Die Universität der Wildnis

Pflanzen und Maschinen wieder und fragt sich, was das alles soll. 3.1 Fort von ... John Muir findet „lebende Gletscher“, genießt (meistens) die Kapriolen der.
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Dieter Steiner

Die Universität der Wildnis John Muir und sein Weg zum Naturschutz in den USA

Dieses Buch wurde klimaneutral hergestellt. CO2-Emissionen vermeiden, reduzieren, kompensieren – nach diesem Grundsatz handelt der oekom verlag. Unvermeidbare Emissionen kompensiert der Verlag durch Investitionen in ein Gold-Standard-Projekt. Mehr Informationen finden Sie unter www.oekom.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 oekom, München oekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH Waltherstraße 29, 80337 München Umschlaggestaltung: Sarah Schneider Umschlagabbildung: Yosemite-Tal mit den Cathedral Rocks. Gemälde von William Keith 1875. Quelle: Wikimedia Commons Satz Innenteil und Korrektorat: der Autor Druck: DIP – Digital-Druck Witten Der Innenteil dieses Buches wurde auf 100%igem Recyclingpapier gedruckt. Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-86581-273-5 e-ISBN 978-3-86581-344-2

Dieter Steiner

Die Universität der Wildnis John Muir und sein Weg zum Naturschutz in den USA

„Wir alle brauchen nicht nur Brot, sondern auch Schönheit, Orte zum Spielen und zum Beten, wo die Natur uns heilen und aufmuntern und unserem Körper und unserer Seele gleichermaßen Kraft verleihen kann.“ (John Muir 2003, 256)

John Muir am Merced River mit den Royal Arches im Hintergrund, ca.1909. Das Foto ist ein Sinnbild für den „pfadlosen Weg“ Muirs (Cohen 1984), seinen Werdegang, der nie vorgespurten Bahnen folgte. Quelle und Bewilligung: John Muir Papers, Holt-Atherton Special Collections, University of the Pacific Library. © 1984 Muir-Hanna Trust. ID = f24-1332.

Für Thomas, Beat und Stefan, meine drei in Kanada lebenden Söhne, die ihre Namen nach dem Kriterium wohltönender Vokale erhalten haben und die alle auf je eigene Weise mit der Problematik dieser Welt umgehen und zu ihrer Lösung beizutragen versuchen.

Inhalt Vorwort

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Prolog

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Zwang und Drang John Muir erlebt seine Kindheit in Dunbar, Schottland, mit Begeisterung, Neugier, Wagemut, Plackerei, Schlägereien und Prügel 1.1 Der Ursprung 1.2 Bubenleben in Schottland

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Bis zum Äußersten John Muir taucht in Wisconsin, USA, in eine wunderbare Natur ein, unter der Fuchtel seines Vaters aber auch in ein überaus hartes Pionierleben 2.1 Im Ungewissen wieder Fuß fassen 2.2 Mitsterbliche auf der und um die Farm 2.3 Erstickungsgefahr, im übertragenen und buchstäblichen Sinne 2.4 Mit Kopf und Hand

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Befreiung und Unsicherheit John Muir flieht von zuhause, findet sich unter Studenten, Soldaten, Pflanzen und Maschinen wieder und fragt sich, was das alles soll 3.1 Fort von zuhause: Gewinn und Verlust 3.2 Hungrig: Psychisch wie auch physisch 3.3 Wo ist ein ruhiger Ort für einen friedfertigen Mann? 3.4 Menschliche und göttliche Erfindungen

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Der Süden lockt John Muir wandert durch den bürgerkriegsversehrten Süden, trifft auf merkwürdige Menschen und Pflanzen und will schließlich nach Amazonien, landet aber in Kalifornien 4.1 Am Anfang einer Pilgerreise 4.2 Viel Fremdes und Bedrohliches 4.3 Neue Wahrnehmung, neues Denken, neues Glück 4.4 Die Weiche wird anders gestellt

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Inhalt

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Die „Bergkette des Lichts“ John Muir findet – oder schafft sich? – ein neues Zuhause in der kalifornischen Sierra Nevada. Er freut sich an der unverdorbenen und ärgert sich über die degenerierte Natur 5.1 Auf schnellstem Weg in die Wildnis, und wieder zurück 5.2 Alpaufzug in Kalifornien 5.3 Die überwältigende Natur 5.4 Am Rande 5.5 Die „behuften Heuschrecken“ 5.6 Weitere Unsicherheiten

