen und den Entdeckungsreisen durch das wohlstandsbesoffene aber dennoch energiebewusste Hohenlohe folgt, müsste mit Stolz erfüllt sein. Deutschland reflektiert kritisch und mit offenem Ausgang seine eigene Haltung zu Paradigmen der zurückliegenden Dekaden. Sollten wir uns wirklich nur von ökonomischen Zielen leiten lassen? Wo können wir noch ressourcenschonender und nachhaltiger agieren?

D&E

Heft 65 · 2013

Endlich kann auch die Jugendgeneration froh sein, in diesen Zeiten zu leben. Es geschieht etwas – so zumindest der Eindruck. Von unseren Eltern und Großeltern bekamen wir frühzeitig vermittelt, dass große Schlachten und Errungenschaften zurückliegen, die ganze Generationen zu Kämpfern gegen Faschismus, Autoritäten, Kriegseinsätze und Atomkraft werden ließen. Die Gegenfrage liegt nicht weit: Und was ist mit euch? Wogegen kämpft ihr? Meiner Generation mangelte es schlichtweg an Feindbildern. Antiautoritär und mit liberalen Weltansichten großgezogen sind wir nun Wohlstandskinder mit klaren Problemen vor Augen: Klimawandel, Wirtschaftsmigration und die neoliberale Ausrichtung der Wirtschaft für immer mehr Wachstum. Sie wurden uns quasi auf dem Silbertablett präsentiert, wir mussten sie nur noch greifen. Doch noch ist vieles der Gegenwehr nur heiße Luft. Zusammenhänge zwischen persönlichem Konsumverhalten und weltpolitischen Auseinandersetzungen werden nicht oder unzureichend gezogen. Konsumgesellschaften haben keine Zeit und keinen Platz für Fragen nach Menschenrechten, Produktionsbedingungen und Umweltauswirkungen, insofern diese nur in anderen Teilen der Erde spürbar sind. Die heutige Jugend muss asketischer werden. Verzicht, Reflektion und Kontrolle müssen die Maxime unseres Konsumverhaltens werden. Kompromisse darf es nicht geben. Flüge für 19 Euro nach London sind nicht mit Fairtrade-Kaffee aufzuwiegen, Klamotten aus Biobaumwolle verlieren ihre Tragkraft wenn der Körper, der darin steckt, sich täglich von Fleisch ernährt. Der Netzaktivist Max Winde prägte mit dem Ausruf »Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen« unser Leitmotiv. Es bedarf einer Bewusstwerdung von Folgen und Verantwortung unseres Konsumverhaltens. An Verzicht geht kein Weg vorbei. (…) Wir müssen aufwachen, schon jetzt schwinden Fukushima und der Libyen-Einsatz aus unseren Köpfen, wir verdauen politisches Verbrechen wie Junkfood und verlieren dabei den Bezug zu ihrer Tragweite. Dabei ist es doch so erstrebenswert, eine Generation mit Gesicht zu sein. Und dieses Gesicht sollte wahrlich nicht die Form eines angebissenen Apfels haben. © Johannes Weyrosta (13.6.2011): www.freitag.de/autoren/weilmeldung/ihrwerdet-euch-noch-wunschen-wir-waren-politikverdrossen

S o zi a l e Med ie n und d a s Pa r t i zipat i onspa r a d o x

51

JAN-HINRIK SCHMIDT

52

M 6 Katja Bauer: »Die digitale Elite will die Welt retten. Berlin nach der Wahl« Sie sind jung, überwiegend männlich, lieben Nerdbrillen, Ziegenbärtchen und das Netz. Aber sie wollen nicht auf ein Klischee reduziert werden, sondern anders Politik machen. 14 Männer und eine Frau sind die ersten Piraten in einem Landesparlament. (…) Transparenz – so heißt eines der Zauberwörter der Piraten. Alle Neuparlamentarier, die man danach fragt, was ihr wichtigstes politisches Ziel sei, antworten mit diesem Wort so zuverlässig wie Mädchen, die bei Misswahlen Weltfrieden sagen. (…) »Es ist ja alles noch sehr ungewohnt«, sagt Andreas Baum, der Spitzenkandidat, den die Partei per Los bestimmt hat. Schließlich sei die Arbeit im Parlament für sie alle ein Lernprozess. Wie locker die Piraten diesen Prozess nehmen, das konnte man im Wahlkampf beobachten. Es gab Kernthemen wie die Wirtschaftspolitik, bei denen der Spitzenkandidat mit den Achseln zuckte. Man habe sich noch nicht eingeleM 8 »Hoffnungsträger Piratenpartei …« © Gerhard Mester, 2012 sen – das hat offenbar nicht geschadet. Jetzt wollen sie von ihrem Lern- und Einleseprozess berichten. Denn natürlich macht die sar. Kathedralen seien sorgsam Stein für Stein gemeißelt worden, Partei, in der »wir grade unheimlich viel zum ersten Mal machen«, von Druiden ersonnen, von exklusiven Bauhütten ausgeführt, das neue Erfahrungen. Keiner hat bisher jemals eine Kleine Anfrage Werk kleiner Gruppen disziplinierter Handwerker und Hohepriesgestellt oder einen Antrag zur Geschäftsordnung. Davon wollen ter, die in großer Abgeschiedenheit wirkten. Die Kathedrale der die Piraten künftig berichten. Gegenwart war damals Microsoft, der Basar war das Betriebssys»Das kann durchaus auch ein bisschen Sendung-mit-der-Mausmätem Linux. Jedermann konnte an der Weiterentwicklung von Linux ßig sein«. Denn – Internetweisheit! – wenn man Lernprozesse teilt, teilnehmen, die Linux-Gemeinde war in den Augen von Raymond dann wird man zusammen unter Umständen schneller schlauer. wie »ein großer, wild durcheinander plappernder Basar, geschafDa ist es wieder, das Internetwissen – und damit auch das Klifen von Tausenden über den ganzen Planeten verstreuten Nebenschee einer Partei von den Nerds, die Tag und Nacht vor ihrem erwerbs-Hackern«. »Linux ist subversiv«, schrieb Raymond. (…) Rechner sitzen und eigentlich außer zensurfreiem Surfen und Wie aber wird aus solchen politischen Maximen ein Betriebssysvielleicht noch straflosem Cannabiskonsum keine echten Ziele tem? Mit dieser Frage beschäftigt sich nicht nur die Piratenpartei, haben. Das nun wieder findet der Haufen junger, internetaffiner sondern die Internetgemeinde als ganze, die es damit immerhin Männer, der da sitzt, nicht so lustig. (…) In der Zwischenzeit jeschon bis in den Deutschen Bundestag schaffte. In der Enquetedenfalls müssen sie sich erst einmal parlamentarischen Grundfrakommission des Bundestags »Internet und digitale Gesellschaft« gen zuwenden. »Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass es kam es von Anfang an nicht nur über Datenschutz und Urheberbei uns einen Fraktionszwang geben wird«, sagt Andreas Baum. rechte zum Streit, sondern vor allem darüber, wie die Öffentlich(…) Hier sitzen keine Politikprofis – die meisten haben lang nicht keit einzubeziehen sei. Der Vorschlag, im Reichstag »liquid demogedacht, dass Berufspolitiker aus ihnen werden. Und auch wenn cracy« einkehren zu lassen, stieß an die Grenzen repräsentativer sie es jetzt sind, sie wollen es nicht werden. »Endlich normale Demokratie und der Gepflogenheiten des Parlaments. Unter dem Menschen«, haben sie auf ihren Plakaten versprochen – eine AntiSchlagwort »liquid democracy« ist eine Mischung aus direkter und parteienpartei. indirekter Demokratie zu verstehen: Jeder wählt und delegiert © Katja Bauer: »Die digitale Elite will die Welt retten. Berlin nach der Wahl«, Stuttgarter selbst, was er für richtig hält, beteiligt sich, woran er will und wie Zeitung vom 20.11.2011 es ihm gefällt. Der Futurologe Alvin Toffler hatte dafür 1970 den Namen »Adhokratie« (von Lateinisch ad hoc) erfunden – als Gegenwelt zur statischen Welt der Bürokratie, zur hierarchisch geM 7 Jasper von Altenbockum: »Die Linux-Demokratie. ordneten Partizipation und zu jeglicher Form zentraler Planung. Nicht nur die Piratenpartei will aus einer Kathedrale (…) Nicht nur die Piratenpartei experimentiert mit solchen neuen einen Basar machen« Formen unmittelbarer Beteiligung. Sie hat den Versuch, der seit langem in den Volksparteien an Zuspruch gewinnt, auch NichtDer amerikanische Programmierer Eric Steven Raymond schrieb mitglieder an den Personal- und Sachentscheidungen der Partei 1997 mit seinem Essay »Die Kathedrale und der Basar« ein Maniteilhaben zu lassen, auf die Spitze getrieben. Jeder kann mitmafest der »freien Software«. Er entwarf eine Computerwelt, die nicht chen, wann er will und wie er will. Politik soll »freie Software« der von wenigen Konzernen, sondern von allen geschaffen werden Gesellschaft sein und nach dem Linux-Prinzip funktionieren. sollte, mit einer für alle Internetnutzer frei zugänglichen ProgramBesonders auf junge Leute hat das eine Anziehungskraft, die sich miersprache. Jeder sollte sich daran beteiligen können, niemand aus den Erfahrungen speist, die im Internet als einem »kollaboradas Monopol für eine Software haben. Doch Raymond ging es um tiven Projekt« gesammelt werden können. Es wird sich angesichts mehr. Freie Software (»Open Source«) war für ihn eine Weltander chaotischen Verfassung der Piratenpartei aber noch zeigen schauung. Seit ein paar Jahren ist sie in der Politik angekommen. müssen, ob auch das Parteiensystem eine Kathedrale oder ein Die alte Welt habe aus Kathedralen bestanden, schrieb Raymond, Basar ist. der selbst der Hackerszene entstammt. Die neue sei wie ein Ba© Jasper von Altenbockum: »Die Linux-Demokratie, FAZ 12.9.2011, S. 10

S o zi a l e Med ie n und d a s Pa r t i zipat i onspa r a d o x

D&E

Heft 65 · 2013

M 9 Barbara Zehnpfennig: »Strukturlose Öffentlichkeit. Warum mehr Transparenz per Internet zu weniger Demokratie führen kann« Seit sich das Prinzip der Öffentlichkeit als politische Forderung etablierte – also seit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft –, war es mit einem Paradox behaftet. Die Forderung, der politische Prozess solle sich öffentlich und damit für alle zugänglich vollziehen, war gegen die Geheimpolitik des Hofes gerichtet; was sich im Geheimen vollzog, war schon als solches verdächtig. Doch die Rechte, die das Bürgertum nun in Anspruch nahm, standen den eigenen Forderungen zum Teil entgegen: Das Recht auf Eigentum, das Recht auf geheime Wahl, die Religionsfreiheit und viele andere sind Rechte des Privatmanns, der über ihre Ausfüllung nicht unbedingt öffentlich Rechenschaft geben will. Was man der Politik verwehrte, nahm man für sich selbst also durchaus in Anspruch. Daran zeigte sich, dass Öffentlichkeit M 10 »Vor und nach Wikileaks …« © Klaus Stuttmann, 6.12.2010 kein absoluter Wert sein konnte. Heute hingegen wird oft behauptet, Öffentlichkeit sei bereits ein Wert an sich. Weil man durch das Internet eine nie gekannte Dimension des Öffentlichen erreicht hat, wird mit dieser neuen MöglichDesinformation, welche das Internet bietet, die Schwierigkeit, keit bürgerlicher Teilhabe eine Heilserwartung verbunden, die Brauchbares von Unbrauchbarem, Nützliches von Schädlichem zu näherer Überprüfung kaum standhält. Schon auf den ersten Blick sondern. (…) In der Politik sind die Entstehung und der Erfolg der wird erkennbar, dass sich das oben genannte Paradox auf neuer Piratenpartei Zeichen eines Einstellungswandels. Damit ist nicht Ebene wiederholt. Im Medium Internet, das sich ganz und gar der gemeint, dass eine Partei unter dem Namen einer VerbrecherPublizität verschrieben hat, ist ein erheblicher Teil der Nutzer angruppe firmiert und damit großen Anklang findet, was als solches onym unterwegs. Für das, was man öffentlich macht, will man natürlich auch ein interessantes Phänomen ist. öffentlich nicht einstehen. Dafür mag es gute Gründe geben, Gemeint ist der neue Politikstil, der mit der Piratenpartei Einzug wenn man in einer Diktatur lebt und die Inanspruchnahme von in die Demokratie hielt: von der Repräsentation zur Präsenz. MitFreiheitsrechten Gefahr für Leib und Leben nach sich zieht. In eitels des Präsenzmediums Internet halten die Politiker der Piratenner Demokratie hingegen sieht die Sache anders aus. Hier muss partei einen fortwährenden Kontakt mit ihren Wählern, der die man sich Freiheitsrechte nicht erkämpfen, hier sind sie verfasGrenzen zwischen Wählern und Gewählten verschwimmen lässt. sungsmäßig garantiert. Sie sind es deshalb, weil man im liberalen Das personale Prinzip, das in der repräsentativen Demokratie mit System davon ausgeht, dass die gewährleisteten Individualrechte gutem Grund die Wahl des Abgeordneten bestimmt, wird damit auch von Individuen wahrgenommen werden. An anonyme geradezu ausgehebelt: Der Abgeordnete ist das Sprachrohr seiSchwärme, wie sie sich im Internet bewegen, hatte man nicht unner – immer wieder wechselnden – Basis, jedenfalls derjenigen, bedingt gedacht. (…) die gerade online ist. Wer in dieser Partei als Person besonders in Wie demokratieverträglich ist das Internet überhaupt? Nicht nur Erscheinung tritt, bekommt den geballten Unmut der Nutzer zu die Anhänger der Piratenpartei sind der Ansicht, dass mit dem Inspüren. Hier soll es nicht um Personen, sondern um Verfahren geternet eine neue Ära demokratischer Teilhabe eingeleitet wurde. hen, was dazu führt, dass die Inhalte genauso fluktuieren wie die Informationen in unvorstellbarem Umfang sind allen und jederTeilnehmer an dem Verfahren. (…) zeit zugänglich, unüberschaubar viele Foren bieten die MöglichZweifellos bietet das Internet große Chancen der Horizonterweikeit zur Meinungsäußerung und Diskussion, organisierte Nutzer terung, des Gedankenaustauschs, ja sogar der Mitwirkung an der bilden eine Meinungsmacht, die das Handeln von Unternehmen, Überwindung autoritärer Regime. Doch ein per se demokratieinzelnen Politikern und ganzen Regierungen massiv beeinflussches Medium ist es nicht – wenn denn die Demokratie als Herrsen kann. Ist das nicht der Inbegriff des Demokratischen, die dischaft der Gleichen in besonderem Maße auf Unterscheidung und rekte Mitwirkung der Bürger auf allen denkbaren Ebenen? Und ist Struktur angewiesen ist. Nicht das Internet macht demokratisch, die Transparenz, die mit der Offenlegung selbst bisher völlig unsondern nur ein Umgang mit ihm, der nach qualitativ gesicherten zugänglicher Daten einhergeht, nicht ein Faktor, der ungemein Maßstäben verfährt. demokratisierend wirkt? Deshalb sollte demokratische Politik schon um der SelbsterhalSchon der letzt genannte Zusammenhang ist mehr als zweifeltung des Systems willen in der Bildung ihre entscheidende Aufhaft. Öffentlichmachen ist nicht identisch mit Transparenz. Denn gabe sehen. In der Demokratie sind die Bürger die maßgebliche transparent werden Daten nur dem, der sie versteht. Wer kann Ressource. Ihnen müssen per Bildung die Mittel an die Hand gekompetent beurteilen, was von Wikileaks veröffentlichtes gegeben werden, sich auch in einer immer unübersichtlicher werheimdienstliches Material tatsächlich bedeutet – außer den gedenden Welt, wie sie sich exemplarisch im Internet widerspiegelt, schulten Mitarbeitern der Geheimdienste? Wer weiß, was das von eigenständig Pfade durch das Dickicht zu schlagen. irgendjemandem ins Internet gestellte Bild zeigt, auf dem ein Das klassische Konzept der Öffentlichkeit setzte auf eine quasiKind zu sehen ist, das in Syrien zu Tode kam? Wurde es von der automatische Fortschrittsbewegung durch den öffentlichen Versyrischen Armee als menschlicher Schutzschild missbraucht, ist nunftgebrauch. Doch Vernunft ist nichts Gegebenes, sie ist etwas es das Opfer eines Angriffs der Aufständischen, starb es durch eiimmer wieder neu Hervorzubringendes. Und da die Vernunft nen Unfall? Mit Bildern und Daten kann man manipulieren, mit nicht in den Institutionen liegt, nicht in der Öffentlichkeit und einer Überfülle veröffentlichter Bilder und Daten kann man desinauch nicht in einem Medium wie dem Internet, bleibt nur eines: formieren. durch entsprechende Bildungsanstrengungen dafür zu sorgen, Öffentlichkeit als solche ist ambivalent. Ihr Wert liegt allein im dass es Menschen gibt, die Vernunft in das hineintragen, was in vernünftigen Gebrauch. (…) Im Internet findet nur der Orientiesich zunächst einmal ohne Vernunft ist. rung, der sie in gewissem Umfang bereits mitbringt. Für alle an© Barbara Zehnpfennig: Strukturlose Öffentlichkeit. Warum mehr Transparenz per Interderen vergrößert der gigantische Umfang an Information und net zu weniger Demokratie führen kann, FAZ, 21.1.2013, S. 7

D&E

Heft 65 · 2013

S o zi a l e Med ie n und d a s Pa r t i zipat i onspa r a d o x

53

BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

8. Wahlalter 16? »Nichts ist aktivierender als die Aktivität selbst« D&E-INTERVIEW MIT PROF. DR. KLAUS HURRELMANN ZUM »WAHLALTER MIT 16«

K

54

laus Hurrelmann ist seit 1979 Professor an der Universität Bielefeld. Seit seiner Emeritierung arbeitet er als Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. Er studierte Soziologie, Psychologie und Pädagogik an den Universitäten Freiburg, Berkeley (USA) und Münster und promovierte in der Sozialisationsforschung. 1975 habilitierte er mit der Arbeit »Erziehungssystem und Gesellschaft«. 2003 erhielt er von der Schweizer Egnér-Stiftung einen hoch dotierten Preis für herausragende wissenschaftliche Forschungsarbeiten. Seine wichtigsten Arbeitsgebiete sind die Sozialisations- und Bildungsforschung mit den Schwerpunkten Familie, Kindheit, Abb. 1 »Zeitreihe: Politisches Interesse Jugendlicher im Alter von 15 bis 24 Jahren«, Angaben in % Jugend und Schule sowie die Gesundheits© 16. Shellstudie, 2010, S. 131, TN Infratest Sozialforschung und Präventionsforschung. In diesen Gebieten hat er eine Vielzahl von Aufsätzen und Büchern publiziert und herausgegeben, zuletzt das Das ist für mich das Hauptargument und auch das Hauptmotiv zu »Handbuch der Sozialisationsforschung« und das »Handbuch überlegen, ob das Alter »18« heute noch angemessen ist. AußerGesundheitswissenschaften«. Zusammen mit seinen Lehrbüdem ist es ein Alter, das im historischen Rückblick schon mehrchern »Einführung in die Sozialisationstheorie«, »Gesundfach nach unten korrigiert wurde. heitssoziologie«, »Lebensphase Jugend«, »Einführung in die Kindheitsforschung«, »Kinder stark machen für das Leben«, »Prävention und Gesundheitsförderung«, »Geschlecht, Gesundheit und Krankheit« und »Gewalt an Schulen« haben sie zusammen eine Auflage von 150.000 Exemplaren weit überschritten. Klaus Hurrelmann leitete zudem die letzten »Shell Jugendstudien« und »World Vision Kinderstudien«. Das Interview mit ihm führte Jürgen Kalb, verantwortlicher Redakteur von »D&E«, am 20.2.2013.

