Die Vampirstriga vom Balkan

Mit einem leichten Fingerschnippen zähmte sie das Feuer, bevor es ihr schaden konnte. Radko meinte, ein Dämon wäre der Glut ent- stiegen. Ängstlichkeit, die ...
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Petra Starosky

Die Vampirstriga vom Balkan Fantasy

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© 2016 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2016 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag Coverbild: fotolia: Young witch in a dungeon. Halloween concept. Datei: 71653271, Urheber: Maksim Šmeljov Printed in Germany Taschenbuch: Großdruck: eBook epub: eBook PDF: Sonderdruck

ISBN 978-3-8459-1912-6 ISBN 978-3-8459-1913-3 ISBN 978-3-8459-1914-0 ISBN 978-3-8459-1915-7 Mini-Buch ohne ISBN

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Kapitel 1

Annabella schreckte aus traumlosem Schlaf auf. Wie ein Messerstich durchfuhr sie eine dunkle Ahnung von Gefahr und entriss sie der sanften Milde des Vergessens. Sie rieb sich verwundert die Augen, doch sie fühlte sich nicht wach. Eine schläfrige Benommenheit lag schwer auf ihren Sinnen, die sie sonst nur in der Morgendämmerung verspürte, bevor sie sich zur Ruhe legte. Ihre Schlafkammer lag verborgen im Berg. Nur ein geheimer Zugang führte von dem alten Burggemäuer hinab in den Schoß des Felsgesteins. Geschützt vor dem Tageslicht und ungebetenen Eindringlingen verbrachte sie den Tag in totenähnlichem Schlaf. Nichts konnte sie daraus erwecken, solange die Sonne am Himmelszelt herrschte. Trotzdem war sie an diesem Abend bereits erwacht. 4

‚Es ist zu früh.‘ Sie ahnte, dass die Sonne noch nicht hinter den Gipfeln des Balkans versunken war. ‚Was hat mich vor der Zeit geweckt?‘, fragte sie sich besorgt. Sie lag regungslos auf ihrem Lager und lauschte in die Dunkelheit, die sie wie ein schwarzes Tuch umhüllte. Kein Laut drang an ihr Ohr, kein Mäusetrappeln, kein Rascheln, kein Atemhauch. Doch diese Stille beruhigte sie keineswegs. Eine seltsame Erregung ergriff sie. Unruhig schälte sie sich aus den Fellen der Schlafstatt. Auf bloßen Füßen schlich sie aus der Kammer. Vorsichtig lugte sie aus dem engen Stollen heraus, der den Hauptgang mit der Schlafkammer verband. Tiefste Finsternis umgab sie, dennoch erkannte sie die vertrauten Umrisse. Ein Gang war mit spitzen Hacken in das Gestein gehauen worden. Er erstreckte sich bis weit in den Berg hinein. Zu beiden Seiten zweigten Durchgänge ab. Dahinter verbargen sich kleine Gelasse mit 5

zahllosen Truhen und Kisten. Eine wahre Schatzkammer hatte Meister Aggelos im Laufe seines langen Daseins angelegt. Alles erschien ihr still und einsam wie immer. Witternd sog sie den Geruch des Bergesinneren ein. ‚Nichts Fremdes durchweht das Versteck.‘ Sie schüttelte verwundert den Kopf. Im nächsten Augenblick jedoch meinte sie, einen huschenden Schatten zu entdecken. Etwas flog an ihr vorbei, ein Lufthauch streifte sie. Erschrocken zuckte Annabella zusammen. ‚Zu groß für eine verirrte Fledermaus‘, ging es ihr durch den Kopf. Sie konnte nicht erkennen, was es war. Noch immer umhüllte ein dunstiger Schleier aus Morpheus Gefilden ihre Sinne und wohl auch ihre scharfen Augen. „Kiwitt - komm mit!‚, drang ein leiser Ruf an ihr Ohr. „Ein Todeskäuzchen?‚ Ein Lächeln stahl sich auf Annabellas Lippen. 6

„Wie hast du dich in den dunklen Berg verirrt?‚ Suchend blickte sie sich nach dem Käuzchen um. „Komm zu mir, ich zeige dir den Weg in den Wald, kleines Vögelchen.‚ Sie streckte lockend die Arme aus. „Wi wi wi - hab keine Angst.‚ Nicht das geringste Flügelschlagen verriet, wo es sein konnte. Stattdessen begann die Dunkelheit um sie herum zu wabbern, als seien es Nebelschwaden. Graue Streifen zerrissen die Finsternis. Lange, fingerähnliche Schatten schlängelten hervor und tasteten nach ihr. Annabella zog sich in eine Felsnische zurück. Ungläubig starrte sie auf das geisterhafte Gebilde. ‚Träume ich?‘ Sie konnte sich kaum erinnern, wann sie das letzte Mal im Schlaf in wunderlichen Gefilden wandelte. 7

Flüstern kroch heran. Ihr Ohr vernahm es nicht, es hallte nur in ihrem Kopf. „Kein Traum! Kiwitt - komm mit!‚ Annabella wusste nicht, was sie von diesem Spuk halten sollte. Sie schlug mit der Hand nach dem seltsamen Schemen. Winzige Glutfünkchen stoben auseinander. Gleich darauf schwebten sie dicht heran und erloschen. ‚Was ist das? Was dringt in unsere Ruhestatt ein?‘ Ein leichter Hauch Schwefel stach ihr plötzlich in die Nase, als sich der Schleier der Finsternis noch dichter an sie drängte. Angewidert schauderte sie. ‚Ich sollte Aggelos aufwecken. Er wird Rat wissen.‘ „Lass den Alten ruhen.‚ Annabella erschrak aufs Neue. Das Fremde schien ihre Gedanken zu lesen. „Folge mir!‚, verlangte das Wispern aus der Dunkelheit. 8

