Die religiöse Frage und die Vernunft

20.10.2009 - Was haben die religiöse Frage und die Vernunft miteinander zu tun? .... Ablagerungen abbrechen wollt, dann musst ihr der allgemeinen.
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Die religiöse Frage und die Vernunft Was haben die religiöse Frage und die Vernunft miteinander zu tun?

Katechese KHG, 20.10.2009 + 0. Nichts. Die Antwort liegt in der Luft. Die herrschende Mentalität trennt die Gefühle von der Vernunft. Erstere gehören in die Privatsphäre. Die Vernunft kann und muss im Öffentlichen vertreten sein. Diese Mentalität berührt auch uns. Uns fällt es schwer, vor anderen Menschen unsere religiöse Frage – und noch mehr die Antworten aus dem Glauben heraus zu zeigen. Viele Gedankengänge dieser Katechese verdanke ich Luigi Giussani und seinem Buch „Der religiöse Sinn“. 1. Die religiöse Frage. Wie lautet die religiöse Frage des Menschen? Eine ägyptische Mutter von 3. Millennium vor Christus, eine Eskimomutter (Inuit), eine Bantumutter und eine europäische Mutter vom XXI. Jahrhundert in Wien bringen ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen auf sehr verschiedener Art und Weise zum Ausdruck. Die entscheidende Frage des Lebens, die religiöse Frage, wird sich in sehr unterschiedlichen Formen stellen, je nach Klima, Geographie, Sprache, Mentalität und Kulturgeschichte. Die Ausdrucksweise kann nach Kulturen variieren, ja sogar nach jedem einzelnen Menschen. Im Endeffekt ist aber die religiöse Frage dieselbe: „Was für einen Sinn hat das alles?“ Im Wesentlichen geht es um dasselbe, auch wenn die Sensibilitäten und Sprachen sehr bunt sind.

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Wie sollen wir vorgehen, um wirklich ernsthaft die religiöse Frage, das religiöse Phänomen, erforschen zu können? Meiden wir die typische Versuchung, mit dem Googeln anzufangen, sich einzulesen. Es ist ein methodologischer Irrtum, zuerst und vor allem, sich auf die Meinung von anderen, insbesondere von gesellschaftlich einflussreichen Personen, zu verlassen. Die Aussagen von Philosophen, vielgelesenen Journalisten, Professoren und Gurus verschiedener Sorten können nicht der Ausgangspunkt unserer Forschung sein. Das wäre eine Entfremdung. Auch das, was ich euch sage, darf nicht der Ausgangspunkt unserer Forschung sein. Warum? Die religiöse Erfahrung ist zuerst ein menschliches Phänomen, etwas das sich in mir ereignet, etwas das mein Ich als Person betrifft. Daher muss ich zuerst über mich selbst nachdenken. Ich muss mich selbst befragen. Ich muss eine existenzielle Selbsterforschung anstellen. Bevor mir jemand sagt, was in mir passiert, muss ich selber sagen, was in mir geschieht. Erst nach dieser persönlichen Erforschung kann ich die Ergebnisse sinnvoll mit dem vergleichen, was Denker und Philosophen dazu geäußert haben. Sie können mir helfen, mich bereichern, infrage stellen, bestätigen. Aber sie können meine eigene Erfahrung nicht ersetzen. Was bedeutet aber Erfahrung? a) Ausprobieren. Ohne Erproben, ohne Ausprobieren gibt es freilich keine Erfahrung. Die Erfahrung setzt einen Zusammenprall des Ichs mit der Wirklichkeit voraus.