»Man wird heute früher zu einem jungen Mann und zu einer jungen Frau.«

D&E: Herr Prof. Hurrelmann, Sie treten seit Jahren für die Herabsetzung des Wahlalters für Jugendliche auf 16 ein, auch mit dem Argument, die Lebenssituation der Jugendlichen habe sich verändert. Hat sich in den letzten Jahrzehnten denn tatsächlich die Lebenssituation der Jugendlichen gravierend verändert? Hurrelmann: Das ist so, weil sich nämlich die Entwicklung beschleunigt hat. Man kann das am anschaulichsten sehen am Datum der Pubertät, d. h. der Geschlechtsreife. Das wandert im Lebenslauf immer weiter nach vorne. Bei den Mädchen ist das heute im Durchschnitt etwa mit 11 ½ Jahren anzusetzen, bei den Jungen mit 12 ½ Jahren. Und da merkt man Unterschiede im historischen Vergleich. Das war um 1900 rund 2 ½, ja manche Untersuchungen sagen sogar 3 Jahre später. Und das war wahrscheinlich um 1800 noch einmal zwei oder drei Jahre später. Also da ist eine Beschleunigung der Entwicklung zu verzeichnen, die zunächst körperliche Dimensionen hat, aber sie bleibt ein komplexes Geschehen. Das bedeutet, es ist nicht nur eine körperliche Vorverlagerung, nicht nur die Geschlechtsreife, sondern wie immer schon ist sie verbunden mit einer Bewusstseinsveränderung, einer sozialen Einschätzungsveränderung, einer intellektuellen Entwicklung, die insgesamt bedeutet, man wird heute früher zu einem jungen Mann und zu einer jungen Frau. Und entsprechend dürfen wir das als das entscheidende Kriterium heranziehen, wenn wir dann überlegen, welche Kompetenzen wir Jugendlichen in dieser Altersspanne zusprechen können und welche Rechte sich daraus ableiten sollten.

D&E: Können Sie mit Ihren Studien belegen, dass sich Jugendliche von 16–17 Jahren ausgegrenzt fühlen, wenn sie noch nicht das aktive Wahlrecht besitzen? Hurrelmann: Das ist nach Ansicht der Jugendlichen selbst nicht der Fall. Wir machen seit 1996 regelmäßig Untersuchungen und Befragungen von Jugendlichen in dieser Altersgruppe, wie sie selbst zu dieser Entwicklung stehen. Und da zeigen z. B. die letzten Shell-Jugendstudien, dass die 12- bis 17-Jährigen selbst zurückhaltend sind. Da ist eine knappe Mehrheit sogar dagegen, dass sie so früh, wie sie meinen, in eine sehr anspruchsvolle politische Verantwortung gezogen werden. Wir fragen dann nach und dann stellt sich heraus, die haben wirklich ein unheimlich komplexes Bild davon, was es bedeutet, das Wahlrecht auszuüben. Sie glauben, sie müssten die Wahlprogramme der Parteien kennen, sie genau zu unterscheiden vermögen. Sie haben den Eindruck, sie müssten die Wahlmechanismen auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene genau kennen, dass sie wissen müssten, wie komplexe politische Prozesse funktionierten. Und das sei ihnen doch alles sehr, sehr fremd, ebenso wie die Parteien selbst, wie die Studien zeigen. Also ich denke, der Grund für die Zurückhaltung der Jugendlichen selbst liegt darin, dass sie sich dem politischen System gegenüber ziemlich entfremdet haben. Und das kann man nicht ihnen allein zuschreiben, sondern das liegt auch am politischen System. Sodass ich, obwohl ich ansonsten sehr auf die Stimmen der jungen Leute selbst höre, sonst bräuchten wir solche Untersuchun-

Wa hl a lt e r 16 ? » N i c h t s i s t a k t i v ie r e nd e r a l s d ie A k t i v i tät s e l b s t«

D&E

Heft 65 · 2013

gen nicht zu machen, in diesem Fall mit der Minderheit, also der etwa 30 % der Jugendlichen, dafür plädiere, dass sie dieses Wahlrecht ab 16 eingeräumt bekommen.

2002 Spalten in %

2006

2010

Unter 18

Ab 18

Unter 18

Ab 18

Unter 18

Ab 18

29

20

33

19

30

17

Wählen mit 16 Gute Idee

D&E: Bedeutet das, dass Sie die Herabsetzung des Keine gute Idee 34 54 37 63 45 65 Wahlalters als stärkere Motivation für die BereitIst mir egal 36 25 30 18 24 18 schaft der Jugendlichen betrachten, sich an der poKeine Angabe 1 1 – – 1 – litischen Meinungs- und Willensbildung zu beteiligen? Abb. 3 »Wählen mit 16?« Befragt wurden Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren, Angaben in % Hurrelmann: Ja, so dürfen wir das einschät© 16. Shellstudie, 2010, S. 146, TN Infratest Sozialforschung zen. Denn nichts ist natürlich aktivierender als die Aktivität selbst. Wir haben das zuletzt sehr anschaulich gesehen bei der Bremer Bürgerschaftswahl. Da und einen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments hat, war zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung ein dass dadurch auch ein richtiger Aktivitätsschub entsteht. ganz interessantes Programm angesetzt worden, nämlich dass in den Schulen über die sogenannte »Juniorwahl«, manchmal auch »U-18-Wahl« genannt, schon vom Grundschulalter an, in den weiterführenden Schulen dann ganz systematisch »Wahlkampf« gemacht wurde. Da kamen die Kandidatinnen und Kandidaten in die Schulen. Und man durfte wählen, auch wenn man noch nicht das Wahlrecht hatte. Und für die, die dann das erste Mal mit 16 an der Wahl teilnehmen durften in Bremen, gab es dann besondere, systematische, spannend aufgebaute Unterrichtseinheiten. Und da konnte man jetzt sehen, dass die Bedenken der Jugendlichen selbst, dass sie überfordert sein könnten durch das früher eingeD&E: Und trotzdem behaupten Kritiker dieser Wahlrechtsreform immer räumte Wahlrecht, plötzlich wie zerstoben waren. Da war die wieder, dass gerade Jugendliche in der heutigen Zeit ganz besonders durch Wahlbeteiligung der jungen Leute auch ungeheuer hoch. Und Medien und die Konsumgesellschaft geprägt, ja dadurch beeinflussbar, auch nach der Wahl, soweit man das aus den Untersuchungen in wenn nicht manipulierbar seien. Zu einer sachlichen politischen UrteilsbilBremen ablesen konnte, blieb das auf einem hohen Beteiligungsdung seien sie unter 18 Jahren kaum in der Lage. und Interessenniveau. Das ist also eine wirklich wichtige BotHurrelmann: In dieser Form ist das ein Vorurteil. Es ist zwar richschaft, dass durch das Beteiligen an einem Wahlvorgang und tig, dass die jungen Leute den etablierten Parteien gegenüber dann natürlich erst recht, wenn man ein förmliches Wahlrecht zurückhaltend sind. Einige Zeit sah es dann so aus, als mache die Partei der »Piraten« hier eine deutliche Ausnahme. Aber auch das schwächt sich schon 2002 2006 2010 wieder deutlich ab. Oft GeleOft GeleOft Gele%-Angaben (Erhebungsjahr/ Die jungen Leute kritisieren, dass sich die gentlich gentlich gentlich Zeile) etablierten Parteien einigeln, dass sie ihre Fehlende zu 100 = Nie Themen nicht transportieren, dass sie Ihnen Ich bin aktiv für so apparathaft erscheinen, als in sich geschlossene, funktionierende Systeme, die sie Eine sinnvolle Freizeitnicht von außen beeinflussen können. Sie gestaltung von Jugend13 35 13 31 15 33 lichen wünschen sich also vielmehr Transparenz und viel mehr direkte Einflussmöglichkeiten. Die Interessen von Jugend12 38 10 36 13 38 Man kann erkennen, dass gegenüber den lichen etablierten Parteien eine Skepsis besteht. Hilfebedürftige ältere Men8 35 8 34 10 37 Aber zugleich kann man erkennen, dass sich schen junge Leute spontan politisch so stark betätiDen Umwelt- oder Tier8 29 7 24 8 28 gen, wie sie das schon vor 20 Jahren getan schutz haben. Dies bedeutet z. B. an einer DemonstEin besseres Zusammenle8 25 6 22 8 25 ration teilnehmen, Unterschriftensammlunben mit Migranten gen machen, neuerdings auch immer stärker Ein besseres Zusammenleüber das Internet an Aktivitäten teilnehmen, 6 23 6 18 6 22 ben am Wohnort sich im sozialen Bereich engagieren. Das ist Sicherheit und Ordnung am auf einem hohen Niveau geblieben. Und 6 20 6 16 6 20 Wohnort wenn wir das beides zusammenrechnen, Behinderte Menschen 6 16 5 13 5 18 dann ist das abgesunkene Interesse an der, ich sage mal, »formalen Demokratie«, bei Sozial schwache Menschen 5 29 5 29 7 32 gleichgebliebenem Interesse an der lebendiMenschen in den armen 4 24 4 24 6 27 gen, alltäglichen Demokratie und Politik, Ländern dann ist der Einbruch nicht so stark. Und es Die Pflege der deutschen 4 17 3 15 6 17 stimmt insgesamt nicht, dass die jungen Kultur und Tradition Leute unpolitisch sind. Und es stimmt nicht, Soziale und politische 2 15 2 14 3 17 dass sie neben ihrer eindeutig genussvollen Veränderungen Umgangsform mit Medien und mit FreizeitSonstiges 5 25 7 24 7 25 aktivitäten – das gehört zu ihrem Lebensstil – nicht auch noch den Kopf frei haben für diesen politischen Bereich. Aber wie gesagt, Abb. 2 »Aktivitäten nach Bereichen«, Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren, Angaben in % schmal wird das Interesse im formalen politi© 16. Shellstudie, 2010, S. 153, TN Infratest Sozialforschung

»Die jungen Leute kritisieren, dass sich die etablierten Parteien einigeln.«

D&E

Heft 65 · 2013

Wa hl a lt e r 16 ? » N i c h t s i s t a k t i v ie r e nd e r a l s d ie A k t i v i tät s e l b s t«

55

D&E-INTERVIEW MIT PROF. DR. KLAUS HURRELMANN ZUM »WAHLALTER MIT 16«

56

stehen. Also z. B., wie sieht das Bildungssystem aus, wie gut sind die Schulen, wie sieht es mit guten Freizeitangeboten aus. Man kann auch hieraus erkennen, dass wir eine durchaus nicht unpolitische junge Generation haben. Aber sie fühlt sich insgesamt wohl, sie hat sich auch mit den demokratischen Strukturen eingerichtet. Man kann zwar kritisieren, dass sie diese nicht aktiv unterstützen mag, wie soeben besprochen, aber sie lebt mit ihnen, sie findet sie richtig und sie sieht keinen Grund zu einer politischen Auflehnung. Das muss man einfach so hinnehmen. Dies ist ja auch ein Kompliment an das politische Leben in der Bundesrepublik. D&E: Welche Rolle spielen denn die Elternhäuser bei der Herausbildung des politischen Interesses, aber auch bei der politischen Urteilsbildung Jugendlicher? Ist nicht die Gefahr gegeben, dass z. B. sogenannte bildungsferne Gruppen oder Gruppen mit Migrationshintergrund bei solchen Partizipationsansätzen kaum oder nur am Rande angesprochen werden? Hurrelmann: Ja, das ist der Fall. Der Bildungsgrad der Eltern und auch der Bildungsgrad der Jugendlichen selbst entscheidet ganz stark darüber, ob man sich und wie stark man sich für Politik interessiert. Je höher der Bildungsgrad, desto höher das Interesse, sich stärker politisch zu beteiligen. Da ist ein ganz deutlicher Zusammenhang zu verzeichnen. Und das zeigt uns eben auch, dass heute die politische Beteiligung an bestimmte Kompetenzen gebunden ist. Das ist in einem komplexer gewordenen politischen Abb. 4 »Wie und wo man (oft oder gelegentlich) gesellschaftlich aktiv ist, Jugendliche von 12–25 JahSystem mit komplizierten Themen, internatiren, Angaben in % © 16. Shellstudie, 2010, S. 156, TN Infratest Sozialforschung onalen Verflechtungen, in dem man merkt, dass auch manche Spitzenpolitiker die Überschen Sektor. Und wer da immer nur auf die jungen Leute schaut sicht nicht behalten können, auch nicht verwunderlich. Und dies und sagt, die hätten kein politisches Interesse, der macht den ist natürlich auch bei jungen Leuten der Fall. Das könnte mit ein Fehler zu übersehen, dass das ja beiderseitig ist, dass die Parteien Grund dafür sein, dass zurückhaltend gegenüber der organisierihrerseits sehr wenig Themen und Stil finden, um junge Leute anten Politik agiert wird. Wir müssen das, glaube ich, sehr ernst zusprechen. Und insofern, denke ich, müssen wir hier aufpassen, nehmen. das ist ein grundsätzliches politisches Thema. Das heißt dann aber auch im Umkehrschluss, je mehr wir in Bildung investieren, desto höher wird die Chance, dass wir politisch D&E: Welche jugendaffine Themen ergeben denn Ihre Untersuchungen, sensible und engagierte junge Leute haben werden. die Jugendliche von sich aus, und nicht nur durch Politiker bedient, bevorzugen? Hurrelmann: Das ist natürlich sehr interessant. Hier liegen seit vielen Jahren ganz klare Untersuchungsergebnisse vor. Die jungen Leute interessieren sich für die großen Fragen. In den letzten 10 Jahren standen deutlich wirtschaftliche Themen und berufliche Perspektiven im Vordergrund. Es geht ihnen um eine sichere Zukunft. Wenn sie die freie Wahl hätten, würden sie sich wünschen, wenigstens die Garantie zu haben, eine abgeschlossene Ausbildung zu bekommen und vielleicht auch für eine bestimmte Zeit den ersten Schritt in einem Beruf machen zu können. Es stehen bei ihnen dann an zweiter Stelle – das war bis vor zehn Jahren an erster Stelle und es bewegt sich auch wieder in diese D&E: Können Sie daraus Forderungen an schulische Bildung ableiten? Richtung – Umwelthemen, eine sichere, klimatisch intakte Welt, Wie müsste Schule aussehen, damit z. B. die oben beschriebenen Differensaubere Bedingungen für Essen und Trinken. Der Wunsch nach zen aus den Elternhäusern ausgeglichen werden? internationaler Abstimmungen spielt zudem eine große Rolle. Hurrelmann: Es wäre ganz wichtig, dass in der Schule die Themen Und das dritte große Thema sind internationale Konflikte, sind aufgenommen werden, die die jungen Leute beschäftigen. Ich internationale Spannungen, also die Sicherung des Friedens. Das halte es nicht für begründbar, dass heute, in Zeiten nicht nur einer sind die drei großen Themenkomplexe, die junge Leute beschäftiBerufskrise, die, wie es aussieht, ja langsam in Deutschland abgen und danach kommen die etwas kleineren, alltäglicheren Proklingt, sondern auch in Zeiten einer weltweiten Wirtschafts- und bleme, von denen man denkt, diese würde ganz im Vordergrund Finanzkrise, die immer noch nicht bewältigt ist, dass diese the-

»Es wäre ganz wichtig,

dass in der Schule Themen aufgenommen werden, die die jungen Leute beschäftigen.

