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Das Recht des Europarats ist schon bald nach seiner Gründung im Jahre ...... so manches verlangt, wovon früher nicht die Rede war: z.B. das Versprechen,.
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Die Rechtsstruktur des Europarats und insbesondere der Parlamentarischen Versammlung

Das Recht des Europarats ist schon bald nach seiner Gründung im Jahre 1949 eher stiefmütterlich behandelt worden - und zwar auch an den Universitäten. Bekannt ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), aber meist nicht viel mehr. Die einzige Monographie über "Das Recht des Europarats" stammt aus der Feder des früheren Bundespräsidenten Professor Karl Carstens. Sie erschien 19561. Mit der Entstehung des Gemeinschaftsrechts trat der Europarat in den Schatten des öffentlichen und akademischen Interesses, obwohl er doch gerade auf rechtlichem Gebiet viel hervorgebracht hat. Man denke an die rund 160 europäischen Konventionen, die viel zur Rechtsangleichung in Europa beigetragen haben, auch wenn sie von unterschiedlicher praktischer Bedeutung sind2. Im Rahmen dieses Vortrags kann hierauf nicht weiter eingegangen werden3. Seit Karl Carstens ist das Recht des Europarats, das sich schließlich in den letzten 40 Jahren in mancher Hinsicht stark entwickelt hat, nicht mehr Gegenstand einer gründlichen Gesamtdarstellung gewesen. Bestenfalls wurden ihm Abschnitte in Völkerrechtslehrbüchern gewidmet. Andererseits gibt es eine immer größere Zahl von Lehrbüchern des Gemeinschaftsrechts, wobei sehr häufig der Begriff Europarecht für das Teilgebiet Gemeinschaftsrecht in Anspruch genommen wird, dessen ständig wachsende Bedeutung natürlich nicht bestritten werden kann. Doch nun zum eigentlichen Thema unseres Vortrags. Wie angekündigt, soll es in drei Teilen 1

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Karl Carstens, Das Recht des Europarats, Duncker & Humblot, Berlin 1956. Carstens war einer der ersten Ständigen Vertreter der Bundesrepublik Deutschland beim Europarat und das Buch war seine Habilitationsschrift. Seine Analyse der Satzung ist nach wie vor lesenswert und wird noch immer zur Auslegung einzelner Bestimmungen herangezogen. Zum Teil sind diese multilateralen Verträge mangels der erforderlichen Zahl von Ratifizierungen noch nicht in Kraft, einige sind auch inzwischen überholt, viele binden nicht alle Mitgliedstaaten. Eine vollständige Liste aller Europaratskonventionen erscheint jährlich (mit der entsprechenden Nummer in der European Treaty Series - ETS) im Katalog der Veröffentlichungen des Europarats (Council of Europe Publishing, Catalogue) in englischer und französischer Sprache. Die Vertragstexte ebenso wie die erläuternden Berichte sind einzeln verfügbar und werden darüber hinaus in regelmäßigen Abständen in der Sammlung "European Conventions and Agreements" veröffentlicht. Zuletzt erschien Band VI (1990-1994), Publishing and Documentation Service, Council of Europe, ISBN 92-871-2587-2. Eine Dissertation aus dem Jahre 1986 verdiente auf den neuesten Stand gebracht zu werden: Agnes Debricon, L'oeuvre conventionnelle du Conseil de l'Europe, Faculté de droit, Université Robert Schuman, Strasbourg. Interessant ist auch die Beurteilung der einzelnen Europaratskonventionen aus nationaler Sicht, z.B.: Bea Verschraegen, Gesamtevaluation der Europaratskonventionen aus österreichischer Sicht, in: Österreich im Europarat, 1956 - 1986, Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1988; und die regelmäßigen Berichte des Schweizer Bundesrats an das Parlament: Die Schweiz und die Konventionen des Europarats (1. Bericht vom 16. November 1977; weitere Berichte 1980, 1984, 1988, 1992, 1995).

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behandelt werden. Zunächst geht es um den Europarat als solchen (I); danach insbesondere um die Rechtsstruktur der Parlamentarischen Versammlung (II); und schließlich um die Auswirkung der rapiden geographischen Erweiterung der Organisation nach Mittel- und Osteuropa (III). I.

Zur Rechtsstruktur des Europarats als Organisation

Sicher, im Gegensatz zur EG (EU), die für sich in Anspruch nimmt, ein Rechtsgebilde sui generis (und eben keine internationale Organisation im herkömmlichen Sinne zu sein)4, ist der Europarat grundsätzlich eine internationale Organisation klassischen Zuschnitts. Doch ist er in dieser Hinsicht nicht "idealtypisch" im Alfred Weberschen Sinne. Es handelt sich nicht um eine reine Staatenassoziation, in der sachliche Beschlüsse grundsätzlich nur einstimmig getroffen werden und jedenfalls nicht gegen den Willen eines Mitgliedes durchgesetzt werden können. Von Anfang an waren in der Satzung des Europarats (Vertrag von London vom 5.5.49) supranationale Elemente verankert. Wir wollen auf die wichtigsten kurz eingehen: 1.

Eine parlamentarische Versammlung

Wir wollen hier nicht den zweiten Teil dieses Vortrags vorwegnehmen, sondern nur daran erinnern, daß die Integration eines parlamentarischen Gremiums in eine zwischenstaatliche Organisation 1949 ein Novum darstellte5. Bis heute gibt es wenige internationale parlamentarische Versammlungen, die für sich in Anspruch nehmen können, sich auf einen völkerrechtlichen Vertrag zu gründen und integrierender Bestandteil einer internationalen Organisation zu sein. Die Erfüllung beider Bedingungen trifft u.W. neben der PVER nur für das Europäische Parlament, die Versammlung der WEU und - obwohl wegen seiner komplizierten Struktur nicht vergleichbar - den Nordischen Rat zu. Das Anden-Parlament wurde auch auf Grund eines (getrennten) Vertrags errichtet, aber später offiziell als parlamentarischer Flügel des Andenpakts (Acuerdo de Cartagena) anerkannt. Auch das Lateinamerikanische Parlament beruht auf einem Vertrag, steht aber sozusagen im freien Raum. Die meisten anderen internationalen Versammlungen gründen sich nicht auf Völkerrecht sondern auf interparlamentarische Vereinbarungen (eine "Grauzone" des internationalen Rechts). Das gilt für die Nordatlantische

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Versammlung

(NAV)

ebenso

wie

die

OSZE-Versammlung

und

die

S. hierzu u.a. Stephan Breitenmoser, die Europäische Gemeinschaft zwischen Völkerrecht und Staatsrecht in: ZaÖRV 55/4, 951.; und Gil Carlos Rodríguez Iglesias, Zur "Verfassung" der Europäischen Gemeinschaft, in: EuGRZ 1996, 125. Ignaz Seidl-Hohenveldern verweist allerdings auf die Existenz und die Befugnisse des Zollparlaments im Rahmen des Deutschen Zollvereins (1867); und auf die Gesetzgebende Versammlung des ostafrikanischen Gemeinsamen Markts (1967-1977). S. Das Recht der internationalen Organisationen, einschließlich der supranationalen Gemeinschaften, 3. Aufl., Carl Heymanns Verlag, Köln etc. 1979.

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Parlamentarische Versammlung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)6. Mit der Existenz einer parlamentarischen Versammlung als Teil des Europarats ist natürlich noch nichts über deren Kompetenzen ausgesagt. Darauf kommen wir später zurück. 2.

Mehrheitsbeschlüsse im Ministerkomitee

Es geht hier nicht um den Prozeß der Entscheidungsfindung im einzelnen7, sondern lediglich um den Hinweis darauf, daß nach Art. 20 der Satzung einige der wichtigsten Beschlüsse, wie die Festlegung des Haushaltsplans und des zwischenstaatlichen Arbeitsprogramms mit Zweidrittelmehrheit gefaßt werden können. Absatz d lautet wie folgt: "Alle sonstige Entschließungen des Komitees werden mit Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen und der einfachen Mehrheit der Stimmen aller Vertreter, die Anspruch auf einen Sitz im Ministerkomitee haben, gefaßt..." Beim jetzigen Mitgliederstand von 39 (nach dem Beitritt Rußlands am 28. Februar 1996) heißt das, daß, wenn 20 Staatenvertreter (die absolute Mehrheit der Stimmberechtigten) sich an der Abstimmung beteiligen, mindestens 14 positive Stimmen abgegeben werden müssen. Im weiteren Verlauf des Absatzes wird der Haushaltsplan ausdrücklich erwähnt ("insbesondere"), das damit eng zusammenhängende Arbeitsprogramm fällt, da in den vorhergehenden Absätzen nicht erwähnt, ebenfalls unter die "sonstigen Entschließungen". Ein zusammenhängendes zwischenstaatliches Arbeitsprogramm wurde übrigens erst in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre eingeführt. Im Gegensatz zur EG kann auch die Aufnahme neuer Mitglieder mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden, ebenso wie die Anwendung des Art. 8 der Satzung betreffend den "Ausschluß" eines Mitgliedes (infra). So steht es in Art. 20 (c). Aber nach der Geschäftsordnung der 6

7

Zur Rechtsstruktur und Klassifizierung internationaler parlamentarischer Versammlungen und Vereinigungen, s. (wenn auch nicht auf dem neuesten Stand) Heinrich Klebes, Les institutions parlementaires internationales, in: Revue générale de droit international public, 1988/4; Constitución de las Institutiones Parlamentarias Internationales in: La Dimensión Parlamentaria de los Procesos de integración regional, tomo II, 203-225, Buenos Aires, 1990; The Development of International Parliamentary Institutions in: Constitutional and Parliamentary Information, London, No. 159/1990. Eine Untersuchung hierüber (H. Klebes/M. Heinrich) ist zur Veröffentlichung in der EuGRZ in Vorbereitung. Zu Recht und Praxis des Ministerkomitees s. auch die Studie von Guy De Vel, Le Comité des Ministres, Council of Europe Publishing, Strasbourg 1994.