„Oder ängstigst du dich etwa?‚ Hohn schwang in den Worten. ‚Nein‘, entschied Annabella nach kurzem Nachdenken. ‚Weder fürchte ich mich noch will ich Aggelos rufen. Irgendwie kommt mir diese leise Stimme vertraut vor. Ich werde selbst herausfinden, was es ist.‘ „Wohin soll ich dir folgen?‚, flüsterte sie. Die Schattenfinger flimmerten rötlich-blau und deuteten auf die Tür, die hinauf in das Burggemäuer führte. „Aber zuvor bekleide dich! Pfui, schäm dich für deine Blöße!‚ Die Geisterstimme begann empört zu keifen. „Hast du mit deinem sterblichen Leben auch jeden Anstand verloren?‚ Durch den geisterhaften Nebel zuckten grellrote Blitze. Verwundert blickte Annabella an sich herunter. Es war ihre Angewohnheit, sich morgens des Gewandes zu entledigen. Meist war es von nächtlicher Jagd verschmutzt. Sie liebte es, die 9

ganze Nacht durch die dichten Balkanwälder zu streifen. Oft folgte sie den Eulen bei ihrer Beutesuche oder stöberte verirrte Reisende auf, mit deren Blut sie ihren Durst stillte. Doch es behagte ihr nicht, im Schlaf von Waldungeziefer bestiegen zu werden, das sich möglicherweise in ihren Kleidern verbarg. Aggelos hatte mehr als einmal über ihre Befürchtung gespottet: „Ich glaube nicht, dass sie mögen, was durch deine Adern rinnt. Schließlich ist dieser Saft tot und kalt.‚ Aber die Geisterstimme mochte recht haben. Nackt wollte Annabella keineswegs die Burg verlassen. Noch wusste sie nicht, wohin der Weg sie führen sollte. Schnell trat sie in eine Felskammer, in der sich Truhen und Kisten türmten. Sie suchte nicht lange, sondern griff nach dem derben Bauernmädchenkittel, den sie in der Morgendämmerung achtlos auf einen Korb geworfen hatte.

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Sie klopfte den Staub und die Tannennadeln ab, schüttelte einmal kurz ihr Haar und fand sich bereit, dem seltsamen Geflüster zu folgen. Als sie zurück in den Gang trat, umgab sie gewohnte Grabesstille. Keine Spur von der merkwürdigen Erscheinung war mehr zu entdecken. Annabella schüttelte verwundert den Kopf. Dann zuckte sie die Schultern. ‚Ich sollte nachsehen, ob sich jemand in die Burg eingeschlichen hat. Vielleicht war der eigenartige Spuk eine Warnung vor Gefahr.‘ Sie stieg die Wendeltreppe hinauf und öffnete vorsichtig die geheime Tür. Bevor sie in die Dunkelheit des alten Gemäuers eindrang, witterte sie ausgiebig. Kein Hauch von Menschengeblüt wehte ihr entgegen. Lautlos schlich sie durch die Burg. Sie fand das schwere Eingangsportal fest verschlossen, Flure und Gemächer still und unbetreten. In vielen Ecken hockten dicke Spinnen in makellosen Netzen und lauerten auf Beute. 11

‚Menschengetrampel hätte Schaden an den zarten Spinnweben angerichtet.‘ Beruhigt trat sie in den Kaminsaal. Es war der einzige Ort in der Burg, in dem sie sich häufig aufhielt, die Schlafkammer natürlich ausgenommen. Die Fensteröffnungen des Saales waren mit schwerem Holz verschlossen. Sie zog vorsichtig einen Riegel fort und verbarg sich hinter einem Mauerpfeiler. Der Fensterladen sprang auf. Aber kein greller Sonnenstrahl drang durch den Spalt herein, sondern silberweiches Dämmerlicht. ‚Gut, die Sonne ist bereits gesunken. Ich sollte mich nun auch draußen umsehen.‘ Sie verließ das Haus durch eine kleine Kellertür. Leichtfüßig sprang sie hinauf auf den Wehrgang der Mauer und stieg bis auf die Krone des Turmes. Der Burghof lag unberührt unter ihr. Kein verdächtiger Laut drang an ihr Ohr. Hinter den Zinnen verborgen schlenderte sie auf der Burgmauer entlang bis zum Torhaus. 12

Sie spähte hinaus auf die Lichtung vor der morschen Zugbrücke, die der einzige Zugang zur Burg war. Auch sie sah menschenleer aus. Nicht ein Grashalm wurde niedergetreten. ‚Verbirgt sich das Gesindel etwa im Unterholz?‘ Lange sog Annabella die Abendluft ein. ‚Es käme mir sehr gelegen. Ich habe Hunger, jedoch vermag ich niemanden zu entdecken.‘ Erneut schüttelte sie verwundert den Kopf. ‚Was wollte mir die Geisterstimme nur sagen?‘ Sie blickte sich um. Ihr Blick schweifte über die steilen Felsen und das dichte Blätterdach der Bäume, die die Burg umsäumten. Nichts Verdächtiges regte sich in der Abenddämmerung. Ihre Anspannung legte sich. Sie setzte ihren Weg auf der Burgmauer fort, bis sie auf der Krone des zweiten Turmes stand. Die Arme in die Hüften gestemmt, genoss Annabella den Wärmehauch, den die Septembersonne hinterlassen hatte. Die Bergspitzen glühten in feurigem Rot. Die Funken der un13

tergehenden Sonne konnten ihr aber nichts mehr anhaben. Früchteschwerer Herbstduft stieg aus dem Tal auf, das sich hinter dem Wald bis in die bulgarische Ebene erstreckte. Neckisch kitzelte er ihre Nase. Auf den Feldern war reichlich Getreide gereift. Die Obsthaine ächzten unter der Last der Früchte und in den Gärten wartete Wurzelgemüse auf seine Befreiung aus dunkler Erde. Ein sanfter Wind spielte mit ihrem langen Haar. Im Zwielicht des sterbenden Tages schien die rote Lockenpracht mit Rubinen durchwoben. Versonnen lauschte sie dem Gesang der Dämmerung. Die Blätter der Bäume, die bereits ihr buntes Herbstgewand trugen, wiegten sich im Abendwind. Auf seinen Schwingen schwebten vielerlei Klänge an ihr Ohr - Vogelzwitschern und Blätterrauschen, Rascheln im Unterholz und das Plätschern des Bächleins im Burggraben. 14

Eine Eule mit ungewöhnlich rotem Gefieder flog dicht an den Zinnen des Burgturmes vorbei. Der Luftzug ihres Flügelschlages ließ Annabellas Lockenpracht tanzen. Annabella schaute dem Nachtvogel nach. Er zog einen seltsamen Lichtstreif hinter sich her, als er in das Dunkel des Waldes eintauchte. Feuriges Glitzern verfing sich im Blätterwerk. ‚Wie huschende Glühkäferchen‘, lächelte sie. Kurz darauf begann sich aus dem Funkeln ein Schemen zu formen. Er wuchs zwischen dem Eschenlaub, streckte sich räkelnd und nahm eine Weibsgestalt an. Gebannt starrte Annabella in den Wald. ‚Noch ein seltsamer Nachttrug, der meine Sinne narrt? Ein Geist erscheint im Geäst?‘ Ungläubig schüttelte sie den Kopf und rieb sich die Augen. ‚Was für ein Abend, Aggelos wird mir kein Wort glauben.‘ Die Gestalt hockte sich unterdessen auf einen Ast. Ihr glutrotes Haar verwob sich mit den Zweigen und ließ die Blätter erglühen. 15