«

Wa hl a lt e r 16 ? » N i c h t s i s t a k t i v ie r e nd e r a l s d ie A k t i v i tät s e l b s t«

D&E

Heft 65 · 2013

matischen Felder in der Schule eine untergeordnete, wenn nicht manchmal sogar gar keine Rolle spielen. Es ist unverständlich, dass ein Fach Wirtschaft, wie auch immer zugeschnitten, nur an wenigen Schulen angeboten wird. Im Fach Politik, im Fach Sozialoder Gemeinschaftskunde, wird häufig diese Thematik zwar hin und da, aber selten systematisch bearbeitet. D&E: Die 16 Bundesländer in der Bundesrepublik setzen mit der politischen und ökonomischen Bildung oft recht unterschiedlich ein. Was würden Sie denn den Bildungsplanreformern raten? An wann sollte die politische Bildung beginnen? Hurrelmann: Es ist auf alle Fälle nicht klug, spät zu beginnen. Denn, auch das zeigen Kinder- und Jugendstudien, das politische Interesse in einer intuitiven und auf das soziale Umfeld bezogenen Weise – nicht gleich als Parteipolitik – das beginnt sehr früh, es beginnt bereits im Grundschulalter. Und entsprechend sollte schon in der Grundschule – und dann aber sofort auf den weiterführenden Schulen in einer systematischen pädagogischen Art und Weise politischer Unterricht in den Schulen charakteristisch sein. Es sollte aber nicht nur der politische Unterricht wichtig sein, der die Themen aufnimmt, die die jungen Leute interessiert, wie z. B. das Umweltthema, die internationalen Spannungen, Medien spielen eine wichtige Rolle. Es ist das gesamte Unterrichtsgeschehen, es ist das gesamte Schulleben, das von den Schülerinnen und Schülern als gestaltbar, beeinflussbar, aber auch in ihrer Verantwortung liegend wahrgenommen werden muss. Hier haben inzwischen viele Schulen tolle Ansätze gemacht. Das sollten wir verbreitern, damit die Schule selbst quasi als ein Feld für die Alltagsgestaltung erlebt wird, um den Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit zu bieten, gezielt mit sozialer Verantwortung, Teilhabe an den sozialen Regeln, an den Umgangsformen, an den Stilen, dann aber auch an der Unterrichtsorganisation und an bestimmten Unterrichtsabfolgen und dergleichen mitzuwirken. D&E: Wenn wir die Situation der politischen Bildung in Deutschland mit der Situation in anderen europäischen oder außereuropäischen Ländern vergleichen, wo steht Deutschland in diesem Bereich? Hurrelmann: Insgesamt recht gut. Also wir können uns im internationalen Vergleich sehen lassen. Wenn die oben angesprochen Punkte systematischer in den politischen, aber, wie gesagt, auch in den gesamten Unterricht und das Schulleben einbezogen werden, dann würden wir noch besser dastehen. Es gibt inzwischen, etwa nach dem Pisa-Modell, auch international vergleichende Studien, die versuchen herauszuarbeiten, wie in Europa oder den hoch entwickelten Ländern die politischen Kompetenzen und Fähigkeiten der jungen Leute beschaffen sind. Und da sieht man, Deutschland steht nicht schlecht da, wir müssten aber als ein ökonomisch so hoch entwickeltes Land da noch ein paar Stufen klettern können. D&E: Zurück zu unserer Ausgangsfrage. Welche Impulse erhoffen Sie sich aus der beabsichtigten Herabsetzung des aktiven Wahlrechts auf 16 Jahre in diesem Prozess. Hurrelmann: Abschließend könnte man sagen, eine Herabsetzung des Wahlalters kann dadurch begründet werden, dass man sieht, man kann im Alter von 16 Jahren heute einschätzen, was es bedeutet, eine Stimme abzugeben. Man hat in diesem Alter die intellektuelle, aber auch die soziale Urteilsfähigkeit. Das halte ich für das entscheidende Argument. Da bedeutet nicht etwa die allgemeine Reife, wie oft gesagt wird. Die wird ja auch bei anderen Menschen, die vielleicht psychische Probleme haben, nicht einge-

D&E

Heft 65 · 2013

Abb. 5 »Juniorwahl.de«. Die bundesweite Initiative Juniorwahl ist eine Initiative des Kumulus e. V. – Der Kumulus e. V. ist ein gemeinnütziger und überparteilicher eingetragener Verein. Seit 1999 führt er in Zusammenarbeit mit zumeist Kultusministerien simulative Wahlen parallel zu offiziellen Wahlen an Schulen für Schülerinnen und Schüler unter 18 Jahren durch. Bei der Bundestagswahl 2009 beteiligten sich insgesamt 1.043 Schulen und 246.616 Schülerinnen und Schüler, womit die Juniorwahl zu den größten Schulprojekten in Deutschland zählt. Im Jahr 2013 parallel zur Bundestagswahl sollen es bundesweit 5.000 Schulen und damit 25 Prozent aller weiterführenden Schulen in Deutschland werden. © www.Juniorwahl.de

fordert. In einer Demokratie entscheidet das Volk. Und jede Gruppe der Bevölkerung, die wir ausgrenzen, gehört dann nicht dazu. Dies muss sehr sorgfältig begründet und immer wieder neu überprüft werden. Und das spricht eben dafür, dass wir überprüfen, wenn sich junge Leute verändern in ihrem Verhalten und in ihrer ganzen Entwicklung, wie es nun mit dem Mindestwahlalter ist.

Literaturhinweise Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun (2012, 11. Auflage): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Beltz Juventa. Weinheim, München Shell Deutschland Holding (Hrsg.)(2010): Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich. Konzeption & Koordination: Albert, Mathias/ Hurrelmann, Klaus, u. a. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt/Main. Für 2016 plant die IEA (International Association for the Assessment of Educational Achievement) eine internationale Studie zu politischen Einstellungen und Kompetenzen bei Jugendlichen (ICCS 2016). Erste Informationen dazu unter: www.iea.nl/fileadmin/user_upload/Studies/ICCS_2016_ Brochure.pdf

Wa hl a lt e r 16 ? » N i c h t s i s t a k t i v ie r e nd e r a l s d ie A k t i v i tät s e l b s t«

57

BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

9. »Wahlalter 16« – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit? D&E-INTERVIEW MIT DR. JAN KERCHER, UNIVERSITÄT STUTTGART-HOHENHEIM

B

58

ei den Kommunalwahlen 2014 sollen in BadenErgebnisse: Politisches Interesse (0–10) Württemberg erstmals 16- und 17-Jährige 10 wählen können. Die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg hat nach Auskunft des MinisUnter 18 terpräsidenten Kretschmann (Grüne) am 6.11.2012 18 und älter eine Senkung des Mindestwahlalters bei Kommunalwahlen von 18 auf 16 Jahre beschlossen. Laut Innenminister Reinhold Gall (SPD) können nach In5,9 5,6 krafttreten der Gesetzesänderungen in zwei 5,2 5,1 Jahren 212.000 Jugendliche erstmals über die Be5,5 setzung von Gemeinderäten oder Kreistagen ab8,8 stimmen. Kretschmann sagte, durch die Senkung des Wahlalters bekämen Jugendliche künftig mehr Einfluss auf die Gestaltung ihres unmittelbaren n.s.** n.s.** n.s.** Lebensumfeldes. Die Grünen und die SPD setzen damit eines ihrer Wahlziele um, wie zuvor schon in N = 134 N = 134 N = 134 sechs anderen Bundesländern. In Bremen konnte 0 die Ökopartei vor zwei Jahren eine entsprechende Persönl. Bedeutung Informationsorientierte Gespräche Wahlrechtsreform sogar für die Wahl zur Bürgervon Politik Mediennutzung über Politik schaft durchsetzen. Am 22. Mai 2011 durften deshalb in Bremen zum ersten Mal auch 16- und 17-JähAbb. 1 Politikverständnis und Wahlalter, Studie Jan Kercher. rige an einer Wahl auf Landesebene teilnehmen. Interesse = Durchschnittliche Selbsteinstufung der Teilnehmer auf einer Skala von 0 bis 10 Eine Senkung des Wahlalters auf Bundesebene, die (Wichtigkeit von Politik für das eigene Leben, Häufigkeit der Mediennutzung als politische ebenfalls von den Grünen beantragt worden war, Informationsquelle, Häufigkeit von Gesprächen über Politik). scheiterte dagegen schon zweimal an der Mehr** sig. = Gruppenunterschiede sind statistisch signifikant, n. s. = nicht signifikant heit des Bundestages, zuletzt am 2. Juli 2009. Jür© Jan Kercher: Politikverständnis und Wahlalter gen Kalb, Chefredakteur von D&E, befragte dazu im Januar 2013 den Kommunikationswissenschaftler Dr. Jan Kercher von der Universität Stuttgart-Hohenheim, ler. Für mich ergibt sich als Fazit aus diesen Befunden, dass man der sich bereits mit dem Thema in verschiedenen wisseneiner Wahlaltersenkung eine entsprechende Änderung der Bilschaftlichen Studien beschäftigt hat. dungspläne voranstellen sollte. Damit diejenigen Jugendlichen, die es betrifft, dann auch schon in den Genuss einer entsprechenD&E: In Baden-Württemberg hat die grün-rote Landesregierung die Heden schulischen Vorbereitung gekommen sind, wenn sie ihr Wahlrabsetzung des aktiven Wahlalters für die Kommunalwahl 2014 auf 16 recht erlangen. Leider habe ich den Eindruck, dass diesem VorbeJahren in Gang gebracht. In Österreich gilt diese Regelung auch bei Natireitungsaspekt von der Politik häufig zu wenig Aufmerksamkeit onalratswahlen seit 2008. Andere Bundesländer in Deutschland wie z. B. geschenkt wird, vermutlich auch, weil er mit sehr viel mehr AufBremen, NRW, Niedersachsen, Schleswig-Holstein oder Rheinland- Pfalz wand verbunden ist als eine einfache Gesetzesänderung zum kennen diese Regelung ebenfalls. Sehen Sie persönlich darin eine MöglichWahlalter. Das führt dann zu einem Ergebnis wie in Österreich, wo keit, junge Menschen näher an das parlamentarische System heranzufühder SPÖ-Politiker Walter Steidl nach der Wahl zugab, dass man ren? die Vorbereitung der Jugendlichen verschlafen habe. Wenn man in Jan Kercher: Potenziell ja. Allerdings Deutschland aus diesen Fehlern lernt sollte man bei der Einführung solcher und die Jugendlichen umfassend vorRegelungen sehr bedacht und keinesbereitet, dann sehe ich eine Wahlfalls überstürzt vorgehen. Sonst fühaltersenkung allerdings durchaus als len sich viele Jugendliche überfordert Chance an, jugendliche Menschen an von der neuen Verantwortung. Das politische Themen heranzuführen. war zum Beispiel in Österreich so. Denn wenn einem durch die Schule In einer Studie, die anlässlich der vermittelt wird, wie wichtig politische Wahlaltersenkung dort durchgeführt Teilhabe ist und man dann auch noch wurde, stellte sich heraus, dass die Juwährend seiner Schulzeit das Wahlgendlichen von der Schule erwarten, auf ihr Wahlrecht vorbereirecht erlangt, dann ist das bestimmt eine gute Grundlage für eine tet zu werden. Denn die Schule wurde von den befragten Jugendpositiv geprägte politische Sozialisation. lichen als ein Ort für eine sachliche Informationsvermittlung wahrgenommen. Gleichzeitig stellte sich jedoch heraus, dass die D&E: Sie haben das Politikverständnis, d. h. das politische Interesse, das Jugendlichen nicht zufrieden waren mit der schulischen Vorbereipolitische Wissen sowie die Fähigkeit junger Menschen, politische Zusamtung auf ihre erste Wahlteilnahme, weil das Thema zu wenig oder menhänge in Politikerreden zu erfassen, bei unter 18- sowie über 18-jährizu spät im Unterricht behandelt wurde. Es zeigte sich auch, dass gen empirisch untersucht und analysiert. Was ist denn eine »Experimendamit eine wichtige Chance vertan wurde, denn Schülerinnen und talanalyse« eigentlich genau und warum haben Sie diese durchgeführt? Schüler, die im Unterricht über die Wahl diskutiert hatten, gingen Jan Kercher: Eine Experimentaluntersuchung ist eine Untersusignifikant häufiger zur Wahl als andere Schülerinnen und Schüchung, bei der die Versuchsbedingungen gezielt manipuliert oder

»Schüler erwarten von der Schule, auf ihr Wahlrecht vorbereitet zu werden.«

»Wa hl a lt er 16 « – eine Ch a n ce z ur Über w ind un g d er P o l i t ik v er d r o s s e nhei t ?

D&E

Heft 65 · 2013

kontrolliert werden, um ihren Einfluss besser 2,7 untersuchen zu können als in einer natürli2,9 8,4 10,7 14,7 chen Situation, bei der immer sehr viele Stör17,7 faktoren vorhanden sind. Wenn sich Men35,5 schen z. B. zu Hause eine politische Talk-Show anschauen, dann sind sie vielleicht abge47,7 lenkt, weil nebenher jemand redet. Wenn bis 25% man ihnen dann Verständnisfragen zur Talk62,1 25%–50% show stellen würde, dann würden sie vermut67,2 50%–75% lich ziemlich schlecht abschneiden. Das muss 77,8 über 75% aber nicht daran gelegen haben, dass sie die Politiker wirklich nicht verstehen konnten, 61,5 1.714 Befragte sondern vielleicht einfach nur daran, dass sie abgelenkt wurden. Deshalb kontrolliert man 42,9 die Versuchsbedingungen in einem Experi26,1 ment und sorgt zum Beispiel dafür, dass sol16,9 che Ablenkungsfaktoren nicht vorhanden sind. Wenn dann immer noch Verständnis14 Jahre 15 Jahre 16 Jahre 17 Jahre 18 Jahre probleme auftreten, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass diese wirklich dadurch zu Abb. 2 Politisches Wissen von Jugendlichen, Rheinland-Pfalz 2005 erklären sind, dass sich die Politiker nicht © Jens Tenscher/Philipp Scherer (2012): Jugend, Politik und Medien. verständlich genug ausdrücken. Oder daPolitische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen durch, dass die Zuschauer zu wenig Vorwisin Rheinland-Pfalz. Münster, S. 86 sen haben, das kommt auf den Standpunkt an. Das ist im Übrigen ein grundlegendes Problem beim Thema Politik und Verständlichkeit: Wem gibt man bei der Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gezielt undie Schuld, wenn man auf Verständnisprobleme trifft? Den Bürterschiedliche Bildungsgrade und Altersstufen abgedeckt haben. gern, die zu wenig Vorwissen haben oder den Politikern, die sich Zum einen haben wir 16- und 17-jährige Neuntklässler auf der nicht verständlich genug ausdrücken? Die Bürger selbst neigen Hauptschule und im Gymnasium befragt. Und zum anderen 18natürlich dazu, den Politikern die Schuld zu geben, während diese bis 21-jährige Berufsschüler und Studienanfänger. häufig das Gefühl haben, sich gar nicht anders ausdrücken zu Betrachtet man unsere Ergebnisse, so stellt sich heraus, dass das können, ohne das Thema zu stark zu vereinfachen. Das nennt Alter tatsächlich einen deutlichen Einfluss auf das Abschneiden man übrigens den »Fluch des Wissens«. Wenn man sehr viel über der Befragten bei den Wissens- und Verständnisfragen hatte. Und ein Thema gelernt hat und dieses Wissen auch schon eine ganze zwar unabhängig vom Bildungsgrad. Sowohl die volljährigen BeWeile besitzt, dann wird es immer schwieriger, sich noch in anrufsschüler als auch die Studienanfänger schnitten sehr viel besdere Leute hinein zu versetzen, die nicht dasselbe Vorwissen haser ab als die Neuntklässler in der Hauptschule und auf dem Gymben. In der Sprache führt das dann dazu, dass schwierige Wörter nasium. Das ist unserer Interpretation nach eine Folge der nicht mehr als solche wahrgenombisherigen Bildungspläne in Badenmen werden. Das ist aber ein ganz Württemberg, die den Großteil der natürlicher Prozess und passiert politischen Bildung erst in den hönicht nur Politikern, sondern zum heren Schulstufen vorsehen und Beispiel auch Wissenschaftlern nicht schon vor Erreichen des 16. oder sonstigen Experten. BesonLebensjahres. Mit anderen Worten: ders problematisch ist das dann, Sie sind offensichtlich ausgerichtet wenn man nicht direkt mit den eiauf ein Wahlrecht ab 18, das ja bisgentlichen Adressaten der eigenen lang in Baden-Württemberg auch Botschaften konfrontiert ist, wie so gilt. Interessant war für uns aber eben in einer Talkshow. Da richten sich die Teilnehmer ja eigentauch, dass es beim politischen Interesse zwischen den älteren lich an die Fernsehzuschauer, nicht an die anderen Gäste. Aber und den jüngeren Befragten kaum Unterschiede gab. Die Jüngevon den Fernsehzuschauern kann ja niemand nachfragen, wenn ren interessierten sich also fast genauso stark für Politik wie die er oder sie etwas nicht versteht. Allerdings: Das trauen sich viele Älteren. Das bedeutet, dass sich die 16- und 17-Jährigen durchaus auch dann nicht, wenn der Politiker oder die Politikerin direkt vor für Politik interessieren, aber bislang offensichtlich deutlich wenieinem steht. Man will dann eben lieber nicht zugeben, dass einem ger von Politik verstehen als volljährige Schüler und Studienanviele Begriffe nicht geläufig sind und ärgert sich doch gleichzeitig fänger. über den abgehobenen Sprachstil des Politikers. D&E: Können Sie aus den Ergebnissen Ihrer Studie auch Konsequenzen D&E: Wie sah Ihre Untersuchung denn genau aus und zu welchen Ergebfür die politische Bildung junger Menschen sowie für die Bildungspläne nissen sind Sie darin gekommen? der Schulen ableiten? Jan Kercher: Wir haben 134 junge Stuttgarterinnen und StuttgarJan Kercher: Ja. An unseren Ergebnissen lässt sich ja recht deutter im Alter von 16 bis 21 Jahren befragt und sie mit kurzen Politilich der Effekt der bisherigen Bildungspläne in Baden-Württemker-Reden konfrontiert. Das waren etwa fünfminütige Video-Podberg ablesen. Da liegt die Vermutung sehr nahe, dass ein Vorziecasts von Angela Merkel, Kurt Beck, Guido Westerwelle und hen der politischen Bildung in den Schulen – und zwar in allen Oskar Lafontaine. Vor dem Anschauen der Videos haben wir das weiterführenden Schulen – dazu führen würde, dass sich die Alpolitische Interesse und Wissen der Teilnehmerinnen und Teilnehtersunterschiede, die wir in unserer Studie feststellen konnten, mer erfasst. Und nach dem Anschauen jedes Videos haben wir sie deutlich verringern würden. Auf diese Weise könnte man eine dann gefragt, wie verständlich sie die Podcasts subjektiv fanden Überforderung vieler Jugendlicher, wie man sie in Österreich beund ihnen auch noch Verständnisfragen zu den Inhalten der Viobachten konnte, vermutlich vermeiden. Ich finde, dass man das deos gestellt. Dabei haben wir auch erfasst, wie sicher sich die Ganze recht gut mit der Diskussion über die Einführung des Euro Befragten bei ihren Antworten waren. Entscheidend war, dass wir vergleichen kann. Damals gab es zwei Lager, die Anhänger der so-

»Einer Wahlaltersenkung sollte man eine Änderung der Bildungspläne voranstellen.«

D&E

Heft 65 · 2013

»Wa hl a lt er 16 « – eine Ch a n ce z ur Über w ind un g d er P o l i t ik v er d r o s s e nhei t ?