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Ministerbeauftragten können letztere, im Gegensatz zu den Ministern, einen solchen Beschluß nur einstimmig fassen8. Kommt die Einstimmigkeit nicht zustande, so läge die Entscheidung mit Zweidrittelmehrheit bei den Ministern. Auch die Annahme von Konventionstexten erfolgt nach Art. 20 (d) mit Zweidrittelmehrheit. Natürlich besagt das noch nicht viel, denn, wie schon erwähnt, sind Europaratskonventionen internationale Verträge, die den Bestimmungen der Wiener Vertragsrechtskonvention unterliegen. Ihre Effektivität hängt von der Unterzeichnung und Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten ab. Die Auflage zur Unterzeichnung war lange davon abhängig, daß sich kein Mitgliedstaat dem widersetzte. Dies änderte sich mit der Statutarischen Entschließung (93) 27, die hierfür die oben definierte Zweidrittelmehrheit festlegt9. Schließlich ist das Einstimmigkeitsprinzip, soweit es in Art. 20 festgelegt wurde, durch die Praxis und durch ein "gentlemen's agreement" der Ministerbeauftragten weiter durchlöchert worden: Bei Empfehlungen des Ministerkomitees an die Regierungen nach Art. 15 b können sich die Staatenvertreter nicht nur enthalten, sondern auch ausdrücklich erklären, daß sie die Empfehlung für sich nicht als bindend betrachten ("contracting out"). Natürlich schwächt das den Wert der Empfehlungen: in der Vergangenheit hatte man gerade argumentiert, daß in bestimmten Fällen eine Empfehlung des Ministerkomitees einer Konvention vorzuziehen sei; die Bedingung der Einstimmigkeit gebe ihr große moralische Autorität. Andererseits wird bei fast einstimmiger Annahme einer Empfehlung der Anpassungsdruck auf die Außenstehenden sehr stark sein10. Ebenso gilt im Verkehr des Ministerkomitees mit der Versammlung nicht mehr uneingeschränkt das Einstimmigkeitsprinzip seit dem "gentlemen's agreement" vom November 1994. Einstimmigkeit ist uneingeschränkt nur noch erforderlich für

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9

10

Dies spielte eine Rolle bei der Aufnahme der Slowakei, als der Ungarische Botschafter zunächst Weisung hatte, negativ zu stimmen. Dies wurde verhindert durch die Annahme der Direktive 488 (infra) über die Einhaltung der von neuen Mitgliedstaaten eingegangenen Verpflichtungen. Abgedruckt in dem jährlich neu erscheinenden Band "Rules of Procedure of the Assembly and Statute of the Council of Europe". Die Empfehlungen des Ministerkomitees nach Art. 15 b, die z.T. auch mit follow-up Verfahren (wie regelmäßige Berichterstattung der Regierungen) gekoppelt sind, werden in regelmäßigen Abständen vom Ministerkomitee veröffentlicht.

1

-

die Berichte des Ministerkomitees (als Organ) an die Versammlung (Art. 19, 20 a),

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die Publizität oder Vertraulichkeit der Sitzungen des Ministerkomitees (Art. 21),

-

sonstige Fragen, "für die das Komitee wegen ihrer Bedeutung ... die Einstimmigkeit vorschreibt".

Wie allgemein üblich werden Verfahrensfragen (Art. 20 b) mit einfacher Mehrheit entschieden. 3.

Die Unterwerfung der Mitgliedstaaten unter die Kontrollorgane der Europäischen Menschenrechtskonvention

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist formal nicht Teil der Satzung, wie man es bei dem Haager Kongreß 1948 gehofft hatte. Sie wurde schon in der Parlamentarischen Versammlung als separates Rechtsinstrument konzipiert. Man weiß auch, daß es bis November 1974 dauerte, bis alle damaligen 18 Mitgliedstaaten die Konvention ratifiziert hatten. Weitere 16 Jahre (bis 1990) dauerte es, bis alle (damals 23 Mitgliedstaaten) auch die Fakultativklauseln in Art. 25 (Individualbeschwerderecht) und Art. 46 (Anerkennung der Rechtsprechung des Gerichtshofs) akzeptiert hatten. Aber seit 1974 ist kein Staat neu aufgenommen worden, der nicht den Beitritt zur Konvention vorher zugesagt hatte. Die Unterzeichnung der EMRK erfolgt seither am Tag des Beitritts unmittelbar nach der Unterzeichnung der Satzung. Seit Anfang der 90er Jahre, d.h. mit dem Beginn der "Zuwanderungswelle" nach der politischen Wende in Mittel- und Osteuropa verlangt die Parlamentarische Versammlung außerdem die Zusage der Anerkennung der beiden Fakultativklauseln, bevor sie ein positives Votum zur Aufnahme eines neuen Mitgliedes abgibt (infra). Man könnte auch auf die prozeduralen Verzahnungen zwischen Europaratsstatut und EMRK hinweisen: In Art. 37 heißt es noch immer: "Die Sekretariatsgeschäfte der Kommission werden vom Generalsekretär des Europarats wahrgenommen". Das ist inzwischen Theorie, die Kommission bestellt selbst ihren Sekretär, aber die Mitglieder des Sekretariats von Kommission und Gerichtshof sind Beamte des Europarats. Nach den Artikeln 24 und 25 laufen Beschwerden wegen Verletzung der Konvention zunächst über den Generalsekretär des Europarats.

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Nach Art. 32 entscheidet das Ministerkomitee nach Ablauf der Dreimonatsfrist für die Vorlage des Kommissionsberichts beim Gerichtshof darüber, ob die Konvention verletzt wurde oder nicht. Nach dem noch gültigen System (d.h. vor Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11) besteht der Gerichtshof aus ebensovielen Richtern, wie der Europarat Mitglieder zählt (Art. 38). Das Ministerkomitee des Europarats überwacht die Durchführung der Urteile des Gerichtshofs (Art. 54). Allerdings, ähnliche Verbindungslinien gibt es auch zu anderen Konventionen des Europarats. Es handelt sich dabei also um keine entscheidenden Argumente für unsere Behauptung, daß die EMRK gewohnheitsrechtlich inzwischen zum "Verfassungsrecht" des Europarats gehört. Doch die Forderung, daß ein Mitgliedstaat Vertragspartei der EMRK sein muß, einschließlich der Art. 25 und 46, hat sich inzwischen auch das Ministerkomitee zu eigen gemacht, dem nach Art. 13 der Satzung die Handlungskompetenz für die Organisation zusteht. Es ist somit nicht mehr denkbar, daß ein Mitgliedstaat die EMRK aufkündigt. Auch jeder Versuch, eine Erklärung zur Annahme des Individualbeschwerderechts nach Art. 25 nicht zu erneuern, würde beim jetzigen Entwicklungsstand der Organisation und angesichts der gegenüber den neuen Mitgliedstaaten angelegten Maßstäbe zu einer schweren Krise der Organisation führen. Auf längere Sicht sollte man beim Haager Kongreß anknüpfen und austreben (läge es nicht an der Versammlung, entsprechenden Druck auszuüben?) die Konvention in die Satzung zu integrieren. Der Gerichtshof würde dann Organ des Europarats11. Aus dem Gesagten ist zu schließen, daß auch der Europarat wegen der erwähnten supranationalen Elemente und wegen seines Charakters als Wertegemeinschaft (Präambel und Art. 3), eine zwischenstaatliche Organisation sui generis ist.

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Käme es dazu, so müßte allerdings auch die Problematik des Beitritts der EG zur EMRK neu durchdacht werden. Wäre dann ein solcher Beitritt ohne gleichzeitige Mitgliedschaft im Europarat noch möglich? Die Frage ist aber noch nicht aktuell. Zwar hat sich das Europäische Parlament in mehreren Entschließungen (zuletzt in seiner Entschließung vom 30. März 1996 betreffend die Regierungskonferenz zur Revision des Vertrags von Maastricht (abgedruckt in EuGRZ 1996, 167) für einen solchen Beitritt ausgesprochen. Die Europäische Kommission hat sich dem angeschlossen. Der Rat erbat eine Stellungnahme des EuGH, die am 28.3.1996 vorgelegt wurde. Sie kam, kurz gesagt, zu dem Schluß, daß das Gemeinschaftsrecht beim jetzigen Stand (Art. 235) für einen Beitritt nicht ausreiche. Somit bleibt abzuwarten, ob die in Turin eröffnete Regierungskonferenz neue rechtliche Tatsachen schafft.