Der Leib, in ein aschfarbenes Sackgewand gehüllt, verschmolz mit dem Baumstamm. Nur das Antlitz leuchtete silberfahl. Mit tiefgrünen Augen starrte sie suchend auf die Mauerkrone hinauf. Bald fand sie Annabella. Ihre Blicke trafen sich und flochten eine unsichtbare Brücke. Annabella durchzuckte ein eisiger Schauer. Lähmendes Kribbeln kroch an ihren Gliedern herauf. Arme und Beine wurden starr und wollten ihr nicht mehr gehorchen. Aus den Augen der seltsamen Gestalt stoben Funken. Sie flogen wie Pfeile hinauf zur Mauerkrone. Annabella fühlte sich unbehaglich im Bann des glühenden Blickes. Er schien aus einer anderen Welt hervorzubrechen. Sie wollte sich abwenden, doch das Band zu der Fremden hielt sie gefangen. Unfähig zu einer Regung blieb ihr nur, die Gestalt aufmerksam zu betrachten.

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Das Gesicht schien ihr nicht unbekannt, war aber weitaus älter als in ihrer flüchtigen Erinnerung. Tiefe Falten durchfurchten die Wangen. Über die Stirn zog sich eine grindige Narbe bis zum linken Ohr. Die Augenbrauen schienen angesengt, als wären sie dem Feuer zu nah gewesen. ‚Wo habe ich sie nur schon mal gesehen?‘, grübelte sie. Es wollte ihr nicht einfallen. ‚Oder war es in jenem immer wiederkehrenden Traum, der mich zu Lebzeiten quälte? Nein ...‘ Schaudernd verscheuchte sie diese Erinnerung. Der Abend rollte unaufhörlich seinen samtenen Nachtteppich aus und hüllte den Wald bereits in tiefe Dunkelheit, während Annabella auf der Mauerkrone in einem letzten Lichthauch der Dämmerung stand. Immer noch war sie im Bann des rothaarigen Weibes gefangen, von der mittlerweile nicht mehr als das Antlitz aus dem Geäst hervor17

stach. Totenbleich schwebte es zwischen den Zweigen. Für einen Moment verschwamm ihr Blick, als überzog ihn ein Tränenschleier. Er löschte den Funkenregen. Das unheimliche Band zu Annabella zerbröselte. „Wer seid Ihr?‚, formten Annabellas Lippen beklommen. „Was wollt Ihr von mir?‚ Sie erhielt keine Antwort. Stumm hing das geisterhafte Antlitz im Astwerk und starrte zum Turm hinauf. Nach einer kleinen Ewigkeit erst bewegte sich die Gestalt im Baum. Sie drehte sich weg von Annabella und lauschte auf den Gesang des Waldes. Dann nickte sie. „Sie rasten in der Nähe!‚ Der Wind trug Annabella die Worte zu. „Wer? Gefahr? Oder nur ein Abendmahl?‚ Wieder fühlte sie ihren Hunger. „Mehr als das, der Pfad deiner unheilvollen Schicksalsfügung soll dir offenbart werden heute Nacht!‚ 18

„Mein Schicksal?‚ Annabella lachte hell auf. „Was sollte mich daran schrecken? Mir ist die Unsterblichkeit geschenkt.‚ Langsam hatte sie genug von diesem Spuk. Sie schüttelte sich unwirsch, um auch den letzten Faden des einhüllenden Bannes loszuwerden. Das Geisterweib im Baum wandte sich zum Turm um. Ihre Miene verzog sich spöttisch. „Du meinst, Aggelos hätte dir eine einzigartige Gunst erwiesen?‚ Wieder nickte sie. „Das mag sein, aber es ist nur ein Teil deines Wesens. Schon von Geburt an warst du etwas Besonderes. Du bist mehr als ein bluthungriges Kind der Finsternis!‚ Sie hielt inne und lauschte. „Schnell, eile dich. Die Gelegenheit ist günstig. Folge mir!‚ Annabella wusste nicht, was sie von der Erscheinung im Baum halten sollte. Sie kam ihr seltsam vertraut vor genau wie die Stimme im 19

Felsversteck. Doch wer war sie? Konnte sie ihr trauen? Noch immer fühlte sie eisiges Kribbeln auf der Haut. Über welche Kräfte verfügte das geisterhafte Wesen, die selbst einer Vampirin schadeten? „Wartet! Woher wisst Ihr ...‚ Das Geäst im Wald flimmerte rotglühend. „Frag Aggelos, er soll dir Antwort geben‚, brauste die Fremde auf. „Jetzt komm endlich!‚ Der Schemen löste sich in feurig-funkelndem Nebel auf und verschwand im Dickicht. Wieder schüttelte Annabella verwirrt den Kopf. Ein verlockender Hauch von Blut und Menschenduft stieg auf den Flügeln des Abendwindes aus dem Wald auf. ‚Reisende rasten unweit der Burg.‘ Der Gedanke stachelte den Hunger der Vampirin an.

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Von Neugier und grummelnden Eingeweiden getrieben folgte Annabella der glimmenden Fährte. Bald entdeckte sie einen Lichtschein. Zwischen einer kleinen Bergkluft und dem Gebirgsbach hockten zwei Männer auf dem Waldboden. Vor ihnen flackerte knisternd ein Feuerchen. Aus dem Nebelgefunkel formte sich wieder das Geisterweib. Sie ließ sich bei einem Erlengesträuch nieder, verborgen vor den Blicken der Menschen. Annabella gesellte sich zu ihr. Argwöhnisch betrachtete sie ihre Begleiterin. ‚Sie wirkt durchscheinend, wie unwirklich. Ich kann schemenhaft den Strauch hinter ihr durch sie hindurch erkennen. Ein Zweig steckt in ihrem Leib und sie scheint es nicht zu spüren. Wie seltsam.‘ Die Fremde bemerkte es und schüttelte unwillig den Kopf. „Schau dir die beiden an. Lausche ihnen!‚, befahl sie. 21