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Geselligkeit unter Menschen oder in der Natur? John Muir pendelt als Holzsäger, Fremdenführer, Romanheld, Täufling, Bergsteiger und Erzähler zwischen Wildnis und Zivilisation hin und her 6.1 Früher Tourismus im Yosemite-Tal 6.2 Thérèse Yelverton und Kenmuir 6.3 Die weibliche und die männliche Art der Beziehung zur Natur 6.4 Eine Seele wie ein Mammutbaum 6.5 Zu viele Menschen in der Stadt, zu wenige in der Wildnis

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Das Nichtlebendige wird lebendig John Muir findet „lebende Gletscher“, genießt (meistens) die Kapriolen der Natur und versucht, halb Wissenschaftler, halb Poet, darüber zu schreiben 7.1 Fasziniert vom Eis 7.2 Am ungeliebten Schreibtisch 7.3 Heftige Launen der Natur

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Glück für alle Lebewesen John Muir bewundert die Mammutbäume, bekommt Familienanschluss, beobachtet Tiere und wird zum Apostel der Natur 8.1 „Der hellste Weg zum Universum“ 8.2 Aufnahme bei den Swetts 8.3 Tiere sind für sich selbst da 8.4 Wild und zahm: Ein Vergleich 8.5 Das kleinere Übel 8.6 Kreuz und quer

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Ruhelose Ruhezeit John Muir gründet eine Familie, produziert Früchte, scheffelt Geld und gerät ins politische Fahrwasser 9.1 Verhaltene Annäherung 9.2 Die Strentzels 9.3 Aller Anfang ist schwer 9.4 Arbeit und Erholung 9.5 Ablösung der Generationen 9.6 Muir auf dem Weg zum „Homo politicus“ Der „Eishäuptling“ John Muir macht Bekanntschaft mit Gletschern, Missionaren, Indianern und einem Vierbeiner in Alaska 10.1 Zum ersten Mal nach Alaska 10.2 Muir und Young am Berg 10.3 Weitere Exkursionen 10.4 Mit Indianern zu Indianern 10.5 Mission in Aktion 10.6 Muir freut sich (meistens) und ärgert sich (selten) 10.7 Höhepunkte der zweiten Kanureise Naturschutz: Anfang und Entzweiung John Muir wird zur öffentlichen Person und kämpft für die Etablierung von Waldschutzgebieten und Nationalparks 11.1 Der Naturschutz nimmt erfolgreich Anlauf 11.2 Weiter Druck machen 11.3 Neues wird geboren, Altes geht verloren 11.4 Schutz der Wälder: Aber auf welche Weise? 11.5 Schönheit versus materieller Nutzen Um die halbe und die ganze Welt John Muir nimmt an Expeditionen in die Arktis teil und besucht auch alle anderen Kontinente 12.1 Auf Verschollenen-Suche in der Arktis 12.2 Muirs Europareise „zusammen“ mit den Keiths 12.3 Die Harriman-Alaska-Expedition 12.4 Eine richtige Weltreise über vier Kontinente 12.5 Doch noch auf den Spuren Humboldts: Südamerika, auch Afrika

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Inhalt

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Sonnenaufgang und Sonnenuntergang gehören zusammen John Muir engagiert sich für den Naturschutz auf Biegen und Brechen mit dem Resultat, dass das Brechen letztlich auf seiner Seite stattfindet 13.1 Naturschutz auf zwei Gleisen 13.2 Probleme in der Familie und im Club 13.3 Theodore Roosevelt 13.4 Abrundungen verschiedener Art 13.5 Die Macht der Sonderinteressen 13.6 Die Blätter fallen