1

B.

Andere Aspekte der Rechtsnatur des Europarats

1.

Der Europarat als Regionalorganisation der Vereinten Nationen

Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die Mitgliedschaft im Europarat nach der Satzung die Mitarbeit bei den Vereinten Nationen nicht beeinträchtigen soll. Immer wieder wurde die Frage aufgeworfen, ob der Europarat eine Regionalorganisation im Sinne der Charta der Vereinten Nationen darstelle. Negativ wurde die Frage von vornherein vom damaligen politischen Osten beschieden:

schon

der

Name

Europarat

sei

eine

Anmaßung

(ähnlich

der

"Alleinvertretungsanmaßung" der damaligen Bundesrepublik). Gleiches galt übrigens für die Europäische Gemeinschaft. Bestenfalls handele es sich beim Europarat um einen Westeuroparat12. Aber auch innerhalb des Europarats bestanden Bedenken. Könnte der Europarat etwa in friedenserhaltende Maßnahmen der Vereinten Nationen verwickelt werden? So kam es, daß der Europarat erst lange nach der EG, deren "technische Hilfe" er in New York beanspruchte, und nach den meisten anderen Regionalorganisationen den Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen beantragte und im Jahre 1985 auch erhielt - ohne davon viel Gebrauch zu machen. 2.

Der Kompetenzbereich des Europarats

Nach Art. 1 der Satzung wäre der Europarat praktisch omnikompetent. Neben dem Schutz und der Förderung der "Ideale und Grundsätze, die ihr [der Mitgliedstaaten] gemeinsames Erbe" sind (Präambel), könnte sich die Organisation praktisch mit allen Fragen der europäischen Zusammenarbeit befassen: Wirtschaft, Soziales, Kultur, Wissenschaft, Verwaltung, Recht und Menschenrechte. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, daß es 1949 abgesehen von der für die Verteilung der Marshall-Plan-Hilfe und den Abbau der Quotenbeschränkungen zuständigen OEEC (später OECD) keine Organisation der europäischen Zusammenarbeit gab. Insbesondere gab es noch nicht die Europäische Gemeinschaft. Die einzigen Einschränkungen dieser Universalkompetenz bestehen darin, daß gemäß Art. 1d "Fragen der nationalen Verteidigung" nicht zur Zuständigkeit des Europarats gehören und daß nach Abs. (c) die Beteiligung der Mitgliedstaaten an der Arbeit des Europarats ihre Mitwirkung am Werk der Vereinten Nationen und der anderen internationalen Organisationen oder Vereinigungen, denen sie angehören, nicht beeinträchtigen darf.

12

S. hierzu u.a. das von einem Autoren-Kollektiv erstellte 5-bändige Lehrbuch des Völkerrechts, Staatsverlag der DDR, Berlin 1973, und die folgenden Ausgaben.

1

Art. 1d wurde gelegentlich umgangen, z.B. indem man in der Versammlung zwar nicht über die Zahl von Panzern und Flugzeugen, wohl aber über "politische Aspekte" der Verteidigung diskutierte. Im Ministerkomitee wurden Anfang der 70er Jahre Verteidigungsfragen im Rahmen der regelmäßigen Aussprachen über die Vorbereitung der Konferenz von Helsinki angeschnitten. Mit der Lockerung des Neutralitätskonzepts in einigen Mitgliedstaaten könnte man sich eine zunehmend weniger strenge Auslegung des Art. 1d vorstellen. Art. 1c wurde gelegentlich in der Parlamentarischen Versammlung als unzumutbare Einschränkung empfunden. So hält man sich schon lange nicht mehr an die in den Anfangsjahren gültige Regel, wonach

Plenartagungen

der

Versammlung

nicht

während

den

Sitzungsperioden

der

Vollversammlung der Vereinten Nationen stattfinden sollen. Eine solche Beschränkung wäre auch deswegen nicht mehr möglich, weil die Sitzungsperioden der Vollversammlung zunehmend länger wurden. Viele Parlamentarier empfinden es als störend, daß sich der Europarat bei Bemühungen um die friedliche Beilegung von Streitigkeiten zwischen Mitgliedern nur deshalb zurückhalten soll, weil die Vereinten Nationen bereits mit der Frage befaßt sind. Andererseits mangelt es dem Europarat auf diesem Gebiet auch an der nötigen Kraft, sich als Organisation durchzusetzen13. 3.

Die Rolle des Sekretariats

Das Sekretariat des Europarats ist nach der Satzung nicht Organ, wie z.B. bei den Vereinten Nationen (Art. 7 der Charta) oder auch bei NATO und OSZE, wo der Generalsekretär den Vorsitz im Ministerrat führt. Im Europarat steht das Sekretariat den Organen, Ministerkomitee und Versammlung, zur Seite. Nach Art. 36 besteht das Sekretariat "aus dem Generalsekretär, einem stellvertretenden Generalsekretär und dem erforderlichen Personal". Aber schon im November 1949 verabschiedete das Ministerkomitee die Statutarische Entschließung (49) 20, womit der Posten eines Leiters der Verwaltungsdienste der Versammlung (seit 1956, Greffier bzw. Clerk, auf deutsch Kanzler genannt) geschaffen wurde. Er hat den Rang eines Stellv. Generalsekretärs.

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Leider, das sei in diesem Zusammenhang angemerkt, hat die Europaratskonvention für die friedliche Streiterledigung von 1957 bisher wenig Erfolg gehabt. Gerade jetzt wäre es an der Zeit, ihr zu mehr Geltung zu verhelfen.

1

Die Tatsache, daß der Generalsekretär des Europarats rechtlich eine schwächere Position hat als seine Kollegen in anderen internationalen Organisationen, hat die politische Bedeutung seines Amtes nicht beeinträchtigt. Nach Art. 36b werden der Generalsekretär und der stellv. Generalsekretär von der Parlamentarischen Versammlung "ernannt". In Wirklichkeit werden seit 1956 die drei Spitzenbeamten des Europarats von der Versammlung gewählt, und zwar jeweils für ein Mandat von 5 Jahren14. Daß die Wahl (Ernennung) auf Empfehlung des Ministerkomitees erfolgt, wie es in Art. 36 b heißt, ist eine reine Formalität. In der Praxis kommen die Kandidaten für das Amt des Generalsekretärs heute aus den Reihen der Versammlung, wobei sich seit ein paar Jahren die größeren Fraktionen auf ein (nicht veröffentlichtes) Rotationsverfahren geeinigt haben, das sowohl den Generalsekretär als auch den Präsidenten der Versammlung einbegreift15. Berücksichtigt werden dabei die Sozialisten, die Europäischen Demokraten (Konservativen), die Europäische Volkspartei (Christdemokraten) und die Liberalen, aber nicht die kleinste Fraktion, die Vereinigte Europäische Linke. Obschon rechtlich gesehen die Rolle des Generalsekretärs eher administrativer Natur ist, kann der Amtsträger großen Einfluß, insbesondere im Ministerkomitee ausüben. Sein Initiativrecht, das Komitee auch mit politischen Vorschlägen zu befassen, ist heute unbestritten. In der öffentlichen Meinung ist er (bzw. sie) der Repräsentant der Organisation. Mehr als in anderen internationalen Organisationen ist die Personalpolitik Domäne des Generalsekretärs. Nur bei der Besetzung von Posten der beiden obersten Beamtenkategorien des Ständigen Kaders (A6 und A7) muß er mit dem Ministerkomitee (d.h. mit den Ministerbeauftragten)16, in einen "Gedankenaustausch" eintreten, ohne aber an die Meinung der Regierungsvertreter gebunden zu sein. Für Ernennungen im Versammlungsdienst findet ein solcher Gedankenaustausch auch mit dem Präsidium statt und nach einem mit letzteren geschlossenen "gentlemen's agreement" sollen derartige Stellenbesetzungen nur im Einvernehmen mit dem Kanzler der Versammlung erfolgen.

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15

16

S. "Regulations relating to the appointment of the Secretary General, the Deputy Secretary General and the Clerk of the Assembly having the rank of Deputy Secretary General" in: Rules of Procedure of the Assembly and Statute of the Council of Europe, 1995, 260. Der Versammlungspräsident wird nach der Geschäftsordnung für eine Sitzungsperiode (1 Jahr) gewählt, aber nach einer ungeschriebenen Regel zweimal wiedergewählt, so daß er normalerweise drei Jahre im Amt bleibt. Die Botschafter der Mitgliedstaaten beim Europrat haben eine Doppelfunktion: Zum einen sind sie die Beauftragten ihrer Außenminister und als solche Mitglieder des Ministerkomitees auf der Ebene der Ministerbeauftragten. Zum anderen vertreten sie ihre Regierung (nicht das Staatsoberhaupt wie im zwischenstaatlichen Verkehr) bei der Organisation.