Schulterzuckend wandte sich Annabella den Männern zu. Viel konnte sie nicht erkennen. Der Flammenschein des Feuers verbarg sie, nur der sanfte Nachtwind trug ihre Worte an Annabellas Ohr: „... Dieses schrullige Kräuterweib in Tarnowo war mir unheimlich. Mir gefror schier das Blut in den Adern. Ich habe ja schon einige ärmliche Hütten gesehen, aber sie haust in einer gar gruseligen Höhle.‚ Annabella verließ das Gesträuch, um die Menschen besser betrachten zu können. Sie erkannte eine Gestalt, die Felle gegen die kühle Herbstluft schützend um sich geschlungen hatte. Das Gesicht leuchtete fahl. Es war unbehaart und wirkte recht knabenhaft. Jener schüttelte sich. „Ob die reichen Boljaren auf dem Trapesiza ahnen, was sich tief unten im Felsen ihrer so sicher gewähnten Häuser verbirgt? Wer weiß, wie weit diese Dämonenbehausung reicht, 22

vielleicht bis hinauf zu ihren Kellergewölben.‚ Hämisch schniefte er. „Und woher will die Alte eigentlich wissen, dass das Weib noch am Leben ist?‚, maulte er weiter, während er mit einem Ast das Feuer schürte. „Sollen wir tagelang alle Dörfer abklappern? In Klöstern suchen? Ich hasse Klöster!‚ „Was beklagst du dich, Radko? Sie versprach einen dicken Beutel Münzen, wenn wir sie finden. Und …‚, der andere, älter und bartverhüllt, klopfte auf seinen Wams, „schließlich haben wir bereits eine stattliche Summe erhalten. Ja, wir werden uns ein wenig in der Gegend umsehen und gewisse Fragen stellen. An eine Rothaarige wird sich doch sicher irgendein Mannsbild erinnern.‚ Genüsslich nagte er Fleisch von einem Knöchlein, das am Morgen noch zu einem fetten Vogel gehörte. „Nicht weit entfernt ist eine Abtei. Dort bei den Mönchen von Dryanovo werden wir bei 23

Tagesanbruch an die Pforte klopfen. Oder meinst du, die Gottesnähe könnte dir schaden?‚ Spott schwang in seinen Worten. Missmutig schwieg Radko und stocherte im Feuer. „Es soll eine abgelegene Burg in der Nähe geben ...‚ „Wir können die Mönche danach befragen. Wenn sie bewohnt ist, wissen es die braven Gottesmänner und werden uns den Weg weisen.‚ „Für den Fall, dass wir sie aufspüren‚, bohrte Radko weiter, „was dann? Wird der bleiche Räuber, so sie noch in seiner Gewalt ist, sie freiwillig gehen lassen?‚ „Wozu haben wir unsere Schwerter? Er ist doch nur einer und wir sind zu zweit.‚ „Wie kannst du dir da sicher sein? Vielleicht ist es eine ganze Bande. Und außerdem soll ja auch noch ein blondes Weibsbild bei ihm sein.‚ 24

Der Bärtige seufzte. „Wie soll aus dir nur ein guter Kopfgeldjäger werden?‚ Besorgnis durchfuhr Annabella. ‚Sie wissen von uns und unserer Burg ...‘ Eine Ahnung sagte ihr, dass die beiden ausgesandt wurden, um sie zu finden. ‚... und suchen ... nach mir?‘ Nur konnte sie sich nicht erklären, warum. ‚Ich kenne keine Menschenseele in der Zarenstadt, erst recht keine alte Kräuterfrau.‘ Fragend schaute sie sich nach dem Nachtgeist um. Doch von dem rotlockigen Weib fehlte jeder Schimmer. Sie schien sich in der Finsternis des Waldes aufgelöst zu haben. Der Bärtige erhob sich vom Feuer. Dringende Geschäfte zogen ihn durch das gefahrvolle Dunkel der Büsche zum kleinen Gebirgsbach. Lautlos folgte ihm Annabella. Sie musste mehr erfahren über seinen Auftrag. Er hockte sich mit entblößtem Hinterteil nahe an das Bächlein. Der Schein des Mondes spie25

gelte sich im Wasser und beleuchtete den Menschen. Annabella musterte ihn nur kurz, dann trat sie aus dem Dickicht hervor. Das Licht des Nachtgestirns schälte ihre Gestalt aus der Finsternis des Strauchwerks. Hell glänzte ihr Antlitz. Sternenglanz funkelte in ihrem roten Haar und ließ es aufglühen. Ihr plötzliches Erscheinen versetzte dem Alten einen gehörigen Schreck. Er starrte sie an, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Seine Augenlider flatterten. Im nächsten Moment verlor er den Halt und fiel rücklings in den Bach. Hastig sprang Annabella hinzu und zog ihn an den Beinen zurück auf das Laubbett des Waldes. Sein Herz hüpfte ängstlich und klopfte weithin hörbar. Sein Lebenssaft raste durch seine Adern. Der Gesang des furchtsamen Blutes entfachte Annabellas Durst. Ihre spitzen Eckzähne 26

drängten hervor. Sie öffnete begehrlich den Mund. Der Alte sah es mit wachsendem Entsetzen. Er lag auf dem Rücken und blickte zu ihr auf. „Wer ... was ... Bist du etwa ...?‚, stammelte er. Aus seinem wettergegerbten Gesicht wich jegliche Farbe, als ihre Zunge gierig über ihre Lippen leckte. Sie überhörte seine Fragen. Stattdessen beugte sie sich zu ihm hinab und flüsterte eindringlich: „Wen suchst du? Wer sandte dich aus?‚ „Weiße Dolche, wo Zähne sein sollten ...‚ Er konnte seine Augen nicht von ihren Reißzähnen lösen. Entgeistert starrte er sie an. Seine Lebenszeit hatte ihn viel Seltsames gelehrt. Mehr als einmal rief ihn die Alte und sandte ihn mit merkwürdigen Aufträgen aus, so auch diesmal wieder. Und sie hatte ihn wie jedes Mal vor Gefahren gewarnt, die nicht von dieser Welt waren. Meist beachtete er ihr Geschwätz nicht, aber beim Anblick des rothaarigen Weibes kroch ihm eine Ahnung ihres Wesens kalt durch die Knochen. 27