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Literatur

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Vorwort Nach dem Rücktritt von meiner Hochschultätigkeit im Herbst 1998 nahm ich mir vor, ein Lehrbuch zur Humanökologie zu schreiben, Humanökologie verstanden als die Beschäftigung mit der Mensch-Umwelt-Problematik aus humanwissenschaftlicher Sicht. Eigentlich ist ein solches Unternehmen für eine einzelne Person ein Ding der Unmöglichkeit, da es multidisziplinäre Kenntnisse erfordert, aber ich war gewillt, mich hineinzuknien und es zu versuchen. Nach einer zehnjährigen Sammlung von ausgedehnten Notizen und Schreibversuchen, mal in dieser, mal in jener Richtung, war mir klar, dass zwar das Unmögliche durchaus realisierbar ist – natürlich immer nur in einer bestimmten Perspektive –, dass aber eigentlich etwas anderes weitaus dringender ist. Trotz allen fundierten Wissens über die Gefährdung unseres Planeten sind wir nicht fähig, passende Maßnahmen politisch umzusetzen, in erster Linie deshalb, weil sie ökonomischen Interessen zuwiderlaufen. Eine Änderung kann es nur mit einem grundlegenden, eine Mehrheit ergreifenden Bewusstseinswandel geben. Überspitzt ausgedrückt: Man kann Humanökologie nicht lehren, man kann sie nur lernen. Was aber gibt es zu lernen? Die Erinnerung an die Tatsache, dass wir Kinder der Erde sind und uns aus Dankbarkeit für unsere Existenz innerhalb der von den maßgeblichen irdischen Bedingungen gegebenen Grenzen einrichten sollten. Dass wir stattdessen in zunehmendem Maße zerstörerisch wirken, hängt damit zusammen, dass wir die Bodenhaftung verloren haben. Dies hat eine zweifache Konsequenz: Einerseits betrachten wir eine materielle Überversorgung, die wir Wohlstand nennen, als gerechtfertigt, obschon wir damit die natürlichen Ressourcen rapide aushöhlen. Andererseits leidet unsere Psyche an einer Unterversorgung; es fehlt ihr an einer Verankerung in unserer Urheimat, der Natur, der äußeren wie auch der eigenen inneren Natur. Anders formuliert haben wir es mit einer Unterbrechung dessen zu tun, was ich die „seelisch-geistige Nahrungskette“ nenne. Ihre Reaktivierung erfordert individuelle Engagements, die aber wieder zu versanden drohen, wenn sie nicht von einem entsprechend aufgerüttelten, immer weitere Kreise erfassenden sozialen Umfeld Unterstützung erfahren können. Nicht unsere Offenheit für die Aufnahme weiteren Wissens ist am wichtigsten, sondern die Wiederbelebung unserer je individuellen Erlebnisfähigkeiten. Um einen Eindruck davon vermitteln zu können, um was es dabei geht, habe ich mich entsprechend dazu entschieden, ein Buch in narrativem Stil zu schreiben. Und was könnte sich da besser eignen als das Leben eines außergewöhnlichen Menschen? Die beschriebene Person heißt John Muir, wurde 1838 in Schottland geboren, lernte dann von seinem elften Lebensjahr an die damals noch bestehende Wildnis, aber auch das harte Pionierleben in den USA kennen, und musste als junger Erwachsener aus einer Familie heraus, die für ihn sowohl Zwangsjacke wie Nährboden darstellte, seinen eigenen Weg finden. Dieser führte ihn zu einer spirituellen Suche nach der Bedeutung der Natur und der Stellung des Menschen in ihr. Äußerlich waren damit zeit-