59

D&E-INTERVIEW MIT DR. JAN KERCHER, UNIVERSITÄT STUTTGART-HOHENHEIM

60

passive Wahlalter. Aktuell beobachten wir eine ähnliche Entwicklung hin zum Wahlalter 24 23 17 ab 16. Allerdings hat sich bislang kein ähnlich 29,3 prominenter und einflussreicher Bundespoli24 tiker wie damals Willy Brandt für solch eine 23 17 Wahlaltersenkung ausgesprochen. Und deshalb dauert das Ganze deutlich länger als daSPÖ 11 mals. Außerdem betrifft die Diskussion bis26 ÖVP 17 15 lang auch kaum die Bundesebene, sondern Grüne 21 vor allem die Landes- und Kommunalebene. FPÖ 12 Die Grünen haben zwar auch schon entspre10,4 21 BZÖ chende Gesetzesentwürfe in den Bundestag 6 10 Sonstige 5 17,5 eingebracht, aber die sind bislang sehr klar 1 3 keine Angabe gescheitert, weil sie von fast allen anderen Parteien abgelehnt wurden. Was mich wun24 23 23 10,7 dert, ist, dass bislang – anders als zur Zeit 6,1 von Willy Brandt – kaum über eine Senkung 16-jährige 17-jährige 18-jährige Wahlergebnis des passiven Wahlalters gesprochen wird. Befragte Befragte Befragte Das bedeutet, dass jemand mit 16 Jahren zwar in der Lage sein soll, eine Partei zu wähAbb. 3 Nationalratswahl in Österreich: Wahlverhalten nach Alter len, aber noch nicht in der Lage sein soll, als © Sora-Studie »Wählen mit 16« – Eine Post Election Study zur Nationalratswahl 2008 Kandidat für eine Partei anzutreten. Das kann man ja durchaus so richtig finden. Nur sollte man das dann auch entsprechend diskutieren und begründen. Und das kommt mir genannten »Lokomotiv-Theorie« und die Anhänger der »Kronenin der aktuellen Diskussion zu kurz. Theorie«. Die Anhänger der Lokomotiv-Theorie, die sich letztlich Aber um noch einmal auf Ihre Frage zurückzukommen: Juniorauch durchgesetzt haben, argumentierten, dass der Euro die fiwahlen sind natürlich eine sehr gute Möglichkeit der Vorbereinanzpolitische Integration Europas unterstützen und beschleunitung auf das »echte« Wahlrecht. Aber sie werden natürlich immer gen würde und deshalb ein wichtiger erster Schritt hierfür sei. eine Simulation sein und haben letztlich keinen Einfluss auf die Dem hielten die Anhänger der Kronen-Theorie entgegen, dass es Zusammensetzung der Parlamente. Bestimmt kann man auch auf unverantwortlich sei, eine gemeinsame Währung einzuführen, diese Weise Jugendliche für Politik begeistern. Aber das zentrale bevor die Finanzpolitik der Europäischen Union nicht stärker verArgument der Befürworter einer Wahlaltersenkung lautet ja geeinheitlicht sei. Blickt man heute zurück und betrachtet die rade, dass nur ein echtes Wahlrecht eine Verantwortung mit sich Schulden-Krise, mit der wir es gerade zu tun haben, dann wirkt es, bringt, die dann auch zu einer größeren Relevanz der Politik im als hätten die Anhänger der Kronen-Theorie vielleicht doch Recht Alltag der Jugendlichen führt. Deshalb würde ich Juniorwahlen gehabt. Und aus meiner Sicht gibt und Wahlaltersenkung nicht als Ales viele gute Gründe, auch bei der ternativen sehen, sondern eher als Wahlaltersenkung eine Kronenzwei Ansätze, die sich gegenseitig Strategie zu wählen. Das heißt: Erst gut ergänzen können: Denn Juniordie Änderung der Bildungspläne, wahlen könnten ja gerade für 14dann die Wahlaltersenkung. Nicht und 15-Jährige eine gute Vorbereiandersherum. tung auf ein Wahlrecht ab 16 sein.

»Eine Wahlaltersenkung

bietet die Chance, jugendliche Menschen an politische Themen heranzuführen.

D&E: Seit einigen Jahren organisiert der Berliner Verein »Kumulus e. V.«, zum Teil mit großer Unterstützung der jeweiligen Kultusbürokratie vor zentralen Europa-, Bundestags- oder Landtagswahlen mit der »Juniorwahl« Wahlsimulationen vor dem tatsächlichen Wahlgang. Reichen solche oder andere Initiativen nicht völlig aus, muss es gleich die Herabsenkung des Wahlalters auf 16, oder wie der Bundes- sowie zahlreiche Landesjugendringe fordern, gar auf 14 Jahre sein? Jan Kercher: Das ist letztlich eine Frage, die die Politik entscheiden muss, nicht die Wissenschaft. Wir als Wissenschaftler können nur darauf hinweisen, dass es aktuell deutliche Wissens- und Verständnisunterschiede zwischen heutigen Erstwählern und potenziellen zukünftigen Erstwählern gibt. Gleichzeitig aber kaum Unterschiede beim politischen Interesse. Ich persönlich bin der Meinung, dass jedes Wahlalter letztlich willkürlich ist. Ob nun 18 Jahre, 16 Jahre, 14 Jahre, 12 Jahre oder vielleicht sogar 0 Jahre, wie es die Grüne Jugend fordert: Niemand kann sagen, was »objektiv« das richtige Wahlalter ist. Das muss man gesellschaftlich diskutieren und dann so festlegen, wie es die Mehrheit nach dem Austausch aller relevanten Argumente für sinnvoll hält. Früher lag das Wahlalter ja mal bei 21 Jahren. Dann kam Willy Brandt und überzeugte die Deutschen, dass es sinnvoll sei, »mehr Demokratie zu wagen«. Daraufhin wurde das Wahlalter auf 18 Jahre gesenkt, erst das aktive Wahlalter und dann auch das

«

D&E: In Rheinland-Pfalz gab es detaillierte Schülerbefragungen zum Thema Wahlalter mit 16, die in dem Band »Jugend, Politik und Medien« von Jens Tenscher und Philipp Scherer 2012 veröffentlicht wurden. Was sind Ihrer Meinung nach die zentralen Befunde der Befragung und was ziehen Sie daraus für Schlüsse? Jan Kercher: Die Befragungen bestätigten zunächst einmal einen Befund, den wir schon bei vielen anderen Wahl-Umfragen mit Jugendlichen oder Juniorwahlen beobachten konnten: Jugendliche tendieren häufiger zu den Grünen und leider auch häufiger zu rechtsradikalen Parteien als ältere Wählerinnen und Wähler. So lag der Anteil derjenigen, die eine Wahlpräferenz für DVU, Republikaner oder NPD äußerten, bei den 14- bis 18-jährigen Befragten bei insgesamt 5,3 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2005, die etwa zeitgleich stattfand, lag der Anteil dieser drei Parteien zusammengenommen jedoch nur bei 2,4 Prozent. Also weniger als halb so hoch. Was sich ebenfalls bestätigte, waren die großen Wissensunterschiede zwischen den verschiedenen Altersgruppen. So stieg das politische Wissen in den Befragungen von Jens Tenscher und Philipp Scherer zwischen 14 und 18 Jahren jedes Jahr deutlich an. Der größte Sprung beim Wissen lag jedoch zwischen dem 15. und dem 16. Lebensjahr. Das könnte man aus Sicht der Befürworter einer Wahlaltersenkung als Zeichen dafür interpretieren, dass 16 mög-

»Wa hl a lt er 16 « – eine Ch a n ce z ur Über w ind un g d er P o l i t ik v er d r o s s e nhei t ?

D&E

Heft 65 · 2013

licherweise wirklich ein sinnvolles Wahlalter darErgebnisse: Politisches Interesse (in %) stellt. Allerdings bräuchte man hierfür möglichst 100% noch weitere Befunde, die zu ähnlichen Erkenntnissen kommen. Denn wie ich bereits gesagt habe, Unter 18 hängt die Entwicklung des politischen Wissens ja vor 76,1 18 und älter allem auch mit den jeweiligen Bildungsplänen zusammen. Und diese sahen in Rheinland-Pfalz, wo die Befragung von Tenscher und Scherer durchgeführt 56,4 wurde, natürlich etwas anders aus als in BadenWürttemberg, wo wir unsere Untersuchung durchge41,1 führt haben. Hätte man vergleichbare Studien aus 36,2 34,9 mehreren Bundesländern, könnte man auf deren Ba30,3 sis auch besser beurteilen, welche Form von politischer Bildung zu welchem Ergebnis führt. Leider ist sig.** sig.** sig.** dies aber bislang nicht der Fall, was für mich auch wieder zeigt, dass dem Bildungs- und VorbereitungsN = 134 N = 80 N = 56 aspekt bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt 0% wird. Alle Gymn./Studienanf. Haupts./Berufs. Die dritte wichtige Erkenntnis aus der »Jugend, PoliObjektives Wissen = Anteil der im Wissenstest erzielten Punkte an allen Punkten (0–16 mögliche tik und Medien«-Studie ist, dass es nur bei den 14-jähPunkte), unter Berücksichtigung einer Ratekorrektur. rigen Befragten eine Mehrheit für ein Wahlrecht ab ** sig. = Gruppenunterschiede sind statistische signifikant, n.s. = nicht signifikant 16 gab. Und die fiel auch noch sehr knapp aus: 38,2 Prozent waren für ein Wahlrecht ab 16 und 37,6 ProAbb. 4 Politikverständnis und Wahlalter, Experimentaluntersuchung zent waren für ein Wahlrecht ab 18 – also die Beibe© Jan Kercher, Universität Hohenheim, 2012 haltung des jetzigen Zustands. In allen anderen Altersgruppen, also zwischen 15 und 18 Jahren, gab es eine Mehrheit für das Wahlrecht ab 18 – erstaunlicherweise Grünen hätte eine Wahlaltersenkung wohl auch tatsächlich posialso auch bei den 16- und 17-Jährigen, die ja von der Wahlaltersentive Auswirkungen für die Wahlergebnisse. Denn die Grünen erkung direkt betroffen wären. Bei den 16-Jährigen sprachen sich zielen bei Umfragen unter 16- bis 17-Jährigen, bei Juniorwahlen aber 51,7 Prozent für ein Wahlrecht ab 18 aus, bei den 17-Jährigen und auch bei tatsächlichen Wählern im Alter von 16 und 17 Jahren sogar 60,4 Prozent. Für ein Wahlrecht ab 16 plädierten hingegen immer deutlich bessere Ergebnisse als beim Rest der Wählernur 38,4 bzw. 32,0 Prozent. Man sieht also, dass die Zustimmung schaft. Das war übrigens auch in Österreich so. Und in Badenzu einer Wahlaltersenkung zwar mit sinkendem Alter zunimmt. Württemberg haben die Grünen bei der Juniorwahl 2011 stolze Aber trotzdem lehnt eine Mehrheit der 15- bis 18-Jährigen eine 34,0 Prozent erzielt, im Vergleich zu 24,2 Prozent bei der eigentliSenkung des Wahlalters auf 16 Jahre ab. Das fand ich schon sehr chen Landtagswahl. Ähnlich sah es in Bremen 2011 aus: Hier lagen überraschend. Und ich finde, dass man darüber mit den Befürdie Grünen insgesamt bei 22,5 Prozent. Laut einer Wahltagsbefrawortern einer Wahlaltersenkung sprechen muss. Denn diese argung der Forschungsgruppe Wahlen lag ihr Stimmenanteil bei gumentieren ja gerade damit, dass sie sich für die Interessen der den 16- und 17-Jährigen aber bei 33,0 Prozent. Ich unterstelle den Jugendlichen einsetzen, die bislang noch kein Wahlrecht besitGrünen zwar keineswegs, dass sie aus rein wahltaktischen Grünzen, weil sie diese ernst nehmen wollen. Wenn man sich die Umden für eine Wahlaltersenkung sind. Dagegen spricht schon allein frage-Ergebnisse aus Rheinland-Pfalz aber anschaut, dann würde die geringe Zahl der 16- und 17-Jährigen, die nur zu einer relativ ein Ernstnehmen der Befragten eher zu dem Ergebnis führen, geringen Änderung der Wahlergebnisse führen würde. Aber ich dass man das mit der Wahlaltersenkung lieber sein lässt. Denn denke andererseits auch, dass es kein Zufall ist, dass sich mit den möglicherweise würde man da etwas Grünen eine Partei besonders für eine einführen, was die Mehrheit der BeWahlaltersenkung einsetzt, die auch troffenen gar nicht will. Zumindest in besonderem Maße davon profitiebislang noch nicht. Um dies zu änren würde. Genauso wie ich denke, dern, müssen die Befürworter verdass es kein Zufall ist, dass sich die mutlich noch deutlich mehr ÜberzeuCDU bislang vehement gegen solch gungsarbeit bei den betroffenen eine Gesetzesänderung sperrt. Denn leisten – gerade, um diese ernst zu sie schneidet bei den 16- und 17-Jährinehmen und der Wahlaltersenkung gen regelmäßig deutlich schlechter damit auch eine breitere Legitimatiab als im Rest der Wählerschaft. Geonsbasis zu verschaffen. nauso wie CDU und FDP also dem rotgrünen Lager vorwerfen, sich nur aus D&E: Kritische Stimmen aus dem UnionsEigeninteresse für eine Wahlaltersenlager und aus der FDP in Baden-Württemkung einzusetzen, könnte man ihnen berg betonen, die grün-rote Landesregierung möchte das Wahlalter vor vorwerfen, sich nur aus Eigeninteresse gegen eine Wahlaltersenallem deshalb senken, um sich bei zukünftigen Wahlen Vorteile zu verkung einzusetzen. Letztlich ist es vermutlich bei allen Parteien schaffen. Bei der Landtagswahl werde dies deshalb in Baden-Württemeine Mischung aus echtem Interesse oder Desinteresse an der berg nicht möglich sein, weil dazu die Verfassung mit 2/3 Mehrheit geänBeteiligung der Jugend und einer gewissen Portion Eigeninterdert werden müsste. Teilen Sie diese Bedenken, wenn Sie z. B. einen Blick esse, die die Haltung zur Wahlaltersenkung bestimmt. auf die bisherigen Wahlergebnisse in Österreich oder auf die betroffenen Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens v. a. das VerBundesländer in Deutschland werfen? halten der SPD. Denn die SPD kann nach den bisherigen ErkenntJan Kercher: Ich finde es zunächst einmal erfreulich, wenn offen nissen keinesfalls mit einer Erhöhung ihrer Stimmenanteile durch darüber gesprochen wird, dass die Parteien mit einer Wahlaltereine Wahlaltersenkung rechnen. Eher im Gegenteil: In Bremen lag senkung natürlich nicht nur selbstlose Motive verfolgen, sondern sie bei den 16- und 17-Jährigen bei 28,5 Prozent, insgesamt aber sehr wohl auch darauf achten, wie sich solch eine Gesetzesändebei 38,6 Prozent. Anders als bei Grünen und CDU kann man hier rung auf ihre Stimmenanteile auswirken würde. In Bezug auf die also eigentlich kein Eigeninteresse unterstellen. Trotzdem unter-

»Die Entwicklung des

politischen Wissens hängt vor allem mit den jeweiligen Bildungsplänen zusammen.

«

D&E

Heft 65 · 2013

»Wa hl a lt er 16 « – eine Ch a n ce z ur Über w ind un g d er P o l i t ik v er d r o s s e nhei t ?

61

D&E-INTERVIEW MIT DR. JAN KERCHER, UNIVERSITÄT STUTTGART-HOHENHEIM

62

39,0 34,0

sichts der Ergebnisse der Wahltagsbefragung Gedanken darüber machen, ob solche kurzfristigen und außerplanmäßigen Projekte wirklich eine ausreichende Begleitung einer so tiefgreifenden Veränderung des Wahlsystems sind.