„Höllenbrut! Und sie wusste es!‚ Die Augen quollen ihm schier aus den Höhlen. „Gott, warum strafst du mich mit solchem Entsetzen?‚ Er keuchte und rang nach Luft. „... Allwissender Vater, vergib mir meine Sünden ...‚ Mit schwindender Kraft versuchte er, die Hände zum Gebet zu falten. Annabella packte ihn unwirsch an den Schultern, richtete ihn auf und lehnte ihn an einen Baum. „Wer wusste es? Sprich, alter Mann!‚ Kein Wort mehr, nur angsterfülltes Röcheln entfuhr seinen spröden Lippen. Die Sinne schwanden ihm, er sackte zusammen. Sein Leib trug die Bürde des Schreckens nicht. Annabella fing den schweren Körper mit Leichtigkeit auf. Sie schüttelte ihn derb, um ihn aus der Ohnmacht zurückzuholen. Die Gewissheit seines baldigen Ablebens mahnte sie zur Eile, wollte sie noch etwas aus ihm herausbekommen. 28

„Sag mir den Namen! Wo finde ich sie?‚ Vergeblich legte sie ihr Ohr an seinen Mund. Es war zu spät. Seine Lebensgeister entschwanden in der Dunkelheit des Waldes, ohne ihr die Antwort zu enthüllen. Unmut über diese voreilige Flucht aus dem Diesseits stieg in ihr auf. „Ich wollte dir kein Leid antun. Nur den Namen solltest du mir sagen.‚ Erbost schlug Annabella ihre scharfen Zähne in seine Halsader. Sie stillte ihren Blutdurst an ihm, bevor die kostbaren Lebensperlen unnütz verdarben. ‚Lausche auf die Botschaft seines Blutes‘, trug ihr die Stimme der Fremden auf, die sich wieder in ihren Geist drängte. Benebelt vom Rausch des süßen Saftes überhörte Annabella den Rat. Lautlos ließ sie kurz darauf ihr Opfer auf sein letztes Ruhebett aus Herbstlaub fallen.

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‚Irgendein Waldtier wird sich schon bald die Leiche schmecken lassen‘, dachte sie achselzuckend. Das langgezogene Geheul eines Wolfes zerriss die Waldesstille. Der Nachtwind trug ihr den Geruch der wilden Balkanlöwen zu. Mehr als nur einer strich auf Beutesuche durch die Gebirgswälder. ‚Bei dem Knaben muss ich behutsamer vorgehen‘, ermahnte sie sich selbst. Sie schlich zurück zum Feuer. Vom Strauchwerk verdeckt, beobachtete sie Radko. Er stocherte gedankenverloren im brennenden Holz, blickte sich aber immer wieder unsicher um. „Wo bleibt er nur?‚, murmelte er. Die Dunkelheit, die ihn umgab, verursachte ihm Unbehagen. Die unzähligen Laute des nächtlichen Waldes trugen auch nicht gerade zu seiner Beruhigung bei. Jedes Laubrascheln, jedes Astknacken, jeder Vogelruf ließ ihn zusammenzucken. Beim 30

hungrigen Ruf des Wolfes stockte ihm der Atem. Es war das erste Mal, dass er eine Nacht im Schoß der Wildnis verbringen musste. Ein erfreulicher Duft kitzelte Annabellas Nase. „Junges Blut, hasenherzig und rein. Er wird köstlich sein!‚ Bevor sie sich dem Jüngling zeigte, blickte sie sich suchend um. Von dem rothaarigen Geist konnte sie nicht das kleinste Funkeln entdecken. „Wo seid Ihr?‚, flüsterte sie. Sie erhielt keine Antwort. Neugier und Hunger trieben sie ans Feuer. Annabella trat absichtlich auf einen Ast. Das laut knackende Holz erschreckte Radko jedoch nicht besonders, sondern ließ ihn nur kurz zusammenzucken. Er atmete erleichtert auf, als er einen menschlichen Schemen im Gebüsch gewahrte. Schließlich erwartete er den Bärtigen zurück. 31

„Dober wetscher, Radko!‚ Ihm blieb vor Überraschung der Mund offen stehen, als Annabella statt seines Begleiters hinter dem Lagerfeuer auftauchte. Ihr langes Haar verwob sich mit den Feuerzungen, die Flammen umarmten ihre anmutige Gestalt. Mit einem leichten Fingerschnippen zähmte sie das Feuer, bevor es ihr schaden konnte. Radko meinte, ein Dämon wäre der Glut entstiegen. Ängstlichkeit, die sich im nächtlichen Wald seiner bemächtigt hatte, gaukelte ihm grausige Schreckensbilder vor. Erinnerungsfetzen an alte Sagen fegten durch seine Gedanken. ‚Aber könnte ein bösartiges Höllenwesen so bezaubernd aussehen?‘, fragte er sich. ‚Nein, Flammengeister nehmen nur menschliche Umrisse mit einem fratzenhaften Gesicht an, habe ich gehört.’ Schnell verdrängte er die furchtsamen Gedanken. 32

‚Was bin ich nur für ein ängstlicher Hasenfuß‘, schalt er sich. ‚Das Geschwätz der alten Weiber mit ihren Schauergeschichten ist nur schuld daran!‘ Er straffte sich und schaute Annabella durchdringend an. Sie lächelte schüchtern. „Darf ich mich zu dir setzen, Radko?‚ Mit wiegenden Hüften schritt sie bedächtig um das Feuer herum auf ihn zu, ohne auf seine Zustimmung zu warten. „Ich bin lange durch den Wald geirrt und fürchte mich so in der Wildnis.‚ „Woher weißt du meinen Namen?‚, stotterte Radko verwirrt. „Der Wind trug mir eure Worte zu. So fand ich zum Feuer.‚ Sie blieb eine Armlänge vor ihm stehen. „Er flüsterte mir auch, dass ihr jemanden sucht.‚ ‚Ist sie etwa jenes Weib, nach der wir auf der Suche sind?‘ 33

Er mochte kaum glauben, dass es so einfach sein sollte. Sie entsprach genau der Beschreibung der Alten. Eine seltsame Gefahr schien von ihr auszugehen. Unerklärliches Grauen beschlich ihn, gleichwohl ihn der Anblick der offenherzigen Kamerierka erfreute und erregte. Die Kräuterfrau tauchte in seinen Gedanken auf. ‚Wenn sie nun diese Erscheinung beschworen hat?’, meldete sich eine ängstliche Stimme in seinem Kopf. ‚Selbst ein dahergelaufenes Bauernmädchen treibt sich nicht allein nachts im Wald herum.’ Ärgerlich hieß Radko sie schweigen. Er schluckte aufgeregt. ‚Sie kann kein Geist sein. Sie ist aus Fleisch und Blut! Und solch schönes Weib bedarf unbedingt meines Schutzes.‘ Es war ihm egal, was sein Unterbewusstsein ihm einzureden versuchte. 34