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Vorwort

weilige Absonderungen von der Zivilisation draußen in der Natur verbunden, die aber nicht dauerhaft sein konnten. John Muir schöpfte aber daraus die Kraft, um nach seiner Rückkehr in die Gesellschaft seine Erfahrungen schriftstellerisch mitzuteilen und dann in letzter Konsequenz sich auf der politischen Bühne für Naturschutz stark zu machen. Mit diesem Buch soll somit nicht einfach nur die Biografie eines interessanten Menschen vorliegen, sondern ebenso sehr die Botschaft: „Zurück zur Wurzel!“ verbunden sein. Um den Umfang des Buches nicht zu sprengen, habe ich auf die Integration vieler nützlicher Zusatzinformationen verzichtet. Diese können aber auf meiner Website, www. humanecology.ch, eingesehen werden: Anmerkungen, Exkurse, Angaben zu den benützten Quellen, einen Epilog, eine Chronologie, eine Genealogie, ein umfangreicheres Literaturverzeichnis, vor allem aber auch eine vollständige Sammlung aller Zitate in ihrem englischen Original-Wortlaut und Essays zum Thema der „seelisch-geistigen Nahrungskette“. Mein erster Dank geht an Mariann, meine Frau, die mit ermunterndem Austausch und kritischem Lesen des Manuskriptes zum Gelingen des Buches beigetragen hat. In zweiter Linie erwähne ich unseren Kater Strizzi, der sich oft auf dem Schreibtisch neben meinen Laptop legte und mit der Gelassenheit, die er ausstrahlte, meine eigene Stimmung positiv beeinflusste. Ein herzliches Dankeschön gebührt weiter meinem Neffen Daniel Steiner, Computerexperte und Webdesigner, für die sorgfältige Herstellung der Karten und die Hilfe bei der Herstellung des Layouts; Sara Fabrikant, Professorin am Geographischen Institut der Universität Zürich, für ihre Hilfe bei der Suche nach Reliefgrundlagen für die Karten; Jim Draeger von der Wisconsin Historical Society für die Angabe des Standortes der ehemaligen Hickory-Hill-Farm der Muirs, und Harold Wood vom Sierra Club für wertvolle Hinweise auf Bildquellen. Zu tiefem Dank verpflichtet bin ich auch jenen Personen, die mir kostenlos Fotos zur Verfügung gestellt haben: Pauline Smeed von der Museumsverwaltung in John Muirs Geburtshaus in Dunbar, Schottland; Ellen Byrne von der Sierra Club Colby Library; dem in Wisconsin auf der ehemaligen Fountain-Lake-Farm der Muirs lebenden Ökologen Erik Brynildson und Jessica Palmer von der American Land Conservancy in San Francisco. Dankbar erwähnen möchte ich aber auch die zuständigen Verwalterinnen all jener Bildsammlungen, aus denen ich Fotos käuflich erworben habe. Sie haben meine Bestellungen in zügiger Weise erledigt und mir mit zusätzlichen Angaben geholfen: Lisa Marine von der Wisconsin Historical Society; Laura Mulholland von den University of Washington Libraries; Priscilla Couden von der Contra Costa County Historical Society; Trish Richards von der University of the Pacific Library und Veronica Rodriguez, Museumskuratorin für den John Muir National Historic Site in Martinez (National Park Service). Schließlich sage ich auch Volker Eidems vom oekom Verlag vielen Dank für seine hilfreiche und verständnisvolle Betreuung meines Buches. Dieter Steiner, Mai 2011

Prolog Autos sind nicht bärensicher Vor dem Einschlafen erzählte ich Mariann die Geschichte, die ich vor Jahren von einem Bekannten gehört hatte. Dieser war auf einer Fahrt durch die USA im Yellowstone-Nationalpark angekommen, wo er kampierte. Morgens erwachte er, weil jemand über die Zeltschnur stolperte. Er streckte den Kopf hinaus und stellte fest, dass der „jemand“ ein Bär war. Wir selbst waren jetzt, im September 1992, auf einer Camping-Reise durch den Westen der USA und die erste Nacht auf dem Potwisha-Zeltplatz im Sequoia-Nationalpark in Kalifornien. Es gab überall bärensichere, verschließbare Metallkisten, in die die Lebensmittel verstaut werden sollten. Bei unserer Kiste hatten aber unsere Vorgänger das Schloss irgendwie falsch montiert, so dass wir sie nicht aufkriegten. Kein Problem, dachten wir, lassen wir einfach alles im Auto. Es ist ein Uhr nachts als ich erwache. Etwas scheint nicht in Ordnung zu sein. Von draußen dringen aufgeregte Stimmen zu mir, und ab und zu leuchtet das Licht einer Taschenlampe auf. Ich öffne den Reißverschluss des Zelteingangs und schaue hinaus. In diesem Moment trottet in zwei Meter Entfernung ein Bär vorbei. Mariann ist unterdessen auch wach geworden und fragt, sich noch an die Erzählung vom Vorabend erinnernd: Ist ein Bär da? Ja, antworte ich, aber sie denkt erst, das sei ein Scherz. Nun hören wir irgendwelche blechernen, scheppernden Geräusche, und Mariann meint: Ist das nicht bei unserem Auto? Ich sage, nein, ich glaube nicht, der versucht wahrscheinlich den Abfallcontainer aufzukriegen, was ihm aber nicht gelingen wird, da dieser ja auch bärensicher ist. Aber nun gibt es einen Knall, der Bär läuft ein paar Mal hin und her, und jemand ruft von draußen: Ist jemand in diesem Zelt drin? Wir sind gemeint, und ich denke, ich muss jetzt doch mal nachsehen, ob die Vorgänge etwas mit uns zu tun haben. Glücklicherweise hat unser Zelt auch einen Hinterausgang, ich schöpfe also tief Atem, stehle mich vorsichtig hinaus und schaue mich um, der Bär ist verschwunden, aber das Auto hat tatsächlich Schaden gelitten. Auf der rechten Seite ist das hintere Fenster eingeschlagen und alles Essbare, ungekochte Teigwaren inklusive, abtransportiert. Wir rufen die Nationalpark-Zentrale an; eine Stimme am anderen Ende beruhigt uns, wir sollten, falls der Bär wieder käme, einfach ein bisschen Lärm machen. Am nächsten Morgen würde dann ein Ranger vorbeikommen. Der kam dann auch, machte ein Foto von unserem beschädigten Fahrzeug, auf dem noch sehr schöne Abdrücke der Bärentatzen zu sehen waren, und stellte uns zuhanden der Autovermietung eine Bestätigung für diesen Zwischenfall aus. Er erzählte, die Bären hätten einen unglaublich guten Geruchssinn und könnten damit ohne Probleme Lebensmittel in einem geschlossenen Auto lokalisieren. Es hätte einige, die seien auf die Zeltplätze speziali-