D&E: Forschungen im Bereich des Wertewandels in modernen Gesellschaften betonen häufig den an postmateriellen Werten ausgerichteten Wunsch insbesondere junger Men17,2 schen nach mehr Möglichkeiten der politischen Partizipation. Ist diese Tendenz nach wie vor stabil und gibt es Unterschiede, was die soziale Herkunft, die besuchte Schulform bzw. den erreichten Bildungsabschluss sowie das Geschlecht 8,7 betreffen? 5,4 5,3 4,4 3,9 Jan Kercher: Bei den prominenten und teilweise pri3,4 2,8 2,5 2,1 vat finanzierten Jugendstudien, die immer wieder in 1,0 den Medien diskutiert werden, muss man sehr vorCDU SPD B’90/Die FDP Die Linke Piraten NPD Sonstige sichtig sein. Teilweise hapert es da ganz erheblich bei Grünen der Erhebungsmethodik und teilweise lösen sich die angeblichen Besonderheiten bei den politischen EinLandtagswahl U18-Wahl stellungen von Jugendlichen bei genauerem Hinsehen in Luft auf. Nicht umsonst haben Edeltraud RolAbb. 5 Landtagswahl 2011 in Baden- Württemberg und U-18 Wahl des Landesjugendrings ler, Frank Brettschneider und Jan W. van Deth ihrem Ba-Wü © Landeswahlleiter Baden-Württemberg, Landesjugendring Baden-Württemberg e. V. Sammelband zum Thema »Jugend und Politik«, der den Beitrag der politischen Soziologie zur Jugendforstützt die SPD auf Landes- und Kommunalebene meistens die Inischung untersucht, den Titel »Voll normal!« gegeben. tiativen der Grünen für eine Senkung des Wahlalters. Es handelt Denn was man bei einer seriösen Auswertung der vorhandenen sich dabei also entweder um echte Überzeugung – die sogar so Daten immer wieder feststellt, ist, dass sich die Jugendlichen in groß ist, dass dafür mögliche Verluste bei den Stimmanteilen in ihren Einstellungen gar nicht so sehr von den Älteren unterscheiKauf genommen werden – oder um große Solidarität mit dem beden. So handelt es sich bei vielen Veränderungen, die sich bei den vorzugten Koalitionspartner. Jugendlichen im Zeitverlauf zeigen um allgemeine Veränderungen, die auch für die gesamte Bevölkerung nachweisbar sind. Die D&E: Kritiker sagen auch, dass insbesondere männliche Jugendliche mit drei erwähnten Forscher kommen also zu dem Ergebnis, dass die einer Wahl ab 16 »ihr Mütchen kühlen« wollten und rechtsradikal wähljugendspezifischen Muster, wie sie vielfach auf der Basis von Juten. Sind solche Tendenzen zu befürchten? gendstudien ermittelt werden, offenbar wegen des fehlenden Jan Kercher: Wenn auf eine angemessene Vorbereitung der JuVergleichs über alle Altersgruppen und über die Zeit überschätzt gendlichen verzichtet wird, auf jeden Fall. Das zeigen die Wahlerwerden. Zum Thema Wertewandel: Was sich nach Roller und Kolgebnisse aus Österreich und die Juniorwahl-Ergebnisse aus Balegen ebenfalls feststellen lässt, ist, dass im Zuge allgemeiner den-Württemberg recht deutlich. Betrachtet man die Ergebnisse gesellschaftlicher Wandlungsprozesse in den letzten zehn bis der Befragungen von Jens Tenscher und Philipp Scherer, so zeigt fünfzehn Jahren in Deutschland eine neue Generation von Jusich, dass die vergleichsweise hohen Anteile der rechtsradikalen gendlichen herangewachsen ist, die sich von den Jugendlichen Parteien bei den Jungwählern fast ausschließlich auf die Präferender 1970er und 1980er Jahre unterscheidet. Nach der Theorie des zen der männlichen Jugendlichen zurückzuführen sind. Hier lag postmaterialistischen Wertewandels von Inglehart sind Jugendlider Anteil von DVU, Republikanern che ja vor allem postmaterialistisch und NPD bei 8 %., bei den weibliorientiert, präferieren Themen und chen Jugendlichen hingegen nur bei Positionen der Neuen Politik, wäh2 %. Gerade die männlichen Julen grün-alternative Parteien und gendlichen müsste man im Vorfeld sind politisch aktiv. Dieses Bild der einer Wahlaltersenkung also verJugend ist in der Politischen Soziostärkt in den Blickpunkt nehmen. logie auch heute noch sehr verbreiWas ich dabei besorgniserregend tet. Es trifft aber offenbar nicht finde, ist, dass selbst in Bremen, wo mehr uneingeschränkt auf die heuzahlreiche Projekte zur Vorbereitige Jugend zu. Der Trend zeigt sotung der Jugendlichen durchgeführt gar in eine andere Richtung. Die Juwurden, der Stimmenanteil der NPD gend von heute unterscheidet sich bei den 16- und 17-Jährigen mit 4,5 von der Jugend der 1970er und Prozent fast exakt dreimal so hoch 1980er Jahre zum Beispiel dadurch, war wie bei allen Wählerinnen und dass sie eine höhere politische Wählern. Ich habe mir daraufhin die Kompetenz besitzt, in geringerem verschiedenen Projekte noch einmal genauer angeschaut. Und Ausmaß postmaterialistisch orientiert ist und Gleichheit als musste feststellen, dass zwar durchaus der Wille vorhanden war, rechtfertigende Gerechtigkeitsideologie befürwortet. Zudem die Jugendlichen auf ihr Wahlrecht vorzubereiten. Dass diese Vorzeichnet sie sich durch eine geringere Wahlbeteiligung aus, idenbereitungen aber fast ausnahmslos wenige Wochen oder sogar tifiziert sich weniger häufig mit einer politischen Partei und wählt Tage vor der Wahl starteten. Auch hier wurde also keine langfrisauch seltener die Grünen als früher. Zusammenfassend lässt sich tige Vorbereitung anhand der Bildungspläne vorgenommen, sonalso feststellen: Die heutige Jugend ist im Vergleich zu ihren Vordern eine recht kurzfristige Vorbereitung anhand verschiedener, gängergenerationen politisch kompetenter, konservativer in ihaußerplanmäßiger Schulprojekte. Das ist zwar durchaus löblich ren Wertorientierungen und ihrer Wahlentscheidung, weniger und teilweise durchaus erfolgreich – was v. a. die hohe Wahlbeteistark an politische Parteien gebunden und geht seltener zur ligung bei den Jungwählern zeigt. Trotzdem sollte man sich angeWahl. 23,1 23,0

24,2

»Es ist kein Zufall, dass sich

mit den Grünen eine Partei besonders für eine Wahlaltersenkung einsetzt, die auch in besonderem Maße davon profitieren würde.

«

»Wa hl a lt er 16 « – eine Ch a n ce z ur Über w ind un g d er P o l i t ik v er d r o s s e nhei t ?

D&E

Heft 65 · 2013

Was die Einflüsse von Geschlecht, sozialer 2,5* Herkunft und Bildung angeht: Generell lässt 7,1 12,2 sich sagen – und das zeigt sich auch in der 23,3 32 bereits erwähnten Untersuchung von Ten38,4 scher und Scherer –, dass männliche und hö37,2 her gebildete Jugendliche mehr Interesse an 38,2 Politik und politischer Partizipation bekunab 14 Jahren den als weibliche und geringer gebildete Juab 16 Jahren gendliche. Auch das politische Interesse der ab 18 Jahren Eltern spielt eine sehr wichtige Rolle: Je stär69,4 ist mir egal ker sich die Eltern für Politik interessieren, 60,4 51,7 desto höher fällt auch das politische Inter45 37,6 1.714 Befragte esse ihrer Kinder aus. Die politische Soziali5 sation ist also sehr stark von Geschlecht, sozialer Herkunft und dem Bildungsweg abhängig. Zum Beispiel zeigen sich auch 10,4 9,1 7,1 5,3 5,8 deutliche Bildungseinflüsse bei der Frage, 14 Jahre 15 Jahre 16 Jahre 17 Jahre 18 Jahre welche Ebenen von Politik für die Jugendlichen interessant sind. Gymnasiasten bekunden hier deutlich häufiger ein Interesse an Abb. 6 Einstellungen zum Wahlalter, Rheinland-Pfalz 2005 internationaler Politik als Hauptschüler, die © Jens Tenscher/Philipp Scherer (2012): Jugend, Politik und Medien. sich dafür mehr für kommunale Politik interPolitische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in Rheinland-Pfalz. Münster, S. 177 essieren als Gymnasiasten. Auch die subjektive politische Kompetenz, die sich die Jugendlichen selbst zumessen, nimmt mit dem Bildungsgrad tagswahlkampf kann man das ganz deutlich sehen. Nun versueindeutig zu. Zudem schätzen sich Jungen hier meistens deutlich chen sich alle Parteien als Mitmach-Parteien darzustellen, um höher ein als Mädchen. Bezüglich der Wertorientierungen lässt neue Anhänger und Mitglieder zu gewinnen. Dieser Prozess wurde sich sagen, dass männliche Jugendliche häufig etwas materialisdurch die Piratenpartei sicherlich stark beschleunigt. Denn bei tischer orientiert sind als weibliche Jugendliche und dass die mader Piratenpartei kann – oder konnte man zumindest bis vor Kurterialistischen Orientierungen mit zunehmendem Bildungsgrad zem – auch als Neumitglied relativ schnell wichtige Funktionen eher abnehmen. Aber auch hier gilt: Das kann man ebenso im übernehmen. Das sieht bei den etablierten Parteien anders aus, Rest der Gesellschaft beobachten. Die Jugendlichen sind letztlich schon allein aufgrund der größeren Mitgliederzahl. Da muss man also wirklich »voll normal«. sich im Normalfall erstmal einige Jahre beweisen und hocharbeiten, bevor man eine hervorgehobene Position einnehmen kann. D&E: Welche weiteren Par tizipaUnd das schreckt viele Jugendlitionsformen als das aktive Wahlrecht che ab. Bei der Piratenpartei bevorzugen denn Jugendliche und funktionierte das hingegen bis junge Erwachsene? Wächst gerade vor Kurzem eher wie bei einer eine aktive Generation, die eine moBürgerinitiative: Wer genügend derne Zivilgesellschaft erst möglich Engagement mitbrachte, der macht, heran? konnte ganz schnell Sprecher Jan Kercher: Die heutigen Juoder Vorsitzender sein. Mittlergendlichen weisen eine deutlich weile stößt die Partei hier aber geringere Bereitschaft auf, sich auch an gewisse Grenzen, was langfristig an institutionalisierte man gerade beim letzten ParteiFormen der politischen Partizipatag in Bochum miterleben konnte. tion zu binden. Das betrifft zum Denn wenn alle immer überall Beispiel Partei-Mitgliedschaften mitmachen und mitreden dürfen, oder auch die Wahlbeteiligung. dann führt das zwangsläufig zu Das bedeutet aber nicht zwangsProblemen bei der Effizienz. Und läufig, dass weniger politisch partizipiert wird. Sondern eben vor die ist bei einer so schnell wachsenden Organisation auch nicht allem weniger institutionell, sondern eher spontan, kurzfristig ganz unwichtig. und anlassbezogen. Zum Beispiel durch die Teilnahme an OnlineAndererseits zeigt die Piratenpartei ja gerade, dass institutionaliPetitionen, durch Flashmobs oder Shitstorms. Auch die Occupysierte Formen der politischen Partizipation auch heute noch junge Bewegung ist für mich ein Beispiel dafür, dass institutionelle ForMenschen ansprechen können – wenn sie zeitgemäß organisiert men der politischen Partizipation für viele jüngere Menschen sind, eine hohe Offenheit ausstrahlen und auch unverbindlichere keine attraktive Option mehr sind. Denn die Idee der Occupy-BePartizipationsmöglichkeiten – quasi als »Schnupperkurs« – anbiewegung war ja gerade, dass sie keine festen Strukturen und vor ten. Mein Gefühl ist, dass die Attraktivität der Piraten für Jugendallem auch kein Führungspersonal hat. Für die Parteien bedeutet liche vor allem durch ihr offenes und unarrogantes Auftreten zu das natürlich, dass es immer schwieriger wird, neue Mitglieder zu erklären ist. Damit meine ich vor allem die Ehrlichkeit, auch zuzugewinnen, die auch langfristig aktiv bleiben. Das sieht man ja an geben, wenn man zu einem Thema einmal nichts oder noch nichts den sinkenden Mitgliederzahlen fast aller Parteien: Die ausscheizu sagen hat. Natürlich kann man das gerade bei zentralen politidenden Mitglieder können schon lange nicht mehr durch neue schen Themen nicht ewig so machen. Aber gerade bei Problemen, Mitglieder kompensiert werden – wie das früher immer der Fall die neu auftreten und vielleicht auch noch sehr komplex sind, ist war. Das führt dazu, dass die Parteien hier umdenken müssen – es ja häufig ehrlicher, als Politiker auch einmal zuzugeben, dass auch, um ihre Finanzierungsbasis zu sichern, die ja zu einem groman dazu noch keine fundierte Meinung hat. Das erlebt man bei ßen Teil auf den Mitgliedsbeiträgen aufgebaut ist. den etablierten Parteien aber sehr selten. Stattdessen flüchten Das Aufkommen der Piratenpartei hat die etablierten Parteien sich deren Politiker dann häufig in Wortwolken, abgedroschene hier zusätzlich aufgescheucht: Im gerade beginnenden BundesPhrasen oder Politiker-Chinesisch, häufig gepaart mit einem sehr

»Die heutigen Jugendlichen

weisen eine deutlich geringere Bereitschaft auf, sich langfristig an institutionalisierte Formen der politischen Partizipation zu binden.

«

D&E

Heft 65 · 2013

»Wa hl a lt er 16 « – eine Ch a n ce z ur Über w ind un g d er P o l i t ik v er d r o s s e nhei t ?

63

D&E-INTERVIEW MIT DR. JAN KERCHER, UNIVERSITÄT STUTTGART-HOHENHEIM

arroganten und selbstgewissen Auftreten. Und genau das wirkt meiner Einschätzung nach auf viele Jugendliche sehr abschreckend. Insofern hat die Piratenpartei hier sicherlich schon einen positiven Beitrag zur Veränderung der politischen Kultur geleistet – auch bei den etablierten Parteien. D&E: Was könnte und sollte die politische Bildung innerhalb und außerhalb des Schulunterrichts für Angebote zur Stärkung der Partizipationsbereitschaft Jugendlicher machen und wie kann sie am besten Jugendliche erreichen? Jan Kercher: Ein guter und vor allem ansprechender Politik-Unterricht in der Schule ist für mich nach wie vor das beste Mittel, um Jugendlichen die Bedeutung von politischer Partizipation näherzubringen. Denn die Schule ist der einzige Ort, an dem man alle Jugendlichen erreichen kann. Und sie genießt bei den Jugendlichen nachweislich einen Ruf als Ort für eine objektive Informationsvermittlung. Weshalb die Jugendlichen von der Schule auch erwarten, dass sie ihnen die Informationen und Fähigkeiten vermittelt, die für ein Verständnis der politischen Prozesse und Beteiligungsformen nötig sind. Darüber hinaus halte ich Projekte, wie sie zum Beispiel zur Vorbereitung der Wahlaltersenkung in Bremen durchgeführt wurden, für sehr begrüßenswert. Also etwa Juniorwahlen, Workshops, Projekttage, Planspiele oder auch Podiumsdiskussionen, die sich speziell an Jugendliche richten. Gerade die Methode des Planspiels halte ich für sehr gut geeignet, um Jugendlichen die komplexen Prozesse zu vermitteln, die im politischen Alltag relevant sind. Ich war selbst früher als Teamer im »Juniorteam Europa« aktiv, einem Peer-Group-Education-Projekt, das von der LMU München ins Leben gerufen wurde. Die Idee ist hier, dass junge Menschen anderen jungen Menschen die Bedeutung der europäischen Institutionen vermitteln. Und zwar vor allem durch die Teilnahme an Planspielen, in denen unterschiedliche europäische Szenarien durchgespielt werden. Meine Erfahrungen mit dieser Methode waren immer sehr positiv. Nach der Teilnahme an den Planspielen konnten die Jugendlichen sehr viel besser verstehen, was Politik im Alltag häufig so mühsam macht und warum am Ende eben oft »nur« Kompromisse herauskommen, die auf den ersten Blick vielleicht unbefriedigend erscheinen. Durch die Teilnahme an einem Planspiel lernt man nämlich relativ schnell, dass solche Kompromisse ein Wesensmerkmal von demokratischen oder partizipativen Abstimmungsprozessen sind und beurteilt sie deshalb dann nicht mehr so negativ wie davor. Und: Man kann danach auch sehr viel besser einschätzen, was Politiker täglich leisten. Auch die Politik- oder Politikerverdrossenheit kann also auf diese Weise – zumindest bei einigen Jugendlichen – gesenkt werden.

Teil der Bevölkerung. Und diese Masse beeinflusst – zumindest bei den beiden Volksparteien – natürlich in erster Linie die Themensetzung. Kleinere Parteien wie die Grünen oder die Piraten wenden sich hingegen mit ihrer Themensetzung heute schon häufiger auch an jüngere Wählergruppen – auch da würde sich also nur bedingt etwas ändern. Am ehesten wären aus meiner Sicht also Änderungen bei den Themensetzungen der FDP und der Linken zu erwarten. Denn beides sind Parteien, die sich bislang nicht durch eine gezielte Ansprache von Jungwählern hervorgetan haben, bei denen aber gleichzeitig auch kleinere Wählergruppen wie die 16- und 17-Jährigen durchaus wahlentscheidende Bedeutung haben können. Selbiges gilt leider auch für die rechtsradikalen Parteien. Was mich hier besonders nachdenklich stimmt, sind die Befunde aus der bereits erwähnten Sora-Studie zur österreichischen Nationalratswahl 2008, die u. a. vom Bundeskanzleramt und vom österreichischen Parlament in Auftrag gegeben wurde. Nach den Befunden dieser Studie bewerteten die befragten Jugendlichen schon allein das Herausstellen eines klaren, von der Mehrheitsmeinung abweichenden Standpunktes durch eine Partei positiv. Selbst dann, wenn dieser Standpunkt von der eigenen Meinung abweicht. So lehnte zum Beispiel eine Mehrheit der befragten Jugendlichen den Standpunkt der FPÖ zur Einwanderungspolitik ab – bewertete aber gleichzeitig die klare Selbst-Positionierung der Partei in dieser Frage positiv. Eventuell sind es also gar nicht unbedingt immer die Themen selbst, die entscheidend sind für die Ansprache jüngerer Wähler – sondern v. a. auch die Art und Weise, wie diese Standpunkte kommuniziert und vertreten werden. Die österreichischen Forscher stellten nämlich auch fest, dass die Themen, die von den beiden Rechtsparteien FPÖ und BZÖ propagiert wurden, auf der Prioritätenliste der Jugendlichen eigentlich ganz unten standen. Trotzdem wurden sie gerade von den 16-Jährigen überproportional gewählt. Das ist aus meiner Sicht auch nicht ganz überraschend: Für jemanden, der gerade erst beginnt, sich mit dem Thema Politik auseinanderzusetzen, kann das typische Auftreten von Parteien und Politikern sehr leicht abschreckend wirken. Teilweise, weil man die Sprache einfach nicht versteht und teilweise vielleicht auch, weil man das Gefühl hat, dass die Politiker vieles unnötig verkomplizieren. Denn auf den ersten Blick wirkt die Lösung vieler Probleme ja sehr einfach – erst auf den zweiten Blick merkt man dann häufig, dass es nicht ganz so einfach ist. Leider gibt es aber Parteien, die den Wählerinnen und Wählern vorgaukeln wollen, dass es sehr wohl so einfach ist. Und diese bewegen sich eben meistens an den politischen Rändern. Gerade hier sehe ich also eine Hauptaufgabe der politischen Bildung. Also darin, den Jugendlichen zu vermitteln, dass das Auftreten einer Partei nie wichtiger sein sollte als deren politische Ziele. Und dass man immer misstrauisch sein sollte, wenn eine Partei allzu einfache Lösungen verspricht. Denn in unserer heutigen, hoch entwickelten und pluralistischen Gesellschaft gibt es nur noch für wenige politische Probleme wirklich einfache Lösungen. Eine klare und einfache Politikersprache ist deshalb natürlich nicht falsch – ganz im Gegenteil. Ich halte es gerade für die Ansprache von Jugendlichen für sehr wichtig, sich nicht in unnötigem Politiker-Chinesisch zu ergehen. Aber die klare Sprache sollte eben nicht einhergehen mit einer unzulässigen Simplifizierung politischer Zusammenhänge. Denn auch komplexe Zusammenhänge lassen sich meistens mit recht einfacher Sprache beschreiben, wenn man sich entsprechend bemüht. Bei links- und rechtsradikalen Parteien geht die einfache Sprache aber häufig mit einer unzulässigen Vereinfachung der politischen Probleme

»Die Methode des Planspiels

halte ich für sehr gut geeignet, um Jugendlichen die komplexen Prozesse zu vermitteln, die im politischen Alltag relevant sind.