Wohlerzogen erhob er sich und verbeugte sich. Auch wenn ihn unliebsame Umstände zu diesem Leben abseits seines reichen Elternhauses zwangen, hatte er seine guten Manieren nicht vergessen. „Holdes Fräulein, was führt Euch zu dieser Stunde in die Tiefen der Wälder?‚ Mit einer Handbewegung bot er ihr seinen Platz am Feuer an. „Seid Ihr hungrig oder durstig?‚ Annabella leckte sich bei diesem Angebot genüsslich die Lippen. „Oh ja, mein Durst ist gewaltig.‚ Sie ließ sich auf einem Baumstamm etwas abseits des Lagerfeuers nieder und winkte Radko, sich neben sie zu setzen. Seine widerstreitenden Gedanken, die sich auf seinem Gesicht widerspiegelten, belustigten sie. Sie wollte jedoch mehr über seinen Auftrag erfahren. „Verzeih mir, ich belauschte euer Gespräch.‚ Sie schlug die Augen nieder. „Ja, es ist wahr. Wir sind auf der Suche nach einer geraubten Wirtstochter. Und ich muss 35

sagen, Ihr scheint ihr ähnlich. Wie ist Euer Name?‚ „Dilyana wurde ich genannt ...‚ In der Nähe knackten Äste. Fliehendes Wild brach einen Weg durch das Unterholz. Radko fuhr erschrocken auf. Doch im nächsten Augenblick riss er sich zusammen und hoffte, dass sie seine Furcht nicht bemerkt hatte. „Wie kommt es, dass Ihr auf unser Lager gestoßen seid?‚ Noch glomm Misstrauen in Radko. Er musterte sie eingehend. Ihr einfacher Kittel zeigte einige Löcher, Blätter hingen in ihrem Haar. Hände und Gesicht waren verschmutzt. ‚Sie scheint eine ganze Zeit durch den Wald geirrt zu sein. Aber wer weiß? Vielleicht ist der Räuber ebenfalls in der Nähe und will uns ausrauben?‘ „... ließ mich einen Wimpernschlag aus den Augen. So konnte ich ihm entkommen! Nun irre ich allein durch den Wald‚, hauchte Annabella mit tränenerstickter Stimme. 36

Radkos Blick verfing sich an ihren Lippen. ‚Wie weich sie sein mussten ...‘ Aufglühende Begehrlichkeit verdrängte alle anderen Gedanken. Kaum erreichten ihre Worte noch sein Ohr. „Nimm mich mit. Erlöse mich aus den Klauen meines Entführers‚, bat sie eindringlich. „Er ist sicher schon auf meiner Fährte.‚ Sie seufzte tief. „Ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll. Kannst du mich vor ihm beschützen?‚ Mit einem koketten Augenaufschlag blickte sie Radko flehentlich an. „Meine Schöne, welche Grässlichkeiten tat er Euch nur an?‚ Radko lauschte auf den Gesang des Waldes. Der Wind wisperte in den Baumkronen, ein Nachtvogel erhob sich mit sanftem Flügelschlag, doch keine gefährlichen Fußtritte näherten sich dem Lager. „In meiner Nähe seid Ihr sicher‚, versprach er eilig und legte seinen Arm um sie. 37

Sie zog gedankenverloren an der Schnürung ihres Kleides. Das Gewand rutschte und enthüllte hellglänzende Schultern. Radko schluckte schwer. Seine Hände zitterten, als sie vorsichtig über die weiße Haut strichen. „Sag mir, Radko, zu wem sollst du mich bringen?‚ Seine Gedanken ritten in Lustgefilde und verdrängten die schreckliche Kräuterfrau aus seinem Sinn. Seine Zunge weigerte sich, über den Grund der Reise zu plaudern, vielmehr gierte sie nach der Berührung der weichen Haut. „Wer lässt nach mir suchen? Ich muss es wissen!‚ Ungeduld keimte in Annabella, als Radko nicht antwortete. Ihr Lächeln verzog sich zu einer Grimasse. Im Spiel der Flammen entblößte sie ihre Reißzähne. Ihre Augen verengten sich zu glühenden Schlitzen. Mit hungrigem Raubtierblick starrte sie Radko an. 38

„Welch‘ böser Zauber ist das?‚ Er schrak zurück. „Wer seid Ihr?‚ Annabella lachte: „Ich bin die, die du suchen sollst, du hast mich gefunden. Dafür wirst du deinen Lohn erhalten.‚ Sie ließ ihr Gewand fallen. Nur ihr rotes Haar umspielte noch ihren Leib. Ihre Haut schimmerte samtig im Feuerschein. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie das Geisterweib im Gebüsch entrüstet die Hände in die Hüften stemmte. „Welche Schamlosigkeit ...‚ „Wenn Ihr mir das Geheimnis nicht enthüllt, muss ich es auf meine Weise herausfinden!‚, fauchte Annabella sie an. Erbost, aber ohne Antwort zu geben, löste sich der Geist auf. Annabella wandte sich wieder zu Radko: „Gefalle ich dir?‚ Aufreizend wiegte sie ihre Hüften.

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Hin und her gerissen zwischen Entsetzen und brennender Wollust fiel er vom Baumstamm. Auf allen Vieren krabbelte er fort von ihr. Sein angstvoll rauschendes Blut stachelte Annabellas Durst an. „Oh, du bist ja schüchtern.‚ Bevor sie sich an ihm labte, wollte sie noch ein wenig mit ihm spielen. Nach einem katzenhaften Sprung kniete sie über ihm, ließ ihre bloßen Brüste auf ihn niedersinken. „Was begehrt Ihr?‚, stammelte er. „Dich und dein Blut begehre ich‚, hauchte sie ihm ins Ohr. „So jung, so köstlich.‚ Sie leckte genüsslich über seine heftig pulsierende Halsader. Ihre Schenkel umfingen ihn wie eiserne Klammern. Er lag wehrlos und furchterfüllt unter ihr begraben. „Doch verrate mir endlich, wer sandte dich aus, nach mir zu suchen?‚ Ihre Hand wanderte tiefer und riss mit einem Ruck sein Gewand entzwei. Aller Angst zum 40