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Im Gegensatz zu anderen internationalen Organisationen ist es im Europarat ein fester Grundsatz, daß in der Personalpolitik Einflüsse von außerhalb abzuwehren sind. So ist z.B. Vorsprachen von Botschaftern und Interventionen von Ministern oder Parlamentariern normalerweise kein Erfolg beschieden. Sie sind eher kontraproduktiv. So mancher neue Mitgliedstaat muß sich daran noch gewöhnen... Der Generalsekretär ist lediglich gehalten, im Rahmen des Möglichen die nationale Quote (sie entspricht dem Beitrag zum Haushalt) im höheren Dienst zu respektieren und die Ergebnisse der internen Verfahren (Recruitment Board, Promotions Board) zu berücksichtigen. 4.

Assoziierte Mitgliedschaft, Beobachter-Status, Konsultativ-Status

Wir können diese drei Formen der Anbindung an den Europarat hier nicht ausführlich behandeln. Die Assoziierte Mitgliedschaft nach Art. 5 der Satzung kam nur zweimal zur Anwendung, und zwar 1950 für die Bundesrepublik und für das Saarland. Erstere wurde nach Wiedererlangung ihrer Souveränität am 2.5.1951 Vollmitglied. Letzteres ging nach der Volksabstimmung von 1956 in der Bundesrepublik auf. Was in Art. 5 nicht klar gesagt ist, ergibt sich aus der Terminologie, nämlich, daß es hier um Rechtsgebilde ohne volle Souveränität geht. Während Art. 4 (Mitgliedschaft) von Staaten spricht, ist in Art. 5 von Ländern die Rede. Da nicht zu erwarten ist, daß es ähnliche Situationen wiedergeben wird, schlug die Versammlung in ihrem Entwurf einer revidierten Satzung (Empfehlung 1212 (1993)) einen neu formulierten Art. 5 vor, wonach jeder Staat (ohne Beschränkung auf den europäischen Kontinent) die Möglichkeit gehabt hätte, die assoziierte Mitgliedschaft zu erlangen. Der Vorschlag wurde im Ministerkomitee, aber schließlich auch in der Versammlung, nicht weiterverfolgt - wie die Idee einer Statutsrevision überhaupt. Stattdessen verabschiedete das Ministerkomitee im Mai 1993 die Statutarische Entschließung (93) 26 über den Beobachter-Status bei der Organisation17. Er kann Staaten gewährt werden, welche mit dem Europarat zusammenarbeiten möchten und die Grundsätze der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenrechte akzeptieren. Inzwischen genießen die Vereinigten Staaten und Kanada diesen Status. Japan hat ihn beantragt18.

17

18

Die letzten Worte sind wichtig, will man Begriffsverwirrungen vermeiden. Denn es gibt beim Europarat auch die Mitwirkung von Beobachtern (Vertretern von Nichtmitgliedstaaten, internationalen Organisationen und auch nichtstaatlichen Organisationen) in Expertenausschüssen, ebenso wie der Beobachterstatus bei der Versammlung nach Art. 55 der Geschäftsordnung. Letzterer findet z.Zt. nur auf Israël Anwendung. Schließlich gibt es seit 1989 den Sondergästestatus bei der Versammlung (Art. 55 a GO, der als Vorstufe für die Mitgliedschaft gilt. S. Rules of Procedure, 1995, 72. Am 20.3.96 hat die Versammlung nach Entschl. (93) 26 eine positive Stellungnahme abgegeben: Opinion 194.

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Nur der Vollständigkeit halber sei der Konsultativ-Status für nichtstaatliche Organisationen (NGO) erwähnt, der in ähnlicher Form auch bei den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen praktiziert wird19. 5.

Zur Revision der Satzung

Der von der Parlamentarischen Versammlung erarbeitete Entwurf einer revidierten Satzung wurde schon erwähnt. Der Text kann hier nicht im Detail analysiert werden. Sicher wäre er auch noch verbesserungsbedürftig. Die Versammlung wollte u.a. ihre eigene Position innerhalb der Organisation stärken, wobei man in mancher Hinsicht die Entwicklung der Befugnisse des Europäischen Parlaments im Auge hatte. Vor allem aber wollte sie mehr Rechtsklarheit schaffen, die in vielen Punkten überholte Satzung von 1949, die Statutarischen Entschließungen und die statutarische Praxis der Organisation kodifizieren und die Satzung den neuen Aufgaben des Europarats als paneuropäischer Organisation anpassen. In der Wiener Erklärung vom 9. Oktober 1993 beauftragten die Staats- und Regierungschefs das Ministerkomitee "im Statut der Organisation die ... erforderlichen Verbesserungen vorzunehmen und dabei auch auf die von der Parlamentarischen Versammlung vorgelegten Vorschläge Bedacht zu nehmen". Aber die Arbeiten einer Berichterstattergruppe des Ministerkomitees unter Leitung des schweizerischen Botschafters blieben stecken. Die Versammlung hat ihrerseits die Angelegenheit nicht weiter verfolgt. Man schreckte wohl vor dem Umfang und den Risiken der Aufgabe zurück. Es war leichter, das "Verfassungsrecht" mittels statutarischer Entschließungen weiterzuentwickeln. Das Ergebnis ist, daß der nicht eingeweihte Leser der Satzung vom Dschungel der dabei mitzuberücksichtigenden Texte und der gewohnheitsrechtlichen Entwicklungen einschließlich der abrogatorischen Praxis keine Ahnung hat. So ist z.B. das durch die Statutarische Entschließung (51) 30 vorgeschriebene, mutatis mutandis der Praxis der Internationalen Arbeitsorganisation entlehnte, vereinfachte Verfahren zum Konventionsabschluß (direkte Übermittlung eines vom Ministerkomitee angenommenen Konventionstexts durch den Generalsekretär an die Mitgliedsregierungen zur unmittelbaren Einleitung des Ratifikationsverfahrens) nie angewandt worden. Aber der Text der Entschließung wird Jahr für Jahr wieder abgedruckt! II.

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Die Parlamentarische Versammlung

Entschl. (93) 38 über die Beziehungen zwischen dem Europarat und Nichtstaatlichen Organisationen, abgedruckt in: Rules of Procedure and Statute of the Council of Europe, 1995, 266.

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Einige von der Rechtsnatur der Organisation als solcher nicht zu trennende Aspekte der Versammlung wurden bereits angeschnitten. Im folgenden werden wir näher auf den rechtlichen Charakter dieser Parlamentarier-Versammlung und auf ihre Kompetenzen eingehen (A), um uns dann ihrer Arbeitsweise und der Form ihrer Beschlüsse zuzuwenden (B). A.

Rechtsnatur und Zusammensetzung der Versammlung

1.

Zum Namen

Zunächst eine Bemerkung zum Namen. Im Statut findet man noch immer die Bezeichnung Beratende Versammlung, die genau das besagt, was die Regierungen 1949 im Sinne hatten: eine Versammlung ohne sachliche Entscheidungskompetenz, die lediglich dem Ministerkomitee "beratend" zur Seite stehen sollte. Das erklärt auch den Platz des Sekretariats, das Hilfsorgan sowohl des Ministerkomitees als auch der Versammlung sein sollte. Tatsächlich dienten einige Monate lang die gleichen Beamten beiden Organen. Dagegen lehnten sich die Parlamentarier auf. Sie wollten eine klare "Gewaltenteilung", allen voran Winston Churchill. Sie wollten ihr eigenes selbständiges Sekretariat. Es kam zu dem Kompromiß der schon erwähnten Statutarischen Entschließung. Das Prinzip der "Einheit des Sekretariats" wurde jedoch nicht berührt. Aber der Kanzler der Versammlung und die Beamten des Versammlungsdienstes unterstehen in allen Sachfragen nur den Weisungen des Präsidenten und des Präsidiums bzw. der jeweiligen Ausschußvorsitzenden und Berichterstatter. Im Juli 1974 faßte die Versammlung einen einseitigen Beschluß, sich fortan Parlamentarische Versammlung zu nennen. Sie ging dabei von der Überzeugung aus, daß Namen eben nicht nur "Schall und Rauch" sind, sondern daß eine positive Selbsteinschätzung, wenn nicht allzu wirklichkeitsfern, auch die Einschätzung durch andere beeinflussen kann. Das Ministerkomitee hat diese Entscheidung der Versammlung toleriert, aber 20 Jahre lang nicht anerkannt. Das äußerte sich u.a. so, daß Antworten auf Briefe des Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung an den Präsidenten der Beratenden Versammlung adressiert wurden. Während einer Übergangszeit fand dann die neue Bezeichnung Eingang in den mündlichen Verkehr zwischen Vertretern der beiden Organe und in den bilateralen Schriftverkehr zwischen Mitgliedstaaten und Versammlung. Erst 1994 entschloß sich das Ministerkomitee dazu, allgemein in Wort und Schrift den Ausdruck Parlamentarische Versammlung zu akzeptieren, nachdem schon vorher die neue Bezeichnung Eingang in Europaratskonventionen gefunden hatte. Doch die Satzung wurde bislang nicht geändert20. 20

Die Parallele zur Europäischen Gemeinschaft drängt sich auf. Auch dort faßte die Versammlung (Terminus der

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2.