64

D&E: Die Universität Stuttgart-Hohenheim, an der Sie bisher gearbeitet haben, hat verschiedene Untersuchungen zu Verständlichkeit von Politikersprache und Wahlprogrammen gemacht. Neigen nicht gerade junge Menschen dazu, für personalisierte und emotionalisierte Wahlkämpfe, vielleicht nach us-amerikanischem Vorbild, besonders empfänglich zu sein? Anders ausgedrückt: Droht nicht das Niveau der Wahlkampfauseinandersetzung durch die Senkung des Wahlalters noch weiter herabzusinken? Jan Kercher: Zunächst einmal: Die Jugendlichen im Alter von 16 und 17 Jahren würden bei einer Wahlaltersenkung nur einen sehr kleinen Teil der Wählerschaft ausmachen. Es ist also kaum zu erwarten, dass die Entwicklung der Wahlkampfführung durch solch eine Änderung entscheidend beeinflusst würde. Auch die Themen der Wahlkämpfe werden sich deshalb meiner Einschätzung nach nicht grundlegend ändern. Denn die Masse der Wähler befände sich auch nach einer Wahlaltersenkung noch immer im älteren

«

»Wa hl a lt er 16 « – eine Ch a n ce z ur Über w ind un g d er P o l i t ik v er d r o s s e nhei t ?

D&E

Heft 65 · 2013

einher. Und das muss man Jugendlichen innerhalb und außerhalb der Schule vermitteln.

Landtagswahl 2011 in Bremen: Wahlverhalten nach Alter 38,6

D&E: Häufig heißt es, dass sich Jugendliche von elektronischen Medien, wozu neben den privaten TV-Stationen ins33,0 besondere auch die digitalen Angebote des Internets zählen, 28,5 sehr stark manipulativ bestimmen ließen. Denken Sie, dass über die Herabsenkung des Wahlalters sowie eine verstärkte verpflichtende politische Bildung in den Schulen 22,5 dieser Tendenz Einhalt geboten werden kann und Jugendli20,3 che in ihrem Alter bereits erkennen können, wann eine politische Frage Zukunftsthemen aufwirft, um die im GG (Art. 20 a) als Staatsziel geforderte Generationengerechtigkeit 11,2 umzusetzen? Jan Kercher: Meiner Einschätzung nach sollte man 7,3 6,0 5,6 von mit einer Absenkung des Wahlalters keine unrea4,5 4,2 3,7 3,4 3,3 2,4 listischen Erwartungen verbinden. Häufig wird zum 2,0 1,9 1,6 Beispiel behauptet, eine Wahlaltersenkung würde zu SPD CDU B’90/Die Linke einem Anstieg der Wahlbeteiligung führen – was FDP NPD Sonstige BIW Piraten Grünen nicht stimmt. Natürlich wird durch eine Wahlaltersenkung die absolute Zahl der abgegebenen StimAlle 16- bis 17-Jährige men steigen – woraus man möglicherweise eine stärkere Legitimationsfunktion der Wahl ableiten kann, Abb. 7  Landtagswahlen 2011 in Bremen, nach Wahlalter © Jan Kercher, Daten: Landeswahlleiter weil ein größerer Teil der Bevölkerung durch die Wahl repräsentiert wird. Aber relativ betrachtet wird sich kann, um Jugendliche bereits vor dem Verlassen der Schule an pokaum etwas an der Wahlbeteiligung ändern, weil auch bei den litische Themen heranzuführen und ihnen die Relevanz politineuen Erstwählern keine höheren Beteiligungsraten zu erwarten scher Prozesse und politischer Diskussionen – auch für ihr eigesind als bei den heutigen Erstwählern. Das sieht man ganz deutnes Leben – zu verdeutlichen. Wenn das gelingen würde, dann lich, wenn man sich einmal Wahlen anschaut, bei denen das wäre das schon einmal sehr erfreulich. Denn solche frühen, posiWahlalter bereits gesenkt wurde. tiven Erfahrungen prägen die politische Sozialisation auf entWas die Beeinflussbarkeit von Jugendlichen betrifft: Auch mit eischeidende Weise und haben auch eine sehr langfristige Wirkung nem niedrigeren Wahlalter und verstärkter politischer Bildung auf das generelle politische Interesse. Sie werden sich also auch werden Jugendliche immer etwas leichter zu beeinflussen sein als dann noch bemerkbar machen, wenn die heutigen Jugendlichen ältere Menschen. Das ist auch vollkommen natürlich: Als junger einmal nicht mehr ganz so jung sind. Auf diese Weise könnte Mensch verfügt man einfach über einen sehr viel geringeren Ersich – ebenfalls langfristig betrachtet – auch die gesellschaftliche fahrungsschatz – sowohl im politischen Bereich als auch im unpoWahrnehmung von Politik insgesamt litischen Bereich – als ältere Menverbessern. Mit anderen Worten: Die schen und auch über weniger »Politikverdrossenheit«, von der gefestigte Einstellungen. Das macht heute so oft zu lesen ist, könnte mögzwangsläufig anfälliger für Beeinfluslicherweise gesenkt werden. Das besung durch persuasive Kommunikadeutet im Umkehrschluss übrigens tion – sei es nun durch Parteien oder auch, dass sich die Politik dann auf die kommerzielle Werbeindustrie. eine anspruchsvollere und beteiliNatürlich kann man Jugendliche gungsstärkere Bürgerschaft einsteldurch entsprechende politische Billen sollte. Man kann ja nicht erwardung auf solche Beeinflussungs- oder ten, dass die Leute sich mehr für Manipulationstechniken vorbereiten Politik interessieren, aber trotzdem und sie damit auch etwas besser immer alles brav abnicken, was die schützen als dies bislang der Fall ist. Regierenden beschließen. Aber den Effekt der Lebenserfahrung wird man damit natürlich Diese indirekten und langfristigen Wirkungen einer Wahlalternicht komplett kompensieren können. Das wäre zu viel erwartet. senkung sollte man meiner Meinung nach aber mit gewisser VorEbenfalls zu viel erwartet wäre aus meiner Sicht deshalb übrigens sicht behandeln. Denn ob und wann sie wirklich eintreffen, lässt auch die Wunschvorstellung, dass sich Jugendliche durch eine sich heute noch nicht sagen. Wahlaltersenkung von heute auf morgen brennend für Rentenpolitik interessieren werden. Denn es ist schlicht und einfach menschlich, dass man sich – angesichts eines begrenzten ZeitLiteraturhinweise budgets – zunächst einmal mit den Dingen beschäftigt, die einen aktuell betreffen – und nicht erst in 40 oder 50 Jahren. Daran wird Kercher, Jan: Fit fürs Wählen. Ergebnisse einer experimentellen Studie zum man auch durch noch so frühe politische Bildung nur bedingt etWahlrecht ab 16.  www.politische-bildung-rlp.de/fileadmin/download/ was ändern können. Natürlich kann und sollte man in der politiSchupp-Kuehl/Vortrag_LpB_RLP_mit_Zusatzauswertungen.pdf schen Bildung von jungen Menschen trotzdem versuchen, die »versteckte« Bedeutung bestimmter Themen zu vermitteln, deKozeluh, Ulrike, u. a. (2009): »Wählen mit 16« – Eine Post Election Study zur ren konkrete Auswirkungen sich für die heutigen Jugendliche vielNationalratswahl 2008. Befragung – Fokusgruppen – Tiefeninterviews. ​ leicht erst in vielen Jahren oder Jahrzehnten bemerkbar machen. http://images.derstandard.at/2009/05/15/studie.pdf Das ist aus meiner Sicht aber eine generelle Aufgabe von politiTenscher, Jens/Philipp Scherer, Philipp (2012): Jugend, Politik und Medien. scher Bildung und nicht etwas, das ich in erster Linie von einer Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in RheinWahlaltersenkung erwarte. land-Pfalz. LIT Verlag, Münster u. a. Wenn man sie richtig und mit dem nötigen Vorlauf umsetzt, dann denke ich, dass eine Wahlaltersenkung ein wichtiger Beitrag sein

»Man sollte mit einer

Absenkung des Wahlalters keine unrealistischen Erwartungen verbinden

«

D&E

Heft 65 · 2013

» Wa hl a lt er 16 «  – eine Ch a n ce z ur Über w ind un g d er P o l i t ik v er d r o s s e nhei t ?

65

D&E-INTERVIEW MIT DR. JAN KERCHER, UNIVERSITÄT STUTTGART-HOHENHEIM

66

MATERIALIEN M 1 Christoph Faisst: »Konsequenter Schritt« Wählen mit 16? Aber selbstverständlich. Denn was die grün-rote Landesregierung zunächst für das Kommunalwahlrecht und später auch für die Landtagswahl plant, ist angesichts der gesellschaftlichen Veränderung nur konsequent: Jugendliche werden schneller durch die Schule getrieben, um so früh wie ihre Konkurrenten aus anderen europäischen Ländern auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt anzukommen. Sie dürfen mit 17 ans Steuer eines Kraftfahrzeugs. Sie werden, ob sie es wollen oder nicht, fit gemacht für eine Leistungsgesellschaft, die sich ihrer künftigen Mitglieder immer früher bemächtigt. Sie müssen überall mithalten – doch die entsprechende politische Teilhabe bleibt ihnen verwehrt. Die Debatte wird nicht lange auf sich warten lassen: M 3 »Total unpolitisch …« © Gerhard Mester 10.3.2013 (gezeichnet für D&E) Wie steht es um die politische Reife dieser jungen Wähler? Kann es sein, dass Menschen, die noch nicht unbeschränkt geschäftsfähig sind, mitentscheiden, wenn es um die Zusammensetzung gesetzgebender Organe geht? z. B. der Gemeinschaftskundeunterricht eine andere DimenSolche Fragen sind verständlich, doch ein wenig Gelassenheit ist sion, weil er mit stattfindenden Wahlen verbunden werden angebracht. Schließlich werden wir heute auch ganz selbstverkann, an denen sich die Jugendlichen beteiligen können. Auch ständlich mit 18 Jahren volljährig, bis immerhin 1975 waren es in der außerschulischen Jugendbildung gäbe es einen direktenoch 21 Jahre. ren Anlass, mit Jugendlichen über das Wahlsystem und die Umstellen müssen sich dagegen die Parteien, die sich verstärkt Auswirkungen einer Wahlentscheidung zu kommunizieren. mit der Lebenswelt junger Menschen beschäftigen müssen – wolDadurch würden Jugendliche besser in unser demokratisches len sie nicht riskieren, per Wahlrechtsänderung mit leichter Hand System hinein wachsen. Die Auswertung der Beteiligung bei den Piraten 20 Prozent zuzuschanzen. der Bundestagswahl zeigt, dass dies dringend nötig ist. (…) • Das Argument, dass viele junge Menschen zu wenig Ahnung © Christoph Faisst, Südwestpresse Ulm, Online-Dienst, 1.11.2012 von politischen Themen haben, spricht für die Notwendigkeit einer besseren politischen Bildung. Es spricht aber nicht gegen eine Absenkung des Wahlalters. In jeder Altersstufe gibt M 2 Beschluss der Vollversammlung des Landesjugendrings es Menschen, die an Politik interessiert sind und solche, die Baden-Württemberg am 25. März 2006 sich nicht für Politik interessieren. Auch die Möglichkeit der Beeinflussung der Wahlberechtigten durch die Parteien ist in Der Landesjugendring Baden-Württemberg fordert eine Absenallen Generationen gegeben. Die wahlkämpfenden Parteien kung des aktiven Wahlalters für Kommunal- und Landtagswahlen geben ja nicht umsonst viel Geld dafür aus, Menschen zu beauf 14 Jahre. Diese Absenkung des Wahlalters muss von einer Vereinflussen. (…) Dass viele Jugendliche sich selber als noch stärkung der schulischen und außerschulischen politischen Bilnicht reif zum Wählen einschätzen, bringt deren Respekt vor dung flankiert und durch eine Verbesserung der gesellschaftlider Wichtigkeit und Ernsthaftigkeit von Wahlen zum Ausdruck chen Partizipation junger Menschen ergänzt werden. (…) und kann nicht gegen eine Absenkung des Wahlalters vorgeEine Absenkung des Wahlalters ist aus mehreren Gründen bracht werden. Es geht darum, dass junge Menschen überdringend geboten. Als Interessensvertretung von Kindern und haupt die Möglichkeit haben, sich an Wahlen zu beteiligen. Jugendlichen trägt der Landesjugendring mit einer solchen For(…) derung dazu bei, mehr Gerechtigkeit zu Gunsten der jungen Ge• Jede Altersgrenze ist beliebig und bringt neue Ungerechtigneration herzustellen und gleichzeitig zu einem größeren Gleichkeiten mit sich. Für die Altersgrenze bei 14 Jahren spricht, dass gewicht zwischen den Generationen beizutragen. sich bereits jetzt an dieser Altersschwelle einige gesetzlichen Darüber hinaus bewirkt eine Absenkung des Wahlalters auch, Rechte und Pflichten ändern. Mit diesem Alter beginnt die Redass junge Menschen die Möglichkeit haben, sich am politischen ligions- und Strafmündigkeit. Das bedeutet, dass der Staat Willensbildungsprozess zu beteiligen. Diese Beteiligung halten Menschen in diesem Alter schon viel zutraut. Mit anderen wir für wichtig – nicht nur, aber auch bei Wahlen. Nicht zuletzt Worten: Wem zugetraut wird, dass er/sie die Religionszugehökönnen junge Menschen dadurch besser in demokratische Strukrigkeit frei wählen kann und Verantwortung für das eigene turen hineinwachsen. (…) Handeln übernehmen muss, ist auch in der Lage, eine politi• Durch die demographische Entwicklung werden junge Mensche Wahlentscheidung zu treffen. schen immer mehr zur Minderheit. Für Baden-Württemberg • Dies wird unterstützt durch entwicklungspsychologische Erprognostiziert das Statistische Landesamt, dass der Anteil der kenntnisse in den Sozialwissenschaften. Ab dem Alter von 12 unter 20-Jährigen bis 2050 von 22 % auf 16 % fallen wird, wähJahren geht der Blick über das eigene enge Lebensumfeld hinrend gleichzeitig der Anteil der über 60-Jährigen von heute aus, die Urteilsfähigkeit auch über Vorgänge, die einen nicht 23 % auf gut 36 % steigen wird. Dadurch werden Wahlen in selbst direkt betreffen, wächst. In den letzten Jahren wird beZukunft noch stärker als bisher von älteren Menschen entobachtet, dass Jugendliche über diese Fähigkeiten immer früschieden. Es besteht die Gefahr, dass sich Politik deshalb zuher verfügen. Nicht umsonst nehmen Kinder und Jugendliche nehmend an den Interessen der älteren Generation orientiert. in vielen Jugendverbänden schon viel früher an den innerver(…) bandlichen Entscheidungsprozessen teil. • Eine Absenkung des Wahlalters ist mit einer Steigerung der © Beschlossen von der Vollversammlung des Landesjugendrings Baden-Württemberg e. V. Relevanz von politischer Bildung verbunden. Damit bekommt am 25. März 2006

»Wa hl a lt er 16 « – eine Ch a n ce z ur Über w ind un g d er P o l i t ik v er d r o s s e nhei t ?