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b) Urteil. Aber dieser Kontakt, diese persönliche Berührung, dieser Stoß des Gegenstandes, des Objektes, trifft doch eine Person, ein Ich. Solange die Person, das Ich, nicht ein Urteil über das Ausprobierte fällt, haben wir keine Erfahrung. Ich kann nicht bloß sagen: ‚mir ist dies und jenes passiert‘. Oder: ‚meine erste Reaktion darauf ist das und das‘. Ich muss etwas mehr darüber sagen können. Ich muss etwas herausfinden, das für immer bleibt. Ich kann nicht jedes Mal von null anfangen. Ein Mensch ist reif, weil er vom Leben gelernt hat. Er hat nicht bloß Erlebnisse aufgestapelt, akkumuliert. Er ist dabei als Mensch gewachsen. Vierzehnjährige können sich die großen Fragen des Lebens stellen und von Anfang an alles neu prüfen. Aber, wenn ein Zweiundzwanzigjähriger schon einige Sachen ausprobiert (Substanzen, Hobbys…), einige Erlebnisse (Freunde, Partner…) hinter sich hat, aber noch keine klaren Grundgewissheiten im Leben besitzt, dann mache ich mir Sorgen. Ihr Studenten fragt logischerweise nicht mehr Mama und Papa die ganze Zeit, was ihr zu tun habt. Ab etwa 13 oder 14 habt ihr begonnen, nach der eigenen Autonomie zu streben. Inzwischen sind schon einige Dinge passiert. Vier, fünf, sechs, ja sogar acht oder zehn Jahre sind vergangen. Ihr habt in diesen Jahren einige Sachen gelernt. Doch noch immer fehlt in gewissen Bereichen eine Selbstsicherheit. Ihr quält euch zum Beispiel oft, eine Entscheidung zu treffen. Ihr seht wie Erwachsene aus. Ihr seid aber ab und zu von Mentalität her noch kindisch. Die Verantwortung im Bereich Studium, Arbeit, Familie, Freundschaft, Partnerschaft ist da. Aber das Urteilvermögen ist nicht immer damit gewachsen.

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Das macht euer Leben schwer oder mühsam. Oft scheint der Ausweg die Flucht in die Träume, in die Effizienz des Lernens, in den Wellness, in Partys oder sogar in die Sucht zu sein. Die Freiheit als Verdrängen von Problemen. Es gibt aber eine andere Möglichkeit. Der Mensch reift, wenn er im Kontakt mit anderen Menschen und Situationen wächst. Es muss dabei echte Begegnung geben. Nicht bloß Berührung. Der Gegenstand muss dem Ich begegnen. Wesentlicher Teil des Ichs ist die Fähigkeit, die Sachen zu beurteilen, das Urteilsvermögen. Was die Erfahrung kennzeichnet ist gerade das Verstehen einer Sache, das Entdecken seines Sinnes. Was bedeutet das für mein Leben? Was für einen Sinn hat das? Was kann ich davon für mein Leben lernen? Die Erfahrung beinhaltet also die Einsicht in den Sinn der Dinge. c) Kriterium. Ein Urteil verlangt aber ein Kriterium, auf dessen Grund es gebildet werden kann. Wenn ich die religiöse Erfahrung in Betracht ziehe, wo finde ich ein angemessenes Kriterium, die Grundzüge meiner Auseinandersetzung mit allem? d) Grunderfahrung. In meiner Urerfahrung, in meiner Grunderfahrung. Bei der Geburt werden wir mit einem Bündel von Bedürfnissen und Einsichten in die Welt hineingeworfen. Diese Grundausstattung ermöglicht uns diese Auseinandersetzung mit allem. Der Mensch vergleicht alles, was ihm widerfährt, mit der Sehnsucht nach Glück, mit dem Verlangen nach Gerechtigkeit, mit dem Hunger nach Wahrheit. Diese Grunderfahrung ist der Funke, der den Motor des Menschen in Gang setzt. Ohne ihn zündet sich die menschliche Dynamik nicht.