Trotz schwoll seine Männlichkeit zu kampfbereiter Schärfe. „Mein Herr wird es Euch sagen.‚ „Deinem Herrn bekam bedauerlicherweise mein Anblick ganz und gar nicht. Er erschrak sich derart vor mir, dass sein Herz in die heruntergelassenen Beinkleider rutschte und sich darin verlor.‚ Sie grinste. „Er entfloh in die Jenseitswelt und enthüllte mir nichts von eurem Auftrag. So musst du mir Rede und Antwort stehen.‚ Geschickt umfasste sie sein erwartungsvolles Schwert, verweigerte ihm allerdings noch jegliche Erfüllung. Er wand sich unter ihr in wollüstiger Qual. „Sag es mir und ich gebe dir mehr, als du je zu erträumen wagtest.‚ „Eine alte Kräuterfrau in Tarnowo rief meinen Herrn.‚ Annabella hob sacht ihre Hüfte. Mit einem lustvollen Schaudern fuhr Radko fort: „Sie sagte, vor Jahresfrist hätte ein unheimlicher 41

Fremder zwei Mädchen aus der Schänke eine Wegstunde östlich von Tarnowo entführt. Die Eine, die Rothaarige, wäre etwas Besonderes. Wir sollten sie finden und zu ihr bringen.‚ Annabella leckte gierig über seinen Hals. Nur mühsam konnte sie ihren Durst im Zaum halten. „Warum?‚ „Ich weiß es nicht, das sagte sie nicht.‚ „Wohin solltet ihr sie bringen?‚ „Oh Edle, Ihr quält mich! Gewährt mir Erlösung‚, stöhnte Radko. Mit kreisenden Bewegungen schürte Annabella seinen Redefluss. „Eine verkommene Hütte südlich des Trapesiza, hinter dem Handwerkerviertel …‚

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Kapitel 2

„Es ist wieder Jahrmarkt in Tarnowo.‚ Annabella löste sich aus den Schatten der Felsen und sprang leichtfüßig auf die bröckelnde Krone des Burgturmes. Nur einen Wimpernschlag zuvor war Aggelos durch die Luke getreten. Genüsslich streckte er seine alten Knochen in die milde Luft des Septemberabends, als der Nachthauch ihre Worte in sein Ohr wehte. Er lächelte. „Dober wetscher, liebste Annabella.‚ „Dir auch einen erfreulichen Abend, mein lieber Meister Aggelos. Ich habe bereits auf dich gewartet.‚ Erstaunt zog er eine Augenbraue hoch. „Tust du das nicht jeden Abend?‚ „Schon, aber heute ganz besonders.‚ Ein verführerisches Lächeln umspielte ihre Lippen. 43

Wieder war sie bereits kurz vor Sonnenuntergang erwacht. Während Meister Aggelos und ihre Schwester Isabella noch im totengleichen Schlaf gefangen ruhten, erhob sie sich von ihrem fellgepolsterten Lager. Mit wachsamen Sinnen durchstreifte sie das Gemäuer, das vor einem Jahr, in jener schicksalsändernden Nacht, ihre Heimstatt wurde. Still und unberührt lagen die Gemächer. Draußen prüfte sie den Burgzugang. Sie fand das Tor fest verriegelt. Kein Hauch eines unerbetenen Eindringlings wehte durch den Hof. Weder Sterbliche noch Geisterwesen störten die Einsamkeit der Burg. Zufrieden erklomm sie ein Gesims hoch in den Felsen, um einen Blick über die Hügel und Ebenen des bulgarischen Reiches zu werfen. In der Ferne thronte der Tsarevets. Annabellas Augen schweiften sehnsüchtig zur großen Zarenstadt. 44

Lichter blitzten auf. Wachsam schaute der Turm der Patriarchenkirche in die einbrechende Nacht. Seine leuchtenden Fensteraugen schienen auf Annabella gerichtet. Ein unbehagliches Gefühl beschlich sie. Schnell wandte sie sich ab. Sie entdeckte anderen Lichterschein. Ein riesiges Lager aus Zelten und Feuern breitete sich an diesem Abend bis zu den Toren der Zarenstadt Tarnowo aus. ‚Herbstmarkt! Ein reich gedeckter Tisch‘, dachte sie erfreut, ‚... und vielleicht, vielleicht ...‘ Eine heimliche Idee keimte in ihr, die sie ungeduldig auf Aggelos warten ließ. Seit jener Begegnung mit den beiden Häschern drängte sie ein unbestimmtes Verlangen in die Gassen von Tarnowo. Fragen nagten an ihr, auf die sie sich dort Antwort erhoffte. Noch immer wusste sie nicht, wer die Kräuterfrau war und warum sie nach ihr suchte. 45

Die feuerhaarige Weibsgestalt blieb seitdem unsichtbar. Nur ein feines Flüstern im hintersten Winkel ihres Geistes gemahnte sie jede Nacht, die Alte bald aufzusuchen. Aggelos war ihr bislang keine Hilfe gewesen. Sie hatte ihm zwar von jener seltsamen Begegnung erzählt, doch er gab sich unwissend und wich ihren Fragen aus. Annabellas Unruhe wuchs mit jeder Nacht. ‚Ich muss in die Stadt und das Rätsel ergründen‘, dachte sie immer wieder. Der Herbstmarkt schien ihr ein willkommener Vorwand. „Vor einem Jahr wünschte ich nichts sehnlicher, als abends in der Stadt zu tanzen. Vater versprach es uns fest - bei seiner Seligkeit.‚ Aggelos lachte. „Eine leichtfertige Beteuerung auf sein Seelenheil. Hätte er sein Versprechen gehalten?‚ Annabella zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich wäre ihm wieder eine Ausrede eingefallen.‚ Ihre leisen Worte klangen bitter. 46

„Aber das scheint lange her, in einer anderen Welt, einer Welt voll Sonne und harter Arbeit.‚ Sie blickte Aggelos neckend an. „Bevor ich dir in jener Nacht in die Hände fiel – oder besser gesagt unter deine Zähne!‚ „Meine Liebe, was beklagst du dich? Nicht du solltest meine Beute sein, nach deiner Schwester verlangte es mich.‚ „Dann teilst du also Isabellas Vorwurf, dass ich mich euch aufdränge und eine lästige Bürde bin?‚ Diese Frage nagte seit einem Streit an Annabella. Aggelos schüttelte nachdenklich den Kopf. Die gereizte Stimmung zwischen seinen Mädchen war ihm nicht entgangen. „So solltest du es nicht sehen. Du bist doch keine Last.‚ Liebevoll strich er über Annabellas Wange. „Es war damals für mich nur ein Spiel. Ich langweilte mich und wollte einfach nur etwas 47