D&E

Heft 65 · 2013

M 4 Stephan Eisel: Wahlrecht, Volljährigkeit und Politikinteresse? Immer wieder wird in Deutschland über eine Absenkung des Wahlalters als Mittel gegen eine angenommene »Politikverdrossenheit« bei Jugendlichen diskutiert. Zuletzt hat der Landtag in Brandenburg im Dezember 2011 mit den Stimmen von SPD, LINKEN, Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU das Wahlalter auf 16 Jahre festgelegt. Der oft emotional geführten Debatte mangelt es allerdings meist an einer nüchternen Bewertung der Fakten. Insbesondere sind bei der Entscheidung über das Wahlalter folgende Gesichtspunkte zu beachten (…): Artikel 38 des Grundgesetzes legt in Absatz 2 zur Wahlberechtigung für die Wahlen zum Deutschen Bundestag fest: »Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.« Für eine Änderung dieser Regelung wäre ein 2/3-MehrM 5 »… Jugendliche reifen heute wesentlich früher …« © Gerhard Mester, 2012 heit im Deutschen Bundestag erforderlich. Zwar können die Bundesländer das jeweiligen Landtags- und Kommunalwahlrecht grundsätzlich autonom regeln, aber sie orientieren sich meist am 16-Jährige dürfen in Deutschland Mofa fahren, aber nicht ohne Bundestagswahlrecht. Zwölf von 16 Bundesländern regeln das Begleitung eines Erwachsenen ein Auto lenken. Sie dürfen in der Wahlalter für Landtagswahlen und landesweite VolksabstimmunÖffentlichkeit Bier trinken, aber keine hochprozentigen Alkohogen in ihren Landesverfassungen. Da diese nur mit einer 2/3-Mehrlika. Ohne Erlaubnis der Eltern dürfen sie eine Diskothek nur bis heit bzw. teilweise nur durch Volksabstimmungen geändert Mitternacht besuchen. Bei Gesetzesverstößen fallen 16-Jährige werden können, ist eine Änderung des Wahlrechtes vor parteitakunter das Jugendstrafrecht. Heiraten darf man zwar ab 16, aber tischen Überlegungen geschützt. In den Landesverfassungen von nur wenn ein Familiengericht dazu die Genehmigung erteilt und Bayern (Art 14), Baden-Württemberg (Art. 73), Berlin (Art. 39), der Ehepartner bereits volljährig ist. Kaufverträge, die von JuHessen (Art. 73), Niedersachsen (Art. 8), Nordrhein-Westfalen gendlichen unter 18 Jahren ohne Zustimmung des gesetzlichen (Art. 30), Rheinland-Pfalz (Art. 76), dem Saarland (Art. 64), SachVertreters geschlossen werden – zum Beispiel der Kauf eines sen (Art. 4) Sachsen-Anhalt (Art. 42) und Thüringen (Art. 46), ist Computers – sind nur wirksam, wenn sie aus Mitteln bezahlt werdas Wahlalter ausdrücklich auf die Vollendung des 18. Lebensjahden, die ihnen vom gesetzlichen Vertreter oder mit dessen Zures festgelegt. (…) stimmung von einem Dritten überlassen worden sind. Auch im europäischen Ausland gilt generell die WahlberechtiDieser sog. »Taschengeldparagraph« (§ 110 des Bürgerlichen Gegung ab 18 Jahren – mit Ausnahme von Österreich, wo 2007 das setzbuches) gilt bis zur vollen Geschäftsfähigkeit mit Erreichen Wahlalter bei nationalen Wahlen auf 16 Jahre gesenkt wurde. Indes 18. Lebensjahres. ternational lassen bisher außerdem lediglich Brasilien, Nicaragua Es ist auffällig, dass auch die Befürworter einer Absenkung des und Kuba (wo man von Wahlen gar nicht sprechen kann) ein Wahlalters nicht vorschlagen, dass an diesen AlterseinschränkunWahlrecht ab 16 Jahren zu. (…) gen etwas geändert wird. Sie plädieren nicht für eine Absenkung Die Forderung nach einer Senkung des Wahlalters wirft die Frage der Volljährigkeit. So gesehen ist die Wahlberechtigung für Minauf, nach welchen Kriterien das Wahlalter festgelegt werden soll. derjährige ein Widerspruch in sich, weil es das Wahlrecht von der Bisher galt das Erreichen der Volljährigkeit dafür als entscheidenLebens- und Rechtswirklichkeit abkoppelt. der Maßstab. So kündigte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Wenn das Wahlrecht von der Volljährigkeit entkoppelt wird, sind Regierungserklärung »Mehr Demokratie wagen« vom 28. Oktoandere Altersgrenzen willkürlich, weil sie an kein objektives Kriteber 1969 miteinander verbunden Gesetzesinitiativen zur Absenrium geknüpft sind. Nach der Volljährigkeit ist im deutschen kung des Wahlalters und der Volljährigkeit an. Die Umsetzung Rechtssystem allenfalls die Strafmündigkeit ab dem 14. Lebenserfolgte zur Bundestagswahl 1972 mit der Absenkung des aktiven jahr (§ 19 Strafgesetzbuch) ein wesentlicher Einschnitt. Mit dem Wahlalters und (wegen der Vielzahl rechtlicher Folgeregelungen Erreichen des 16. Lebensjahres werden hingegen nur einige Einzeitlich verzögert) 1975 mit der Herabsetzung der Volljährigkeit schränkungen des Jugendschutzes gelockert (z. B. Ausgang ohne (und damit der passiven Wahlberechtigung) auf 18 Jahre. Erwachsenenbegleitung bis 24 Uhr). (…) Der Vorschlag nach einer weiteren Senkung des Wahlalters wird Oft wird als Begründung für eine Senkung des Wahlalters das verallerdings nicht mit der Forderung nach einer weiteren Absenmeintlich hohe Politikinteresse von minderjährigen Jugendlichen kung der Volljährigkeitsgrenze verbunden. Die sich daraus ergeangeführt. Dafür gibt es keine empirischen Belege. Im Gegenteil bende Entkoppelung von Wahlberechtigung und Volljährigkeit stimmen die vorliegenden Studien darin überein, dass das Politiführt zur grundsätzlichen Problematik, ob Bürgerrechte wie das kinteresse von 16/17-Jährigen deutlich geringer ausgeprägt ist als Wahlrecht nicht an die Bürgerpflichten gebunden sein sollten, die das von älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen. zur Volljährigkeit gehören. © Stephan Eisel: Wahlrecht, Volljährigkeit und Politikinteresse?, (Konrad-Adenauer-StifDer innere Zusammenhang zwischen Wahlalter und Volljährigkeit tung), www.kas.de/wf/de/33.29980/, Stand: 18.10.2012, vgl. auch Blog: konkretisiert sich in der Frage, warum jemand über die Geschicke buergerbeteiligung.wordpress.com der Gesellschaft mitentscheiden soll, den diese Gesellschaft noch nicht für reif genug hält, seine eigenen Lebensverhältnisse zu regeln:

D&E

Heft 65 · 2013

»Wa hl a lt er 16 « – eine Ch a n ce z ur Über w ind un g d er P o l i t ik v er d r o s s e nhei t ?

67

BÜRGERBETEILIGUNG IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

10. »Projekt Grenzen-Los!« Trinationale Zusammenarbeit für eine Engagementkultur JEANNETTE BEHRINGER

D

68

as Projekt »Grenzen-Los! Freiwilliges Engagement in Deutschland, Österreich und der Schweiz« wurde im Jahr 2007 durch die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg ins Leben gerufen. »Grenzen-Los« ist eine trinationale und trisektorale Kooperation, die Organisationen aus Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft aus Deutschland, Österreich und der Schweiz umfasst. In ihr arbeiten acht Organisationen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zum Thema des zivilgesellschaftlichen, freiwilligen Engagements grenzüberschreitend zusammen. Seit Beginn der Kooperation haben sich umfassende Möglichkeiten des Austauschs zu länderspezifischen Lösungsansätzen und Akteuren entwickelt. Die Kooperation möchte sich zu einem Netzwerk weiterentwickeln, das neue Formen des grenzüberschreitenden, spezifischen Austauschs zur Thematik der weiteren Entwicklung einer demoAbb. 1 Kongress »Grenzen-Los!«, 2009 in Konstanz © Andreas Kaier, Esslingen kratischen Zivilgesellschaft, des freiwilligen Engagements und partizipativer Strukuren sowie deren (SGG) sowie »MIGROS Kulturprozent«. Sind in Deutschland und gesellschaftlichen Auswirkungen erarbeiten wird. Dabei solÖsterreich Organisationen der öffentlichen Hand Trägerinnen len zunehmend die Rolle des Staates und der Unternehmen von »Grenzen-Los!«, bearbeiten in der Schweiz vor allem zivilgesowie die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Strukturen sellschaftliche und wirtschaftliche Träger diese Aufgabe auf natigrenzüberschreitend diskutiert werden. onaler Ebene.

Warum ein grenzüberschreitendes Projekt zum freiwilligen Engagement?

Was kann Beteiligung und Selbstorganisation für die Förderung von Engagement leisten?

Freiwilliges Engagement spielt in vielfältiger Form eine zentrale Rolle in unserer Gesellschaft: Als Träger von Lebensqualität, als Ausgangspunkt für ein gutes Zusammenleben, als Feld, in dem wichtige kommunale Aufgaben übernommen werden oder wenn es darum geht zu diskutieren, wie wir uns als Gesellschaft organisieren und weiterentwickeln. Das Netzwerk »Grenzen-Los!«, das Organisationen aus Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft aus Deutschland, Österreich und der Schweiz umfasst, widmete sich deshalb in einer Tagungsreihe der Frage »Wie gelingt es, dieses wichtige Engagement in unserer Gesellschaft bestmöglich zu unterstützen und zu fördern?«. Ziel der Kooperation ist der länderübergreifende Wissenstransfer sowie die Identifizierung gemeinsamer Fragestellungen und die Entwicklung von Lösungsansätzen. Nach einer Tagung in Konstanz (2009) und in Zürich (2010) beschäftigte sich die dritte Tagung des Netzwerks in Dornbirn, Österreich (2011), mit der Wechselwirkung von Beteiligung und Selbstorganisation als wesentlicher Aspekte bürgerschaftlichen Engagements. Die »Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg« lud für diese Konferenzen Vertreter des »Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend« (BMFSFJ), des »Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement« (BBE) sowie des damaligen »Ministeriums für Arbeit und Soziales Baden-Württemberg« ein. Aus Österreich sind das »Lebensministerium« sowie das »Büro für Zukunftsfragen des Landes Vorarlberg« beteiligt, aus der Schweiz die »Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft«

Leitend für die Zusammenarbeit war der Gedanke, die Bedeutung des freiwilligen Engagements im deutschsprachigen Raum in seinen unterschiedlichen gesellschaftlichen Wirkungen als zentrales Element einer lebendigen Zivilgesellschaft und Demokratie, für sozialen Zusammenhalt und Stabilität sowie als Voraussetzung für eine Nachhaltige Entwicklung deutlich zu machen. Dazu trat der transdisziplinäre Wissensaustausch: Wissenschaft soll von Erfahrungen und drängenden offenen Fragen aus der Praxis Kenntnis erhalten, erfahrene Personen aus dem Feld erhalten eine »komprimierte Gelegenheit«, sich mit wissenschaftlichen Befunden zu Entwicklungen des freiwilligen Engagements auf gesellschaftlicher Ebene auseinanderzusetzen. Des Weiteren steht der Gedanke der grenzüberschreitenden Vernetzung im Zentrum: Menschen sollen sich begegnen, austauschen, vernetzen. Die erste Tagung (2009) hatte, ausgehend von der bundesdeutschen Diskussion, das Ziel, grundlegende und aktuelle Fragestellungen des Diskurses zum freiwilligen Engagement wie Ausmaß, aktuelle Erscheinungsformen, Akteure und Motivationen des freiwilligen Engagements, oder auch Voraussetzungen und Zugänge, Wirkungen von Engagement am Beispiel der interkulturellen Integration aufzugreifen. Die zweite Tagung hatte die in der schweizerischen Diskussion wichtige Frage nach der Rolle des freiwilligen Engagements als einen Beitrag für lokale Demokratie und sozialen Zusammenhalt in den Mittelpunkt gerückt. Diese wurden anhand spezifischer Fragestellungen weiter vertieft, zum Bei-

»Projekt Grenzen-Los!« Trinationale Zusammenarbeit für eine Engagement kultur

D&E

Heft 65 · 2013

spiel in der Frage nach den Potenzialen des Engagements in der Integrations- und Inklusionsförderung oder im Rahmen von Generationenbeziehungen. Die dritte Tagung in Dornbirn tagte im Format einer Open Space Anordnung zum Thema »Engagement, politische Partizipation und Nachhaltige Entwicklung«.

Gemeinsame Motivationen, unterschiedliche Kulturen In einer Zeit, in der das europäische Zusammenwachsen groß geschrieben wird, wird eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit gern eingefordert. Dennoch: Was ist der »Mehrwert« eines solchen Projekts? Welche Erfahrungen und Erkenntnisse wurden bisher gesammelt? Und was können Entwicklungsperspektiven sein? Eine der wichtigsten Erkenntnisse war bisher: Je länger die Zusammenarbeit andauerte, je mehr voneinander gelernt und erfahren wurde, desto deutlicher traten auch die länderspezifische Unterschiede zutage. Da sich die Kooperation bislang im deutschsprachigen Raum bewegt, haben sich die Partnerorganisationen häufig in der unbewussten Annahme »ertappt«, dass sich freiwilliges Engagement in den drei Ländern mehr oder weniger ähnlich darstellt. Die Unterschiede sind jedoch größer als angenommen. Bereits bei der Suche nach einer gemeinsamen Begrifflichkeit hat die Diskussion zwischen den in der Schweiz eher gebräuchlichen Begriffen »Freiwilligkeit«, »Freiwilligenarbeit« und dem vor allem in Deutschland durch die Enquete-Kommission des Bundestags »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« geprägten Begriffs »Bürgerschaftliches Engagement« höchst unterschiedliche Auffassungen und Entwicklungen der politischen Kultur und deren Bedeutung für Zivilgesellschaft und Demokratie zutage gefördert. In der Schweiz sind die Gesellschaft und der Staat auf die freiwillige Tätigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger wesentlich stärker angewiesen als in Österreich oder Deutschland. Insbesondere die staatliche Unterstützung auf der Ebene des Bundes ist strukturell weit weniger ausgeprägt. Aufgrund des stärkeren Föderalismus ist sie regional und lokal sehr unterschiedlich und wird stärker durch Kantone und Gemeinden wahrgenommen. Hingegen wird in den stärker repräsentativ-demokratischen Kulturen in Österreich und Deutschland die Rolle und der Charakter des freiwilligen Engagements nicht in erster Linie für den sozialen Zusammenhalt diskutiert, sondern wesentlich stärker in seiner Funktion als zusätzliches politisches Engagement wahrgenommen. Diese Diskussion wird durch die aktuelle Krise der Legitimation politischer Parteien und durch die Krise der Repräsentation verstärkt. So sind in Deutschland und in Österreich vermehrt staatliche Strukturen für die Förderung des freiwilligen Engagements vorhanden – gleichzeitig ist damit eine höhere Steuerung durch staatliche Instanzen vorgezeichnet. Länderstudien erfassen deshalb das, was als »freiwilliges Engagement« gilt, zum Teil unterschiedlich. Dennoch zeichnen sich auch gemeinsame Trends und Entwicklungen ab, wie zum Beispiel die zunehmende »Monetarisierung« im freiwilligen Engagement, ihre Multi-Funktionalisierung oder auch die immer größere Inanspruchnahme der Individuen durch den Arbeitsmarkt, die Zeitressourcen für freiwilliges Engagement geringer werden lassen. Gleichzeitig sind Seniorinnen und Senioren in allen Ländern eine Zielgruppe, deren Kompetenz, Gestaltungswille und auch deren Zeitressourcen in den kommenden Jahren erheblich mehr Gewicht gewinnen werden.

Abb. 2 Flipchart aus der Open-Space Konferenz »Grenzen-Los!« vom 21./22. November 2011 in Dornbirn, Österreich © Jeannette Behringer

welchen Themenfeldern?« zu betrachten. Vielmehr liegt das Interesse darin, in einer nächsten Phase spezifische Fragestellungen, die länderspezifisch einzigartig oder auch länderübergreifend beobachtet werden, vertieft zu diskutieren. Dies soll die Möglichkeit und die Chance bieten, sich gegenseitig zu unterstützen, länderübergreifende Lösungswege zu entwickeln, d. h. kollegiale Beratung zu leisten. Die Erweiterung um Organisationen aus anderen Ländern wäre deshalb nicht nur denkbar, sondern auch wünschenswert. Die Herausforderung in dieser grenzüberschreitenden Zusammenarbeit besteht aktuell vor allem darin, einerseits einer naiven »Übertragungs- und Transferlogik« eines länderspezifisch gewachsenen Projektes zu entgehen, andererseits, trotz bestehender Unterschiede, Potenziale für die je eigene Kultur zu erkennen. Als wichtige Voraussetzung für dieses Ziel wird deshalb aktuell der qualitative Ansatz eines »Verstehen statt Vergleichen« (Rita Trattnigg) diskutiert. Literaturhinweise Europäisches Netzwerk Freiwilliges Engagement (Hrsg.) (2009): GrenzenLos!. Freiwilliges Engagement in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dokumentation zur Internationalen Vernetzungskonferenz Konstanz, 16./17. Februar 2009 Der Bürger im Staat (BIS), Bürgerschaftliches Engagement, Nr. 4–2007. Gensicke, Thomas/Picot, Sybille/Geiss, Sabine: Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999–2004, Wiesbaden, 2006.

Ausblick Geprägt durch diese Erfahrung von Gemeinsamkeit, aber auch Unterschieden im freiwilligen Engagement, ist es das Ziel des Netzwerks, nicht nur in einer Art »Länder-Benchmarking« die sich verändernden Nuancen eines »Wo engagieren sich die meisten in

D&E

Heft 65 · 2013

»Projekt Grenzen-Los!« Trinationale Zusammenarbeit für eine Engagement kultur

69

JEANNETTE BEHRINGER

70

MATERIALIEN M 1 Thomas Olk: »Topographie des freiwilligen Engagements in Deutschland« Freiwilliges beziehungsweise bürgerschaftliches Engagement hat in Deutschland eine lange Tradition. So haben etwa im Verlaufe des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Formen des bürgerschaftlichen Engagements (bürgerliche Sozialreform, Frauenbewegung, christliche Bewegungen sowie die Stein-Hardenberg’sche Kommunalreform) zur Entstehung des deutschen Sozialstaates beigetragen. Dennoch führten Formen des freiwilligen beziehungsweise bürgerschaftlichen Engagements in der Folgezeit ein Schattendasein, was nicht zuletzt mit der Expansion des deutschen Sozialstaates zusammenhängt. Erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre stieg angesichts der Grenzen des Wachstums des Wohlfahrtsstaates die Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen Formen des freiwilligen Engagements wieder an. Mit dem Internationalen Jahr der Freiwilligen (IJF) im Jahre 2001 und der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« (1999 bis 2002) erhielt das freiwillige Engagement sogar eine prominente öffentliche Sichtbarkeit, die mit der Initiative Zivil-Engagement (IZE) des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und dem Nationalen Forum für Engagement und Demokratie einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. In Deutschland gibt es bis heute keinen Konsens hinsichtlich der Begrifflichkeit. Traditionell werden unentgeltliche und freiwillige Tätigkeiten im öffentlichen Raum mit dem Begriff des »Ehrenamtes« belegt. Inzwischen werden neben dem klassischen Begriff des Ehrenamtes insbesondere die Termini »freiwilliges Engagement« und »bürgerschaftliches Engagement« gebraucht. So verständigte sich die Enquete-Kommission im Jahr 1999 auf den Begriff des »bürgerschaftlichen Engagements«, um im Anschluss an republikanische Denktraditionen die gesellschaftspolitische Dimension freiwilligen Handelns zu betonen. Der erstmalig im Jahre 1999 in Auftrag gegebene Freiwilligensurvey spricht relativ neutral von »freiwilligem Engagement«. Hinsichtlich der operativen Dimension gibt es allerdings Konsens dahingehend, dass es sich bei (freiwilligem beziehungsweise bürgerschaftlichem) Engagement um freiwillige, nicht auf materiellen Gewinn gerichtete, gemeinwohlorientierte und im öffentlichen Raum statt findende Tätigkeiten handelt, die in der Regel gemeinschaftlich beziehungsweise kooperativ ausgeübt werden. (…) International vergleichende Angaben lassen sich (…) aus dem ESS (»European Social Survey«) ableiten. Danach liegt der prozentuale Anteil ehrenamtlich Aktiver mit 24,6 Prozent in Deutschland deutlich über dem internationalen Durchschnitt (der bei 17,6 Prozent liegt). Die höchsten Beteiligungsquoten weisen Norwegen (36,6 Prozent), Schweden (34,7 Prozent) und die Niederlande (30,6 Prozent) auf, die niedrigsten dagegen Italien (4,6 Prozent), Polen (5,6 Prozent) und Portugal (6,1 Prozent). (…) Was die Tätigkeitsbereiche anbelangt, so bleibt der Bereich »Sport und Bewegung« nach wie vor der mit Abstand größte Bereich, gefolgt von »Schule/ Kindergarten«, »Kirche und Religion« sowie »Kultur und Musik« sowie dem »sozialen Bereich«. In dem Zeitraum zwischen 1999 und 2004 sind insbesondere die Bereiche »Kindergarten/Schule«, »außerschulische Jugendarbeit und Erwachsenenbildung« sowie der »soziale Bereich« gewachsen. Dabei geht diese Zunahme in den beiden erstgenannten Bereichen auf das Konto der jungen Leute (14 bis 30 Jahre), während das Wachstum des »sozialen Bereichs« vor allem durch Menschen ab 40 Jahre getragen wird. (…) Das quantitative Ausmaß des freiwilligen Engagements ist in Deutschland mit 36 Prozent durchaus (für manche überraschend) hoch; mit dieser Engagementquote befindet sich Deutschland im internationalen Vergleich im oberen Mittelfeld. Allerdings gibt es eine hohe soziale Selektivität nach Bildungsstand, sozialer Vernetzung, ethnischer Zugehörigkeit, beruflicher Tätigkeit, etc.;