Die Rechtsnatur der Versammlung

Die Parlamentarische Versammlung des Europarats ist kein Parlament, denn sie besitzt nicht dessen klassische Kompetenzen. Sie kann nicht die Exekutive einsetzen oder bestätigen (obwohl das in Demokratien mit reinem Präsidialregime, wie in den Vereinigten Staaten, auch nicht zutrifft)21. Natürlich kann sie die Exekutive auch nicht stürzen. Sie kann ihr nicht das Mißtrauen aussprechen sondern bestenfalls, wovon sie auch häufig Gebrauch gemacht hat, ihr Mißfallen zum Ausdruck bringen. Das gilt auch für den Generalsekretär und die beiden anderen Spitzenfunktionäre, obschon sie diese selbst wählt. Es gibt beim jetzigen Stand des Rechts des Europarats kein impeachment noch ein anderes Verfahren, diese Beamten ihres Postens zu entheben. Andererseits wäre es schwer denkbar, daß z.B. der Kanzler der Versammlung im Amte verweilt, sollte diese oder die Mehrheit der Fraktionschefs seinen Rücktritt wünschen. Die Versammlung hat keine Haushaltshoheit (während das Europäische Parlament begrenzte Haushaltsrechte hat und den Haushalt vorübergehend blockieren kann). Die Versammlung gibt lediglich Stellungnahmen zum Gesamthaushalt der Organisation ab und sagt im einzelnen, über welche Mittel sie für sich selbst verfügen möchte. Das Ministerkomitee antwortet darauf, ohne sich in irgendeiner Weise gebunden zu fühlen. Schließlich und vor allem hat die Versammlung keine legislative Kompetenz, sie kann nicht von sich aus verbindliches europäisches Recht schaffen. Sie hat nur ein Initiativrecht mittels Empfehlungen an das Ministerkomitee (infra). Im übrigen liegen "Gesetzgebungskompetenz" und Exekutivgewalt beim Ministerkomitee (Art. 13). Ihre Zustimmung zu Rechtsakten des Ministerkomitees ist nicht erforderlich, auch liegt es bislang im Gutdünken des Ministerkomitees, ob es vor der Annahme eines Konventionstexts (supra) die Stellungnahme der Versammlung einholen möchte oder nicht. Wir haben nun gesehen, was die Versammlung nicht kann und es bleibt zu prüfen, welche Kompetenzen ihr dennoch de jure oder de facto zukommen. Zunächst wollen wir aber die Zusammensetzung der Versammlung näher betrachten.

21

Römischen Verträge) einen einseitigen Beschluß, sich in "Europäisches Parlament" umzubenennen. Aber im Gegensatz zum Europarat, wurde bald danach in den Gemeinschaftsverträgen, und dann in der Einheitlichen Europäischen Akte und im Vertrag von Maastricht "Versammlung" durch "Europäisches Parlament" ersetzt. Dennoch ist z.B. der amerikanische Kongreß in mancher Hinsicht stärker als die meisten europäischen Parlamente.

1

3.

Die Zusammensetzung der Versammlung

Sie ist geregelt durch Art. 25 der Satzung. Die Mitglieder der Versammlung werden danach von den einzelnen Parlamenten aus ihrer Mitte gewählt, "oder nach einem vom Parlament bestimmten Verfahren aus seiner Mitte ernannt". In der Tat gibt es unterschiedliche Verfahren in den einzelnen Parlamenten, worauf hier nicht weiter eingegangen werden kann. Jedes Mitglied einer nationalen Delegation muß die entsprechende Staatsangehörigkeit haben. Das Modell Duverger wäre also im Europarat nicht möglich22. Nach Art. 25b kann keinem Mitglied der Versammlung im Laufe einer Sitzungsperiode ohne deren Zustimmung sein Mandat entzogen werden - es sei denn, es finden Neuwahlen statt, der Abgeordnete stirbt oder tritt aus eigenem Antrieb zurück. Der Sinn dieser Bestimmung ist klar: weder Regierungen, noch nationale Parlamente, noch Fraktionen sollen die Möglichkeit haben, etwa unliebsam gewordene Abgeordnete aus der Delegation zu entfernen. Trotzdem wurde dies immer wieder versucht, auch im Falle festetablierter "historischer" Demokratien. Es lag dann beim Sekretariat, die betreffende nationale Delegation auf Art. 25 hinzuweisen. Letztlich haben sich alle daran gehalten, wenn auch nicht immer ohne "Zähneknirschen". Nötigenfalls wäre die Angelegenheit im Zuge der Mandatsprüfung erledigt worden23. Es bleibt zu hoffen, daß Art. 25b und die entsprechenden Bestimmungen der Geschäftsordnung auch künftig sorgfältigst beachtet werden. Dies ist umso wichtiger, als einige der neueren Mitgliedstaaten noch nicht immer mit den Spielregeln vertraut sind. Die Zahl der Sitze der nationalen Delegationen ist in Art. 26 verzeichnet, der einzige Artikel, der automatisch nach jeder Neuaufnahme geändert werden muß. Wie die Zahl der Sitze bestimmt wird, darüber sagen weder die Satzung noch die Geschäftsordnungen von Versammlung und Ministerkomitee etwas aus. Die Versammlung macht in ihrer Stellungnahme nach Entschließung (51) 30 (supra) einen Vorschlag, wobei grundsätzlich die Bevölkerungszahl oder der Beitrag zum Haushalt berücksichtigt werden (infra).

22

23

Der Franzose Professor Duverger war fünf Jahre lang Mitglied des Europäischen Parlaments, nach dem er auf der Liste der italienischen Kommunisten gewählt worden war. Geschäftsordnung, Art. 6 und 7.

1

Es gibt aber auch politisch bedingte Regeln, die nicht uneingeschränkt demokratisch sind. So ging man bei der Gründung der Organisation davon aus, daß alle "großen" Mitgliedstaaten im Europarat gleich groß sein sollten. Deutschland, Frankreich, Italien und dem Vereinigten Königreich wurden jeweils 18 Sitze zugesprochen. Die Zahl verdoppelt sich, wenn man die Stellvertreter hinzuzählt. Diese Balance of Power unter den Großen blieb - im Gegensatz zum Europäischen Parlament - auch nach der deutschen Wiedervereinigung erhalten. Von politischen Rücksichten abgesehen, war die Bundesrepublik wahrscheinlich auch nicht daran interessiert, ihren Haushaltsbeitrag wesentlich zu erhöhen. Seit dem Beitritt Rußlands gibt es 5 Große. Auch Rußland wurden 18 + 18 Sitze zugesprochen. Die Frage war aber lange diskutiert worden, weil der Beitrag Rußlands zum Haushalt derzeit noch weit unter dem der anderen Großen liegt. Aber auch Rußland will "grand payeur" werden - sowohl aus Prestigegründen als auch wegen der Möglichkeit, eine größere Zahl von höheren Beamten im Sekretariat zu plazieren. Die zweite politische Regel besteht darin, daß auch der kleinste Mitgliedstaat zumindest 2 + 2 Sitze hat. Damit soll vermieden werden, daß eine Regierungspartei die Vertretung in der Parlamentarischen Versammlung monopolisiert und die Opposition nicht zu Wort kommt. Proportional bedeutet dies aber eine starke Übervertretung der "Kleinen". So kann man leicht ausrechnen, daß jeder liechtensteinische Abgeordnete in der Parlamentarischen Versammlung 9000 Liechtensteiner Staatsbürger vertritt, jeder deutscher Abgeordnete aber 4,4 Millionen Staatsbürger. Das heißt, ein Liechtensteiner ist quantitativ 493 mal stärker repräsentiert als ein Deutscher. B.

Die Kompetenzen der Versammlung

Nach der ursprünglichen Fassung des Art. 23 der Satzung sollte die "Beratende Versammlung" nur über Fragen diskutieren, die ihr vom Ministerkomitee zur Stellungnahme überwiesen wurden, bzw. deren Aufnahme in die Tagesordnung vom Komitee gebilligt worden war. Dies änderte sich schon 1951 und die Versammlung ist jetzt in der Festlegung ihrer Tagesordnung souverän, solange sie sich im Rahmen der Satzung bewegt24. 1.

Beschlüsse der Versammlung

Versammlungsdebatten enden normalerweise - abgesehen von gelegentlichen Aktualitätsdebatten mit der Annahme eines Textes (oder mehrerer Texte)25: 24

25

S. Art. 23 in seiner jetzigen Fassung in: Rules of Procedure 1995, 214. Der von der Versammlung herausgegebene Band enthält zahlreiche Anmerkungen und ist insofern aufschlußreicher als die an verschiedener Stelle erschienenen deutschen Übersetzungen der Satzung. Im einzelnen s. Rules of Procedure.

1

-

Empfehlungen an das Ministerkomitee bezwecken letzteres zu einem bestimmten Handeln

-

anzuregen, z.B. zur Ausarbeitung einer Konvention; Stellungnahmen werden (ganz im ursprünglichem Sinne) normalerweise auf Verlangen des Ministerkomitees erarbeitet, wobei aber auch häufig die Versammlung dem Ministerkomitee nahelegt, ihr eine Frage zur Begutachtung zuzuleiten26.