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siert, würden deshalb tagsüber schlafen und kämen dann, wenn nachts alles ruhig geworden sei, nachschauen, ob sich etwas holen lasse. Das Einschlagen einer Fensterscheibe sei die eine Methode, um ein Auto zu knacken, die andere bestehe darin, dass der Bär seine Tatzen am oberen Rand der Türe einhake und diese dann einfach nach unten aufrolle, etwa so, wie wir eine Sardinenbüchse öffnen. Die Sache mit den bärensicheren Metallkisten schien uns nun ausgesprochen Sinn zu machen. Im Mitteilungsblatt des Parks war ein Aufruf, man solle ja keine Lebensmittel herumliegen lassen, geschweige denn Bären absichtlich füttern, denn wenn daran gewöhnte Individuen zu aufdringlich würden, müsste man sie abtun. Und dann wurde die Geschichte von einem jungen Bären, zwei oder drei Jahre alt, erzählt. Er war aufgefallen, weil ihm die Menschen überhaupt keinen Eindruck zu machen schienen; einmal unternahm er einen Scheinangriff auf eine Frau und ihr Kind. Das Fass zum Überlaufen aber brachte der folgende Vorfall: In einem der Park-Restaurants waren die Angestellten am Kochen, als plötzlich die Außentüre aufging und der besagte Jungbär hereinspazierte. Er sah sich um, bediente sich ausführlich und verschwand wieder. Die Parkverwaltung fand, dass es nun zu gefährlich werde, und der Bär musste für seine Frechheit mit dem Leben bezahlen.

Gegen das Verschlingen Was ich beim Besuch des Sequoia- und danach auch des Yosemite-Nationalparks anfänglich nicht wusste: Hier befanden wir uns nicht nur im Lebensraum der Schwarzbären, sondern auch in der Landschaft, die vor 124 Jahren ein später berühmter Mann namens John Muir auf Anhieb in sein Herz geschlossen und zu seiner Heimat erklärt hatte. Schottischer Abstammung, war er schließlich in Kalifornien gelandet und durch sein Engagement für die Erhaltung der dortigen Naturschönheiten – er war wesentlich an der Entstehung der beiden genannten Parks beteiligt – um die Jahrhundertwende recht eigentlich zum Vater des Naturschutzes in Amerika geworden. Ich wurde auf ihn aufmerksam, als ich im Visitor Center auf Bücher von ihm und über ihn stieß. Beim Blättern darin wurde mir sehr rasch klar, dass hier ein eminentes Beispiel für das vorlag, nach dem ich immer wieder suche: Beschreibungen von Menschen, die den Weg zurück zur Natur gefunden haben. Zurück zur Natur, wie das? Ich meine damit natürlich nicht eine Rückkehr zu einem materiellen Wildbeuter-Dasein, sondern eine seelisch-geistige Wiederverankerung in unserem natürlichen Ursprung, deren Folge allerdings eine grundlegende Veränderung der Art und Weise sein müsste, wie unsere gegenwärtige Gesellschaft mit der Natur umgeht. Wir leben in dieser Hinsicht heute gewissermaßen in einer „hors-sol“-Zivilisation mit den uns bekannten Konsequenzen einer Zerstörung der planetaren Lebensgrundlagen. Neu ist das allerdings nicht, nur dessen globales Ausmaß. Was im 19. Jahrhundert in den USA geschah, war eine regionale Vorstufe dessen, was heute den weltweiten Normalfall darstellt. In der Tat lebte Muir zu einer Zeit in Amerika, in der die Gier nach möglichst ra-