M 2 Organisatorinnen, Organisatoren, Referentinnen und Referenten des Kongresses »Grenzen-Los!« in Konstanz 2009: (von links): Dr. Jeannette Behringer, Dr. Isabelle Stadelmann-Steffen, Professor Dr. Thomas Olk, Eva More-Hollerweger, Lothar Frick, Direktor der LpB Baden-Württemberg © Andreas Kaier, Esslingen

(…) Viele Organisationen klagen dennoch über einen Rückgang ehrenamtlicher Beteiligung und schwindender Bereitschaft zur Ausübung langfristig bindender Engagements etwa im Führungsund Leitungsbereich; hier erweist sich ein weiteres Mal, dass freiwilliges Engagement eine schwer zu bindende Ressource ist, die entsprechender Rahmenbedingungen bedarf © Thomas Olk: »Topographie des freiwilligen Engagements in Deutschland«, in: GrenzenLos!, a. a. O., S. 22ff., www.lpb-bw.de/6014.html

M 3 Isabelle Stadelmann-Steffen: »Topographie des freiwilligen Engagements in der Schweiz« Rund ein Viertel der Schweizer Wohnbevölkerung ist innerhalb von Vereinsstrukturen freiwillig engagiert. Hierbei können die bereits in früheren Untersuchungen festgestellten Unterschiede zwischen der Romandie beziehungsweise dem Tessin und der Deutschschweiz bestätigt werden. In der Deutschschweiz sind substantiell mehr Personen freiwillig tätig, als dies in der lateinischen Schweiz der Fall ist. Dies gilt nicht nur für freiwillige Tätigkeiten im Allgemeinen, sondern ebenso für die Übernahme von Ehrenämtern im Besonderen. Mit einem Bevölkerungsanteil von gut zehn Prozent sind die meisten der formell Freiwilligen in Sport- und Freizeitvereinen tätig. Umgekehrt engagieren sich weniger als zwei Prozent in politischen Parteien oder in Menschenrechts- und Umweltverbänden. Darüber hinaus ist ein hoher sozialer Status, das heißt eine hohe Bildung, ein hohes Haushaltseinkommen und eine gute beru iche Stellung dem freiwilligen Engagement grundsätzlich förderlich. Demgegenüber ist die verfügbare Zeit nicht das wesentliche Merkmal formell Freiwilliger (…). Gerade Bevölkerungsgruppen, die im Prinzip über zeitliche Ressourcen verfügen, um sich in Vereinen und Organisationen freiwillig zu betätigen, wie etwa Rentner, Arbeitslose oder Teilzeiterwerbstätige, engagieren sich nicht so stark wie erwartet. Vielmehr ist die soziale Integration – sei es über den Beruf oder über familiäre Beziehungen und Freunde – von zentraler Bedeutung für ein freiwilliges oder ehrenamtliches Engagement. (…) In der Schweiz sind insgesamt über 37 Prozent der Bevölkerung informell, also außerhalb von Vereinen und Organisationen, freiwillig tätig. Ähnlich wie beim formell freiwilligen Engagement ergeben sich dabei erhebliche regionale Unterschiede. Vor allem in den Kantonen der Ost- und Zentralschweiz ist das informelle En-

»Projekt Grenzen-Los!« Trinationale Zusammenarbeit für eine Engagement kultur

D&E

Heft 65 · 2013

gagement ausgeprägt, während in der Romandie und im Tessin ein deutlich geringerer Anteil von Personen informelle Freiwilligentätigkeit ausübt. Die informelle Freiwilligkeit kann dabei überwiegend mit persönlichen Hilfeleistungen für Freunde und Bekannte beschrieben werden: Rund zwei Drittel der informell Freiwilligen gehen im Rahmen ihres Engagements anderen Menschen zu Hilfe. (…) Das freiwillige Engagement der Schweizerinnen und Schweizer ist mehr als altruistisches Verhalten. Dies spiegelt sich auch in den wichtigsten Motiven der Ausübung formell freiwilliger Tätigkeiten wider. Während uneigennützige, wohltätige Aspekte zwar eine wichtige Rolle für die Übernahme von freiwilligen und ehrenamtlichen Aufgaben spielen, sind stärker selbstbezogene Argumente wie das Zusammensein mit Freunden oder der Spaß an der Tätigkeit für viele der Hauptgrund ihres freiwilligen Engagements. Obwohl der Ausübung freiwilliger Tätigkeiten damit in erster Linie persönliche Motive zu Grunde liegen, kommt der Anstoß für die Übernahme freiwilliger Arbeiten dennoch häufig von außen. Hier bilden persönliche Kontakte und Netzwerke den hauptsächlichen Beweggrund für freiwillige Tätigkeiten in Vereinen und Organisationen. Allgemeine Hinweise aus den Medien oder durch Informations- und Kontaktstellen geben nur in Einzelfällen den Anstoß für ein freiwilliges Engagement. © Isabelle Stadelmann-Steffen: »Topographie des freiwilligen Engagements in der Schweiz«, a. a. O.,S. 26ff., www.lpb-bw.de/6014.html

M 4 Eva More-Hollerweger: »Topographie des freiwilligen Engagements in Österreich« Freiwilligenarbeit findet in Österreich – wie in vielen Ländern – in unterschiedlichsten Bereichen und Formen statt. Ebenso vielfältig und facettenreich wie die Tätigkeiten sind die Personen, die sich ehrenamtlich engagieren und ihre Motive. Freiwilligenarbeit wird gerne als niederschwellige Möglichkeit gesehen, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, die grundsätzlich allen Menschen offen steht. Empirische Ergebnisse zeigen jedoch, dass diese Möglichkeit nicht von allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen genutzt wird. Beispielsweise weisen erwerbstätige, besser gebildete Personen auch einen höheren Beteiligungsgrad bezüglich Freiwilligenarbeit auf. Die Entscheidung, sich freiwillig zu engagieren, ist nicht nur auf individuelle Präferenzen zurückzuführen, sondern wird durch verschiedenste Faktoren beeinflusst. Der Überblick über das freiwillige Engagement in Österreich beleuchtet die gesellschaftlichen, politischen und institutionellen Rahmenbedingungen. Dabei wird auf Daten zurückgegriffen, die im Rahmen einer Zusatzerhebung zum Mikrozensus Ende 2006 erhoben wurden und Aufschluss über das Ausmaß des freiwilligen Engagements und die Beteiligungsstruktur in Österreich geben. (…) Für die Erhebung wurde folgende Definition gewählt: Freiwilligenarbeit ist »eine Arbeitsleistung, die freiwillig (das heißt ohne gesetzliche Verpflichtung) geleistet wird, der kein monetärer Gegenfluss gegenübersteht (die also unbezahlt geleistet wird) und deren Ergebnis Konsumentinnen und Konsumenten außerhalb des eigenen Haushalts zufließt«. (…). Im Gegensatz zu anderen Studien wurde in dieser Erhebung auch informelle Freiwilligenarbeit in Betracht gezogen, also auch jene Form von Freiwilligenarbeit, die in keinem organisationellen Kontext stattfindet. Dabei handelt es sich vor allem um die Nachbarschaftshilfe. Durch die Art der Befragung ist es jedoch möglich, zwischen informeller und formeller Freiwilligenarbeit zu unterscheiden.

D&E

Heft 65 · 2013

Bereich

Stunden pro Woche

Katastrophenhilfsdienste

1.575.932

Kultur, Kunst, Freizeit und Unterhaltung

1.761.588

Umwelt-, Natur- und Tierschutz

349.906

Kirchliche und religiöse Dienste

1.026.121

Soziales und Gesundheit

564.689

Politische Arbeit und Interessensvertretung

640.905

Gemeinwesen

278.223

Bildung

302.910

Sport und Bewegung

1.418.408

Summe formelle FWA

7.918.683

Informelle FWA/Nachbarschaftshilfe

6.773.996

Gesamt

14.692.679

M 5 Wöchentliches Arbeitsvolumen der Freiwilligenarbeit nach Tätigkeitsbereichen in Österreich

© Eva More-Hollerweger, Topographie des freiwilligen Engagements in Österreich, in: Grenzen-Los! (2009); S. 32

Demnach beteiligen sich 44 Prozent der österreichischen Bevölkerung über 15 Jahren in irgendeiner Weise an Freiwilligenarbeit, 28 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher beteiligen sich an formeller Freiwilligenarbeit, 27 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher leisten informelle Freiwilligenarbeit (…). Ehrenamtliche Arbeit ist per Definition eine Leistung für andere. Diese wird zwar nicht am Markt verkauft und hat daher keinen Preis, wohl aber einen ökonomischen Wert. Wie andere Aktivitäten jenseits des Marktes wurde ehrenamtliche Arbeit lange Zeit kaum als Beitrag zur Wohlfahrt wahrgenommen. Sie geht beispielsweise nicht in die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts ein, das als wesentlicher Wohlfahrtsindikator gilt und gemeinhin zur Darstellung der wirtschaftlichen Situation eines Landes herangezogen wird. Zwar existieren mittlerweile alternative Systeme an Kennzahlen, deren Ziel es ist, ein stärker ganzheitliches Bild der ökonomischen Lage von Ländern zu zeichnen beziehungsweise gibt es Bestrebungen, Nicht-Marktleistungen in das »system of national accounts« zu integrieren. Derlei Ansätze sind jedoch im Alltagsgebrauch wirtschaftlicher Kennzahlen noch wenig verbreitet. (…) Dies ist insofern problematisch, als unbezahlte Arbeit einen wesentlichen Beitrag für das Funktionieren einer Gesellschaft und damit auch für die ökonomische Leistungsfähigkeit eines Landes leistet. Insgesamt werden von Freiwilligen in Österreich – hochgerechnet aus den Daten der Mikrozensuszusatzerhebung – wöchentlich knapp 14,7 Millionen Arbeitsstunden geleistet, knapp 8 Millionen unter Einbindung in eine Organisation, also in Form von formeller Freiwilligenarbeit, 6,7 Millionen Arbeitsstunden werden in Form von informeller Freiwilligenarbeit geleistet (| M 4 |). In Summe entspricht dies der Arbeit von rund 425.000 Vollzeitäquivalenten (40 Stunden). In Österreich kommt dies dem Arbeitsvolumen von 10,7 Prozent der unselbstständigen Erwerbstätigen gleich. © Eva More-Hollerweger: »Topographie des freiwilligen Engagements in Österreich«, in: Grenzen-Los!, a. a. O. S. 30ff., www.lpb-bw.de/6014.html

»Projekt Grenzen-Los!« Trinationale Zusammenarbeit für eine Engagement kultur

71

Deutschland & Europa intern

D&E – Autorinnen und Autoren – Heft 65 »Bürgerbeteiligung in Deutschland und Europa«

Abb. 1  Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung im Staatsministerium der baden-württembergischen Landes­ regierung

Abb. 2  Professorin Dr. Patrizia Nanz, Professorin für Politische ­Theorie an der Universität Bremen und Vorsitzende des 2009 gegründeten »European Institute for Public Participation« (EIPP)

Abb. 3  Dr. Jan-Hendrik Kamlage, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen im Bereich Verantwortungskultur

Abb. 4  Professor em. Dr. Oscar W. Gabriel, bis 2012 Leiter der Abteilung »Politische Systeme und Politische Soziologie« an der Universität Stuttgart

Abb. 5  Professor Dr. Franz Thedieck, Hochschule für öffentliche ­Verwaltung Kehl

Abb. 6  Studiendirektor Dr. Andreas Grießinger, Fachreferent für Geschichte am Regierungspräsidium Freiburg (Gymnasien)

Abb. 7  Dr. Jan-Hinrik Schmidt, Wissenschaftlicher Referent für ­Digitale Interaktive Medien und Politische Kommunikation, HansBredow-Institut für Medien­ forschung, Hamburg

Abb. 8  Professor em. Dr. Klaus Hurrelmann, Jugendforscher, 1979–2009 Professor an der Universität Bielefeld. Seit seiner Emeritierung arbeitet er als Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin.

Abb. 9  Dr. Jan Kercher, Kommunikationswissenschaftler, Universität Stuttgart-Hohenheim, seit 2013 Referent beim Deutschen Akademischen Austausch Dienst (DAAD)

Abb. 10  Dr. Jeannette Behringer, bis 2009 Fachreferentin für Bürgerschaftliches und ehrenamtliches Engagement der LpB Ba-Wü; seit 2012 Fachstelle Gesellschaft & Ethik der ev.-ref. Landeskirche des Kantons Zürich

Abb. 11  Studiendirektor Jürgen Kalb, Fachreferent LpB, Fachberater für Geschichte, Gemeinschaftskunde und Wirtschaft am RP Stuttgart, Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium Stuttgart – Bad Cannstatt

72

D&E – Autorinnen und Autoren

D&E

Heft 65 · 2013

Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77 [email protected], www.lpb-bw.de

Direktor: Lothar Frick Büro des Direktors: Sabina Wilhelm Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ Stabsstelle Kommunikation und Marketing Leiter: Werner Fichter Felix Steinbrenner

-60 -62 -40

-63 -64

Abteilung Zentraler Service Abteilungsleiter: Kai-Uwe Hecht -10 Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer -12 Personal: N. N. -13 Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14 Klaudia Saupe -49 Siegfried Kloske, Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-137 Abteilung Demokratisches Engagement Abteilungsleiterin/Gedenkstättenarbeit: Sibylle Thelen* -30 Politische Landeskunde: Dr. Iris Häuser* -20 Schülerwettbewerb des Landtags: Monika Greiner* -25 Robby Geyer -26 Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel -29/-32 Jugend und Politik: Angelika Barth* -22 Freiwilliges Ökologisches Jahr: Steffen Vogel* -35 Alexander Werwein-Bagemühl* -36 Charlotte Becher*, Stefan Paller* -34, -37 Abteilung Medien und Methoden Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ -40 Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs: Dr. Reinhold Weber -42 Deutschland & Europa: Jürgen Kalb -43 Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe: Siegfried Frech -44 Unterrichtsmedien: Michael Lebisch -47 E-Learning: Susanne Meir -46 Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik, Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-136 Internet-Redaktion: Klaudia Saupe, Julia Maier -49/-46

Außenstelle Freiburg Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg Telefon: 0761/20773-0, Fax -99 Leiter: Dr. Michael Wehner N. N.

-77 -33

Außenstelle Heidelberg Plöck 22, 69117 Heidelberg Telefon: 06221/6078-0, Fax -22 Leiter: Wolfgang Berger N. N.

-14 -13

Außenstelle Tübingen Die Außenstelle Tübingen wurde zum 1.5.2012 aufgelöst. Projekt Extremismusprävention Stuttgart: Stafflenbergstraße 38 Leiterin: Regina Bossert Assistentin: Friederike Hartl

-81 -82

* Paulinenstraße 44–46, 70178 Stuttgart Telefon: 0711/164099-0, Fax -55

LpB-Shops/Publikationsausgaben Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0 Montag bis Freitag 8.00–12.00 Uhr und 13.00–16.30 Uhr

Abteilung Haus auf der Alb Tagungszentrum Haus auf der Alb, Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach Telefon 07125/152-0, Fax -100 www.hausaufderalb.de Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik: Dr. Markus Hug Schule und Bildung/Integration und Migration: Robert Feil Internationale Politik und Friedenssicherung/ Integration und Migration: Wolfgang Hesse Europa – Einheit und Vielfalt: Thomas Schinkel Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann Hausmanagement: Nina Deiß

Außenstellen Regionale Arbeit Politische Tage für Schülerinnen und Schüler Veranstaltungen für den Schulbereich

Freiburg

-146

Bertoldstraße 55, Telefon 0761/20773-10 Dienstag und Donnerstag 9.00–17.00 Uhr

Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-11 Dienstag, 9.00–15.00 Uhr Mittwoch und Donnerstag 13.00–17.00 Uhr

-139 Stuttgart -140 -147 -121 -109

Stafflenbergstraße 38, Telefon 0711/164099-66 Mittwoch 14.00–17.00 Uhr

Newsletter »einblick« anfordern unter www.lpb-bw.de/newsletter.html

DEUTSCHLAND & EUROPA IM INTERNET Aktuelle, ältere und vergriffene Hefte zum kostenlosen Herunterladen: www.deutschlandundeuropa.de

BESTELLUNGEN Alle Veröffentlichungen der Landeszentrale (Zeitschriften auch in Klassensätzen) können schriftlich bestellt werden bei: Landeszentrale für politische Bildung, Stabsstelle Kommunikation und Marketing Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax 07 11/164 099-77 [email protected] oder im Webshop: www.lpb-bw.de/shop Wenn Sie nur kostenlose Titel mit einem Gewicht unter 0,5 kg bestellen, fallen für Sie keine Versandkosten an. Für Sendungen über 0,5 kg sowie bei Lieferungen kostenpflichtiger Produkte werden Versandkosten berechnet.

KOSTENPFLICHTIGE EINZELHEFTE UND ABONNEMENTS FÜR INTERESSENTEN AUSSERHALB BADEN-WÜRTTEMBERGS Abonnements für 6,– Euro pro Jahr (2 Hefte) über: LpB, Redaktion »Deutschland & Europa«, [email protected], Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart.

www.lpb-bw.de