Empfehlungen und Stellungnahmen werden mit Zweidrittelmehrheit angenommen, wobei zumindest ein Drittel der Mitglieder der Versammlung an der Abstimmung teilnehmen muß. Dies aus gutem Grund: da eben die Versammlung kein echtes Parlament ist, das auch mit einer Stimme Mehrheit ein Gesetz verabschieden kann, sondern ein "quasi- parlamentarisches Organ"27, soll sichergestellt werden, daß die Empfehlung oder Stellungnahme von einer starken Mehrheit getragen wird. -

Entschließungen, auch soweit sie Wünsche oder Appelle an Regierungen (aber nicht an das Ministerkomitee als Organ) oder andere internationale Organisationen enthalten, binden nur die Versammlung selbst und werden daher mit einfacher Mehrheit angenommen. Das gleiche gilt für Direktiven, mit denen sich die Versammlung an ihre untergeordneten Organe oder ggf. an das Sekretariat wendet.

Auch nicht vom Ministerkomitee akzeptierte bzw. weiterverfolgte Texte können übrigens indirekt rechtliche Wirkungen entfalten, indem sie beispielsweise von nationalen Gerichten zur Begründung ihrer Urteilsfindung herangezogen werden28 oder wenn die Versammlung die Annahme ihrer Position zur Bedingung macht, bevor sie eine positive Stellungnahme zur Neuaufnahme eines Staates abgibt. 2.

Wahlkompetenzen

Von dem Recht der Versammlung, Generalsekretär, stellv. Generalsekretär und Kanzler der Versammlung für jeweils 5 Jahre zu wählen, war schon die Rede.

26

27 28

Zum Sonderfall der allgemeinen Stellungnahme der Versammlung zum Gesamthaushalt und der detaillierten Stellungnahme zum Haushalt der Versammlung s. Entschließung (53) 38 des Ministerkomitees und weitere Texte abgedruckt in Rules of Procedure and Statute of the Council of Europe 1995, 106-109. Ignaz Seidl-Hohenveldern, a.a.O. (Fn. 5), S. 163. So hat 1963 das Bundesverfassungsgericht in einem Auslieferungsfall (Türke kurdirscher Volkszugehörigkeit) Entschließungen des Europäischen Parlaments und der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zur Urteilbegründung herangezogen: Entscheidung v. 23.2.1983, Az. 1 DBVR 990/82. S. auch EuGRZ 1983, 258.

1

Nach Art. 39 EMRK wählt die Versammlung die Richter aus einer Liste mit 3 von der jeweiligen Regierung vorgeschlagenen Kandidaten. Bis zum Inkrafttreten von Protokoll Nr. 11 hat das Präsidium der Versammlung das Vorschlagsrecht für Mitglieder der Kommission (die Vorschläge werden zunächst von der nationalen Delegation dem Präsidium zugeleitet), und das Ministerkomitee entscheidet (Art. 21 EMRK)29. Was die Richterwahl angeht, so war man im Rechtsausschuß schon seit längerem besorgt, daß diese äußerst wichtige Kompetenz bei den Mitgliedern der Versammlung nur auf verhältnismäßig geringes Interesse stieß. Befand sich nicht zufällig die nationale Parlamentarierdelegation im Gegensatz zu den Vorschlägen ihrer Regierung, so tendierte man automatisch dazu, den ersten Kandidaten der Liste zu wählen, von dem man wußte, daß er der bevorzugte Kandidat der Regierung war30. Im April 1996 verabschiedete die Versammlung ihre Entschließung 1082 und die Empfehlung 1295 an das Ministerkomitee. Nach der Entschließung soll mit dem Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 und der Einsetzung des Ständigen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein Musterlebenslauf eingeführt werden, um die Kandidaten für das Richteramt zu veranlassen, einheitlich gegliederte Informationen zur Person vorzulegen. In der Tat waren bisher die vorgelegten Daten recht unterschiedlich in Substanz und Länge und insoweit schwer vergleichbar. Darüber hinaus beabsichtigt die Versammlung die Kandidaten zu einer kurzen Aussprache mit dem Menschenrechtsunterausschuß des Rechtsausschusses oder einem speziell zu gründenden Unterausschuß einzuladen. Nach der Empfehlung wird das Ministerkomitee gebeten, das neue Verfahren zu unterstützen und die nötigen Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen. Das Vorgehen der Versammlung hat zum Teil Widerspruch ausgelöst. Es bestand wohl die Sorge, es gehe um politisierte öffentliche Anhörungen, etwa nach dem Stil der Richteranhörungen im amerikanischen Senat. Das ist jedoch nicht die Absicht der Versammlung. Sie will sich nur von Kandidaten, die sie zum großen Teil nicht kennt, einen persönlichen Eindruck verschaffen. U.E. wäre aber zu überlegen, ob das nötig ist, wenn Kandidaten als frühere Kommissionsmitglieder oder Richter am alten Gerichtshof genügend unter Beweis gestellt haben, daß sie die Bedingungen von Art. 39, 3 EMRK erfüllen. IV. 29

30

Neuaufnahme bzw. Suspension und Ausschluß von Mitgliedern Zu den mit Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 eintretenden Änderungen s. u.a. Jens Mayer-Ladewig, in EuGRZ 1994, 317-322. S. hierzu Heinrich Klebes, The further realisation of Human Rights and Fundamental Freedoms - the Parliamentary contribution, in: Studies in honour of Rolv Ryssdal, Carl-Heymans-Verlag Köln (Erscheinen Ende 1996 erwartet).

1

Wir können uns kurz fassen, die Problematik ist hinreichend bekannt. Die Mitgliedschaft im Europarat ist geregelt durch Art. 4 in Verbindung mit Art. 331 und dem schon erwähnten "Wertebekenntnis" in der Präambel. Art. 7 betrifft den freiwilligen Austritt, Art. 8 die Suspension des Vertretungsrechts in den beiden Organen und die Aufforderung zum Austritt32. Nachdem das Ministerkomitee einen Beitrittsantrag an die Versammlung zur Stellungnahme überwiesen hat, befaßt das Präsidium drei Ausschüsse mit der Prüfung des Antrags: den Politischen Ausschuß, den Ausschuß für Rechtsfragen und Menschenrechte und den Ausschuß für die Beziehungen

zu

europäischen

Nichtmitgliedstaaten.

Außerdem

bestellt

das

Präsidium

Rechtsexperten mit dem Auftrag, die Vereinbarkeit der Rechtsordnung des betreffenden Staates mit den Grundwerten des Europarats und den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention zu überprüfen. Das daran anschließende Verfahren kann hier nur kurz in Erinnerung gerufen werden. Die Rechtsexperten wurden zum ersten Mal für die baltischen Staaten eingesetzt - übrigens auf Wunsch Rußlands, das dann später das gleiche Verfahren über sich ergehen lassen mußte. Bei den Rechtsexperten handelt es sich in der Regel um einen Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und um ein Mitglied der Europäischen Menschenrechtskommission, die aber nicht als solche, sondern in ihrer persönlichen Eigenschaft als hervorragende Rechtssachverständige (eminent lawyers) tätig werden. Wegen der Größe der Aufgabe wurden im Falle Rußlands 3 Richter und 3 Kommissionsmitglieder ernannt. Der Bericht geht an das Präsidium, das ihn meist ohne Verzug für die Öffentlichkeit freigibt. Das Sekretariat übermittelt ihn schon vorher den Berichterstattern der Versammlung und den Ministerbeauftragten.

31

32

Art. 3: "Jedes Mitglied des Europarates erkennt den Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts und den Grundsatz an, daß jeder, der seiner Hoheitsgewalt unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll. Es verpflichtet sich, bei der Erfüllung der in Kapitel I bestimmten Aufgaben aufrichtig und tatkräftig mitzuarbeiten." Art. 4: "Jeder europäische Staat, der für fähig und gewillt befunden wird, die Bestimmungen des Artikels 3 zu erfüllen, kann vom Ministerkomitee eingeladen werden, Mitglied des Europarates zu werden. Jeder auf diese Weise eingeladene Staat erwirbt die Mitgliedschaft mit der in seinem Namen erfolgenden Hinterlegung einer Urkunde über den Beitritt zu dieser Satzung beim Generalsekretär." Interessant, weil bisher einmalig, ist der Fall Kroatien. Im April 1996 (Stellungnahme Nr. 195) hat sich die Versammlung mit großer Mehrheit für den Beitritt Kroatiens ausgesprochen. Entgegen der üblichen Praxis erging jedoch nicht schon kurz danach eine Einladung des Ministerkomitees. Der Vertagungsbeschluß des Komitees kam übrigens wesentlich unter dem Einfluß der Europäischen Union zustande. Während ihrer Frühjahrstagung in Thessaloniki hat sich die Versammlung dann der Position des Ministerkomitees angepaßt, in dem sie in der Entschließung 1089 Kroatien beschuldigte, schon kurz nach Verabschiedung der Stellungnahme Nr. 195 die eingegangenen Verpflichtungen verletzt zu haben.