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schem Reichtum Höhepunkte feierte, beflügelt vom Rausch der Eroberung eines ganzen Kontinentes und mit dem damit einhergehenden, mit Ellenbogen und Schiesseisen operierenden Frontiergeist. Entsprechend wurden die öffentlichen Ländereien als kostenloser Selbstbedienungsladen betrachtet. Muir kritisierte denn auch die im ökonomischen Denken und Tun zum Ausdruck kommende Mentalität des Verschlingens. Es ist mir bewusst, dass das Phänomen Muir für diejenigen unverständlich bleiben muss, deren Geisteshaltung weiterhin einem möglichst unregulierten Kapitalismus verpflichtet ist. „John Muir wird bei jenen, deren Denken sich um das Geldmachen und die schäbigen Dinge des modernen Alltagslebens dreht, nie voll akzeptiert sein. Für sie ist Muir ein Rätsel – ein Fanatiker – visionär und unpraktisch“ (Colby 1916). Aber genau dagegen, gegen diese fehlende Akzeptanz des „Anderen“, gilt es anzugehen. Dabei ist es nicht so, dass Muir mit der Faszination des Geldmachens nie konfrontiert gewesen wäre. Im Gegenteil, er betätigte sich ein Jahrzehnt lang als äußerst erfolgreicher Früchteproduzent und wurde damit reich. Aber dies war weder seiner psychischen noch physischen Gesundheit zuträglich. Es war ein untaugliches Kontrastprogramm zu seinem vorherigen respektvollen und ehrfürchtigen Studium der Natur, dem Lauschen auf die „Universität der Wildnis“, das ihn immer wieder dazu brachte, seine Tage unter primitivsten Umständen draußen in der Natur zu verbringen. Oft sagte er, ein Gang in die Berge sei für ihn ein Gang nach Hause. Es wurde ihm aber auch bewusst, dass ein Aussteigen in extremer Form keine Probleme löst und den Ausgestiegenen in großer Einsamkeit zurücklässt. Schließlich verstand er es, seine Sehnsucht nach dem Ursprung und sein Bedürfnis, auch in fruchtbarer Weise an der Realität der existierenden Gesellschaft teilzuhaben, miteinander zu verbinden. Das Resultat bestand darin, dass er sich in die damalige Naturschutzpolitik eingab, ja sie zu einem guten Teil recht eigentlich begründete. Dabei feierte er zum Teil Erfolge, zum Teil machte er schmerzliche Erfahrungen.

Ein Mensch mit vielen Seiten Während John Muir auf dem europäischen Kontinent praktisch unbekannt geblieben ist, hat er in Nordamerika, verstärkt durch eine Renaissance in neuerer Zeit, den Status einer legendären Figur angenommen. Man hat ihn zum Propheten der Wildnis erklärt, nicht von ungefähr, denn tatsächlich sah er sich selbst in dieser Rolle. Das bedeutet aber nicht, dass er ein Heiliger war – Gott sei Dank nicht, um es etwas paradox auszudrücken. Auch er hatte seine menschlichen Schwächen und Vorurteile. So waren etwa Schwarze und Indianer, durchaus dem damaligen Zeitgeist entsprechend, auch für ihn nicht vollwertige Mitglieder der Menschheit – hinsichtlich der letzteren revidierte er allerdings seine Einstellung in späteren Jahren. Und zu Frauen hatte er Zeit seines Lebens ein etwas merkwürdiges Verhältnis. Es gibt viel Widersprüchliches, was beim Hin und Her in seinem Werdegang auch nicht verwunderlich ist. „Er war ... ein Intellektueller, der von Hochschulen nichts wissen wollte, ein