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Ohne diese Beurteilung der Erfahrungen, auch der religiösen Erfahrungen, sind wir nur sentimental, gefühlmäßig unterwegs. Dieser Vergleich von allem mit unserer Urerfahrung liegt in unserer Natur, es ist das Eigentliche des Menschen. Trotzdem ist es keine leichte Aufgabe, alles mit unserem Herzen zu vergleichen. Oberhalb unserer tiefen Sehnsucht nach dem Ganzen liegt oft eine dicke Verkrustung. Was die anderen sagen, Familientraditionen, mein Bild von mir selbst, meine Lust, der Druck von außen und von innen überlagern unbemerkter weise meine Grunderfahrung, was ich wirklich will. So fungiert oft diese Grunderfahrung nicht mehr als Kriterium, als Maß (wobei es sich aber um die Sehnsucht nach dem Unendlichen, um das Maß des Unmaßes handelt) für meine Urteile und dementsprechend für meine Reaktionen, Entscheidungen und Meinungen. Andere Instanzen in mir und außerhalb von mir übernehmen das Kommando. Ich stelle euch keine leichte Aufgabe. Keine populäre. Wenn ihr diese Ablagerungen abbrechen wollt, dann musst ihr der allgemeinen Meinung die Stirn bieten. Alles, vom Geistesleben bis zur Kleidung, wird heute von der allgemeinen Mentalität beherrscht, von den Medien diktiert, von den Kollegen unter dem Motto ‚cool‘ oder ‚uncool‘ bestimmt. Die kühnste Art, das ganze herauszufordern, ist es, uns zur Gewohnheit zu machen, alles im Lichte unserer ursprünglichen Bedürfnisse zu beurteilen und nicht aufgrund eher zufälliger Reaktionen oder Moden.

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Ein Beispiel: die Liebe ist nach der öffentlichen Meinung eine gegenseitige Befriedigung von Gefühlen und Trieben. Die Hingabe und die Distanz, dieses für die Reifung damit verbundene Opfer, werden als Feind der Liebe betrachtet. So ist eine Entwicklung in der Beziehung und eine Gewissheit bis zu einer endgültigen Entscheidung eine rara avis, eine Rarität geworden. Beginnen wir zu urteilen! Damit beginnt die Befreiung. Wo finden wir aber die Kraft, gegen den Strom zu schwimmen? Diese Mühe, diese Arbeit mit sich selbst lohnt sich: es geht um unsere Bestimmung, um unser Glück! Die Kraft kann nur aus der Liebe zur eigenen Bestimmung kommen. Christlich gesprochen gehört diese Bemühung zur „metanoia“ oder Bekehrung.

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2. Die Vernunft. Was ist die Vernunft? Die Vernunft ist die Fähigkeit des Menschen, sich der Wirklichkeit in der Gesamtheit ihrer Faktoren bewusst zu werden. In der Natur, im Universum, ist der Mensch ein einzigartiges Ereignis: die Natur selbst hat das Bedürfnis, die Wirklichkeit in all ihren Faktoren zu erklären. (Infusion gut dosieren!) Dieses Ereignis ist das menschliche Ich, die Vernunft. Das Eigentliche des Menschen besteht darin, sich selbst und in sich der ganzen Wirklichkeit bewusst zu werden. Der Mensch ist jene Stufe der Natur, auf der die Natur sich fragt: „Warum bin ich?“ Der Mensch ist klein, aber er fragt sich nach der Bedeutung des Ganzen. Die höchste Anwendung der Vernunft strebt nach einem Sinn des Ganzen. „Die menschliche Vernunft (…) wird durch Fragen belästigt (…), die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft) Gott ist die letzte Implikation der Vernunft. So wie ich, wenn ich im Spital einen Blumenstrauß bekomme, mich danach frage, wer mir den Blumenstrauß gesendet hat, genau so frage ich mich nach dem letzten Ursprung der Realität. So wie die Frage nach dem Woher dieser Blumen, wer hat an mich gedacht nicht künstlich ist, sondern zur Erfahrung des Geschenkes gehört, genau so ist die Frage nach Gott, nach dem letzten Sinn des Ganzen eine Implikation, etwas das drinnen in meiner Lebenserfahrung als Mensch, als Vernunft beinhaltet ist. Die religiöse Frage ist die höchste Anwendung der Vernunft. Die Vernunft fragt nach dem Sinn von etwas. Die religiöse Frage ist die Frage nach dem letzten Sinn vom Ganzen. Es gibt keine Erfahrung ohne das Geheimnis als letzte Erklärung.