1

Die Ausarbeitung der Stellungnahme gemäß der statutarischen Entschließung (51) 30 obliegt dem Politischen Ausschuß. Die beiden anderen Ausschüsse haben eine mitberatende Funktion, d.h. sie liefern Stellungnahmen zum Bericht des Politischen Ausschusses. Nach der Debatte im Plenum erfolgt die Abstimmung mit Zweidrittelmehrheit und die Weiterleitung des Textes an das Ministerkomitee. In den letzten Jahren - insbesondere seit der Aufnahme Rußlands - hat die Versammlung in ihre Stellungnahmen in zunehmendem Maße "Verpflichtungen" (commitments) aufgenommen, welche die Beitrittskandidaten im Zusammenhang mit ihrer Mitgliedschaft eingegangen sind. Im Falle Rußlands besteht die Liste der Verpflichtungen aus 25 Punkten (Stellungnahme Nr 193, Abs. 10); ähnlich die Stellungnahmen zur Ukraine und zu Moldova. Es wäre reizvoll, die nicht ganz einfache Frage zu untersuchen, welche rechtliche Bedeutung diesen (übrigens nicht immer klar formulierten) "Verpflichtungen" beizumessen ist. Doch würde das den Rahmen dieses Vortrags sprengen. Das gleiche gilt für das mit der Direktive Nr 488 eingeführte und mit der Direktive Nr 508 weiterentwickelte "Monitoring" der Einhaltung eingegangener Verpflichtungen durch die Versammlung, das durch ein Monitoring des Ministerkomitees gemäß einer Entschließung vom 10. November 1994 ergänzt wurde33. Um nur ganz kurz die Problematik anzureißen: die sog. Verpflichtungen werden von dem beitrittsuchenden Staat gegenüber der Versammlung eingegangen. Letztere ist nicht Völkerrechtssubjekt. Somit kann es sich zunächst nicht um völkerrechtliche Verpflichtungen handeln, sondern nur um politische Absichtserklärungen, auch wenn letztere, wie im Falle Rußlands, von den höchsten Repräsentanten des Staates unterschrieben wurden. Nun könnte man argumentieren, daß das Ministerkomitee seine Einladung unter Hinweis auf die Stellungnahme der Versammlung ausspricht, der betreffende Staat diese Einladung ohne Vorbehalte annimmt, und daß damit die eingegangenen Verpflichtungen völkerrechtlichen Charakter erhalten. Aber, wie gesagt, das bedürfte einer ausführlicheren Darlegung. III.

33

Auswirkungen des Osterweiterung des Europarats

S. hierzu u.a. den umfassenden Bericht von Catherine Schneider für das Kolloquium "Le Conseil de l'Europe acteur de la recomposition de l'Europe", Grenoble 14.5.96: "Le Conseil de l'Europe et le contrôle du respect des engagements des Etats membres". Veröffentlichung gegen Ende 1996. Ebenda Bericht von Despina Chatzivassiliou über den Beitritt Rußlands zum Europarat und von H. Klebes über die Osterweiterung des Europarats i.a.

1

Wir wollen diesen Teil vergleichsweise kurz behandeln, um so weit wie möglich Überschneidungen mit dem Vortrag von Professor Daniel Tarschys am 6. Mai 199634 zu vermeiden. Wir gehen zunächst auf die "technischen Auswirkungen" ein, welche die Funktionsfähigkeit der Organisation und ihre finanzielle Ausstattung betreffen. Danach werden wir uns den möglichen politischen Veränderungen und Problemen zuwenden. A.

Die "technischen" Auswirkungen der Erweiterung

Bis zum Frühjahr 1989 hatte der Europarat 22 Mitglieder, im Februar 1996 wurden es mit dem Beitritt Rußlands 39. Das hat Auswirkungen auf die Arbeitsweise und Funktionsfähigkeit der beiden Organe und erfordert möglicherweise Änderungen der Geschäftsordnungen, aber auch auf das Sekretariat. Auch die Kontrollorgane der EMRK sind davon betroffen: ständig steigende Mitgliederzahl, Sprachprobleme, Berücksichtigung neuer Rechtskreise, verschiedene Rechtstraditionen, die sich trotz Demokratisierung der neuen Mitgliedstaaten noch auswirken etc. Nach Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 wird der EGMR der größte ständige Gerichtshof der Welt sein. Leider war es politisch nicht möglich, bei der Vorbereitung des Protokolls Nr. 11 eine andere Lösung durchzusetzen. 1.

Das Ministerkomitee

Eine echte Diskussion war im Ministerkomitee schon seit geraumer Zeit schwierig geworden. In den formellen Sitzungen werden, wie auch anderswo, zum größten Teil von Beamten vorbereitete Texte gelesen. Dem könnte entgegen gewirkt werden - und eine solche Tendenz zeichnet sich ab - indem die früher stärker entwickelten zwanglosen Aussprachen unter Ministern (ohne Sitzungsprotokoll) wiederbelebt würden. Allerdings stellt sich auch ein Zeitproblem, wenn alle teilnehmenden Minister oder ihre Vertreter zu Wort kommen wollen. Die Ministerbeauftragten haben ihre Arbeitsweise schon seit einiger Zeit angepaßt. Die Entscheidungen in den einzelnen Bereichen (z.B. Beziehungen zu Osteuropa, rechtliche Zusammenarbeit, Kultur, Verwaltungsfragen) werden in sog. Berichterstattergruppen (rapporteur groups) vorbereitet und oft ohne weitere Diskussion im Plenum des Komitees abgesegnet.

34

"Wandel in Mittel- und Osteuropa und die Stellung des Europarats", Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut der Universität des Saarlandes, Nr. 336, 1996.

1

Durch die statutarische Entschließung (93) 27 über notwendige Mehrheiten für Beschlüsse des Ministerkomitees und das gentlemen's Agreement vom November 1994 wurde die Notwendigkeit der Einstimmigkeit auf ein Minimum reduziert. Doch wird manchmal die Frage aufgeworfen, ob das gentlemen's agreement von Rußland, das an seinem Zustandekommen nicht beteiligt war, auch respektiert werde35. Auch die ohnehin noch verbleibenden Einstimmigkeitsregeln könnten von Rußland, dem sich dann auch andere neue und vielleicht auch alte Mitgliedstaaten anschließen könnten, ausgenutzt werden. Doch sollte man Rußland und anderen nicht im vorhinein derartige Absichten unterstellen. 2.

Die Versammlung

Für die Versammlung stellt sich vor allen Dingen ein immer akuter werdendes Zeitproblem, das auch durch Änderung der Geschäftsordnung kaum gelöst werden kann. Es ist schon lange her, daß jedes Mitglied damit rechnen konnte, im Plenum zu Wort zu kommen. Bei wichtigen Debatten wird von den Fraktionen zunächst festgelegt, wer ihre Sprecher sein sollen. Das Sekretariat erstellt dann auf Grund der eingegangenen Wortmeldungen den ersten Entwurf einer Rednerliste. Der Präsident entscheidet im Hinblick auf eine gerechte geographische und politische Verteilung, in welcher Reihenfolge die Redner zu Wort kommen sollen. Das Präsidium kann vorher eine Begrenzung der Redezeit festlegen36. Die Handhabung der Rednerliste und der Rednerzeit war immer wieder Anlaß des Unmuts einzelner Abgeordneter oder nationaler Delegationen. Man kann davon ausgehen, daß sich dieses Problem mit der Erhöhung der Abgeordnetenzahl eher verschärfen wird. Probleme zeigen sich schon jetzt auch in den Ausschüssen. Auch hier wird durch die steigende Mitgliederzahl die Arbeit komplizierter, echte Diskussionen immer schwieriger. Im übrigen wäre die Geschäftsordnung der Versammlung in ihrer jetzigen Form grundsätzlich auch für eine größere Versammlung geeignet. 3. 35

36

Das Sekretariat So u.a. Olivier Verdeil, Le défi de l'adhésion de la Russie au Conseil de l'Europe, mémoire MST, Faculté de droit de l'Université Pierre Mendès-France, Grenoble 1996. Rules of Procedure 1995, S. 84-91. Wer sich in die Rednerliste eingetragen hat und nicht mehr zu Wort kommt, kann nach der Bestimmungen über die Organisation der Aussprachen in der Versammlung (Punkt 10) dem Sekretariat seinen Redetext zur Aufnahme in den Sitzungsbericht übergeben.