Abwechslung. Und ich gewinne nun einmal gern, je mehr umso besser!‚ „Dafür hast du Vater behext!‚ Er grinste: „Nur ein ganz klein wenig.‚ „Du hättest mich auch sofort töten können, wenn dir nichts an mir lag.‚ Aggelos nickte. „Habe ich aber nicht. Ich gebe zu, ich hatte mir keine Gedanken gemacht, was ich mit euch beiden überhaupt anfangen soll. Sicher, zu Isabella fiel mir recht bald etwas ein.‚ Sein Grinsen wurde breiter. „Und nachdem du sie zu dir in die Finsternis geholt hattest‚, bohrte Annabella weiter, „wähltest du mich als erste Nahrung für sie.‚ „Ja, sie brauchte dringend frisches Blut‚, nickte er. „Und du warst gerade in der Nähe. Das ersparte mir viel Mühe bei der Beutejagd.‚ Annabella schnaubte empört über seine lapidaren Worte. Aber schnell beruhigte sie sich wieder. Auf andere Fragen wollte sie Antworten. 48

„Was geschah dann mit mir? Warum sah ich nicht das goldene Himmelstor, von dem Isabella mir erzählte? Warum gabst du mir dein Blut? Wer ist jener Feuerschemen, dem ich folgte?‚, sprudelte es plötzlich aus Annabella heraus. „Du bist ja schlimmer als ein Kleinkind‚, lachte Aggelos. Annabella wandte sich schmollend ab. Er wurde ernst. Der Gedanke an ihre fordernde Wissbegier nagte bereits an Aggelos, seit sie ihm von ihrer Begegnung mit dem rothaarigen Geisterweib erzählte hatte. Dass sie mehr als nur einmal in sein Reich eingedrungen war und vermutlich noch immer in der Nähe herumlungerte, ärgerte ihn. Andererseits hatte Aggelos auf ihr Versprechen vertraut, Annabella die Geheimnisse um ihr Wesen zu lehren. ‚Wo aber war sie bloß das ganze letzte Jahr?‘ Seufzend stellte er fest, dass man sich auf das Wort eines Geistes nicht verlassen konnte. 49

‚Was soll ich Annabella nur sagen?‘, grübelte er. Viel wusste er schließlich selbst nicht über diese Geistererscheinung, obwohl er sich im Laufe der vergangenen Monate ein wenig unter den Sterblichen umgehört hatte, vor allem in der Gegend um die Schänke ihres Vaters. „Deine Augen, deine traurigen, wissenden Augen‚, flüsterte Aggelos schließlich nach einer kurzen Stille, die selbst die Zikaden nicht zu stören wagten. „Entsinnst du dich an unsere lautlose Zwiesprache, als Isabella von dir trank?‚ Zögerlich wiegte Annabella den Kopf. Wieder und wieder versuchte sie, jene Schicksalsnacht in ihren Geist zurückzurufen, als das sterbliche Leben ihrem Leib entwich und ihr ein Dasein in der Ewigkeit der Nacht geschenkt wurde. Nur undeutliche Bruchstücke tauchten auf, Gedanken, die nicht ihre eigenen waren, Worte einer fremden Sprache, deren Sinn sie dennoch erahnte. 50

Etwas Dunkles war in ihr erwacht. Am Abgrund des Todes regte sich tief in ihrem Inneren etwas, das nicht untergehen wollte. Und es kam ihr seltsam vertraut vor. Eine ferne Stimme, die sie vorher oft im Traum vernahm, sprach zu ihr. Sie machte ihr Mut, zeigte ihr einen Weg, dem sicheren Ende zu entgehen. Sie glich jenem Nachtgeflüster des Geisterwesens im Wald. Der Hauch einer Ahnung streifte Annabella. Doch bevor sie ihn ergründen konnte, löste sich der Gedanke wieder auf. Zu ungeheuerlich kam er ihr vor. „Bereits als ich die ersten Tropfen deines Blutes trank, spürte ich es. Ein Dämon griff nach mir. Er ähnelte dem meinen, der seit ewigen Zeiten durch meine Adern schleicht und mich zu dem machte, was ich bin. Sie flochten ein unsichtbares Band zwischen uns.‚ Wieder schwieg Aggelos einen Augenblick. „Ich sah in deinen Augen ein loderndes Feuer, Funkenregen sprang hervor. Uralte Wortfetzen entsprangen diesen Funken. Sie entzünde51

ten die Kerzen und brannten sich in meine Gedanken, verbrannten sie. Aus dem Kerzenrauch formte sich ein dunstiges Weibswesen. Sie verfluchte mich, drohte mir.‚ Bei der Erinnerung spürte er erneut jenes unangenehme Kribbeln, die garstigen Rauchfäden, die ihn umspannten und seinen eigenen Willen lähmten. Nie zuvor begegnete er einer solchen Kraft, die ihm ihre Gedanken und ihr Bestreben aufzwang. „Ich konnte mich ihrem Bann nicht erwehren. Sie gab erst Ruhe, als ich mein Blut mit dir teilte.‚1 „Wer ist sie?‚, hauchte Annabella ahnungsvoll. „War es diejenige, die mich in den Wald lockte?‚ Er zuckte die Schultern und schluckte unbehaglich.

1 Die Geschichte von Annabellas Einzug in die Ewigkeit wird in „Wenn die Würfel fallen ...“ erzählt.

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„Das war sie wohl. Schließlich war es ihr Befehl, dich in die Welt der ewigen Finsternis zu holen.‚ Das Geisterweib sprach davon, dass Annabella ein besonderer Nachtwanderer sein würde. Aggelos mutmaßte von Anfang an, in ihr könnten noch ganz andere, ihm unbekannte Mächte schlummern. Er hatte keine Lust, sie zu wecken, wusste er doch nicht, welche Fähigkeiten Annabella entfalten würde. Er fürchtete, mit dem Wissen um die Geheimnisse aus dem Schattenreich könnte sie Schaden über ihn und vielleicht sogar sich selbst bringen. Sie unwissend zu lassen minderte die Gefahr jedoch auch nicht, glaubte er. Aggelos sah ein, dass sie dringend Unterweisung in jenen, ihm verborgenen Dingen brauchte. ‚Damit soll SIE sich herumschlagen!’, fluchte er still. ‚Und wenn Annabella ihr schadet, ist es mir nur genehme Rache!‘ Leider wusste er nicht, wie er den Geist dazu bringen konnte, das Versprechen einzulösen. 53