1

Hier stellen sich quantitative und qualitative Probleme. Während sich die Zahl der Mitgliedstaaten seit 1989 demnächst verdoppelt haben wird, ist die Zahl der Beamten nur wenig angestiegen. Das hat insbesondere in den unmittelbar betroffenen Teilen des Sekretariats zu einer Überlastung geführt, bzw. dazu, daß manche Arbeiten nicht mehr mit der wünschenswerten Gründlichkeit erledigt werden können - zumal sich die Berichterstatter weitgehend auf die Arbeit des Sekretariats stützen. Neue Aufgaben sind hinzugekommen, wie im Rahmen der Prüfung von Beitrittsanträgen, die Begleitung der Rechtsexperten, der Berichterstatter und der Wahlbeobachterdelegationen. Qualitativ stellt sich das Problem, daß im Durchschnitt die Kandidaten aus Mittel- und Osteuropa noch nicht westeuropäisches Niveau erreicht haben, in sachlicher und in sprachlicher Hinsicht. Das gilt jedenfalls für einige Länder. Brillante Ausnahmen bestätigen die Regel. Das Auswahlverfahren des Europarats ist streng objektiv. Da nur die sachliche und sprachliche Kompetenz zählt, kann dies aber auch dazu führen, daß die Befähigsten aus dem Kreis des Establishments kommen und von ihrer jeweiligen Behörde zur Kandidatur ermuntert werden. Das wiederum könnte in Zukunft zu Loyalitätskonflikten führen, insoweit Beamte sich vielleicht erst daran gewöhnen müssen, nicht ihrem "Entsendestaat", sondern der Organisation zu absoluter Loyalität verpflichtet zu sein. 4.

Die materielle Ausstattung des Europarats

Sie sei nur ganz kurz erwähnt. Hier geht es nicht um Rechtsprobleme, sondern um den politischen Willen der Mitgliedstaaten, der Organisation die zur vollen Funktionsfähigkeit notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Der revidierte ordentliche Haushalt des Europarats für 1996 beträgt 874 Mill. FF, 1989 waren es 433 Mill. FF. Die Regierungen haben also eine gewisse, aber sicher nicht ausreichende Anstrengung unternommen. Sie kam besonders der besseren Ausstattung der Kontrollorgane der EMRK und der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit mit den neuen Mitgliedstaaten im Rahmen des Demokratisierungsprozesses zugute. B.

Politische Auswirkungen

1

Die Diskussion über die politischen Folgen der Osterweiterung des Europarats ist besonders seit dem Beitritt Rußlands sehr intensiv geführt worden. Wird der Europarat die Wertegemeinschaft bleiben, als die er sich versteht, eng verbunden durch das gemeinsame Bekenntnis zur Demokratie, zur Rechtsstaatlichkeit und zur Achtung der Menschenrechte? Wird der Beitritt eines Staates mit über 150 Millionen Einwohnern, d.h. fast doppelt soviel als der bisher größte Mitgliedstaat, nicht zu einem schwer kontrollierbaren Ungleichgewicht innerhalb der Organisation führen? Könnte es schon mittelfristig zur Aufspaltung in zwei Lager führen? 1.

Der Europarat als Wertegemeinschaft

Die Idee von der Wertegemeinschaft, in der Satzung verankert (supra), wurde durch die Wiener Erklärung der Staats- und Regierungschefs vom 9. Oktober 1993 bekräftigt. Die Werte des Europarats sollen erhalten bleiben. Ist dabei der Wunsch der Vater des Gedankens oder meint man es ernst? Man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß z.t. eine Art dialogue de sourds stattfindet. Die einen sagen, von einer Senkung der Europaratsnormen für die Mitgliedschaft könne keine Rede sein. Im Gegenteil, die Normen seien nicht gesenkt, sondern fortschreitend angehoben worden. Das ist formal richtig. Denn schließlich hat man weder die Bedingungen der Satzung geändert noch die Bestimmungen der EMRK aufgeweicht; und die Rechtsprechung der Kontrollorgane hat eher zur Stärkung der Normen beigetragen. Richtig ist auch, daß die Versammlung von den Beitrittskandidaten so manches verlangt, wovon früher nicht die Rede war: z.B. das Versprechen, über die EMRK hinaus bestimmten Europaratskonventionen beizutreten37. Dabei hat auch die Überlegung mitgespielt, daß, wenn neue Mitgliedstaaten in größerer Zahl Bedingungen akzeptieren und Konventionen beitreten, damit auch der Druck auf die "alten" Mitgliedstaaten verstärkt wird, von ihnen noch nicht ratifizierte Texte zu akzeptieren. Allerdings bleibt abzuwarten, welche Tendenz sich als die stärkere erweisen wird: die Schaffung eines einheitlichen europäischen Rechtsraums mit einheitlichen Grundvorstellungen in bestimmten Bereichen des Rechts oder die Neigung, Normen zwar formal anzuerkennen, aber sie dann nicht zu beachten. Hier liegt u.a. die Sorge derer begründet, die behaupten, die Standards des Europarats seien gesenkt worden. De facto ist die Beachtung dieser Standards im Durchschnitt gesunken, zumindest für eine mehr oder weniger lange Übergangszeit. Das läßt sich quantitativ gesehen kaum bestreiten.

37

S. hierzu beispielhaft die Stellungnahme Nr 193 der Versammlung zur Aufnahme Rußlands, Abs. 10.

1

Noch vor einigen Jahren erklärten hohe Vertreter der Organisation, der Europarat sei keine Schule der Demokratie. Um ihm beizutreten, müsse man bereits die demokratische Reifeprüfung abgelegt haben. Heute ist es üblich geworden, vom Europarat als einer "Schule der Demokratie" zu sprechen. Wir wollen uns hier mit diesem neuen Verständnis vom Wesen des Europarats nicht weiter auseinandersetzen. Im übrigen ist der Streit wahrscheinlich müßig: der Europarat hatte wahrscheinlich gar keine andere Wahl, als sich nach Osten zu erweitern. Es ist kein Geheimnis, daß die Regierungen der Mitgliedstaaten fast einhellig für den Beitritt Rußlands eingetreten sind, und zwar aus Überlegungen heraus, die nicht unbedingt immer etwas mit der Verbreitung des demokratischen "Evangeliums" zu tun hatten. Es ging darum, Rußland in irgendeiner Form an Europa anzubinden, da eine Nato-Mitgliedschaft und auf lange Zeit eine Mitgliedschaft in der europäischen Union nicht in Frage kommen38. Doch warum sollten wir weniger optimistisch sein, als Jelzins abgesetzter Menschenrechtsberater Kowaljow, der einerseits auf das noch mangelnde Rechts- und Demokratiebewußtsein beim Staat, aber auch in der Bevölkerung, hinwies, zum anderen aber für den Beitritt Rußlands eintrat. Dies unterstütze die politischen und rechtlichen Reformen und erzeuge den nötigen Druck zur Demokratisierung39. 2.

Das politische Gleichgewicht

Streng genommen gehört diese Frage nicht hierher, denn dies ist kein politik-wissenschaftlicher Vortrag. Ein paar kurze Bemerkungen scheinen aber zur Abrundung angebracht. Die Mehrheit der neuen Mitgliedstaaten sucht heute eher die Anbindung an den Westen, einschließlich der NATOMitgliedschaft. Es stellen sich demnach zwei Fragen:

38

39

Zur Frage des Beitritts Rußlands zum Europarat, s. die sehr lesenswerte Arbeit von Olivier Verdeil, op.cit. und D. Chatzivassiliou, a.a.O.(Fn. 33). Ansprache vor den drei mit dem Aufnahmeverfahren befaßten Ausschüssen am 30.01.1995 in Straßburg: "Le problème réside dans le degré extrêmement faible de conscience juridique et des autorités et de la population. Quel est effectivement le sens d'une proclamation des droits et des libertés des citoyens dans la constitution si la population n'est pas en mesure de revendiquer ses droits, n'a pas l'habitude de la faire? Quel est l'intérêt de bonnes lois si le citoyen pris individuellement n'est pas prêt à les faire appliquer?... Il faudra des années de travail intense pour que la majorité de la population atteigne le niveau indispensable de conscience juridique."

1

-

Wie wird sich Rußland in den Gremien des Europarats verhalten? Man weiß, daß seine Großmachtempfindlichkeit stark entwickelt ist. Man erinnert sich daran, daß Jelzin den russischen Parlamentariern nahegelegt hat, sich in der Parlamentarischen Versammlung allen Versuchen zu widersetzen, Druck auf Rußland auszuüben, sich in dessen innere Angelegenheiten einzumischen40. Wird Rußland versuchen, im Gegensatz zu den bisherigen "4 Großen", seine Großmachtrolle im Europarat auszuspielen?

-

Besteht die Gefahr, daß auf längere Sicht Rußland wieder von einem Ring von Satelliten umgeben sein wird? Sollte Rußland z.B. nach der zweiten Runde der Präsidentenwahl am 3.7.1996 wieder in alte politische Bahnen einschwenken, so könnte das eine von Rußland geförderte Anziehungskraft auf zumindest einige der ehemaligen "sozialistischen Bruderländer" ausüben. Man darf daher die Neuentstehung einer Ost-West-Spaltung, diesmal innerhalb des Europarats, nicht unbedingt ausschliessen. Natürlich bliebe das nicht ohne Auswirkungen auf die internen Spielregeln der Organisation. Aber je mehr man sich dieser potentiellen Gefahr bewußt ist, desto größer ist die Chance, sie zu bannen.

Insgesamt bringt die Osterweiterung dem Europarat und Europa eine große Chance in Richtung eines sich über den Kontinent erstreckenden demokratischen Rechtsraumes. Sie ist aber nicht ohne Risiken. Für den Europarat ist das eine große Herausforderung. Möge er damit fertig werden.

40

Le Monde, 30.01.1996.